Freitag, 29. April 2011

Plädoyer für Hitchcock's "Marnie"

Marnie
(Marnie, USA 1964)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: 'Tippi' Hedren, Sean Connery, Diane Baker, Martin Gabel, Louise Latham, Bruce Dern u.a.

Hitchcock's "Marnie" ist so bekannt, dass man sich mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen und auch einige Spoiler in Kauf nehmen kann (ohne das Ende zu verraten, versteht sich). Gleichzeitig scheut man vor einer halbwegs umfassenden Interpretation des Films zurück, wurde er doch vielleicht noch mehr als andere Werke des Regisseurs von allen erdenklichen Seiten durchleuchtet. - Dass ich mich trotzdem an ihn heranwage, hat einen anderen, sehr persönlichen Grund: Ich möchte der Frage nachgehen, warum ich zu der zahlenmässig sicher kleineren Gruppe gehöre, die den umstrittensten Hitchcock für ein (verkanntes) Meisterwerk hält, wie ich meine Einstellung begründe und ob es mir gelingt, sie anderen halbwegs glaubwürdig zu verkaufen. Eine wirklich überzeugende Erklärung habe auch ich nicht zu bieten - was vielleicht den Reiz des Films ausmacht, aber nach einer Menge Arbeit aussieht.

Die Kleptomanin Marnie lässt sich als unscheinbare Sekretärin engagieren, um bald darauf die Tresore ihrer Chefs auszuräumen. Wieder einmal ist ihr eine perfekte Flucht gelungen, und nach ein paar Tagen bei ihrer stets kalt wirkenden Mutter lässt sie sich vom Witwer Mark Rutland anstellen, dem sie bereits an ihrem vorherigen Arbeitsplatz auffiel. Mark wartet förmlich darauf, dass die junge Frau, die eine unerklärliche Angst vor Gewittern und der Farbe Rot hat, sich auch über seinen Tresor hermacht. Er stellt die Flüchtige, fährt mit ihr zu seinem Familiensitz - und zwingt sie zur Heirat! Während Mark's eifersüchtige Schwägerin Lil  Marnie zu kompromittieren versucht, will er selber dem Problem seiner frigiden Frau auf die Spur kommen. Eine Reise in Marnie's Kindheit beginnt...

 

Der Film wurde im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern kein Erfolg; und Hitchcock reagierte ein wenig pikiert, als ihm François Truffaut diese Tatsache in seinem berühmten Interview ("Le cinéma selon Hitchcock", 1966) dezent unter die Nase rieb. Das Publikum empfand "Marnie" als altbacken und langweilig, Kritiker warfen dem Film vor, sich einer überholten Psychologie zu bedienen und in tricktechnischer Hinsicht eine Peinlichkeit zu sein. - Tatsächlich wirken Mark's Versuche, seiner Frau mit amateurpsychologischen Methoden zu helfen, mehr als veraltet (bewusst?), und die plötzliche Erinnerung an Verdrängtes am Ende erscheint lediglich formal begründet. Zu den tricktechnischen Nachlässigkeiten werden der leicht als zweidimensionales Bild erkennbare Hintergrund der Hafenstrasse, in der Marnie's Mutter lebt, ein höchst künstlich wirkendes Gewitter (es verhilft Mark immerhin zu seinem ersten Kuss!) und eine offensichtlich im Studio aufgenommene Reitszene gezählt. - Andererseits: Hitchcock legte oft nicht besonders grossen Wert auf tricktechnische Perfektion, wenn es ihm auf den eigentlichen Effekt der Szene ankam (ich denke etwa an die Autofahrten in "North by Northwest", 1959, oder sogar "Family Plot", 1976) - ohne dass man es ihm zum Vorwurf machte!

Meines Erachtens müssen zwei weitere Faktoren berücksichtigt werden, wenn man die teilweise bis heute anhaltende laue Aufnahme des Films verstehen will: Erstens hatte das Publikum einen neuen Schocker erwartet und war enttäuscht über die Rückkehr des Meisters zum Thriller-Melodram (auch die nach "Marnie" gedrehten Spionagefilme fanden bekanntlich nicht den erhofften Beifall, der erst mit dem überschätzten "Frenzy", 1972, zurückkehrte). Es ist deshalb absurd, "Marnie" als Abschluss einer sich mit psychologischen Themen befassenden Trilogie, die mit "Psycho" angefangen habe und mit "The Birds" fortgesetzt worden sei, zu betrachten; der Film knüpft - ich komme später darauf zu sprechen - vielmehr bewusst an frühere Filme an, bedeutet eine Abkehr vom Schocker. - Zweitens spielen Gerüchte um Hitchcock's Umgang mit seinem "Besitz" 'Tippi' Hedren (er verpasste ihrem Künstler-Vornamen sogar die einfachen Anführungszeichen) eine Rolle. Die Schauspielerin, die schon die Dreharbeiten zu "The Birds" als grauenvoll empfunden hatte, fühlte sich während der Arbeit an "Marnie" vom Regisseur sexuell belästigt. Man weiss nichts Genaues, bloss, dass Hedren ihren Kontakt zu Hitchcock beendete und von ihm nicht wieder eingesetzt wurde. - 1983 erschien jedoch eines der für den Ruf des Regisseurs nachhaltig schädlichsten Bücher: Donald Spoto's höchst unbeglaubigte Biographie "The Dark Side of Genius: The Life of Alfred Hitchcock". Spoto genoss es regelrecht, den Regisseur zum seinen unterdrückten sexuellen Begierden ausgelieferten Monster zu machen, das während der Dreharbeiten zu "Marnie", bereits dem Alkohol verfallen, sich nicht mehr wie bei Grace Kelly habe zurückhalten können. Der Autor, dem zwei kurze Interviews mit Hitch gewährt worden waren und dem sich alle dem Regisseur verbunden Fühlenden verweigerten, weiss natürlich im Detail, was sich genau bei der Entstehung von "Marnie" ereignete - und leider wurde vieles von dem, was er schrieb, kolportiert und blieb in den Köpfen des Filmpublikums hängen. Besonders hübsch: Hitchcock's Interesse am Film habe nach dem Konflikt mit Hedren nachgelassen, was die vielen oben erwähnten "Flaws" erkläre. Wäre Spoto tatsächlich ein Hitchcock-Kenner, wüsste er, wie minutiös der "Master of suspense" seine Filme vorplante, so minutiös, dass er - möge es sich nun um Narkolepsie oder einen Fimmel gehandelt haben - am Set oft den Eindruck eines Schlafenden erweckte. Der Film war also im Grunde genommen bereits "fertig", als er gedreht wurde; und die Beziehung zu einer Hauptdarstellerin konnte daran kaum etwas ändern.

Was habe ich, der ich "Marnie" erstmals als zehnjähriger Bengel und seither unzählige Male sah, nun all den negativen Beurteilungen des Films entgegenzusetzen? Es ist nicht viel, lohnt aber vielleicht doch eine Überlegung: Man erhält insbesondere in gewissen melodramatischen Filmen des Regisseurs gelegentlich den Eindruck, er "leihe" seinen Protagonisten die Kamera für eine Weile, gebe sie ihnen als "Auge", damit sie dem Zuschauer für ein paar Momente die Welt zeigen können, wie sie sie sehen. Dieses Phänomen begegnete mir in aller Deutlichkeit erstmals bei "Rebecca" (1940): Die namenlose zweite Mrs. de Winter zeigt uns nicht bloss die im ganzen Haus scheinbar übermässig verstreuten Zeichen ihrer Vorgängerin, sie nimmt auch die Bewegungen von Mrs. Danvers, der unheimlichen Haushälterin, als nicht hörbares Schweben wahr und lässt es den Zuschauer als solches empfinden. In "Notorious" (1946) etwa ist es vor allem die berühmte Gleitfahrt der Kamera vom ganzen Festsaal bis zur Hand von Ingrid Bergman, die den Schlüssel zum Weinkeller hält, von der ich den Eindruck habe, es gehe hier um die Bewegung vom "Das seht ihr!" zum "Das spüre ich!". Und in "Vertigo" (1958) ist es letztlich neben der Musik nur die Kamera, die dem Zuschauer als Auge von James Stewart vermitteln kann, wie vom Tode umgeben er die Ausstrahlung der scheinbaren Madeleine wahrnimmt.

Bei "Marnie" scheint es mir, als würde diese eigenartige Funktion der Kamera beinahe zum Prinzip erhoben, was den Film über weite Strecken zum (ich möchte sagen: halluzinatorischen) Ereignis macht, das uns miterleben lässt, wie die Hauptperson sich und ihre Welt (die "Wirklichkeit" verdrängend?) wahrnimmt. Bereits der Beginn, der eine dunkelhaarige Frau zeigt, die selbstsicher einen Bahnsteig entlanggeht, erscheint wie ein Sich-Betrachten der gespaltenen Marnie von hinten: "Seht doch, wie gut ich das kann!". Die Hafenstrasse mit ihrem riesigen Schiff im Hintergrund, das so symbolträchtig ist, dass es in den jetzt kindlich gewordenen Augen ruhig zweidimensional wirken darf, offenbart dann einen anderen im Untergrund drohenden Teil der Geschichte dieses Wesens (man beachte auch die unbesorgt spielenden Kinder, zu denen Marnie nie gehören konnte!). Die Tresorräume wirken wie billige Theaterkulissen, und als solche nimmt sie Marnie auch wahr: Einzig der riesige, immer gleich aussehende Tresor spielt eine Rolle. - So gerät der Zuschauer zunehmend in die Welt dieser eigenartig-fremden Frau, empfindet das Gewitter so, wie sie es empfindet, lässt den Landsitz der Rutlands plötzlich im Vergleich zur bisherigen "Welt" so überreal erscheinen, dass er ihm beinahe Angst einjagt - und erlebt das Reiten als das einzige wirklich befreiende Erlebnis in diesem Traum, in dem sich das scheinbare tricktechnische Manko vielleicht sogar als Vorteil entpuppt (ein Reiten wie ein Schweben!). Man könnte einige dieser "Flaws" ins Gegenteil verkehren, wenn man der Welt von Marnie erst ausgeliefert ist.


Ab und zu will Hitchcock aber offenbar daran erinnern, dass es sich bei diesem Trip, dem wir zu verfallen drohen, durchaus um die Welt "in Marnie's Augen" handelt. Er tut dies raffinierterweise, indem er uns in Zweifel versetzt: Während der ersten Autofahrt zum Landsitz der Rutlands etwa wirft Sean Connery der Hedren einen derart ordinären "Dich nehm ich mir!"-Blick (den der hervorragend spielende Schauspieler nicht von seinen James Bond-Rollen her hat, sondern Hitchcock verdankt!) zu, dass man sich unweigerlich fragt, ob er bloss in Marnie's Wahrnehmung existiert oder real ist. Und ist das Gesicht, das wir von der Vergewaltigten sehen, das Gesicht, das ihr Mann sieht? Müsste er, der ihr doch helfen will, dann nicht von ihr ablassen? Sehen wir etwa vielmehr bloss das Gesicht, das Marnie ihm zu zeigen glaubt? - Eigenartige Situationen, die uns zumindest etwas erkennen lassen: Die Heldin sieht sich als in sich Brüchige umgeben von in sich selber brüchigen, z.T. zwielichtigen Gestalten (ich denke neben Lil an Strutt und den Mann, der sie beim Pferderennen erkennt: Beide begehren sie sexuell und wollen sie zugleich der Polizei ausliefern respektive erpressen). Wie aber soll sie in einer Welt voller in sich brüchiger Wesen, die wie ihre die Wahrheit verdrängende Mutter und der zwischen Begehrendem und Helfendem schwankende Mark nicht in der Lage sind, Macht über sich auszuüben, gesunden, "gut" werden? - Und letztlich: Wer ist in diesem Traum, den wir mitträumen, der Bösewicht, falls es überhaupt einen gibt?

Meiner Ansicht nach ist "Marnie" bleibend aktuell, von seiner Gestaltung her (und sie ist letztlich von grösserer Bedeutung als Mark's freudianische Spielchen!) auch in psychologischer Hinsicht keineswegs überholt. Der Film verfügt, wie sogar der "Biograph" Spoto zugeben muss, über eine eigenartige Anziehungskraft, zieht den Zuschauer auf seltsam traumhafte Weise in die gequälte Seele einer gebrochenen Frau hinein - und hebt die Zeit derart auf, dass man seine Länge gar nicht wahrnimmt. Dazu trägt die seltsam hypnotisierende, aber das Meer des Unbewussten immer wieder aufwühlende Musik von Bernard Herrmann wesentlich bei. Das erscheint mir einzigartig, meisterhaft. - Vielleicht haben letztlich das Erschiessen von Marnie's Lieblingspferd und das Aufdecken ihres Geheimnisses etwas Enttäuschendes, weil sie das Ende dieses Traums ankünden: Am Schluss verlässt eine mit dem Zuschauer "erwachte", ratlose Marnie in Mark's Armen das Haus ihrer Mutter.


Gegner von "Marnie" könnten mein höchst unvollständiges Plädoyer in der Luft zerreissen, wie ich ihre Argumente zu widerlegen versuche. Nicht viele Filme können sich rühmen, derart umstritten zu sein. Lynch's "Mulholland Drive" mit seinen ergebenen Verehrern und gandenlosen Verächtern gehört zu ihnen. Dies spricht meiner Meinung nach für "Marnie", der auf den ersten Blick sicher viel weniger komplex ist, jedoch eine Menge Stoff für Interpretationen, Liebe und Hass bietet. - Ich habe lange behauptet, "Marnie" sei nicht mein absoluter Hitchckock-Favorit; ich würde ihn lediglich zu meinen sechs, sieben Lieblingen (so viele muss man dem Regisseur schon zugestehen) zählen. Aber muss ein Film, den man, gerade weil er die Zuschauer derart dezidiert in zwei Lager spaltet, jederzeit mit viel Herzblut und wenig Verstand verteidigen würde, nicht mehr als alle anderen Arbeiten des Meisters geliebt werden? -  Es liesse sich sogar darüber spekulieren, ob Hitchcock die Hedren nicht bewusst mit sexuellen Anspielungen zur Leistung ihres Lebens getrieben habe; was allerdings nichts daran ändert, dass er anschliessend ihre Karriere kaputtmachte.

Samstag, 23. April 2011

MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN

MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN (MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW)
Polen 1961
Regie: Jerzy Kawalerowicz
Darsteller: Lucyna Winnicka (Mutter Joanna), Mieczysław Voit (Jozef Suryn/Rabbi), Anna Ciepielewska (Schwester Małgorzata), Stanisław Jasiukiewicz (Chrząszczewski), Kazimierz Fabisiak (Pater Brym), Maria Chwalibóg (Antosia), Zygmunt Zintel (Wirt)


In einem Frauenkloster in einer abgelegenen Gegend im Osten Polens gehen merkwürdige Dinge vor: Seit einem halben Jahr sind die Nonnen, und insbesondere die adelige Oberin, Mutter Johanna (polnisch Joanna) von den Engeln, offenbar von Dämonen besessen. Ein junger und gutaussehender Priester, Pater Garniec, wurde bereits auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er mit den Schwestern Geschlechtsverkehr gehabt und sie verhext haben soll. Die Handlung des Films setzt erst nach der Hinrichtung ein. Pater Jozef Suryn, ein weltfremder und -abgewandter Priester und Mönch, trifft in einem Gasthof in Sichtweite des Klosters ein. Vier Dominikaner sind bereits im Kloster, um die Vorgänge weiter zu untersuchen und nötigenfalls Exorzismen durchzuführen. Pater Suryn soll sie verstärken und sich dabei speziell um Mutter Joanna kümmern, die besonders stark betroffen ist - sie soll gleich von acht Dämonen zugleich besessen sein. Das Kloster und der Gasthof liegen in einem trostlosen Ödland. (Tatsächlich wurde das Filmset in einer Mülldeponie aufgebaut, wie Jerzy Kawalerowicz in einem Interview erzählte.) Die kahlen Hügel, die das Gelände umgrenzenden Erdwälle und die Klostermauern erzeugen trotz freien Blicks auf den Himmel ein Gefühl der Enge, und die immer wieder durch Gitterstäbe gefilmten Protagonisten verstärken die klaustrophobische Stimmung.


Pater Jozef trifft zunächst Pater Brym, den örtlichen Pfarrer der Gegend. Der hält sich von den Angelegenheiten des Klosters mit ihren theologischen Fallstricken fern und kümmert sich lieber um seine Pfarrei. Außerdem sorgt er für die beiden kleinen Kinder des hingerichteten Pater Garniec, der also den "fleischlichen Gelüsten" nicht ganz abgeneigt war. Brym warnt Suryn vor seiner schweren und gefährlichen Aufgabe. Dessen erste Begegnung mit Mutter Joanna verläuft zunächst in normalen Bahnen. Man begrüßt sich förmlich, und Joanna erzählt von ihren angeblichen nächtlichen Begegnungen mit Garniec, und sie bittet darum, von ihren acht Dämonen - die sie namentlich aufzählt - befreit zu werden. Als sie sich bereits verabschiedet hat, schlägt ihr Verhalten jäh um. Mit raubtierhaften Bewegungen umkreist sie den Innenhof des Klosters, sie beschimpft und bespuckt Suryn, und sie behauptet, dass sie nicht Joanna, sondern ein Dämon sei. Als sie den Hof verlässt, hinterlässt sie an der Wand neben der Tür einen schwarzen Handabdruck. Wenig später beobachtet der schockierte Pater, wie die übrigen Nonnen in kreisenden Bewegungen wie Derwische sich in Trace tanzen.


Die einzige der Nonnen, die offenbar immun gegen die befremdlichen Vorgänge ist, ist Schwester Małgorzata, die bodenständige und lebenslustige Pförtnerin des Klosters. Sie äußert sich spöttisch über die Vorfälle und bezeichnet den rußigen Handabdruck als "Mutter Joannas Trick". Ihre Funktion als Pförtnerin erlaubt es ihr, gelegentlich das Kloster zu verlassen, um sich im Gasthaus mit Antosia, der Bedienung, und den Gästen zu unterhalten. Bei einem dieser Ausflüge trifft sie einen jungen Adligen mit dem leicht zu merkenden Namen Chrząszczewski, der gekommen ist, um sich über die Dinge im Kloster zu informieren. Małgorzata trinkt diesmal sogar ein Glas Honigwein und singt ein Ständchen zu Antosias Lautenspiel, und Chrząszczewski flirtet mit ihr.


Am nächsten Tag findet in der Klosterkirche eine Sitzung statt, bei der die Dominikaner versuchen, im Beisein aller Nonnen Mutter Joannas Dämonen auszutreiben, doch der Erfolg ist begrenzt. Die Szene, einer der Höhepunkte des Films, gibt Lucyna Winnicka die Gelegenheit zu einer ziemlich spektakulären Performance. Pater Suryn beschließt daraufhin, Mutter Joanna in einem Raum auf dem Dachboden des Klosters zu isolieren, um ihre Heilung voranzubringen. Bei der ersten "Einzelsitzung" der beiden wird offensichtlich, dass Joannas emotionales und erotisches Interesse - das zuvor auf Garniec gerichtet gewesen sein mag - nun Pater Jozef gilt. Sie spricht es nicht aus, doch ihre Blicke sprechen Bände. Doch auch Jozef wird von entsprechenden Anwandlungen überfallen, die er - natürlich erfolglos - mit Selbstgeißelungen zu bekämpfen versucht. Als sich etwas später Jozef und Joanna beide gleichzeitig im Dachgeschoß mit bloßem Oberkörper geißeln, nur durch zum Trocknen aufgehängte Wäsche getrennt, ist die erotisch aufgeladene Spannung zum Greifen.


Der zunehmend verwirrte und auch körperlich angeschlagene Pater Jozef sucht unabhängigen Rat bei einem Rabbi (der vom selben Darsteller, Mieczysław Voit, gespielt wird). In einer Schlüsselszene des Films entspinnt sich ein theologischer und philosophischer Diskurs um Dämonen und Engel, das Böse in der Welt und die Natur des Menschen. Der Pater gerät im Disput mit dem Rabbi, der als Ursache für das menschliche Unglück ausgerechnet die Liebe anführt, in die Defensive und ist am Ende mehr verwirrt als zuvor. In einer weiteren Schlüsselszene gesteht Joanna dem Pater, der nun selbst Erlösung von den "Dämonen" sucht, dass sie es genießt und stolz darauf ist, "besessen" zu sein, weil es ihr erlaubt, ihre Bedürfnisse auszuleben, die ihr sonst absolut verwehrt wären. Wenn sie keine Heilige sein kann, dann will sie lieber besessen und verdammt sein, als das eintönige Leben einer gewöhnlichen Nonne zu führen.


Pater Brym ist besorgt über den schlechten Zustand seines Kollegen und gibt ihm den Rat, sich in sein Kloster zurückzuziehen, um sich zu erholen, doch Suryn lehnt ab. Unterdessen sind sich Schwester Małgorzata und Chrząszczewski nähergekommen. Sie fasst den Entschluss, das Kloster zu verlassen, um Chrząszczewski zu heiraten. Im Gasthof hat sie bereits ihre Nonnentracht abgelegt und tanzt mit ihm. Dabei werden sie von Suryn überrascht, doch in seinem inzwischen desolaten Zustand nimmt er kaum Notiz davon. Małgorzata verbringt die Nacht mit Chrząszczewski, doch der bekommt kalte Füße und macht sich im Morgengrauen mit seinem Diener aus dem Staub. Der gedemütigten Małgorzata bleibt nichts anderes übrig, als ins Kloster zurückzukehren. Pater Suryn ist mittlerweile zur Überzeugung gelangt, dass die Dämonen von Joanna auf ihn übergegangen sind. Aus Liebe zu ihr will er dafür sorgen, dass das so bleibt, dass die Dämonen also nicht in sie zurückkehren können. Um das zu gewährleisten, begeht er eine unfassbare Tat ...


Die Handlung von MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN beruht auf realen Ereignissen, die sich in den 1630er Jahren in Loudun in Frankreich zutrugen. Nach Anschuldigungen der Oberin Jeanne des Anges (bürgerlich Jeanne de Belcier) und weiterer Nonnen wurde der Priester Urbain Grandier 1634 gefoltert und verbrannt, und der Jesuitenpater Jean-Joseph Surin spielte eine prominente Rolle in der Angelegenheit. Die Vorfälle von Loudun inspirierten eine Reihe von Künstlern, u.a. Alexandre Dumas d.Ä. zu seinem Stück "Urbain Grandier" (1850), Aldous Huxley zu seinem Roman-Essay "The Devils of Loudun" (1952), Krzysztof Penderecki zur Oper "Die Teufel von Loudun" (1969) und Ken Russell zu seinem (auch für Russell-Verhältnisse) recht wüsten Film THE DEVILS (1971). Der polnische Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz verlegte seine Kurzgeschichte "Matka Joanna od Aniołów" (geschrieben 1942, veröffentlicht 1946) ins polnisch-ukrainisch-russische Grenzgebiet. Die angebliche Besessenheit von Loudun wird heute üblicherweise als durch unterdrückte Sexualität hervorgerufene Massenneurose der Nonnen interpretiert, und Kawalerowicz schließt sich dieser Deutung an. Sie wird im Film nicht mit dem Holzhammer präsentiert, ergibt sich aber zwanglos aus der Handlung, und sie wurde von Kawalerowicz in einem Interview von 2001 explizit bestätigt:
MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW ist ein Film gegen Dogmen. Das ist die universelle Botschaft des Films. Es ist eine Liebesgeschichte über einen Mann und eine Frau, die Kirchenkleider tragen, und deren Religion ihnen nicht erlaubt, sich zu lieben. Sie reden und lehren oft über die Liebe - wie man Gott liebt, wie man den Anderen liebt - und doch können sie wegen ihrer Religion die Liebe eines Mannes und einer Frau nicht besitzen. Dieses Dogma ist selbst inhuman. Die Teufel, die diese Charaktere besessen, sind die externen Manifestationen ihrer unterdrückten Liebe. Die Teufel sind wie Sünden, ihrer menschlichen Natur entgegengesetzt. Es ist, als ob die Teufel dem Mann und der Frau eine Entschuldigung für ihre menschliche Liebe geben. Durch diese Entschuldigung sind sie fähig zu lieben.


Die Stilisierung des kargen, öden Schauplatzes hebt den Film aus einem zu engen historischen und antikatholischen Kontext heraus und verleiht ihm eine gewisse Zeitlosigkeit, die weitere Interpretationen erlaubt, beispielsweise als verschlüsselte Kritik an der erstarrten kommunistischen Orthodoxie, worauf ich hier nicht weiter eingehen will. Dennoch, die katholische Kirche mochte die Botschaften des Films nicht. MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN lief 1961 bei den Filmfestspielen in Cannes und gewann den Spezialpreis der Jury. Im selben Wettbewerb gewann Luis Buñuels VIRIDIANA die Goldene Palme. Unmittelbar nach der Preisverleihung griff der Korrespondent des Vatikan-Blattes L'Osservatore Romano, ein gewisser Padre Fierro, VIRIDIANA und MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN in einem Artikel seiner Zeitung scharf an. Es sei eine Schande, meinte er, dass ausgerechnet aus zwei katholischen Ländern wie Spanien und Polen zwei so blasphemische Filme kämen. Weitere Angriffe von katholischer Seite gegen beide Filme folgten. Der Skandal war kostenlose Werbung für VIRIDIANA, und Buñuel freute sich sehr darüber. Ob Kawalerowicz das auch so sah, ist mir nicht bekannt, aber MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN war jedenfalls nicht nur künstlerisch, sondern auch kommerziell einer seiner erfolgreichsten Filme. Er gewann weitere Preise, darunter 1963 einen in Oberhausen, und auch für Lucyna Winnicka, zwei der Nebendarsteller und Kameramann Jerzy Wójcik gab es Auszeichnungen. In der Tat ist die Kameraarbeit, die die kargen Schauplätze kontrastreich und ausdrucksstark einfängt, bemerkenswert, und die Darsteller sind ausgezeichnet, allen voran die phänomenale Lucyna Winnicka. Sie war Kawalerowicz' zweite Frau und spielte in sechs seiner Filme, meistens Hauptrollen.


Jerzy Kawalerowicz (1922-2007) drehte von 1952 bis 2001 17 Filme, und 1961 war er bereits ein arrivierter Regisseur. Als es 1955 zu einer Liberalisierung und Umorganisation im polnischen Filmwesen kam, wurde das Filmstudio Kadr gegründet, und der noch junge Kawalerowicz wurde dessen künstlerischer Leiter, was er bis 1968 blieb und nach Auflösung und Neugründung des Studios 1972 wieder wurde. Chefdramaturg bei Kadr war der Schriftsteller und Regisseur Tadeusz Konwicki, der zusammen mit Kawalerowicz die Kurzgeschichte von Iwaszkiewicz zum Drehbuch von MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN verarbeitete. Konwicki war auch an zwei weiteren von Kawalerowicz' Filmen am Buch beteiligt. Zu den Regisseuren von Kadr, wo Kawalerowicz fast alle seine Filme drehte, gehörten beispielsweise auch Andrzej Munk und Andrzej Wajda. Das Studio wurde so zu einer Keimzelle der "Polnischen Schule", deren Regisseure sich hauptsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg und den Nachwirkungen des Kriegs und der Besatzung auf die polnische Nachkriegsgesellschaft beschäftigten. Kawalerowicz selbst widmete sich mit DER SCHATTEN (1956) und DAS WAHRE ENDE DES GROSSEN KRIEGES (1957) diesen Themen, bevor er sich allgemeineren psychologischen und existentiellen Stoffen zuwandte. Mit dem in Deutschland gedrehten BRONSTEINS KINDER (1991), nach einem Stoff von Jurek Becker, behandelte er nochmals die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Doch er bewältigte mit PHARAO (1966) und QUO VADIS? (2001) auch zwei sehr aufwendige Historienepen. Kawalerowicz war 1966 einer der Gründer und von 1966 bis 1978 Präsident der Vereinigung der polnischen Filmschaffenden und von 1985 bis 1989 Abgeordneter im Sejm. Er erhielt zwei Ehrendoktorwürden und weitere Auszeichnungen und Preise für seine Filme.


MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN ist in England bei Second Run und in den USA bei Facets auf DVD erschienen (engl. MOTHER JOAN OF THE ANGELS).

Dienstag, 19. April 2011

Kurzbesprechung: Die Entdeckung der Currywurst


Die Entdeckung der Currywurst
(Die Entdeckung der Currywurst, Deutschland 2008)

Regie: Ulla Wagner

Filme, die ganz auf das Schweigen setzen, sind in unserer beredten Zeit eine Rarität. In Ulla Wagners lose auf einer Novelle von Uwe Timm basierendem "Die Entdeckung der Currywurst" ist das Schweigen sogar nötiger Bestandteil der Geschichte; denn diese spielt in einer Zeit, in der jedes verräterische Geräusch lebensgefährlich sein konnte. Mit dem Schweigen geht hier aber auch ein Verschweigen wichtiger Dinge einher, mit dem man sich ein paar Tage Glück zu erkaufen versucht.

Im Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg begegnet Lena, eine reife Frau mittleren Alters und Besitzerin einer Imbissbude, einem jungen Mann, dem sie während der letzten Kriegstage Unterschlupf gewährte. Zwischen der Kantinenleiterin und dem desertierten, weil zum Endkampf an der Heimatfront abkommandierten Marinesoldaten war damals eine kurze, geheim gehaltene Liebesbeziehung entstanden,   die Lena mit einer Lüge zu verlängern versuchte, als sie den sie abhorchenden Nazi-Hauswart nicht mehr zu fürchten brauchte.Doch der junge Mann brach aus seinem goldenen Käfig aus, um zu seiner Familie zurückzukehren. Und während Lena die letzten Tage des Untergangs paradiesisch vorgekommen waren, stand sie jetzt  - eine alternde Frau - vor einer grossen Leere - bis sie zufällig die Currywurst erfand* und ihr Leben erneut in die Hand nahm. - Die beinahe wortlose Begegnung an der Imbissbude währt wiederum nur kurz, man geht jedoch im Frieden auseinander.

Eine solche Hinterhofgeschichte, die uns eine andere, ganz private Seite vom “Untergang” zeigt und in der Trümmerhaufen und Militärfahrzeuge eine Nebenrolle spielen, bedarf Schauspieler, die in der Lage sind, sie schweigend, der sie begleitenden zarten Musik den Vorrang lassend, zu tragen. Ulla Wagner fand sie in Barbara Sukowa, einer ehemaligen Fassbinder-Muse, und dem jungen Alexander Khuon. - Unprätentiöse kleine Filme wie “Die Entdeckung der Currywurst” werden natürlich nicht vom Jubelgeschrei der Menge begleitet und finden ihre Zuschauer oft erst in Fernsehen. Trotzdem sollten ihre innere Grösse und die Fähigkeit, ihnen überhaupt Leben einzuhauchen, nicht unterschätzt werden. Man stelle sich vor, was für eine geschwätzige Angelegenheit Hollywood aus einer solch stillen Romanze, die nur als Ausnahmezustand eine Chance hat, machen würde! - Ich möchte hier von einer bemerkenswerten, wenn auch nicht mit Fanfarenstössen angekündigten Leistung des deutschen Films reden, die es immer wieder zu würdigen gilt.

*Um Berliner, die sich bekanntlich für die Erfinder des ungeniessbaren Zeugs halten, nicht zu beleidigen, sei hier betont, dass wir es  mit einer fiktiven Geschichte zu tun haben.

Samstag, 16. April 2011

Ein letzter Triumph des ländlichen Englands

Die Herrin von Thornhill
(Far From the Madding Crowd, Grossbritannien 1967)

Regie: John Schlesinger
Darsteller: Julie Christie, Terence Stamp, Peter Finch, Alan Bates, Prunella Ransome, Fiona Walker u.a.

Nachdem  die um 1960 entstandenen sozialkritischen Schwarzweiss-Werke aus England zu überraschenden Erfolgen geworden waren, erlebte der britische Film dank einer liberalen Filmförderung, die auch ein Engagement amerikanischer Studios ermöglichte, zwischen 1960 und 1970 einen eigentlichen Höhepunkt. Zu den vielfältigen (qualitativ höchst unterschiedlichen) Produktionen, die in diesem Zeitraum entstanden, gehörten unter anderem “Kostümfilme”, wobei die bereits vorhandene Szenerie gerne für damals sehr erfolgreiche Historienschinken (Zinnemann’s “A Man for All Seasons”, 1966, Charles Jarrott’s “Anne of the Thousand Days”, 1969) benutzt wurde. - Zwei bedeutende Regisseure der “British New Wave” entschieden sich jedoch, Klassiker der englischen Literatur zu verfilmen: Tony Richardson machte aus Henry Fielding’s “Tom Jones” 1963 ein unwiderstehliches Spektakel, das dem Schelmenroman mehr als gerecht wurde - und erntete für das hierzulande leider etwas vergessene Meisterwerk vier Oscars. John Schlesinger wiederum nahm sich 1967, eine Spitzenbesetzung aufbietend, eines Romans des Viktorianers Thomas Hardy (1840-1928) an - und wurde von der Kritik nach allen Regeln der Kunst verrissen. Da  sein “Far From the Madding Crowd” meine liebste Hardy-Verfilmung ist  (und dass Julie Christie, die bekanntlich zu meiner Göttin erkoren wurde, die weibliche Hauptrolle spielt, darf hier als nebensächlich betrachtet werden), möchte ich den Film zu rehabilitieren versuchen.

“Far From the Madding Crowd”, 1874 veröffentlicht, war Hardy’s vierter Roman, und er war, auch wenn ich etwas verallgemeinere, der Roman, der “gerade noch die Kurve kriegte”. Denn obwohl sein “Happy End” nur für zwei der Hauptfiguren gilt, vermag doch das dem Schriftsteller so am Herzen liegende ländliche, den Menschen auffangende England noch einen letzten Triumph zu feiern, während mit “The Return of the Native” (1878) jene Phase einsetzte, die dem Einzelschicksal keine Chance mehr gewährte und  die in die zutiefst tragischen naturalistischen Romane “Tess of the d’Urbervilles” (1891)  und “Jude the Obscure” (1895) münden sollte. - Der nach einigen eher idyllischen Werken entstandene “Far From the Madding Crowd” ist hingegen einem Realismus verpflichtet, der Wesen und Walten der Natur (auch deren Unberechenbarkeit) präzise in seine Geschichte einbindet und faszinierende Schilderungen des bäuerlichen Lebens im Verlauf der Jahreszeiten bietet. Erzählt wird die Geschichte der in der Arbeit disziplinierten, in Liebesdingen launischen Bathsheba Everdene, die die Farm ihres Onkels erbt und gleich von drei Männern umgarnt wird. Natürlich entscheidet sie sich für den falschen, den Windhund Frank Troy, der ihr Vermögen verspielt und sie ins Unglück zu stossen droht. Erst spät erkennt sie, dass sie sich die ganze Zeit über auf die Hilfsbereitschaft des naturverbundenen Gabriel Oak (man beachte den Nachnamen!) verlassen konnte...

 Was gab es nun an Schlesinger’s Arbeit (seiner dritten mit Julie Christie, die für “Darling”, 1965, früh, vielleicht zu früh, einen Oscar erhalten hatte) auszusetzen? - Es waren neben der meines Erachtens unberechtigten  Kritik an der Leistung der Hauptdarstellerin vor allem zwei Dinge, die zeigen, wie wenig man sich mit der literarischen Vorlage auseinandergesetzt hatte: Zum einen kolportierte man gern die von Roger Ebert in der Chicago Sun-Times veröffentlichte Kritik, der Film gehe auf die sozialen Probleme der Zeit überhaupt nicht ein, sondern beschränke sich auf eine stereotype, sich an Hollywood anbiedernde romantische Liebesgeschichte, zwar in hübschen Bildern dargeboten, aber zweieinhalb Stunden nicht ausfüllend.  Zum anderen warf man (ein Vorwurf, der sich im Zusammenhang mit Michael Winterbottom’s “Jude”, 1996, wiederholte und eigentlich auch für Polanski's “Tess”, 1979, gilt) dem Drehbuch vor, es liege zu nah am Original und lasse dem Regisseur überhaupt keine künstlerischen Freiheiten.


Dem ersten Vorwurf ist entgegenzuhalten, dass sich die betreffenden Kritiker wohl vor allem mit Hardy’s späteren Romanen auseinandergesetzt hatten und an “Far From the Madding Crowd” ähnliche Forderungen stellten wie an diese. Tatsächlich gibt sich der Roman nur am Rande “sozialkritisch”. Was aber in dieser Hinsicht aus ihm herauszuholen ist, findet sich auch im Film wieder: die harte Suche nach Arbeit, das Armenhaus als letzte und tödlich endende Zuflucht für eine schwangere Frau etc. Hinzu kommt: Alleine schon die glaubwürdigen Gesichter der Arbeiter auf Bathsheba’s Farm lassen erkennen, wie sehr Schlesinger hollywoodesquen Bildern auszuweichen versuchte, dass es ihm um ein Höchstmass an Authentizität ging. - Zum zweiten Vorwurf: Hardy’s Romane SIND beinahe Drehbücher, weisen, was Literaturwissenschaftler immer wieder in Erstaunen versetzt, ein nahezu filmisches Denken auf. Exemplarisch sei hier nur die Szene genannt, in der Troy die völlig gebannte Bathsheba in der Hügellandschaft jenes semi-fiktionalen Wessex, das natürlich zum grossen Teil mit Dorset, der Heimat des Schriftstellers, identisch ist,  mit seinen Säbelkünsten beeindruckt: Wer sie liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, er habe es mit einem Gedicht in Prosa zu tun, einem Gedicht, das sich aber zugleich Wort für Wort ins Medium Film transportieren lasse. Und tatsächlich: Es gelang Schlesinger‘s Kameramann Nicolas Roeg (der wusste, weshalb er Julie Christie für seinen eigenen ersten Film, “Don’t Look Now”, 1973, besetzen würde) , das Glitzern der messerscharfen Klinge und seinen Effekt auf die junge Frau in einzigartigen Bildern einzufangen.

Zur Handlung: Der junge Farmer Gabriel Oak hält vergeblich um die Hand der schönen, aber in Liebesdingen eigenen Bathsheba an. Als seine Schafe von einem ungehorsamen Hund über die Klippen getrieben werden, macht er sich mit einem “Thank God I’m not married!” auf die Suche nach Arbeit und wird von der mittlerweile mit dem Wahlspruch “I shall manage all with my head and hands” selber zur Farmerin gewordenen Bathsheba als Schäfer eingestellt; denn sie weiss wohl, was sie an dem Mann, der mit der Natur lebt und sich auch Feuer und Sturm zu stellen wagt, hat. - Mittlerweile erwacht in ihr das launisch-kokette Wesen, das dem reichen Farmer William Boldwood, einem Hagestolz, eine Valentinskarte schickt. Entgegen aller Erwartungen verfällt Boldwood der schönen Frau und bedrängt sie beinahe krankhaft. Doch sie zieht den draufgängerischen Charme des charakterlosen Taugenichts Frank Troy, einem Artillerieoffizier, der seine schwangere Geliebte Fanny Robin sitzen liess, weil sie sich zur Hochzeit in der falschen Kirche einfand, vor. In einer überwältigenden Szene (sie spielt sich in einem Seebad ab, und die Wellen des Ozeans übertönen jedes Wort einer offenbar verzweifelt bettelnden Frau) überredet sie ihn, sie zu heiraten, obwohl sie weiss, dass er ihr Verderben sein wird. - Die Ehe verläuft unglücklich; doch Gabriel, der zusammen mit ihr während der von einem Sturm heimgesuchten Hochzeitsnacht (die Männer liegen besoffen in der Scheune herum!) das geerntete Getreide mit Planen abdeckt, hält zu ihr. - Als Troy’s Geliebte Fanny während der Geburt ihres Kindes im Armenhaus stirbt und ihr Sarg auf Geheiss von Bathsheba auf der Farm aufgebahrt wird, erfährt die bloss wegen ihres Geldes geheiratete Frau während einer verzweifelten Auseinandersetzung aus dem Mund des Gatten die Wahrheit: “This woman is more to me, dead as she is, than you ever were.” Troy stürzt sich in die Fluten des Ozeans, und der Weg scheint endlich frei für William Boldwood, der vor lauter Liebeskummer seine eigene Farm zu vernachlässigen begann...


“Far From the Madding Crowd” erzählt wie die Romane des Schweizers Jeremias Gotthelf von einer Gemeinschaft, die noch ganz im Ländlichen verhaftet ist. Und dieses Verhaftetsein wird von Schlesinger, seinem Kameramann Nicolas Roeg und dem für die Musik zuständigen Richard Rodney Bennett in Szenen eingefangen, die schlicht ein Erlebnis sind: Atemberaubende Landschaftsaufnahmen lassen uns an einer Vergangenheit teilhaben, in der sich neue Techniken (etwa auf Boldwood’s Farm) erst am Rande bemerkbar machen, weil das von jenen oft zu Flötenspiel gesungenen alten Liedern, an die auch Hardy’s Gedichte immer wieder erinnern, begleitete Leben sich mit eigenen Händen dem Rythmus der Jahreszeiten anpasst, mit der Natur lebt, ihr aber auch Widerstand leistet, wenn sie zu heftig in seine Existenz  eingreift. Manche Bilder (etwa vom Erntedankfest) wirken wie Stilleben; kleine Szenen (der Mann, der von seiner alles andere als bibelfesten Mutter “Cain” genannt wurde) erinnern immer wieder an die Orality und die damit einhergehende mangelnde Bildung der Menschen, die weit weg von der Menge leben. Einzelne Abläufe sind auf eine die Figuren minutiös charakterisierende Weise  aneinandergereiht, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschliesst: Noch sieht man Gabriel Oak, der verzweifelt auf seine toten Schafe hinabblickt und den Hund erschiesst - und schon wandert er entschlossen den Pfad hoch, felsenfest auf eine Zukunft für sich bauend.  Um ein Abgleiten ins Idyllische zu vermeiden, bauen Film wie Roman etwa drastische Bilder von Fanny Robin ein, die sich in Casterbridge mit letzter Kraft zum Armenhaus hochschleppt. Und natürlich darf auch die für Hardy typische Ironie, heute beinahe makaber anmutend, nicht fehlen: Während Troy auf Fanny, die er unterstützen will, wartet, wird ihr Sarg an ihm vorbeigefahren, ohne dass er es bemerkt. Er “verpasst” also die Tote wie sie einst die Hochzeit verpasste.

Gewiss, “Far From the Madding Crowd” ist sowohl als Roman als auch als Film mein liebster Hardy, weil er den Rezipienten nicht mit in einen Strudel völliger Hoffnungslosigkeit hinabreisst, sondern wie viele Gedichte des Schriftstellers eine Vergangenheit heraufbeschwört, die dem Willigen, dem ländlichen England Verbundenen, stets einen Weg in eine bessere Zukunft wies. Diesen vielleicht eskapistischen Genuss ermöglichen bei Schlesinger  männliche Hauptdarsteller, die wahre Glanzleistungen bieten: Wer je Peter Finch sah, der, vom Ticken der vielen Uhren und den Blicken zweier Dalmatiner begleitet, sein Essen stehen lässt und ständig auf die Valentinskarte mit ihrem “Marry me!” starrt, wird diese Szene nie vergessen können (er verbrennt die Karte, was aber sein innerliches Feuer erst recht zum Lodern bringt). Alan Bates spielt den treuen Weggefährten der jungen Frau, deren Tun und Lassen er mit Blicken, die Bände sprechen, kommentiert, mit einer Glaubhaftigkeit, wie man sie wohl seit seinem “Alexis Sorbas” (1964) nicht mehr erlebte - und Terence Stamp gibt mit jeder Bewegung zu erkennen, dass er ein skrupelloser Mensch ist, der sich auf seinen billigen Charme verlassen darf. - Bei einer solchen Besetzung möge sogar die Frage unbeantwortet bleiben, ob Julie Christie, Symbol der 60er, die nach der harten Arbeit mit David Lean (“Doctor Zhivago”, 1965) gleich wieder lange und beschwerliche Dreharbeiten in Dorset auf sich nehmen musste, nicht eher als mit spröder Schönheit ausgestattete sinnliche Frau denn als Farmerin glaubhaft wirke.

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In meiner kleinen Besprechung eines Hardy-Gedichts wies ich auf einen Film hin, in dem neben dem Gesang einer ländlichen Gemeinschaft auch das Bild des über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins peitschenden Regens vorkommen würde. Tatsächlich gibt es in “Far From the Madding Crowd” eine ganz auf Nässe hin stilisierte Szene, die ich sogar als emotionalen Höhepunkt der Geschichte bezeichen möchte: Während eines heftigen Regens eilt Troy zum Grab seiner Geliebten und versucht verzweifelt,  Blumenzwiebeln in die nasse Erde zu pflanzen. Der Regen wird immer stärker, und das aus einer Dachrinne schüttende Wasser scheint auf Geheiss einer "höheren" Macht  die Aufnahme der Blumenzwiebeln regelrecht  zu verunmöglichen. Troy aber geht an den Strand, um seinen nackten Körper den Fluten zu übergeben. Das Ende eines unnützen Lebens? - Das soll hier nicht verraten werden.