Sonntag, 26. September 2010

Lord Byron's "Ottava rima"


Viele Literaturliebhaber verbinden heute mit dem Namen George Gordon Lord Byron (1788 - 1824) vor allem jenen düsteren Helden, dem als auf sich selbst fixierten und verletzlichen Einzelgänger mit künstlerischer Ader Zufriedenheit und Glück versagt bleiben und der als seine Erfindung gilt, weshalb er unter dem Namen “Byronic Hero” Eingang ins Arsenal der “Schwarzen Romantik”  fand. Tatsächlich werden aber die Werke, die diesen Archetypus formten und feierten (etwa “closet plays” wie “Manfred”, 1817, oder die einst von den Damen verschlungenen Verserzählungen “The Corsair” und “Lara”, beide 1814) kaum mehr gelesen. - Dass Byron, eine der faszinierendsten Gestalten der englischen Literatur, noch immer als bedeutender Vertreter der Spätromantik gilt, verdankt er vielmehr einer Strophenform, die er auf einzigartige Weise seinen Zwecken dienlich zu machen verstand und mit deren Hilfe ihm ein  literarisches Meisterwerk von Weltrang gelang: der “ottava rima” (dt. Stanze).

Lord Byron war ein Mann, der sich schon früh den Ruf erwarb, sowohl ein grosser Dichter als auch eine Gestalt von zweifelhaftem Ruf zu sein: Die ersten beiden Canti seines langen und langatmig romantisierenden Gedichts “Childe Harold’s Pilgrimage” (1812 veröffentlicht), machten ihn über Nacht berühmt und sein Verhältnis zur verheirateten Lady Caroline Lamb, die ihn als “mad, bad, and dangerous to know” bezeichnete,  zum "skandalösen" Gesprächsthema der besseren Gesellschaft. Als er sich  dann 1815 auch noch in seine Halbschwester Augusta verliebte und  1816  seine Frau Annabella Milbanke - das Ende einer Zweckehe! - verliess, kam es zum Eklat. Byron, der Mann mit dem Klumpfuss, dem auch etliche Verhältnisse zu jungen Männern nachgesagt werden, verliess England endgültig - und erblühte vielleicht erst jetzt zu wahrhaft künstlerischer Grösse, die sich etwa darin zeigte, dass er in Goethe einen Bewunderer fand.

Byron gilt nicht als der eigentliche Entdecker der in der italienischen Dichtung (Bocaccio, Pulci u.a.) seit langem gebräuchlichen Strophenform “ottava rima” für die englische Literatur. Als er, der zügige und hochtalentierte Vielschreiber, sie jedoch für eines seiner Gedichte (“Beppo”, 1818) benutzte, erkannte er sogleich, welche Möglichkeiten sie einem wahrhaften Könner wie ihm bot - und er beschloss, ein “’mock-epic‘-poem”, ein die alten Epen nachahmendes Spottgedicht zu schreiben, das ihn bis zu seinem Lebensende begleiten und dessen Held, wie er schon zu Beginn ankündigte, nur zufällig Don Juan sein sollte:

"I want a hero: an uncommon want,
     When every year and month sends forth a new one,
 Till, after cloying the gazettes with cant,
     The Age discovers he is not the true one:
  Of such as these I should not care to vaunt,
      I'll therefore take our ancient friend Don Juan -
  We all have seen him in the pantomime,
  Sent to the devil somewhat ere his time."
(Canto I, 1)

Denn auch wenn wir im meisterhaft geschriebenen “Don Juan” gelegentlich etwas über seinen “Helden”, der hier eher als willenloses Opfer sexgieriger Weiber denn als grosser Verführer dargestellt wird, erfahren, so geht es dem bedeutendsten Egomanen unter den Dichtern doch vor allem darum, sich selber respektive seine Kunstfertigkeit zur Schau zu stellen (es ist im Englischen ausserordentlich schwer, derart viele passende  zwei- , ja dreisilbige Reimwörter zu finden und sie erst noch oft spöttisch auf eine  Pointe hin einzusetzen) - und gnadenlos über die englische Gesellschaft herzufallen, deren heuchlerische Dekadenz er ständig im Auge behält, wobei nicht zuletzt die Dichter der “älteren” Romantik unter seinem Hohn leiden müssen. Robert Southey, ein mittelmässiger Dichter, den man zum “poeta laureatus” gemacht hatte, bekommt ebenso sein Fett ab wie William Wordsworth, einst Verfechter der Französischen Revolution, jetzt konservativer und moralinsaurer Gefälligkeitslyriker:

"Such names at present cut a convict figure,
      The very Botany Bay in moral geography;
  Their loyal treason, renegado rigour,
       Are good manure for their more bare biography,
  Wordsworth's last quarto, by the way, is bigger
       Than any since the birthday of typography;
 A drowsy frowzy poem call'd the 'Excursion,'
 Writ in a manner which is my aversion."
(Canto III, 94)

Gemälde von Ford Madox Brown (1821 - 1893)

Besonders gern packt der Erzähler seine Gesellschaftskritik in die vorgeschobene Geschichte um Don Juan ein. So landet etwa der "Held" nach einem Schiffbruch auf einer Insel, wo er sich in die Tochter eines furchterregenden Seeräubers namens Lambro verliebt, dessen Ähnlichkeit mit der "guten" Gesellschaft aber auf perfide Weise betont wird, um den möglicherweise erschreckten Leser ironisch zu beruhigen:

"You're wrong. - He was the mildest manner'd man
      That ever scuttled ship or cut a throat,
 With such true breeding of a gentleman,
      You never could divine his real thought;
  No courtier could, and scarcely woman can
      Gird more deceit within a petticoat;
  Pity he loved adventurorus life's variety,
  He was so great a loss to good society."
(Canto III, 41)

Und wenn dieser Byron vertretende Erzähler darüber nachdenkt, welche grossen Männer, die auf England einen guten Einfluss auszuüben vermochten, nicht mehr am Leben sind oder dem Exil den Vorzug gaben, kann er nur zu einer Schlussfolgerung kommen:

"Nought's permanent among the human race,
 Except the Whigs not getting into place."
(Canto XI, 82)

Daneben werden dem Leser natürlich auch die saftigen Liebesabenteuer aufgetischt, in die der arme Don Juan mehr unfreiwillig hineinrutscht. So beobachtet er als erst erblühender Jüngling etwa über mehrere Strophen hinweg unschuldig mit der verheirateten Julia den Sonnenuntergang, während diese innerlich immer mehr ihrer Geilheit verfällt und ihr am Ende nachgibt, was in Worten  geschildert wird,  die in England  noch heute gern zitiert werden:

"A little still she strove, and much repented,
 And whispering 'I will ne'er consent' - consented."
(Canto I, 117)

Gemälde von Eugène Delacroix (1798 - 1863)

Die folgende gefährliche Affäre führt dazu, dass Don Juan mit seinem Lehrer Pedrillo das Land verlassen muss, der nach einem Schiffbruch (die Szene wurde vom französischen Romantiker Eugène Delacroix gemalt) von den Überlebenden auf einem Rettungsboot gefressen wird. Seine Liebe zur Tochter des Seeräubers wiederum endet auf einem Sklavenmarkt, wo er alsbald zum Lustknaben einer Sultana avanciert. Nach dem Angriff der Russen auf die Türkei findet er auch Schutz...

"In Catherine's reign, whom glory still adores,
  As greatest of all sovereigns and w----s."
(Canto VI, 92)

Im zehnten Canto gelangt Juan endlich nach England, und der Erzähler schildert in drastischen Worten, was für ein in Schmutz und Rauch versinkendes London er eigentlich hätte erblicken müssen (unser naiver Held rühmt indessen den Reichtum des Landes, seine tugendhaften Frauen und sicheren Strassen - um prompt von einem Strassenräuber überfallen zu werden):

"A mighty mass of brick, and smoke, and shipping,
      Dirty and dusky, but as wide as eye
  Could reach, with here and there a sail just skipping
      In sight, then lost amidst the forestry
  Of masts; a wilderness of steeples peeping
      On tiptoe through their sea-coal canopy;
  A huge, dun cupola, like foolscap crown
  On a fool's head - and there is London Town."
(Canto X, 82)

Frech, aufmüpfig legt der Dichter los, dessen erste beiden Canti  von "Don Juan" 1819 in England anonym veröffentlicht und natürlich sogleich wegen ihres “unsittlichen Inhalts” gerügt wurden. Er gab auch zu, dass er keine Ahnung hatte, wohin das Schicksal seinen Helden noch verschlagen sollte. Denn es ging ihm wirklich um Selbstdarstellung und um seine Gesellschaftskritik, auf beinahe akrobatisch zu nennende Art bewältigt mit dieser äusserst schwer zu handhabenden Strophenform, die er für sich regelrecht zu "zähmen" vermochte. Sechzehn Canti und ein halbes sollten es werden; vermutlich hätte er sie leicht verdoppelt, wäre er nicht in jungen Jahren im Kampf für die Unabhängigkeit der Griechen an einer Lungenentzüdndung gestorben. - Byron spielte auch auf sein Vorgehen, die Nachahmung italienischer Dichter, die sich im 17. Jahrhundert mündliche Improvisations-Wettkämpfe geliefert hatten, an, verheimlichte aber, wie mühsam diese  scheinbare Nachahmung im Englischen sein musste:

"I rattle on exactly as I'd talk
 With anybody in a ride or walk.

I don't know that there may be much ability
    Shown in this sort of desultory rhyme;
But there's a conversational facility
    Which may round off an hour upon a time,
Of this I'm sure at least, there's no servility
     In my irregularity of chime,
Which rings what's uppermost of new or hoary,
Just as I feel the Improvvisatore."
(Canto XV, 19 - 20)

Byron wurde es nicht müde, mit seinem geliebten Werkzeug, der “ottava rima”, die herrlichsten Kapriolen anzustellen, vom “Romantizismus” wegzukommen und zu einem der grössten Satiriker aller Zeiten aufzusteigen. Sein Meisterwerk “Don Juan” mag lang sein, vielen zu lang. Aber es ist immer mal wieder eine - möglichst gut kommentierte! - Lektüre wert, lehrt uns allerlei über das ausgehende 18. und frühe 19. Jahrhundert - und weicht keiner Gelegenheit zum Spott aus. Während Shelley, mit dem der Dichter befreundet war, nach einiger Zeit eher “abgehobene” Werke schrieb und uns der jung verstorbene John Keats vor allem wegen seiner wenigen Gedichte in Erinnerung bleibt (die Balladen trugen auch ihren Anteil zur “Schwarzen” Romantik bei), war Lord Byron unter den  Dichtern der Spätromantik derjenige mit der - boshaften - Bodenhaftung. Ein wahrhafter Genuss!

                                                        ******

Kaum jemand dürfte gerade diesem Eintrag aufmerksam gefolgt sein. Wer den Anfang las und jetzt nach den Sternchen noch einmal einsetzte, wird vermuten, meine Besprechung von Byron's Meisterwerk sei als Vorbereitung auf Ken Russells “Gothic” (1986) zu verstehen. - Wenn ihr euch da mal nicht irrt!



































Dienstag, 21. September 2010

Kurzbesprechung: Urbania

Urbania
(Urbania,  USA 2000)

Regie: Jon Shear (anderer Name: Jon Matthews)

Mit Michel Bodmer verfügt das Schweizer Fernsehen (SF DRS) über einen Redaktionsleiter, der die Zuschauer nicht mit dem üblichen filmischen Einheitsbrei, wie man ihn von deutschen Privatsendern her kennt, versorgt, sondern - wofür ich ihm ausserordentlich dankbar bin - in seinen “Delikatessen” immer wieder kleine Perlen präsentiert, die selbst der Liebhaber aussergewöhnlicher Filme sonst wohl nie kennen gelernt hätte. “Urbania”, das mehrfach ausgezeichnete Erstlingswerk von Jon Shear, ist eine dieser Perlen. Der Film könnte hierzulande zu Unrecht in der Abteilung “Gay Movies” Staub ansammeln, weil er einem schwulen Publikum nicht unbedingt das bietet, was es erwartet, von Heterosexuellen jedoch wegen des schwulen Protagonisten leicht in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden droht. - Sein eigentliches Thema sind nämlich die “urban legends”, jene unwahrscheinlichen, skurrilen Geschichten, derer sich jede Grossstadt rühmt und die längst die ländlichen Sagen abgelöst haben.

“Heard any good stories lately?” - Mit diesen Worten beginnt “Urbania”, die Verfilmung eines Bühnenstücks von Daniel Reitz, die das Erzählen als solches thematisiert und visuell auf höchst eigenwillige Weise umzusetzen vermag. Im Mittelpunkt steht der Schwule Charlie (Dan Futterman), dessen Odyssee durch ein nächtliches New York zu verschiedenen Begegnungen - geplanten und zufälligen - führt. Und alle diese Begegnungen gehen mit jenen seltsamen Erzählungen, deren "Glaubwürdigkeit" vom Freund eines Freundes bestätigt wurde, einher, weil die Menschen im Dschungel der Anonymität reden und angehört werden wollen. - Charlie, der auf der Suche nach einem bestimmten Mann ist (er beschreibt ihn gegenüber einem Barkeeper als jemanden, der sich auf der Schwelle befinde, wo Schönheit in Hässlichkeit umschlägt), wird selber von Halluzinationen, Bildern und Erinnerungen an seinen Freund Chris, den er aus irgendeinem Grund zu vermissen scheint, gequält. - Als er den Gesuchten, Dean,  findet, stösst er auf einen rassistischen, homophoben Kerl, der völlig dem Alkohol verfallen ist und von dem er sich als angeblich Heterosexueller zu einem Schwulentreffpunkt mitschleppen lässt, wo der Besoffene ein wenig “Gay Bashing” betreiben will. Doch auch Charlie hat sich nicht aus freundschaftlichen Gründen auf die Suche nach Dean ("who's going to make everything right") gemacht. Was er vorhat, lässt eher auf einen Mann schliessen,  der emotional am Ende ist und dessen Handeln ihn vielleicht selber zur “urban legend”  werden lassen könnte.

Mehr soll und darf man - der Bitte der Herausgeber folgend - nicht verraten. Der Zuschauer muss sich die erste rätselhafte Hälfte, deren Flashbacks und eigenartige Kamerawinkel für Verwirrung sorgen mögen, selber zumuten. Er wird mit einer tragischen Geschichte, deren Mischung aus  Surrealismus und Hyperrealismus an unerwarteter Stelle eine faszinierende, sich dem Traum annähernde Atmosphäre erzeugt, belohnt. Und Dan Futterman's Gestaltung der Hauptfigur in diesem trotz seiner grellen Farben dunkeln und ehrgeizigen Film überzeugt voll und ganz.



Donnerstag, 16. September 2010

Zum (wohl unausweichlichen) Gedenken

Süsses Gift (Alternativtitel: Chabrols süsses Gift)
(Merci pour le chocolat, Frankreich/Schweiz 2000)

Regie: Claude Chabrol
Darsteller: Isabelle Huppert, Jacques Dutronc, Anna Mouglalis, Rodolphe Pauly, Matthieu Simonet

An den Filmen des am 12. September dieses Jahres verstorbenen Claude Chabrol zeigte sich auf eigenartige Weise, wie manche Kritiker dem Wunsch nach Pauschalisierung nachgeben: Da der Regisseur mit “Le Beau Serge” (1958) oder “Les Cousins” (1959) nicht bloss als Mitbegründer der Nouvelle Vague galt, sondern auch bekennender Maoist war und sich mit sozialkritischen Filmen über die Bourgeoisie (“Les biches”, 1968, “La femme infidèle”, 1969) einen Namen gemacht hatte las man sozusagen von jeder neuen Regiearbeit des Franzosen schon floskelhaft, er halte mit seinem neuen Meisterwerk dem Bürgertum wieder  einmal gnadenlos den Spiegel vor - eine Meinung, die oft erst im Nachhinein und nach einigen ehrlichen Rezensionen in mehrfacher Hinsicht revidiert werden musste.

Denn erstens ging es Chabrol, der sich - um es deutlich auszusprechen - als Gourmet in der von ihm kritisierten Bourgeoisie mittlerweile bequem eingerichtet hatte, gelegentlich auch einfach darum, eine Geschichte ohne “hintergründige Angriffe” auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht zu erzählen (etwa im gelungenen Psychothriller “Le cri du hibou”, 1987, oder in “Une affaire des femmes”, 1988, dem schon beinahe nach einem Klassiker aussehenden Film über eine Engelmacherin im von den Deutschen besetzten Frankreich der 40er Jahre - mit Isabelle Huppert in einer ihrer grössten Rollen); und zweitens teilte er mit vielen etwas gar fleissigen Regisseuren das Schicksal, ein paar höchst durchschnittliche Filme gedreht zu haben, was nicht zuletzt die öfters eingesetzte Huppert zu verschleiern vermochte, weil sie mit ihrem einzigartig herben Gesicht alles auszudrücken vermag - und selbst wenn sie nichts ausdrückt, den Eindruck erweckt, ihr Schweigen spreche Bände...

“Merci pour le chocolat”, gerade von Schweizer Kritikern bejubelt (es handelte sich um eine Co-Produktion), scheint mir zu diesen mittelmässigen Arbeiten zu gehören: Mika, die Erbin eines Schokoladenkonzerns, lebt mit ihrem Mann André, einem berühmten Pianisten, der ohne das starke Schlafmittel Rohypnol nicht leben kann, in einer luxuriösen Villa hoch über Lausanne. Die beiden waren schon einmal verheiratet, trennten sich aber, weil sich André in Mikas Schwester Lisbeth verliebte, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Jetzt scheint die Familienidylle, an der auch Mikas Stiefsohn Guillaume teilhat, perfekt zu sein - bis eines Tages die junge Musikerin Jeanne auftaucht und behauptet, sie könnte nach der Geburt vertauscht worden und vielleicht Andrés Tochter sein. Mika bemerkt, wie ihr zunächst skeptischer Mann zu seiner möglichen Tochter, die bei der Familie ein Wochenende verbringen darf, eine emotional starke Bindung entwickelt, ihr regelrecht “verfällt”. Er offeriert der jungen begabten Frau Piano-Lektionen, in denen er völlig aufgeht (Warnung: Der Trauermarsch von Franz Liszt wird bis zum Überdruss eingeübt!) - und darüber ganz vergisst, dass er noch eine Frau hat, die sich freilich nichts anmerken lässt, sondern weiterhin die freundliche und “perfekte” Gastgeberin spielt.


Dies der Ausgangspunkt eines Psychothrillers nach einem Roman von Charlotte Armstrong, der auch in die Vergangenheit führen wird, dessen Plot man aber recht schnell durchschaut. Die eigentlich banale Geschichte, die - das Klavierspiel nachahmend - durch Andeuten und leichtes Akzentuieren einer Vernachlässigung gekonnt vorgibt, mehr zu sein als sie ist, bedarf schon allerhand interpretatorischer Kunststücke, wenn man sie zum in der Tradition von Chabrols frühen Filmen stehenden sozialkritischen Meisterwerk erheben will - indem man etwa zu erkennen glaubt, die Kernaussage von “Merci pour le chocolat” (ein inhaltlich ziemlich verräterischer Titel!) sei: Der in der bürgerlichen Familie lebende Mensch ist gezwungen, zum Künstler oder zum Mörder zu werden (so Georg Seesslen in einer Rezension, die nur stellvertretend für viele stehen soll). --- Natürlich geht es um eine kranke, verletzte Seele, die zum Unheil einer an sich kranken Familie, wie man sie übrigens in allen Gesellschaftsschichten finden könnte, wird (die Familienidylle erweist sich grundsätzlich als so trügerisch wie der ruhige Genfersee, der uns - um seine Symbolik zu verdeutlichen - ähnlich oft und mit aufdringlicher Regelmässigkeit vor Augen geführt wird wie das Sanatorium in Geissendörfers “Zauberberg”, 1982). Man darf sich jedoch fragen, wer in dieser Familie der Mörder ist; denn es gibt auch Seelenmörder. - Dies ist aber auch schon alles, was ich, der ich sonst jeder nicht allzu phantasievollen Interpretation gesonnen bin, der höchstens leidlich spannenden Geschichte zu entnehmen vermag. Der Film gibt nämlich all das, was man in ihn hineinzulegen versucht, bloss scheinbar her. Er könnte auch als durchschnittlicher “Tatort“, der ein klein wenig an der bürgerlichen Fassade kratzt, durchgehen.


Weshalb komme ich im Zusammenhang mit Chabrols Tod also überhaupt auf  "Merci pour le chocolat" zu sprechen? - Es geht mir einzig um die grosse Isabelle Huppert, die ich bewundere, seit ich sie in Claude Gorettas “La dentellière” (1977), einem leider etwas in Vergessenheit geratenen Zeitdokument,  zum ersten Mal sah. Es wäre ein Leichtes, sie für einen ihrer grossen Filme zu loben. Dass sie jedoch - umgeben von blass gezeichneten Darstellern - den kammerspielartigen “Thriller” von Chabrol zu einem Ereignis macht, ist ein Verdienst sondergleichen. Man muss sie bloss als scheinbar geduldige Gattin still auf dem Sofa sitzend oder bei der Zubereitung der allabendlich ihrem Stiefsohn kredenzten Schokolade (sie lässt - malheureusement! - die Kanne fallen) beobachten; dann weiss man, was “Merci pour le chocolat” in den fähigen Händen eines das Abgründige betonenden Regisseurs tatsächlich sein könnte. Sogar ihr letzter Blick auf ihren Mann lässt Zweifel aufkommen, ob die Schein-Idylle nicht doch aufrecht erhalten bleibt. Er lässt den Zuschauer verunsichert zurück. - Es ist sicher eine undankbare Aufgabe für eine Schauspielerin, die ich als Jahrhundertereignis bezeichnen möchte, Mittelmass mit ihrem Glanz zu erfüllen; dass sie es dennoch mit Bravour bewältigt, scheint mir eine Erwähnung wert.

Zum Schluss eine kleine Anregung für unsere Freunde der etwas abwegigen und weit hergeholten Interpretationen: Warum rücken sie nicht den Genfersee mit seiner im wahrsten Sinne des Wortes tiefgründigen Bedeutung etwas mehr ins Zentrum des Interesses? Führt Chabrol mit ihm nicht sämtliche Vorstellungen des für unsere antik-christlich geprägte Kultur so entscheidenden Begriffs vom Grunde - von der “causa” der antiken Philosophie mit all ihren Implikationen bis zum der mittelalterlichen Mystik zu verdankenden religiösen “Seelengrund” - ad absurdum und läutet ein völlig neues Zeitalter ein, weil man auf dem Grund des Sees schlicht --- ersäuft?

Samstag, 11. September 2010

Die Verwirrungen des Produzenten mit dem "O." in der Mitte

Jenny (Alternativtitel: Jennie - Das Porträt einer Liebe)
(Portrait of Jennie, USA 1948)

Regie: William Dieterle
Darsteller: Jennifer Jones, Joseph Cotten, Ethel Barrymore, Lillian Gish, Cecil Kellaway, David Wayne, Albert Sharpe, Henry Hull u.a.

Es war einmal - die Märchenfloskel dürfte in diesem Zusammenhang angebracht sein - ein Produzent, der hatte gerade den “grössten Film aller Zeiten” herausgebracht, als ihm eine junge Frau begegnete, in die er sich Knall auf Fall verliebte, deren Karriere er von nun an zu seiner Lebensaufgabe machte - und mit der er unbedingt einen noch grösseren Film als  den “grössten Film aller Zeiten” produzieren wollte. Was aber kommt dabei heraus, wenn ein erwachsener Mensch derart seinen Verstand verliert, dass er sich   - deshalb die Anspielung auf Musils “Törless” im Titel - einem spätpubertären Taumel hingibt, der ihn die Kontrolle über sich und sein Handeln verlieren lässt?

Tatsächlich vermochte David O. Selznick seiner “Neuentdeckung”, die er als Jennifer Jones unter einen langjährigen Vertrag genommen hatte, gleich für ihre erste Hauptrolle in “The Song of Bernadette” (1943) zu einem Oscar zu verhelfen. Doch er überschätzte das Talent der von ihm heillos bewunderten Schauspielerin und späteren Frau, der er ein möglichst breites Rollenspektrum zwischen Heiliger und Hexe, Unschuld und Hure auf den Leib schreiben liess - und er wollte nicht erkennen, dass sie sich in kleineren Filmen wesentlich besser machte als in den pompösen Schinken, mit denen er sie zum leuchtendsten Stern am Filmhimmel aufzubauen versuchte. So musste etwa “Duel in the Sun” (1946), in dem sie ein zügelloses “Halbblut” spielte und an dem man tatsächlich jahrelang gedreht hatte, kläglich an “Gone With the Wind” (1939) scheitern, und die folgenden Jahre bescherten Jennifer Jones, die Selznick regelrecht ergeben war und sich von ihm lenken liess, eine beachtliche Reihe von Misserfolgen (etwa “We Were Strangers” ,1949, oder “Madame Bovary”, 1949). Doch der einst instinktsichere Produzent, der weiterhin darauf bestand, sie in “Über”-Filmen wie der Hemingway-Adaption “A  Farewell to Arms” (1957) einzusetzen, kürzte etwa de Sicas Klassiker “Stazione Termini” (1953), in dem sie für einmal überzeugend eine verheiratete amerikanische Frau, die sich in Rom in eine Affäre einlässt, spielte, für das Publikum in den USA auf 62 Minuten  - und segnete 1965 nach mehreren Herzattacken und weiteren vergeblichen Versuchen, Jennifer in den ultimativen Superstar zu verwandeln (“Tender Is the Night”, 1962), das Zeitliche - was auch die Filmkarriere der Schauspielerin mehr oder weniger beendete. Einer ihrer grossen schauspielerischen Momente - und dies zeigt, in welcher Kategorie von Filmen sie wirklich zu würdigen Rollen hätte finden können - sollte ihr als eurasischer Ärztin in der Liebesschnulze “Love is a Many-Splendored Thing”, dem Kassenhit des Jahres 1955, beschieden sein.



“Portrait of Jennie”, die Verfilmung eines Romans von Robert Nathan, war einer jener vergeblichen Versuche Selznicks, dem Namen Jennifer Jones zu erneuter Popularität  zu verhelfen. Die kleine Geschichte eines Bildes, das ein verarmter Maler möglicherweise von einer jungen Frau aus einer anderen Zeit (einem ihm Modell stehenden Geist) malte, beinhaltet denn auf den ersten Blick auch den Stoff für einen hübschen, durchaus erfolgversprechenden Fantasy-Film: Im Jahre 1934 streift der mit seiner Arbeit unzufriedene Maler Ebden Adams, dessen künstlerisches Potential einzig von der älteren Galeristin Miss Spinney erkannt wird (“I’m an old maid, and nobody knows more about love than an old maid“), durch ein abendliches New York, als ihm ein junges Mädchen begegnet und ihn auf eigenartige Weise fasziniert. Es nennt sich Jennie Appleton, trägt altmodische Kleider und scheint überhaupt in seiner eigenen Welt zu leben. Bevor es verschwindet, wünscht es sich, Ebden Adams möge auf es warten, bis es erwachsen sei. - Der Maler fertigt eine Skizze von dem Mädchen an, die er sogleich zu verkaufen vermag. --- Monate später begegnet ihm eine überraschend älter gewordene Jennie wieder in der winterlichen Stadt, und er beschliesst ein Porträt von ihr zu malen. Mit jeder Begegnung reift das seltsame Wesen mehr zur jungen Frau heran, die noch immer von einer Vergangenheit erzählt, in der sie zu leben scheint. Zwischen Maler und Modell entwickelt sich eine Liebesbeziehung, deren eigentümlich übersinnliches Wesen von Jennie stets erneut betont wird (“The strands of our lives are woven together and neither the world nor time can tear them apart”).  - Als Ebden Adams in einem Kloster Erkundigungen über seine Geliebte einholt, erfährt er, dass sie vor Jahrzehnten bei einem Sturm ums Leben kam. Vermag er sie durch einen “Sprung” in ihre Zeit zu retten und in die seine herüberzuholen? - Oder benötigte der Maler - diese Möglichkeit räumt insbesondere Miss Spinney immer wieder ein - die angebliche Erscheinung lediglich als Inspiration für sein einziges künstlerisch vollendetes Werk?

Wie gesagt: der Stoff für eine bezaubernde Fantasy-Liebesgeschichte, die - dies hatte schon “The Ghost and Mrs. Muir” (1947) gezeigt - durchaus Erfolg versprechend  gewesen wäre. Doch Selznick drohte bereits im Trailer (“...perhaps the most unusual David O. Selznick production since ‘Gone With the Wind‘...”) mit einem ehrgeizigeren Projekt. Und tatsächlich sollte dem 89 Minuten dauernden Filmchen ein Prolog vorangestellt sein, der uns hoch über den Wolken - begleitet von den geheimnisvollen Klängen, die Dimitri Tiomkin und Bernard Herrmann, Motive von Claude Debussy intensiv beanspruchend, komponiert hatten -   nicht nur schier endloses pseudophilosophisches Raunen (“Since time began, man has looked into the awesome reaches of infinity and asked the eternal questions: What is time? What is life? What is space? What is death? ...”) zumutet, sondern auch noch Euripides und Keats bemüht, bevor anstelle der Credits das verheissungsvolle “And now: Portrait of Jennie!” ertönt. - Darauf folgen durchaus ansprechende Aufnahmen eines herbstlichen New Yorks (Selznick bestand auf Originalschauplätzen, was die Kosten des Films enorm in die Höhe schnellen liess), durch das ein resignierter Joseph  Cotten schlendert, der uns bei jeder unpassenden Gelegenheit aus dem Off erzählen muss, wie er sich gerade fühlt und was er gerade tut (Bewunderer des grossen Schauspielers, der seine Gefühle und sein Handeln durchaus ohne Kommentare zum Ausdruck zu bringen vermochte, warten ängstlich auf ein “And then I sneezed”, worauf man dann tatsächlich ein Niesen in Grossaufnahme zu sehen bekäme). - Aber letztlich dient eben alles der raunenden Beschwörung des Geheimnisvollen, muss sich dem “Übersinnlichen“ unterwerfen, welches auch durch eine völlig unglaubwürdig inszenierte atmosphärische Veränderung der Stadt und das Einsetzen der Debussy-Klänge vor dem “Erscheinen” des  geheimnisvollen Wesens vermittelt werden soll.

Joseph Cotten - er hatte schon zweimal mit Jennifer Jones zusammengearbeitet - vermag trotz seiner 43 Jahre den jungen Maler überzeugend darzustellen, zeigt wie auch die grosse Ethel Barrymore und Lillian Gish, dass es Selznick noch immer gelang, einzigartige Schauspieler für ein geradezu peinlich aufgeplustertes Projekt zu gewinnen. - Die 29-jährige Hauptdarstellerin hingegen wirkt schon als Schulmädchen  höchst gekünstelt; und Selznick zelebriert sie als schmachtende junge Frau in derart aufdringlichen Bildern, dass die Effekthascherei unübersehbar ist. - Als Gegensätze zur übernatürlichen Grundstimmung sollen - auch dies ein Fehlgriff, der Selznick zu verdanken sein dürfte - David Wayne und Albert Sharpe als höchst diesseitige komödiantische Figuren dienen, für die der Maler in einem irischen Pub ein patriotisches Bild herstellt.



Der allmächtige Produzent bestand auf einer Viragierung (“film tinting”)  der beiden Teile am Schluss des Films: die Szene, in der Adams seine Geliebte im Sturm zu retten versucht, nimmt einen grünen Farbton an, sein Erwachen und ein letztes Gespräch mit der Galeristin einen braunen. Vermutlich wollte Selznick die Stimmung des Höhepunkts auf diese Weise noch deutlicher vermitteln. (Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinen Freunden von MovieMaze bedanken, die mich darauf hinwiesen, dass Viragierungen keineswegs nur in Stummfilmen vorkamen, sondern etwa auch in Kriegsszenen von Samurai-Filmen bewusst eingesetzt werden. Es scheint, als habe gelegentlich jede farbliche Tönung ihre spezielle Bedeutung.) - Am Schluss von “Portrait of Jennie” sieht man das vollendete Bild in Farbe im Museum hängen, ein Effekt, der ganz offensichtlich von Albert Lewin’s “The Picture of Dorian Gray” (1945) übernommen wurde.

Der Film - es handelte sich verständlicherweise um William Dieterle’s einzige Zusammenarbeit mit Selznick - erwies sich als Flop. Die Zuschauer waren mit dem leeren Pathos, das er ihnen auftischte, aus für mich einleuchtenden Gründen nicht zufrieden. Man könnte sagen, in “Portrait of Jennie” seien grosse Darsteller, grosse Komponisten  und Fotografen - vielleicht sogar gute Drehbuchschreiber, die nach den Eingriffen Selznick’s nichts mehr von dem entdecken konnten, was sie geschrieben hatten - für die verworrene Beweihräucherung einer Schauspielerin verheizt worden. - Wer heute Recherchen anstellt, muss jedoch zur Kenntnis nehmen, dass er kaum noch auf negative Beurteilungen des damaligen Debakels stösst. Im Gegenteil: “Portrait of Jennie” wird von vielen nicht nur als “kleine Perle des phantastischen Films” betrachtet, sondern geradezu kultisch verehrt. Und die Anhängerschaft kann sich auf keinen Geringeren als Luis Buñuel berufen, der sagte, Selznick’s Ausflug ins Übersinnliche habe ihm "ein grosses Fenster geöffnet”. - Ein jeder möge sich sein eigenes Urteil bilden!

Sonntag, 5. September 2010

251 Erinnerungsfetzen

Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte
(Deutschland 2008)

Regie:  Michael Althen, Hans Helmut Prinzler

“Geschichte” - ein diffuser Begriff, der  in unserer schnelllebigen Zeit oft nur wenig mit dem pedantischen Aufarbeiten eines Ereignisses aus der Vergangenheit oder einer in die Gegenwart hineinreichenden Entwicklung, wie wir es von der Schule her kennen, zu tun hat. So mag es denn auch nicht erstaunen, dass eine Dokumentation, die über hundert Jahre deutsches Kino in 106 Filmminuten verpackt, als “eine Geschichte” bezeichnet wird. Was aber hat uns diese “Geschichte” zu bieten?

In erster Linie sind es einmal Erinnerungsfetzen aus sage und schreibe 251 Filmen, die einander gelegentlich vielsagend gegenübergestellt  (Leni Riefenstahl, die derart viel Zeit hinter der Kamera verbrachte, dass sie von allem nichts merken wollte, dem Schauspieler Joachim Gottschalk, der sich zusammen mit seiner jüdischen Frau 1941 für den Freitod entschied), manchmal aber auch zu Motivblöcken zusammengefügt werden, die den Eindruck erwecken, man wolle dem “deutschen Wesen”, das es natürlich nicht gibt, auf die Spur kommen (die Blicke der Männer, deren “teutonische Andersartigkeit” lediglich der Schminktechnik zuzuschreiben ist, das Rauchen, Küssen, Telefonieren etc. im deutschen Film, das sich kaum von dem in Filmen anderer Länder unterscheiden dürfte). Und oft stehen diese Fetzen auch wenig begründet nebeneinander.

Spannend wird es, wenn einzelne Themenbereiche oder geschichtliche Epochen dann doch anhand von Filmausschnitten näher beleuchtet werden: die Zeit des Nationalsozialismus mit ihrem Repertoire, das von musikalischer Unterhaltung über Veit Harlans Rührstücke - er liess seine Frau Kristina Söderbaum bekanntlich auf alle erdenklichen Weisen sterben - bis hin zu den schändlichen Propagandastreifen reichte, für deren schlimmsten, “Jud Süss”, 1940, auch Harlan als Regisseur verantwortlich war; die Geschichte der Berliner Mauer von ihrem Bau bis zum Fall und der diesen Fall verschlafenden Mutter in “Good Bye, Lenin” (2003) - oder die “Geschichte” eines Deutschlands auf der Strasse. - Leider wird wenig über den Film der DDR gesagt; man beschränkt sich neben einer etwas eingehenderen Besprechung von “Solo Sunny” (1980) vor allem auf von der Parteileitung verbotene Werke - während zumindest ich auch gerne Ausschnitte aus jenen Ablenkungsmusicals gesehen hätte, die offenbar als eine Art Pendant zu den Heintje- oder Roy Black-Glücklichmachern des Westens zu betrachten sein dürften.

Diesen Erinnerungsfetzen werden zehn Filmschaffende zugesellt, die sich kurz über einen ihrer Lieblingsfilme - auf oft sehr persönliche Art - äussern dürfen. Hier stört die höchst unterschiedliche Qualität der Besprechungen ein wenig: Man dürstet regelrecht nach einer neuen Sichtung von Helmut Käutners “Unter den Brücken” (1944), wenn man Christian Petzolds Analyse einer einzigen Szene aus diesem “Desertionsfilm” (das Wegblasen einer in die Stirn fallenden Locke) gesehen hat; wird von Hanns Zischler an die zutiefst beeindruckende Kälte in Alexander Kluges “Abschied von gestern” (1966), einem frühen “Neuen Deutschen Film”, erinnert - oder gar von Dominik Graf auf ein geradezu vergessenes Werk aufmerksam gemacht: Klaus Lemkes “Rocker” (1971), dessen lange zurückliegende Ausstrahlung im Fernsehen mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen stand. - Wenig ergiebig, gelegentlich lediglich selbstgefällig hingegen etwa  Tom Tykwers Bemerkungen zu Murnaus “Nosferatu” (1921) oder die von Doris Dörrie, die über “Alice in den Städten” (1974) einen neuen Blick auf Deutschland gefunden haben will. Auch das wohl grösste deutsche Filmereignis der Nachkriegszeit, Edgar Reitz’ “Heimat” (1984), dem man sich gerne wieder einmal in Form eines “Kino-Marathons” aussetzen würde, wird nicht seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt. --- Geradezu peinlich: die immer wieder eingeschobenen Assoziationszwänge, denen die Filmschaffenden unterworfen wurden - und über deren Sinn der Zuschauer im Dunkeln gelassen wird.

“Auge in Auge” macht deutlich, dass es nicht DIE Geschichte des deutschen Films ist, sondern lediglich “eine” von vielen möglichen. Nun, meine ist es nicht. So mühsam das Zusammensuchen von Filmausschnitten gewesen sein mag, es kam doch in erster Linie ein Ratespiel (aus welchem Film stammt dieser Ausschnitt doch gleich?) dabei heraus, im besten Fall eine kleine Aufforderung, sich gewisse - oft beliebig herausgepickte - Streifen doch mal wieder anzusehen. - Mir wäre jedoch eine pedantisch aufgearbeitete Geschichte des deutschen Films - möge sie auch 251 Stunden in Anspruch nehmen! - lieber; oder etwa eine Dokumentation, die sich auf spannende Weise (eine Epoche erhellend) eines einzigen Streifens annimmt. - Wem es ähnlich erging wie mir, sei etwa “Das Leben geht weiter” (2002), die äusserst beeindruckend aufgearbeitete Geschichte des letzten nationalsozialistischen Propagandafilms, der nie ins Kino kam und heute als verschollen gilt, ans Herz gelegt.