Mittwoch, 30. November 2011

Waking Ned Devine


Lang lebe Ned Devine!
(Waking Ned Devine, Grossbritannien, Frankreich, USA  1998)

Regie: Kirk Jones

Man bezeichnet sie als Topoi, diese seltsamen Motive, die lange Zeit lediglich als Versatzstücke ein Schattendasein führen, auf etwas verweisen (zum Beispiel auf ein: “Hey Leute, ihr habt es mit einer Wohlfühlangelegenheit zu tun!”), urplötzlich aber doch Sinn und Bedeutsamkeit anzunehmen vermögen. Und es gibt sie natürlich auch im Film. Ein solcher Topos, man könnte ihn als “Schwierige Einzelgestalten raffen sich zum Wohle aller zusammen”-Motiv bezeichnen, geisterte ab Mitte der 90er Jahre durch das englische Kino. Er erwachte in “The Full Monty” (1997) zu blühendem Leben, weil der Männer-Striptease-Geschichte daran lag, auch die sozialen Umstände, die ein solches Sich-Zusammenraffen nötig machten, miteinzubeziehen. Weitere Filme, in denen der Topos mehr oder weniger glücklich eingesetzt wurde, waren “Still Crazy” (1998), “Saving Grace” (2000), “Blow Dry” (2001) und “Calendar Girls” (2003). Von einer gegenseitigen Beeinflussung ist kaum auszugehen, eher von einer Befindlichkeit, die die Sehnsucht nach einer erfolgreichen Gemeinschaft förderte.

Auch “Waking Ned Devine”, der Erstling von Kirk Jones, bedient sich des Topos  und setzt ihn für eine recht ungewöhnliche und wenig wahrscheinliche Geschichte ein: Der ganz dem Lotto ergebene Rentner Jackie ist überzeugt, dass jemand in seinem irischen 52-Einwohner-Dorf Tullymore den Jackpot geknackt hat, und er macht es zu seiner zweifelhaften Lebensaufgabe,  den glücklichen Gewinner zu ermitteln. Als er und sein Freund Michael feststellen, dass nur einer der regelmässigen Lottospieler zu einer speziell der Informationsbeschaffung dienenden Party nicht auftauchte, steht fest: Es war Ned Devine! - Dieser hat allerdings ein kleines Problem: Der Schreck über den unerwarteten Sechser liess ihn das Zeitliche segnen. Soll, so fragt sich Jackie nun, der Gewinn wegen einer solchen Kleinigkeit verfallen, ohne dass er etwas davon hätte?  Und er lässt sich einen hinterhältigen Plan einfallen, wie man die paar Millionen der Lottogesellschaft doch noch abjagen könnte. Bald steht das ganze Dorf hinter ihm. Dann taucht die “Hexe” Lizzy Quinn am Horizont auf. Sie hat herausgefunden, wie sie selber an einen beträchtlichen Anteil des Geldes zu kommen vermag...

“Waking Ned Devine”, auf der Isle of Man gedreht, wurde zum grossen Erfolg bei den Kritikern. Tatsächlich wartet der Film mit herb-schönen Landschaften auf, zeichnet sich auch durch hervorragende Darsteller aus, die uns in kleinen Nebensträngen weitere Bewohner des abgeschiedenen Dorfes näherbringen. Im Grunde genommen ist die Geschichte jedoch banal, hat kaum Überraschungen zu bieten. Sie taugt vielleicht als belanglose kleine Komödie, die vom typischen britischen Humor Gebrauch zu machen versucht (ein kleines Beispiel: als Jackie und Michael Neds Gesichtszüge zu verschönern versuchen, fällt dessen Prothese aus dem Mund). Selbst dieser Humor ist jedoch nicht schwarz genug, um britisch zu sein. Und der an den Haaren herbeigezogene Schluss, der offenbar noch für ein wenig Spannung sorgen soll, wirkt geradezu peinlich. - Der Film mag für einen locker-bedeutungslosen Abend sorgen, reicht jedoch nicht ansatzweise an den erwähnten “The Full Monty” heran, weil es ihm an Substanz fehlt. Wer freilich - um doch noch einen Teaser zu hinterlassen - an alten Knackern, die nackt auf einem Motorrad durch die Gegend tuckern, seine Freude hat, wird von “Waking Ned Devine" nicht enttäuscht sein.


Freitag, 25. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 2

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

Am 13. Juli 1935 begannen in Nürnberg die Jubiläumsfeiern der Bahn, doch DAS STAHLTIER wurde nicht gezeigt. Nachdem zuvor monatelang in der Presse über den Fortgang der Dreharbeiten berichtet worden war, fiel die Premiere sang- und klanglos aus. Wenig später, am 25. Juli, wurde DAS STAHLTIER von der Filmprüfstelle Berlin verboten, und zwar auf Betreiben der Reichsbahn. Wie konnte es dazu kommen, wo doch die Reichsbahn alles für das Zustandekommen des Films getan hatte, und noch im Januar Zielkes Budget verdoppelt worden war?

DAS STAHLTIER

Der erste Querschuss kam im März 1935. Die "Reichsvereinigung Deutscher Lichtspielstellen, Kultur- und Werbefilmhersteller e.V.", der innerhalb der Reichsfilmkammer für Kultur- und Dokumentarfilme zuständige Fachverband, schreibt an den Stellvertretenden Generaldirektor der Reichsbahn in Berlin und drückt sein Befremden darüber aus, dass ein so unerfahrener Regisseur wie Zielke, der noch keine "größeren Kulturfilme" abgeliefert habe, mit dem wichtigen Jubiläumsfilm betraut wurde, und dass die Reichsbahn-Filmstelle Berlin (die Mitglied in jener Reichsvereinigung war) nicht in die Herstellung involviert sei. Die Hauptverwaltung der Reichsbahn, die bisher München weitgehend freie Hand gelassen hatte, bekam nun kalte Füße. In einem Spitzengespräch zwischen Berlin und München Ende April wurde entschieden, dass die Reichsbahn-Filmstelle von nun an beteiligt sein soll, und es wurde für den 22. Mai eine Probevorführung des bisher gedrehten Materials angesetzt. Diese wurde jedoch von Zielke wegen technischer Gründe abgesagt. Ob diese Gründe echt oder von Zielke nur vorgeschoben waren, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls bat Zielke, sich zu einem späteren Zeitpunkt den fertigen Film anzusehen.

DAS STAHLTIER

Dazu kam es im Juni in Berlin. Anwesend waren außer Zielke und den Reichsbahn-Oberen auch Leni Riefenstahl und einige weitere Filmleute, darunter Hans Ertl. Der Bergsteiger und Kameramann Ertl war 1932 bei den Dreharbeiten zu S.O.S. EISBERG in Grönland mit Riefenstahl in Berührung gekommen (im wahrsten Sinn des Wortes, denn sie hatten eine kurze Affäre). Später war er einer der wichtigsten Kameramänner bei Riefenstahls zweiteiligem Olympiafilm. Insbesondere filmte er das Turmspringen, den Höhepunkt des ganzen Films. - Die Reaktionen auf die Probevorführung waren zweigeteilt: Die Leute von der Reichsbahn waren entsetzt, Riefenstahl und ihr Anhang waren begeistert. Hans Ertl erinnert sich in seinen 1982 erschienen Memoiren "Meine wilden dreißiger Jahre": "Mit rückhaltloser Bewunderung gratulierten wir Willy Zielke zu diesem Kunstwerk, während der damalige Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, Herr Dr. Julius Dorpmüller, sich stumm erhob, seine Melone aufsetzte und - zusammen mit diversen Reichsbahnräten - kopfschüttelnd den Raum verließ."

DAS STAHLTIER

Und das war es dann - die Reichsbahn-Führung entscheidet, dass der Film "zur Aufführung nicht geeignet" sei. Zielkes Fürsprecher Albert Gollwitzer versucht, durch Änderungsvorschläge zu retten, was noch zu retten ist, aber diese werden sowohl von Berlin als auch von Zielke abgelehnt. Gollwitzer gegenüber wird das Verbot damit begründet, dass bei den historischen Episoden zuviel aus England und zuwenig aus Deutschland behandelt wurde. Aber das ist offensichtlich ein Vorwand, weil ja gerade die historischen Episoden bei der ersten Probevorführung im Dezember 1934 Generaldirektor Dorpmüller gut gefallen hatten. Warum wurde gerade dieser Vorwand gewählt? Martin Loiperdinger vermutet in seinem Artikel über den Film, dass es zur rechtlichen Absicherung geschah. Wenn Zielke gegen das Verbot vorgegangen wäre, hätte die ungenügende Repräsentation deutscher Belange mit Hilfe von Zielkes Vertrag und des Reichslichtspielgesetzes eine (wenn auch an den Haaren herbeigezogene) Handhabe für die Bahn geboten. Auch der zusätzlich genannte Verbotsgrund, dass Zielke für seine Aufnahmen den in Bayern gefertigten Lok-Typ S 3/6 statt der von Berlin favorisierten Baureihe 01 verwendete, ist wenig glaubwürdig. Woran lag es dann? Letztlich erwartete die Reichsbahn trotz der Bekundungen, einen künstlerischen Film zu wollen, einen langen und handwerklich perfekten Werbefilm - und den hat Zielke nicht geliefert. Die Bahn sah den Zuschauer als potenziellen Kunden, der zum Kauf von Bahntickets animiert werden sollte. Aber Zielkes Film vermittelte keine Eindrücke behaglichen und sicheren Reisens - eher im Gegenteil. Die teilweise brachialen Montage-Sequenzen waren geeignet, empfindliche Gemüter in Angst und Schrecken zu versetzen. Das bemerkte auch schon Hans Ertl bei der Probevorführung. "Zugegeben, ein Werbefilm im üblichen Sinn, mit fröhlichen Schaffnern, zufriedenen Gästen im Speisewagen, Postkarten-Fensterblicken auf weidende Kühe, winkende Kinder sowie Fluss- und Gebirgslandschaften war das nicht", schreibt er in seinen Memoiren, und weiter: "Was zuletzt in unnachahmlichen Montagen und Überblendungen von glitzernden Schienenschlangen, fauchenden Dampflokomotiven, gefährlichen Rangiermanövern in einem optisch-akustischen Furioso über die Leinwand donnerte, war Filmkunst in höchster Vollendung. Schweißgebadet erhob sich mancher Zuschauer aus den Tiefen seines Sessels, in den er - Deckung suchend - gerutscht war, wenn ein ›Stahltier‹ nach dem anderen über die zwischen den Schienen eingegrabenen Kameras - und damit gewissermaßen auch über die biederen Kinobesucher - hinwegbrauste." Und Ertl ergänzt als Verbotsbegründung, dass "kein normaler Mensch mehr Eisenbahn fahren würde, der diese zermalmende Wirkung im Wechselspiel von Schienen, Puffern und Dampfsirenen auf der Leinwand erlebt habe." Und das war der Punkt. Letztlich ist Zielke wohl auch daran gescheitert, dass er nicht nur die Absichten seiner Auftraggeber, sondern auch den Rahmen seiner eigenen Freiheiten falsch einschätzte, vielleicht verführt durch die Vorbilder Riefenstahl und Ruttmann, die auch unter den Nazis noch Avantgarde produzieren durften. Aber diese beiden kannten die Wünsche ihrer Auftraggeber genau und bedienten sie auch, im Gegensatz zu Zielke.

DAS STAHLTIER

Leni Riefenstahl wollte das Verbot rückgängig machen lassen und sprach deshalb bei Goebbels vor. In einer Privatvorführung beim Minister, die je nach Quelle im Juli (Stefan Vockrodt) oder erst im Oktober 1935 (Loiperdinger) stattfand, sah sich Goebbels in Anwesenheit Riefenstahls den Film an, aber er fand ihn schlecht und weigerte sich, das Verbot zu revidieren. Goebbels oder sein Ministerium haben den Film also nicht verboten (wie gelegentlich behauptet wurde), er hat nur das Verbot nicht aufgehoben (was er jederzeit gekonnt hätte, weil er gegenüber den Filmbewertungsstellen natürlich weisungsbefugt war). Walter Frentz, in den 30er Jahren einer von Riefenstahls regelmäßig beschäftigten Kameraleuten, und danach sowas wie Hitlers persönlicher Kameramann, hielt im Februar 1938 im Filmseminar einer Berliner Hochschule einen Vortrag über den "filmischen Film", womit weitgehend das gleiche wie mit "absoluter Film" gemeint war, und zeigte - mit einer Sondergenehmigung - die erste und die vierte Rolle von DAS STAHLTIER als Anschauungsmaterial. Dies war wohl die einzige (halb-)öffentliche Vorführung von Teilen des Films im Dritten Reich.

DAS STAHLTIER

Für Zielke war das Verbot natürlich ein Debakel. Er wusste es noch nicht, aber seine Laufbahn als eigenständiger Produzent und Regisseur war damit so gut wie beendet. Um ihm über die Runden zu helfen (und natürlich auch, um sich seine Fähigkeiten zu sichern), verpflichtete ihn Riefenstahl als Kameramann für ihren dritten Parteitagsfilm TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT. Bei TRIUMPH DES WILLENS, dem zweiten und mit Abstand aufwendigsten Parteitagsfilm, war die Wehrmacht zu kurz gekommen. Bei den Aufnahmen hatte es geregnet, und Riefenstahl, die immer auf "schöne Bilder" aus war, ließ diese Sequenzen konsequent weg, sehr zum Verdruß der Wehrmachtsführung. Da Hitler die Wehrmacht für seine Kriegspläne brauchte (u.a. deshalb hatte er 1934 die SA-Führung liquidiert), drängte er Riefenstahl zu einer Lösung. Diese machte den Kompromissvorschlag, einen kurzen dritten Parteitagsfilm zu drehen, der ausschließlich der Wehrmacht gewidmet sein sollte. Hitler, Goebbels und die Generäle waren zufrieden, und so wurde im September 1935 das Material für TAG DER FREIHEIT gedreht. Riefenstahls Arbeitsprinzip bei ihren dokumentarischen Propagandafilmen war es, das Geschehen von möglichst vielen Kameraleuten aus allen möglichen Perspektiven filmen zu lassen und dann aus der Überfülle des Materials einen organisch wirkenden und in den Höhepunkten spektakulären Ablauf zusammenzuschneiden, ohne auf die tatsächliche Chronologie der Ereignisse allzuviel Rücksicht zu nehmen. Bei dieser Arbeitsweise konnte ein begabter Kameramann wie Zielke jederzeit ins Team integriert werden. Es traf sich gut für alle Beteiligten, dass beim Parteitag 1935 erstmals auch ein größeres Manöver stattfand, bei dem die Wehrmacht schon mal Krieg spielen durfte. Die Aufnahmen davon bilden die letzten acht Minuten und den Höhepunkt des 28-minütigen Films. Beispielsweise ließ sich Ertl, der auch mit dabei war, in einem Erdloch mit seiner Kamera eingraben und darin von Panzern überrollen - vielleicht inspiriert von Zielkes zwischen den Schienen vergrabener Kamera. Laut Martin Loiperdinger war Zielke bei TAG DER FREIHEIT nicht nur einer der Kameramänner, sondern er arbeitete gemeinsam mit Peter Kreuder, der auch hier als Komponist engagiert war, an der Nachvertonung des Films. Der Originalton vom Manöver war zu einem unbrauchbaren Soundbrei geronnen, und so wurden Fahrgeräusche, Geschützfeuer etc. nochmal separat aufgenommen und abgemischt.

TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT (Aufnahme Hans Ertl)

Zielkes nächster Auftrag kam wieder von Riefenstahl, und er war noch weit bedeutender. Für FEST DER VÖLKER, den ersten Teil des zweiteiligen Olympiafilms, sollte Zielke den Prolog drehen, und zwar nicht nur als Kameramann, sondern auch als Regisseur und Cutter. Vorgegeben war zunächst nur ein grobes Gerüst: Es sollte ein Bogen von der Antike zur Gegenwart gespannt werden, und die Entzündung des olympischen Feuers und der Staffellauf sollte integriert werden. Im Vertrag, den Zielke abschloss, war festgehalten, dass er den Prolog eigenverantwortlich gestalten und zwei verschiedene Schnittfassungen abliefern sollte. Wörtlich hieß es:
Die Arbeit muss am 31. Oktober [1936] vollkommen geschnitten und vertont sein, und zwar in 2 Versionen:
1) Ihre eigene Auffassung auf Grund des vorliegenden Manuskriptes,
2) 1 Version nach Auffassung von Fräulein Riefenstahl.
     (Das Manuskript hierfür wird noch nachgereicht).
Für Ihre Arbeit erhalten Sie eine Pauschale von RM 10.000.-- brutto
Zielke reiste zunächst mit ein paar Technikern im Juni 1936 nach Griechenland und nahm auf der Akropolis in Athen und anderswo antike Tempel und Statuen auf - gemäß der Riefenstahl'schen Arbeitsweise mehr, als er selbst für sinnvoll hielt, aber Zeit und Kosten spielten für Riefenstahl keine Rolle. Nach Zielkes Rückkehr fuhr Riefenstahl mit anderen Kameramännern im Juli selbst nach Griechenland, um in Olympia die Entzündung des Feuers und den Beginn des Fackellaufs zu filmen. Doch was sie da sah und filmen ließ, entsprach nicht ihren Vorstellungen von "schönen Bildern", und sie verwarf das Material. Stattdessen erhielt Zielke den Auftrag, die Ereignisse nachzustellen, und zwar auf der Kurischen Nehrung, einer langgestreckten schmalen Halbinsel an der Ostsee, im damaligen Ostpreußen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Zielkes "Operation Ostsee" begann mit einer delikaten Mission. Der Plan für den Prolog sah junge griechische Tempeltänzerinnen vor, die splitternackt um einen Altar tanzen sollten. Zielke besuchte Schulen für Ausdruckstanz und Sportgymnastik, um geeignete Modelle auszuwählen. Für eine derartige Aufgabe war er durchaus prädestiniert, denn wie im ersten Teil schon erwähnt, hatte er sich bereits professionell mit Aktfotografie befasst. Nachdem er die Lehrer von der Seriosität seines Anliegens überzeugt hatte - wobei auch die Tatsache half, dass der geplante Film das besondere Wohlwollen Hitlers und Goebbels' genoss -, kamen von ca. 300 Bewerberinnen, die einzeln nackt vortanzen mussten, 30 in die engere Auswahl, und Zielke machte sich mit ihnen und einigen Sportlern auf zur Ostsee. Die Aufnahmen fanden dann offenbar in ungezwungener Atmosphäre statt. In den Drehpausen machte Zielke auch Aktfotos, und als er 1952 ein kleines Büchlein über Aktfotografie veröffentlichte, nahm er zwei dieser Fotos darin auf, und im Begleittext dazu heißt es:
"Einmal in meinem Leben habe ich mit allen Möglichkeiten der Aktaufnahme spielen können... Wir saßen in einem abgesperrten Revier an der Kurischen Nehrung, allein mit 30 ins Paradies zurückgekehrten Evas, einer unendlichen Stille und den letzten Elchen Europas, um den Prolog zum Olympiade-Film 1936 zu schaffen.
Wir hatten diese Evas aus 300 Sportstudentinnen wählen können, ein prachtvolles Menschenmaterial. Mit Anmut und Grazie führten sie alle Studien, Bewegungen und Übungen vor, die wir brauchten. In den Drehpausen standen, lagen oder liefen sie am Strand und freuten sich ihres jungen Lebens. Es berührte weder uns noch unsere Helfer, daß sie splitterfasernackt waren. Sie auch nicht. Die schöpferische Arbeit hatte uns alle viel zu sehr im Bann."
An anderer Stelle schrieb er: "Nur die sehr anstrengende Arbeit in dem tiefen Sand mit der umständlichen Filmapparatur und die ganze Verantwortung für das Gelingen zahlreicher Kameratricks, lenkte mich von dem erotischen Teil solcher Aufnahmen ab!"

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Auch die übrigen Arbeiten gingen gut vonstatten, beispielsweise die zu einer komplizierten Überblendung, bei der eine antike Statue - ein Diskuswerfer vom Bildhauer Myron - in den Zehnkämpfer Erwin Huber in identischer Körperhaltung übergeht, der daraufhin sozusagen zum Leben erwacht und den Diskus wirft. Im September 1936 - die Olympischen Spiele waren bereits vorbei - besuchte Riefenstahl Zielkes Team und war mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Heinz von Jaworsky, seit DAS BLAUE LICHT auch einer von Riefenstahls regelmäßigen Kameramännern, überliefert die Anekdote, Riefenstahl habe sich bei ihrem Besuch selbst nackt unter die Tempeltänzerinnen gemischt. Das wurde später dahingehend aufgebauscht, dass sich Riefenstahl tatsächlich nackt im Prolog sehen wollte, dass Zielke das aber abgelehnt habe, weil er sie zu "vollschlank" fand, und dass es deshalb zum Zerwürfnis zwischen den beiden gekommen sei. Das erscheint aber wenig glaubwürdig. Falls sich die Begebenheit tatsächlich so ereignete, war es wohl kaum mehr als ein übermütiger Scherz von Riefenstahl. In Zielkes eigener Erinnerung ließ Riefenstahl jedenfalls den Badeanzug an: "Und als sie sich kurz vor Beendigung der Aufnahmen am Grabschen Hacken in der Kurischen Nehrung selbst vor die Kamera posierte, sah ich diese Frau das erste Mal im Badetrikot und war enttäuscht. Ihre Figur konnte nicht an meine Modelle heran! Sie war außerdem viel zu vollschlank. So begnügte sie sich mit einer Grossaufnahme ihrer Hände, die den Tanz der Flammen interpretierten, was ihr sehr gut gelang!" Trotzdem war sein Verhältnis zu Riefenstahl nicht unbelastet. Riefenstahl ging mit ihren Mitarbeitern ziemlich fordernd und teilweise sogar rüde um, trotz ihrer Wertschätzung ihrer Fähigkeiten. Die meisten nahmen es gelassen hin, aber Zielke war ein sensibler Charakter, er litt darunter, dass er jetzt ökonomisch von Riefenstahl abhängig war, und er war wohl auch unglücklich in sie verliebt - das schreibt zumindest Hans Ertl in seinen Memoiren. Riefenstahl hatte damals einen recht hohen Männerverschleiß. Auch unter ihren Filmpartnern und Mitarbeitern hatte sie einige Liebhaber, neben Ertl etwa Luis Trenker, Hans Schneeberger und Peter Kreuder. Aber Zielke mit seiner "Falstaff-Figur" (Ertl) kam nicht zum Zug. Ab dem Besuch im September kam es zunehmend zu Unstimmigkeiten über die Gestaltung des Prologs, Zielke fühlte sich von Riefenstahl verfolgt, was diese mit einem mehrfach geäußerten "Du bist ja verrückt!" quittiert haben soll. In seiner späteren Krankenakte aus Haar hieß es: "Über seine psychotischen Inhalte ist vorläufig von anderer Seite nur in Erfahrung zu bringen, daß er seit Sept. 1936 voller Beziehungs- u. Verfolgungsideen steckt, in die er besonders die Filmschauspielerin Leni Riefenstahl einbezieht."

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Zielke lieferte seine fertig geschnittenen Versionen des Prologs bei Riefenstahl ab, doch die schnitt ihn noch einmal drastisch um. Das war wohl einer der Gründe, die das Fass zum Überlaufen brachten. Im Februar 1937 erlitt Zielke einen Nervenzusammenbruch und wurde in eine Münchner Klinik eingeliefert. Nach einigen weiteren Stationen landete er schließlich in der Heil- und Pflegeanstalt (der früheren "Kreisirrenanstalt") Haar bei München, wurde als "unheilbar schizophren" diagnostiziert und auf Beschluss des Amtsgerichts München im Juni 1937 zwangssterilisiert. Laut Zielkes späteren Bekundungen wurden auch medizinische Versuche an ihm durchgeführt. Auf jeden Fall war er als "unheilbar Geisteskranker" vom Tod bedroht. Aus Haar wurden mindestens 900 Patienten zur "Euthanasie" in andere Lager gebracht und dort ermordet, andere Tötungsaktionen forderten hunderte weitere Opfer. Doch Zielke wurde im August 1942, nach insgesamt fünfeinhalb Jahren in der Psychiatrie, aus Haar befreit. Und zwar ausgerechnet von Leni Riefenstahl, die ihn persönlich dort abholte. Sie konnte ihn dort loseisen, weil sie ihn als Kameramann für TIEFLAND anforderte.

DAS STAHLTIER

Die Dreharbeiten zu TIEFLAND begannen schon Anfang 1940, und der Kameramann war Albert Benitz, der wie Riefenstahl selbst und viele ihrer Kameraleute aus der Schule von Arnold Fanck kam. Aber wegen der vielen und langen Unterbrechungen (wie schon erwähnt, wurde TIEFLAND bis Kriegsende nicht fertig) suchte sich Benitz zwischenzeitlich andere Beschäftigung und unterschrieb einen Vertrag mit der Terra. Riefenstahl holte sich also Zielke als Ersatz oder zumindest Ergänzung für Benitz, aber anscheinend hatten seine Fähigkeiten gelitten, was nicht weiter verwunderlich wäre. Riefenstahl schrieb in ihren 1987 erschienenen "Memoiren", die freilich mit Vorsicht zu genießen sind: "Bemerkenswerterweise beherrschte er die Technik noch einwandfrei, aber die Motive, die er aufnahm, zeigten Symptome seiner Erkrankung - sie waren extrem verfremdet." Ob es wirklich Zielkes Erkrankung oder erst die Folgen seiner "Behandlung" waren, die ihn beeinträchtigten, sei dahingestellt. Jedenfalls trug Zielke sehr wenig, wenn überhaupt etwas, zu TIEFLAND bei. Es gab mit Franz Weihmayr einen weiteren Kameramann, und später hatte Riefenstahl auch wieder Benitz für sich allein. Auf ihre Intervention hin versetzte Reichsfilmintendant Hans Hinkel Benitz von der Terra wieder zu Riefenstahl, wodurch ein bei der Terra geplanter Farbfilm mit Benitz an der Kamera ersatzlos ausfiel. Aus Zielkes Aufzeichnungen geht auch hervor, dass er nicht sofort bei TIEFLAND eingesetzt wurde, sondern zunächst mal eine Reise mit seiner späteren zweiten Frau Ilse unternahm. Vielleicht war es von vornherein Riefenstahls Hauptabsicht, Zielke aus den Fängen der Psychiatrie zu retten, und sie benötigte ihn nicht unbedingt für TIEFLAND. Sie hätte wohl auch einen anderen ihrer Kameraleute wie Frentz, Ertl oder Guzzi Lantschner anfordern können, die zu der Zeit meist als Kriegsberichterstatter tätig waren. Solche Personalanforderungen Riefenstahls wurden fast immer erfüllt. Auf jeden Fall wusste sie genau, was Zielke in der Psychiatrie drohte, und sie scheint sich echte Sorgen um ihn gemacht zu haben. Das geht aus den Erinnerungen von Bernhard Grzimek hervor. In TIEFLAND wird ein Wolf von einem Schäfer erwürgt, und zu den Dreharbeiten dazu, die 1942 in den Dolomiten stattfanden, engagierte Riefenstahl den Zoologen und späteren Fernsehmoderator samt einem von ihm gezähmten Wolf. In den Drehpausen unterhielten sie sich auch über das Thema "Euthanasie" und Zwangssterilisation. Grzimek schreibt in seinen 1974 erschienenen Memoiren "Auf den Mensch gekommen: Erfahrungen mit Leuten": "Leni Riefenstahl war zum Beispiel durchaus gegen die Tötung von unheilbar Geisteskranken, die damals von den Nazis eingeführt wurde. Ich entsinne mich, daß sie einen überaus begabten Regisseur kannte, dessen Geist gestört war, und von dem sie immer hoffte, er werde noch einmal genesen oder in lichten Augenblicken künstlerisch Ungewöhnliches schaffen."

DAS STAHLTIER

Zielke sah Riefenstahls Rolle nach 1945 (und wohl auch schon 1942, vielleicht sogar schon 1937) jedoch ganz anders. In seinem Nachlass fand sich ein undatierter Text (laut Lutz Kinkels Riefenstahl-Biographie ist er vermutlich in den 70er Jahren entstanden) mit dem Titel "Kurze Beschreibung meiner Freiheitsberaubung im Dritten Reich". Darin schreibt Zielke: "Erst nach Jahren konnte ich die wahre Ursache meiner Freiheitsberaubung feststellen! Es war Frau Leni Riefenstahl! Diese Frau war meine Feindin! Sie engagierte mich 1935 mit der ganz nüchternen Berechnung: einen Todgeweihten für ihre ehrgeizigen Filmpläne völlig - bis zur Selbstaufgabe - zu gewinnen und dienstbar zu machen! Für diese "Filmpolitik" engagierte sie außer einem Stab junger Athleten aus den Kreisen weltbekannter Skiläufer und Bergsteiger, auch kriegsgefangene Russen und sogar Zigeuner aus dem Vernichtungslager. Nach Ablieferung des fertigen "Prologs" war ich dieser Frau im Wege! Da sie maßlos eitel und krankhaft ehrgeizig war, wollte sie nur allein glänzen, bewundert werden und als die einmalige Erscheinung im gesamten Deutschen Filmwesen gelten. Deshalb passte es ihr nicht, dass sie den Verdienst an diesem Film mit einem Zielke teilen sollte. Ihre Mitarbeiter waren nur Handlanger, Palladine und Kuli!" Seine Einlieferung im Februar 1937 schilderte Zielke als regelrechte Entführung, und nach seiner Freilassung 1942 fühlte er sich von Riefenstahl kontrolliert und manipuliert.

DAS STAHLTIER

Das war starker Tobak. Was ist davon zu halten? Die Charaktereigenschaften, die Zielke Leni Riefenstahl zuschreibt - maßloser Ehrgeiz und Geltungssucht -, sind gut belegt. In den Credits des Olympiafilms, wie man ihn heute auf DVD bekommt, wird außer Riefenstahl selbst nur Komponist Herbert Windt namentlich genannt - Zielke kommt nicht vor. Möglicherweise schwante ihm das bereits Anfang 1937, und er wollte dagegen vorgehen, denn im Januar ließ er seinen mit Riefenstahl geschlossenen Vertrag durch einen Notar beglaubigen. Seine Einlieferung im Februar verhinderte weitere Schritte, falls er sie denn vorgehabt hatte. Aufschlussreich ist auch die Geschichte der Credits von DAS BLAUE LICHT. Riefenstahls erste Regiearbeit war ein Gemeinschaftswerk. Riefenstahl, der ungarische Filmtheoretiker und Drehbuchautor Béla Balázs und Carl Mayer, der wichtigste Filmautor der Weimarer Republik, schrieben das Drehbuch (wobei Mayers Anteil ziemlich unklar ist), Riefenstahl und Kameramann Hans Schneeberger erprobten gemeinsam innovative Techniken, insbesondere den Einsatz von Infrarot-Filmmaterial in Verbindung mit diversen Filtern (die Anregung dazu kam laut Hanno Loewy von Balázs), bei Riefenstahls Szenen als Darstellerin übernahm Balázs die Co-Regie, den Schnitt übernahmen Riefenstahl und ihr Lehrmeister Arnold Fanck, der Hauptteil der Finanzierung kam von dem Bankkaufmann Henry R. Sokal (auch als Harry Sokal bekannt). Als der Film im März 1932 ins Kino kam, hieß es in den Credits noch "Eine Berglegende aus den Dolomiten. Nacherzählt in Bildern von Leni Riefenstahl, Béla Balázs, Hans Schneeberger", und "hergestellt vom Leni Riefenstahl-Studio der H.R. Sokal-Film". Fanck und Mayer fehlten bereits. Als es 1938 im Gefolge der Olympiafilme zur erneuten Kino-Auswertung kam, hieß es "Eine Berglegende, erzählt und ins Bild gesetzt von Leni Riefenstahl". Balázs und Produzent Sokal (beide Juden, und Balázs obendrein Kommunist) fehlten jetzt natürlich, aber auch der durchaus "arische" Schneeberger musste hinter Riefenstahls Ego zurücktreten. 1952 kam eine leicht gekürzte und bearbeitete Fassung in die Kinos der Bundesrepublik, und jetzt erfuhr man: "Leni Riefenstahl Produktion zeigt: DAS BLAUE LICHT / Eine Berglegende von Leni Riefenstahl / Mitarbeit am Drehbuch: Béla Balázs / Buch Regie Bildgestaltung Leni Riefenstahl". Balázs ist also wieder drin (im Gegensatz zu Sokal), aber nur mit einem Trostpreis. (Übrigens befinden sich auf der Arthaus-DVD des Films sowohl die längere als auch die etwas kürzere Fassung, und erstere wird ausdrücklich als "Premierenfassung" beworben. Diese enthält jedoch nicht die originalen Credits, sondern die von 1952, nur das "Leni Riefenstahl Produktion zeigt:" wurde weggelassen. Es ist ein Ärgernis, um nicht zu sagen ein Skandal, dass Arthaus die Riefenstahl'sche Geschichtsklitterung noch posthum unterstützt.) À propos "Berglegende": Riefenstahl hat im Lauf der Jahrzehnte diverse Versionen davon verbreitet, wo der Stoff für DAS BLAUE LICHT hergekommen sein soll. Mal war es die besagte "Legende", mal kam es als Eingebung oder Vision über sie. In Wirklichkeit beruhte die Handlung auf der 1930 erschienenen Novelle "Bergkristall" des österreichisch-schweizerischen Schriftstellers Gustav Renker, der ihr von Fanck empfohlen worden war. Natürlich kommt auch Renker in keiner Version der Credits vor.

DAS BLAUE LICHT - Endpunkt einer Metamorphose

Da Riefenstahl bei der Produktion von DAS BLAUE LICHT ihren Beitrag zum Budget nur mit Mühe aufbringen konnte, hatte Balázs seine Honorarforderung zunächst zurückgestellt. Als der Film dann Geld einspielte, wollte Riefenstahl trotzdem nicht zahlen. Ende 1933 strengte Balázs einen Prozess an, doch Riefenstahl holte sich Hilfe bei ihren neuen Freunden. Ihr damals engster Vertrauter in der Nazi-Prominenz neben Hitler war Julius Streicher, Gauleiter von Franken und Herausgeber des Hetzblattes "Der Stürmer", selbst für Nazi-Verhältnisse ein besonders wüster Antisemit. Am 11. Dezember schrieb Riefenstahl einen handschriftlichen Brief an Streicher mit folgendem kurzen Inhalt: "Ich erteile Herrn Gauleiter Julius Streicher aus Nürnberg - Herausgeber des "Stürmer" Vollmacht in Sachen der Forderung des Juden Bela Balacs [sic] an mich. Leni Riefenstahl". Natürlich hatte Balázs keine Chance mehr, an sein Geld zu kommen. Auch nach dem Krieg sah der 1949 Verstorbene nichts davon. Dass Riefenstahl ziemlich unangenehm werden konnte, zeigt auch der Fall Schünemann. Als Riefenstahl 1934 ihre Kameramänner für TRIUMPH DES WILLENS zusammensuchte, forderte sie auch Emil Schünemann zur Mitarbeit auf, doch der lehnte telefonisch mit der Begründung, der Auftrag sei unter seiner Würde, ab. Darauf schwärzte ihn Riefenstahl in einem Brief an Carl Auen, den Leiter der Reichsfachschaft Film innerhalb der Reichsfilmkammer, an. Von Auen zur Stellungnahme aufgefordert, redete Schünemann sich damit heraus, es sei generell unter seiner Würde, unter einer Frau zu arbeiten. Damit ließ es Auen bewenden, aber Riefenstahl kartete in einem zweiten Brief an Auen nach: "[...] aber das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Äusserung von Herrn Schünemann ein Boykott gegen den Führer ist. [...] Wenn der Führer es nicht unter seiner Würde findet, mich mit der künstlerischen Oberleitung dieser Arbeit zu betrauen, so ist es zumindest eigenartig, wenn Herr Schünemann es unter seiner Würde findet, dies anzuerkennen. [...] Aus diesem Grunde habe ich es notwendig gefunden, Ihnen dies mitzuteilen." Anfang 1949 veröffentlichte Die Welt die beiden Briefe Riefenstahls, und Schünemann antwortete in einem Leserbrief mit der Überschrift "Flucht vor Leni". Darin schreibt er, "[...] Da für mich daraufhin sehr dicke Luft war, habe ich auf Veranlassung des Herrn Alberti, der damals Leiter der Kulturabteilung und Vorgesetzter des Herrn Auen war, die Angelegenheit dahin abgeändert, daß es unter meiner Würde sei, unter Leni Riefenstahl zu arbeiten [Schünemann hatte in mindestens einem Film mit dem früheren Schauspieler Fritz Alberti zusammengearbeitet]. [...] Mich hätte sie seinerzeit gern der Gestapo ausgeliefert, wenn Herr Alberti mich nicht gedeckt hätte."

DAS STAHLTIER

Aber wie steht es mit dem "Fall Zielke"? Hat Riefenstahl ihn wirklich in die Psychiatrie einweisen lassen? Das ist eher unwahrscheinlich. Sie besaß die besondere Protektion Hitlers und gute Beziehungen zu weiteren Nazi-Bonzen wie Streicher, Albert Speer und Martin Bormann. Ihre Manipulationen mit den Credits konnte sie gefahrlos durchführen, ohne jemanden ins Irrenhaus stecken zu müssen - spätestens seit TRIUMPH DES WILLENS war sie für jemanden wie Zielke juristisch unangreifbar. Seine Krankenakte ist zu unergiebig, um die Diagnose "Schizophrenie" zu belegen, aber Zielkes Verhalten legt den Verdacht nahe, dass er zumindest zeitweise an irgendeiner Form von Verfolgungswahn litt. Und im Anhang von Lutz Kinkels Riefenstahl-Biographie werden zwei Briefe erwähnt, die Zielkes erste Frau Elfriede 1937 und 1938 an Walter Traut, den Produktionsleiter von Riefenstahls Olympia-Film GmbH, bzw. einen "Carl Froehlich" (ich nehme an, Kinkel meint den Regisseur und Filmfunktionär Carl Froelich) schrieb, aus denen zweifelsfrei hervorgehen soll, dass Riefenstahl Zielkes Einweisung nicht veranlasst hat. Leider kenne ich den konkreten Inhalt dieser Briefe nicht, aber da Kinkel in seinem Buch insgesamt sehr kritisch mit Riefenstahl umgeht, darf man davon ausgehen, dass er sie in diesem Punkt nicht leichtfertig freispricht.

DAS STAHLTIER

Zielke hat sich körperlich nie vollständig von seiner Zeit in der Psychiatrie erholt. Nach dem Krieg stellte er einen Antrag auf Entschädigung für die Zwangssterilisation, der jedoch abgelehnt wurde, weil die Sterilisation nach dem damals geltenden Recht legal gewesen sei. Er arbeitete u.a. als Übersetzer für Russisch in den Filmstudios Babelsberg, 1952 veröffentlichte er das Büchlein über Aktfotografie mit dem Titel nakt, das antiquarisch noch zu haben ist. In den 50er Jahren konnte er wieder einige meist kurze Dokumentationen drehen. In VERZAUBERTER NIEDERRHEIN (1953) und VERLORENE FREIHEIT (1956) gibt es "weich gezeichnete Traumbilder und bedeutungsvolle Landschaften" (Gesine Haseloff) zu sehen, dann folgen mit SCHÖPFUNG OHNE ENDE (1956, nur Kamera) und ALUMINIUM - PORTRÄT EINES METALLES (1957) zwei Industriefilme. Für SCHÖPFUNG OHNE ENDE gewinnt Zielke 1957 beim Deutschen Filmpreis ein Filmband in Silber für die beste Farbfilmkameraführung, allerdings nicht er allein, sondern als Mitglied eines Teams von fünf Kameramännern, die diesen Film im Auftrag der chemischen Industrie filmten. Bei allen Nachkriegsfilmen Zielkes stammte die Musik von Oskar Sala, der mit seinem Mixturtrautonium auch den Soundtrack zu Hitchcocks DIE VÖGEL lieferte. Nachdem in den frühen 50er Jahren eine vollständige Kopie von DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française auftauchte und nach Deutschland gelangte, machte sich die Deutsche Bundesbahn an die Veröffentlichung. Doch die Bundesbahn als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn schien auch deren Bedenken geerbt zu haben. Der bei der Bahn versammelte Filmfachverstand entschied, dass DAS STAHLTIER in der vorliegenden Form nicht zur Veröffentlichung geeignet sei, und Zielke wurde gedrängt, den Film zu kürzen. So kam 1954 nur eine verstümmelte 43-minütige Version in die Kinos. Nur gelegentlich bekam ausgewähltes Publikum die Langfassung zu sehen. Erst 1985 wurde der vollständige Film in einigen Dritten Programmen im Fernsehen gezeigt, nachdem der Bayerische Rundfunk schon 1982 ein Portrait Zielkes ausstrahlte, in dem er selbst auftrat, das jedoch nur die Zeit bis Anfang 1937 behandelte. Ein übermäßiges Medienecho scheinen diese Sendungen nicht hervorgerufen zu haben, ich konnte jedenfalls nichts darüber finden. In seinen späten Jahren wurde der frühe Zielke als Fotograf wiederentdeckt. Es gab Ausstellungen seiner Werke aus den 20er Jahren, auch im Ausland, und in Frankreich wurde ihm dafür sogar eine Medaille zugesprochen. Zielke starb 1989 in Bad Pyrmont. Zwei Jahre zuvor hatte er von der Bundesrepublik doch noch eine Entschädigung für die Zwangssterilisation in Höhe von 5000 DM erhalten.

DAS STAHLTIER

Im März 2010 sendete das 3. Programm des WDR eine Folge der Serie "Vorfahren gesucht", in der sich Ann-Kathrin Kramer mit Hilfe eines Ahnenforschers auf die Spuren ihres Großonkels Willy Zielke begibt, den sie nicht persönlich kannte, und von dem sie bis dahin fast nichts wusste. Zwar werden manche etwa schon aus Kinkels Buch bekannte Tatsachen als neu präsentiert, und Riefenstahl entlastende Dokumente wie die Briefe von Elfriede Zielke werden nicht erwähnt, trotzdem ist die Sendung seriös gemacht, und Kramer agiert nachdenklich und zurückhaltend. Das plakative Zitat, das ihr von Bild am Sonntag in den Mund gelegt wurde, fällt im Film nicht. Als Reaktion auf den Film gab es einige Presseberichte, neben dem in Bild am Sonntag auch seriösere wie diesen in der Berliner Zeitung. Im Juni 2010 gab es im 3sat-Magazin "Kulturzeit" einen Beitrag über Zielke; im März und April 2011 griff eine Ausstellung in München, die sich der unrühmlichen Vergangenheit der Psychiatrischen Klinik Haar widmete, Zielkes Schicksal exemplarisch heraus, und in Verbindung damit wurden ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN und DAS STAHLTIER im Münchner Filmmuseum gezeigt. Es hat sich also etwas getan - aber der Obskurität entrissen, etwa im Vergleich zu Walter Ruttmann, ist Zielke noch lange nicht.


Quellen:

Martin Loiperdinger: Die Geschichte vom "Stahltier". Willy Zielke und die Reichsbahn (filmwärts, 2/1994, S. 50-55), online als PDF hier abrufbar

Stefan Vockrodt: Bewegung! Der Dampflokfilm schlechthin? Willy Zielkes "Das Stahltier" war und ist umstritten - aber zweifellos ein Höhepunkt der Avantgarde (Eisenbahn Geschichte 42, Okt./Nov. 2010, S. 70-76)

Hans-Jürgen Tast: Das Stahltier. Die Bahn im Schatten deutscher Geschichte (Philatelie 398, Aug. 2010, S. 31-34)

Hanno Loewy: Das Menschenbild des fanatischen Fatalisten oder: Leni Riefenstahl, Béla Balázs und DAS BLAUE LICHT (Universität Konstanz 1999), online hier abrufbar

Kurzbiographie Zielkes auf film-zeit.de von Gesine Haseloff

Lutz Kinkel: Die Scheinwerferin. Leni Riefenstahl und das "Dritte Reich" (Europa Verlag, 2002)

Rainer Rother: Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents (Henschel Verlag, 2000, als Taschenbuch Heyne Verlag, 2003)

Zielkes Nachlass (darunter Produktionsfotos von DAS STAHLTIER) wird im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt. Wenn man Zielkes Texte lesen will, muss man leider persönlich dort hinfahren.

Samstag, 19. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 1

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

DAS STAHLTIER
Deutschland 1935/1954
Regie: Willy Zielke
Darsteller: Aribert Mog (Claaßen), Max Schreck (Cugnot), Laiendarsteller

ANN-KATHRIN KRAMER HAT NACH AHNENFORSCHUNG HERAUSGEFUNDEN
Leni Riefenstahl ließ meinen Onkel zwangssterilisieren
SCHAUSPIELERIN ANN-KATHRIN KRAMER ERFORSCHTE DAS LEBEN IHRES ONKELS, DER TEILTE EIN DUNKLES GEHEIMNIS MIT HITLERS LIEBLINGSREGISSEURIN

So vermeldeten Bild am Sonntag und Bild.de im März 2010. Besagter "Onkel" (der in Wirklichkeit Ann-Kathrin Kramers Großonkel war) hieß Willy Zielke, und er war der Regisseur des Films, um den es hier auch (aber nicht nur) gehen soll. Was war geschehen?

Das Stahltier

Zurück ins Jahr 1934: Willy Zielke unterzeichnet einen ungewöhnlichen Vertrag mit der Deutschen Reichsbahn. Im Dezember 1835 war die 6 km lange Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth mit der Jungfernfahrt der "Adler" eröffnet worden. Aufgrund des bevorstehenden hundertjährigen Jubiläums waren für 1935 umfangreiche Feierlichkeiten geplant. Neben einer Ausstellung und einer Parade sollte es auch einen künstlerisch anspruchsvollen Jubiläumsfilm geben, der am Tag der Eröffnung der Ausstellung in einer Gala-Premiere vor geladenen Gästen in Nürnberg gezeigt werden sollte. Die Durchführung der Jubiläumsfeierlichkeiten, und damit auch die Herstellung des Films, wurde von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn an die Gruppenverwaltung Bayern übertragen, die eine gewisse föderale Selbständigkeit genoss. Mit der Regie des Films wurde Willy Zielke betraut.

Claaßen erhält einen Anruf

Zielke wurde 1902 als Sohn deutscher Eltern in Łódź geboren, das damals zum Zarenreich gehörte. Er studierte zwei Jahre Eisenbahn-Ingenieurwesen an der Universität Taschkent im heutigen Usbekistan, aber Anfang der 20er Jahre musste er die Sowjetunion verlassen und zog nach München. Dort studierte er Fotografie, beeindruckt von der avantgardistischen sowjetischen Fotokunst, und nachdem er die Meisterklasse absolviert hatte, wurde er schnell selbst Dozent an der Münchner Foto-Akademie und ein gefragter künstlerischer Fotograf im Stil der Neuen Sachlichkeit. Zu seinen Spezialitäten zählten kunstvoll arrangierte und fotografierte Glasobjekte, aber er beschäftigte sich auch mit Portrait- und Aktfotografie. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn als Fotograf zählt die Teilnahme an der Werkbund-Ausstellung "FiFo 1929" in Stuttgart. 1931/32 experimentiert er mit einer 16mm-Kamera, die der Foto-Akademie zur Verfügung gestellt wurde, und dreht in Eigenregie drei Kurzdokumentationen, die alle verschollen sind. Sein erster Auftragsfilm ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN entstand 1933 für ein Arbeitslosenheim der Firma Maffei. Der Film war zunächst sozialkritisch ausgerichtet und prangerte die Arbeitslosigkeit an, doch 1933 änderten sich bekanntlich die Zeiten. Das Arbeitslosenheim unterstand jetzt der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, und die wünschte eine andere Tendenz des Films, nämlich eine, die die "Errungenschaften" der Nazis bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herausstellte. Zielke willigt ein - er stand dem Nationalsozialismus positiv gegenüber. Wie weit seine Sympathien dafür genau gingen, weiß ich nicht, aber man darf aus dem späteren Verbot von DAS STAHLTIER und Zielkes Zwangsunterbringung in der Psychiatrie keinesfalls den Schluss ziehen, er sei ein Gegner der Nazis gewesen. Zielke schneidet also ARBEITSLOS um, ändert den Schluss und verpasst dem Film den neuen Titel DIE WAHRHEIT. In den Schluss fügt Zielke ein dynamisch in Großaufnahme gefilmtes Treibrad einer Lokomotive ein. Bei den Dreharbeiten dazu lernt er Albert Gollwitzer kennen, den neuen Präsidenten der Reichsbahndirektion München. Gollwitzer, seit Oktober 1933 in seinem neuen Amt, war ein überzeugter Nazi - in seiner Antrittsrede ließ er verlauten, er "werde im Sinne Adolf Hitlers arbeiten und nicht rasten, bis nationalsozialistischer Geist die Reichsbahn in ihre letzten Winkel durchdringt". Gollwitzer war von der Szene mit dem Treibrad in DIE WAHRHEIT angetan, und er war es, der Zielke den Auftrag zum Jubiläumsfilm verschaffte.

Abstraktion durch mehrfache Überblendung

Zielke reichte ein Exposé ein, das von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn genehmigt wurde, und im Juli 1934 wurde der Vertrag unterzeichnet. Das Exposé sah für den Film drei thematische Teile vor: Geschichte der Eisenbahn, Herstellung einer Lokomotive, und eine "Fahrtsymphonie". Letzteres klingt an Walther (seit 1929 Walter) Ruttmanns Klassiker BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT von 1927 an, der das Genre der "Großstadtsymphonien" prägte. Tatsächlich gibt es darin auch schon eine "Fahrtsymphonie". Am Anfang dieses Films werden grafische balkenförmige Elemente in sich schließende Bahnschranken überblendet, dann braust ein Zug heran und fährt in einer dreiminütigen Sequenz durch Vorstädte in die Hauptstadt ein, wobei Ruttmann eine äußerst dynamische Montage einsetzt, unterstützt von der schnittgenauen, stakkatohaften Musik von Edmund Meisel (die seinerzeit zu polemischen Kontroversen führte). Mit der Geschwindigkeit des Zuges verlangsamt sich auch die Schnittfolge, aber zumindest die erste Minute dieser Sequenz kann als Prototyp dafür dienen, was Zielke für seine Fahrtsymphonie vorschwebte. Im Exposé wandte sich Zielke ausdrücklich gegen "die korrekten belehrenden Kulturfilme", stattdessen wollte er einen "absoluten Film" drehen. Das schien sich mit den Intentionen der Reichsbahn zu treffen, die einen künstlerischen Film wünschte. "Absoluter Film" war seit den 20er Jahren in etwa ein Synonym für das, was man heute als abstrakten Film bezeichnen würde. Dazu zählten grafisch-abstrakte Filme wie OPUS I bis OPUS IV von Ruttmann, RHYTHMUS 21 (aka FILM IST RHYTHMUS) von Hans Richter und DIAGONAL-SYMPHONIE von Viking Eggeling, aber auch Filme mit bis zur Abstraktion verfremdeten Realaufnahmen, wie BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger in Frankreich drehten, und selbst Filme, die man heute eher als dadaistisch oder surrealistisch bezeichnen würde, wie René Clairs ENTR'ACTE. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass die Bewegung an sich als Quintessenz der Kunstform Film verstanden wird. Die Herren von der Reichsbahn hätten eigentlich ahnen können, dass sich Zielkes Vorstellungen vielleicht doch nicht ganz mit ihren eigenen deckten.

Rangierarbeiter

Wie schon erwähnt, war es ein ungewöhnlicher Vertrag, den Zielke abschloss. Er war Produzent, Regisseur, Kameramann und Cutter in Personalunion, und er besaß volle künstlerische Freiheit, sogar das Recht auf den final cut. Wörtlich hieß es im Vertrag: "An dem Film darf ohne eine Zustimmung des Herrn Zielke eine Änderung nicht vorgenommen werden." Das bewilligte Budget betrug zunächst 50.000 Reichsmark, zuzüglich Sach- und Personalleistungen durch die Reichsbahn. Eine dieser Leistungen bestand darin, dass Zielke einen eigenen Aufnahmezug zur Verfügung gestellt bekam. Dieser bestand aus fünf Waggons: Ein Wohnwagen für Zielke und seinen Aufnahmeleiter Hubs Flöter (einer von Zielkes Schülern an der Münchner Foto-Akademie), ein weiterer für das restliche Personal, ein Waggon für die Filmgerätschaften, einer mit einem benzingetriebenen Stromgenerator für die Scheinwerfer, und schließlich ein offener Tieflader als "rollendes Stativ", mit dem Zielke weitgehend erschütterungsfreie Fahrtaufnahmen von einem tiefen Standpunkt aus machen konnte. Der Zug war weiß gestrichen und in Rot auf allen Waggons mit "TONFILM: DAS STAHLTIER" beschriftet. Auf seinen beiden größeren Fahrten von München aus (die erste nach Köln, Oberhausen und Kassel, die zweite nach Berlin) diente der Zug so auch als PR-Vehikel für die Dreharbeiten. Ein weiteres Privileg Zielkes war es, dass er für die eisenbahngeschichtlichen Episoden auf fahrtüchtige originalgetreue Nachbauten der historischen Lokomotiven zurückgreifen konnte, z.B. einen Nachbau der "Puffing Billy" aus dem Deutschen Museum in München.

Claaßen packt mit an und macht sich dreckig

Zielke gliederte seinen Film in eine Rahmenhandlung, in die sechs historische Episoden eingebettet sind, sowie in mehrere furiose Montage-Sequenzen. Nach der ruhigen Anfangssequenz, in der Aufnahmen von Schienen, Leitungen und sonstigem Bahngerät durch vielfache Überblendung zu quasi-abstrakten grafischen Mustern verschwimmen, geht es danach mit der ersten Montage-Sequenz so richtig los. Gewidmet ist sie der Herstellung einer Dampflokomotive - Punkt zwei in Zielkes Exposé. Es gibt keinen wohlgeordneten Ablauf zu sehen, sondern einzelne Stufen werden herausgegriffen - von der Stahlherstellung (gefilmt in einer Stahlhütte in Oberhausen) bis zur Endmontage einer Lok (gefilmt in den Henschel-Werken in Kassel) - und in geradezu dramatisch wirkenden Schnittfolgen montiert, akustisch untermalt durch die in diesem Abschnitt ziemlich brachiale Musik von Peter Kreuder, den Zielke als Komponisten für seinen Film gewinnen konnte. Heute kennt man Kreuder als Schöpfer von Schlagern ("Ich brauche keine Millionen"), Operetten- und leichter Filmmusik, aber damals war er auch in Jazz und Avantgardeklängen bewandert, und davon machte er im STAHLTIER gekonnt Gebrauch.

Rangierarbeiten: ENTHUSIASMUS (links oben), DAS STAHLTIER

Dann setzt die Rahmenhandlung ein. In seinem kleinen Büro auf einem Bahngelände in München brütet der junge Ingenieur Claaßen über technischen Zeichnungen, Formeln und Logarithmentafeln, hantiert mit Zirkel und Rechenschieber. Gespielt wird er von Aribert Mog, der heute nur noch wenig bekannt ist, obwohl er in durchaus erwähnenswerten Filmen Hauptrollen spielte, wie in Gustav Machatýs EKSTASE, seinerzeit ein Skandalfilm (wegen Nacktszenen von Hedy Lamarr, damals noch Hedy Kiesler), oder Frank Wisbars FÄHRMANN MARIA mit Sybille Schmitz. (Gustav Machatý war übrigens neben René Clair Zielkes Vorbild als Regisseur, wie er 1935 in einem Interview für eine Filmzeitschrift erzählte.) Mog war schon vor der Machtergreifung der Nazis Mitglied im antisemitischen "Kampfbund für deutsche Kultur" und in der gewerkschaftsähnlichen "Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation". Er fiel 1941 in Russland. - Claaßen erhält einen Anruf: Er wird zu einem mehrtägigen Praktikum auf einem Rangierbahnhof abkommandiert. Er freut sich über die Abwechslung und die frische Luft, und als krönender Abschluss winkt die Fahrprüfung auf einer Lokomotive. Claaßen gibt sich den Arbeitern gegenüber, mit denen er es jetzt zu tun hat, leutselig, doch die zeigen ihm zunächst die kalte Schulter. Aber er packt unaufgefordert mit an, und obwohl (oder vielleicht weil) er sich dabei ungeschickt anstellt, bricht er das Eis und wird in ihre Runde aufgenommen. Es gibt hier wieder eine kleinere Montage-Sequenz: Güterwaggons prallen beim Rangieren spektakulär aufeinander, wiederum eindrucksvoll akustisch untermalt, während die Arbeiter behände dazwischen herumspringen und die nötigen Handgriffe mit traumwandlerischer Sicherheit ausführen (umso schwerfälliger wirken die Darsteller bei ihren Dialogen). Gespielt werden die Arbeiter von Laiendarstellern, Arbeitern eines Bahnausbesserungswerks in München-Freimann, und in diesen Szenen sieht man, dass sie "vom Fach" sind. Für Bahnfremde wäre die Aufnahme dieser Szenen wohl lebensgefährlich gewesen.

Arbeitspause à la MENSCHEN AM SONNTAG

Aber der überwiegende Teil der Rahmenhandlung läuft ganz unspektakulär ab. Es werden alltägliche Aufgaben verrichtet, aber es wird auch ausgiebig Pause gemacht. Die Arbeiter sind keine arischen Helden der Arbeit, sondern Alltagstypen, die meisten nicht mehr ganz jung, mit Durchschnittsgesichtern, der eine ein dürrer Spargeltarzan, der nächste mit Zahnlücken, ein anderer mit Blumenkohlnase. Das Faulenzen, Brotzeitmachen und Herumjuxen an einem Teich wird von Zielke im Geist der Neuen Sachlichkeit dargestellt - Martin Loiperdinger, der einen lesenswerten Text über DAS STAHLTIER geschrieben hat (Quellen siehe Ende des zweiten Teils), vergleicht diese Szenen mit MENSCHEN AM SONNTAG (1930), wo man sich am Wannsee dem Nichtstun hingibt. Der "nationalsozialistische Geist", den Albert Gollwitzer in jedem Winkel der Reichsbahn walten lassen wollte, ist hierhin noch nicht vorgedrungen, und gerade deshalb vermitteln diese Szenen wohl einen realistischen Eindruck vom Alltag der Arbeiter. Überhaupt gibt es im ganzen Film außer einem "Heil Hitler!", als Claaßen zum erstenmal die Arbeiter begrüßt, keine Symbole des Nationalsozialismus zu sehen oder zu hören. Nun, einen kleinen "Ausrutscher" leistet sich Zielke aber doch: In einer Szene, in der Schienen verlegt werden, ist Claaßen mit nacktem Oberkörper und in heroisierender Untersicht gefilmt zu sehen - hier ist er plötzlich doch, der "arische Typus", wie er auch aus einem Film von Leni Riefenstahl stammen könnte, wenn auch nur für einige Sekunden. DAS STAHLTIER lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog, Aufnahme W. Zielke, links), DAS STAHLTIER

Bei verschiedenen Gelegenheiten erzählt Claaßen den Arbeitern Episoden aus der Frühzeit der Eisenbahn, und damit sind wir bei der Eisenbahngeschichte, Punkt eins in Zielkes Exposé. Es handelt sich um folgende Episoden:
Bauernaufstand von Caston Hill
1813 rotten sich abergläubische Bauern zusammen, um drei Landvermesser der Eisenbahn zu verjagen, weil sie fürchten, dass das neumodische "Teufelswerk" die Ernte und das Vieh bedroht. Zwei der Landvermesser suchen das Weite, der dritte bleibt standhaft, aber er wird verprügelt und muss versprechen, nie mehr Land zu vermessen.

James/John Waters
Der Ingenieur James Waters (bei Zielke, in Wirklichkeit John Waters) baut 1812 eine Lokomotive mit einem riesigen Schwungrad und einem komplizierten Zahnradantrieb. Doch die Konstruktion klemmt, das Gefährt will sich nicht in Bewegung setzen. Durch den eigenen Ehrgeiz und hämische Zuschauer unvorsichtig geworden, hantiert Waters so lange daran herum, bis es zur Explosion kommt. Obwohl ihm das Ding aus unmittelbarer Nähe um die Ohren fliegt, erleidet Waters in der Manier einer Slapstick- oder Comicfigur nur leichte Blessuren.

Puffing Billy
Die 1814 von William Hedley gebaute Lokomotive "Puffing Billy" verkehrte Jahrzehnte zuverlässig zwischen einer Kohlegrube und einem Hafen in Nordengland. Sie ist die älteste erhaltene Lokomotive überhaupt.

Cugnot
Der französische Artillerie-Offizier Nicolas-Joseph Cugnot konstruierte 1769 (bei Zielke 1770) einen mit Dampf betriebenen Wagen - eigentlich keine Lokomotive, sondern ein frühes Automobil. Das merkwürdige Gefährt setzt sich tatsächlich in Bewegung, doch eine Probefahrt endet im Debakel: Der schwer lenkbare Wagen rammt schnurstracks eine Kasernenmauer.

Rocket
Die von George und Robert Stephenson (bei Zielke einfach nur ein "Stephenson") konstruierte Lokomotive "Rocket" fuhr ab 1830 für die Liverpool and Manchester Railway, nachdem sie 1829 das Rennen von Rainhill gegen vier Konkurrenten für sich entschied. Doch der Triumph wurde von einer Tragödie überschattet: Bei der feierlichen Eröffnung der Strecke wurde ein Parlamentsabgeordneter aus Liverpool von der Rocket erfasst und tödlich verletzt.

Adler
Der Anlass des Films, und die einzige Episode, die in Deutschland angesiedelt ist. Doch auch die "Adler" ist eine englische Konstruktion von Vater und Sohn Stephenson, und der "Dampfwagenlenker" war ein Mr. William Wilson. Diese Episode endet nicht in einer kleineren oder größeren Katastrophe, sondern in allgemeinem Wohlgefallen.
Die Landvermesser von Caston Hill (l.o.), J. Waters (r.o.), Puffing Billy (mitte),
die Adler und ihr "Dampfwagenlenker" Mr. Wilson (unten)


An diesen Episoden, die ebenso wie die Rahmenhandlung im Norden Münchens gefilmt wurden, gibt es manches auszusetzen. Die Handlung ist jedesmal schlicht (was bei der Kürze von jeweils wenigen Minuten nicht verwundert), die Darsteller agieren entweder steif oder übertrieben, die Dialoge sind meist gestelzt, und ein Teil der Kulissen sieht schon sehr nach Sperrholz aus. Fast schon peinlich und unfreiwillig komisch wirkt es, wenn die Darsteller von Waters und Cugnot mit aufgesetztem englischen bzw. französischen Akzent sprechen. Cugnot wird übrigens von keinem Geringeren als Max Schreck gespielt, der sich durch die Hauptrolle in F.W. Murnaus NOSFERATU unsterblich machte. In den mir bekannten Filmographien Schrecks kommt DAS STAHLTIER nicht vor, er ist es aber wirklich. In den Credits am Anfang des Films wird von den Darstellern nur Aribert Mog genannt, aber in Zielkes Nachlass, der im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt wird, findet sich ein Foto von den Dreharbeiten, das Zielke und Cugnot auf einer Lokomotive zeigt, und das mit "Führerstand 18 507 mit Zielke und Max Schreck (Cugnot)" beschriftet ist. Somit ist DAS STAHLTIER einer der letzten Filme von Schreck, der im Februar 1936 starb. - Die historischen Episoden sind keineswegs durchgehend schlecht. Sobald keine Dialoge zu meistern sind, sondern die historischen Lokomotiven oder größere Menschenmassen bewegt werden, gelingen Zielke auch hier flüssige Sequenzen, und Kreuders Musik setzt einige eigenwillige Akzente. Dennoch sind dies die am wenigsten gelungenen Teile des Films. - Die historischen Szenen wurden Ende 1934 in einer Probevorführung vor Reichsbahn-Führungspersonal gezeigt, und Generaldirektor Julius Dorpmüller war davon beeindruckt. Das nutzte Zielkes Mentor Albert Gollwitzer zu einem Vorstoß: Auf seinen Vorschlag hin wurde Zielkes Budget von 50.000 auf 100.000 RM verdoppelt, und auch die vorgesehene Laufzeit verlängerte sich beträchtlich. Das wurde im Januar 1935 in einem Zusatzvertrag festgehalten.

Cugnots Wagen rammt eine Mauer

Am Ende der Rahmenhandlung steht Claaßens Fahrprüfung, und damit die "Fahrtsymphonie". Einen Fahrprüfer gibt es nicht zu sehen, und Claaßen selbst spielt eigentlich auch keine Rolle - im Mittelpunkt steht die Lokomotive (eine S 3/6 mit der Betriebsnummer 18 507, die Zielke zwei oder drei Monate zur Verfügung stand) und die Bewegung. Hier, im Bereich des "absoluten Films", war Zielke wieder voll in seinem Element. Die ca. fünfminütige Sequenz ist furios. Schon der Auftakt ist ein Knüller: Zielke montierte die Kamera direkt an einem Rad der Lokomotive, so dass sie sich zu drehen beginnt, sobald die Lok anfährt. So rotiert das Bild um die Sichtachse, immer schneller, denn die Lok nimmt schnell Fahrt auf, insgesamt ca. 15 mal, bevor umgeschnitten wird. Es gibt Nahaufnahmen der komplizierten und wuchtigen Antriebsmechanik der Dampflok, von Schienen und Weichen, über die die tief montierte Kamera hinweggleitet, und die schnell vorüberhuschende Landschaft, alles sehr dynamisch geschnitten. Im ersten Teil bilden reale Geräusche den Soundtrack, dann setzt wieder Kreuders Musik ein, rhythmisch stampfend die Dampfmaschine imitierend.

Cugnot (Max Schreck) und seine Frau, nochmals Cugnot - und ein Hauch NOSFERATU

Für den Film als das künstlerische Medium der Bewegung war die Eisenbahn schon immer ein dankbares Sujet. Während der in einen Bahnhof einfahrende Zug, den die Brüder Lumière 1895 filmten, kameratechnisch noch eine statische Angelegenheit war, montierte schon um 1898 Billy Bitzer, der spätere Kameramann von D.W. Griffith, seine Kamera auf den Kuhfänger an der Front einer Lokomotive. In Abel Gances monumentalem Epos LA ROUE von 1923 gibt es äußerst dynamisch geschnittene Eisenbahnszenen, einige Schnittfolgen dauern gar nur einen einzigen Frame. Nachdem dieser Film 1926 in Russland gezeigt wurde, beeinflusste er die sowjetischen Montagemeister um Eisenstein. Und dort - abgesehen von der erwähnten kurzen Sequenz am Anfang von Ruttmanns BERLIN - findet man am ehesten Vorbilder für die "absoluten" Teile von Zielkes Film, etwa bei Werken von Dsiga Wertow wie DER MANN MIT DER KAMERA und insbesondere DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS (1930), Wertows erstem Tonfilm. Darin gibt es Szenen aus einem Schwerindustrie-Revier, in denen Bild und Ton ähnlich auf den Zuschauer einprügeln wie Zielkes Sequenz der Stahlerzeugung in Oberhausen, es gibt Bilder, die durch mehrfache Überlagerung zu quasi-abstrakten Grafiken verschwimmen, und es gibt auch einige Eisenbahn-Szenen, die denen von Zielke ähneln, etwa Weichen, über die die knapp über dem Boden schwebende Kamera hinweggleitet. Insgesamt aber dürfte DAS STAHLTIER zumindest auf das Thema Eisenbahn bezogen bis dahin den Höhepunkt des absoluten Films dargestellt haben.

DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS

Gleichwertige Nachfolger sind ebenfalls dünn gesät. Der prominenteste dürfte Jean Mitrys PACIFIC 231 sein. Der zehnminütige Kurzfilm des Filmtheoretikers Mitry, eine seiner wenigen praktischen Arbeiten, zeigt die Fahrt eines von einer Dampflok gezogenen Zuges zwischen zwei Bahnhöfen in ähnlich "absoluter" Manier wie Zielkes "Fahrtsymphonie". In den Credits wird darauf hingewiesen, dass man den Film nicht als Dokumentation, sondern als Essay verstehen soll. Es gibt auch eine schnittgenaue Musik, ähnlich wie die von Edmund Meisel für Ruttmann und die von Kreuder für Zielke. Sie stammt vom schweizerisch-französischen Komponisten Arthur Honegger und trägt denselben Titel wie der Film. Allerdings wurde hier nicht die Musik zum Film geschrieben, sondern der Film zur Musik gedreht bzw. geschnitten, denn Honeggers Stück entstand bereits 1923 (kurz zuvor hatte Honegger auch die Originalmusik für Gances LA ROUE geschrieben).

Ein Bildmotiv, vier Filme: BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (l.o.), ENTHUSIASMUS
(r.o.), PACIFIC 231 (l.u.), DAS STAHLTIER

Manches an PACIFIC 231 erinnert frappant an DAS STAHLTIER. Natürlich drängen sich bei solchen Filmen manche Bildideen auf, etwa, die Kamera unter einem der vorderen Puffer der Lok zu befestigen und sie so knapp über den Schienen hinweggleiten zu lassen, oder die Kamera zwischen oder knapp neben den Schienen einzugraben und den Zug darüber hinwegbrausen zu lassen. Dennoch frage ich mich, ob Mitry DAS STAHLTIER gekannt haben könnte, bevor er PACIFIC 231 drehte. Ausgeschlossen ist das nicht. Zielke wies Anfang der 50er Jahre darauf hin, dass eine Kopie von DAS STAHLTIER 1945 von französischem Militär bei Leni Riefenstahl in Kitzbühel beschlagnahmt und nach Paris gebracht worden sei (eine andere Kopie soll laut Zielke nach Russland gebracht worden sein). Das ist durchaus plausibel. Riefenstahl besaß in Kitzbühel ein Haus, das auch als Zweigstelle ihrer Riefenstahl Film GmbH diente. Es gab dort Räume mit Ausrüstung für Filmschnitt, -vertonung und -vorführung. Riefenstahl arbeitete dort 1945 an der Endfertigung von TIEFLAND, fernab vom Bombenhagel in Berlin (sie wurde aber bis Kriegsende nicht fertig, weshalb dieser Film erst 1954 herauskam). Im Sommer 1945 wurde das Anwesen mitsamt dem darin befindlichen Filmmaterial von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, Riefenstahl nach Deutschland ausgewiesen und die Filme 1946 nach Paris gebracht. Um 1953 wurde DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française aufgefunden, offenbar das bei Riefenstahl sichergestellte Exemplar. Jean Mitry wiederum war neben Henri Langlois und Georges Franju einer der Gründer der Cinémathèque. Er kannte sich dort also aus und könnte irgendwann zwischen 1946 und 1949 DAS STAHLTIER zu Gesicht bekommen haben. Belege dafür sind mir aber nicht bekannt. Neben PACIFIC 231 sind noch SNOW (1963), RAIL (1966) und LOCOMOTION (1975) erwähnenswert, die Geoffrey Jones für British Transport Films, die damalige Filmabteilung der britischen Eisenbahn, gedreht hat, und die ebenfalls sehr dynamisch und nach musikalischen Prinzipien geschnittene Eisenbahnaufnahmen zeigen. LOCOMOTION ist auch wie DAS STAHLTIER ein Jubiläumsfilm, entstanden zum 150. Jahrestag der Stockton and Darlington Railway, mit der 1825 die Passagierbeförderung per Eisenbahn begann.

Antriebsräder: BERLIN (l.o.), PACIFIC 231 (r.o.), DAS STAHLTIER (unten)

Aber DAS STAHLTIER in seiner Mischung aus Bestandteilen, die eigentlich nicht zusammenpassen, ist wohl einzigartig. Neue Sachlichkeit, "absoluter Film", historische Spielszenen, expressionistische Licht- und Schattenspiele mit verkanteter Kamera, eine fast surrealistisch anmutende Tagtraumsequenz Claaßens. Einige Autoren haben zu Recht Zielkes Montageprinzipien vom russischen Konstruktivismus abgeleitet, andererseits erinnert die Verherrlichung von Stahl ("Der Stahl, die Zukunft und die Kraft!" ruft Claaßen einmal fast hysterisch aus), von mechanisierter Bewegung und Geschwindigkeit auch an den italienischen Futurismus mit seiner Nähe zum Faschismus. Wie schon geschrieben, dieser Film lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen - "DAS STAHLTIER ist wohl der wundersamste Film, der im Dritten Reich gedreht wurde." (Martin Loiperdinger)

Claaßen hat ein fast erotisches Verhältnis zum Stahl

DAS STAHLTIER ist in einer Reihe mit dem Titel "Eisenbahn Nostalgie" auf DVD erschienen. Das weckte gewisse Befürchtungen bei mir, und die haben sich bewahrheitet. Die Herausgeber ließen es sich nicht nehmen, ein ca. 20-seitiges Booklet beizulegen - das ausschließlich Eigenwerbung, aber nichts über Zielke oder seinen Film enthält. Auch auf der DVD selbst findet sich kein Bonusmaterial, nur drei Minuten Trailer für andere Filme, also wieder Eigenwerbung. Und auch der Text auf der Cover-Rückseite lässt zu wünschen übrig. Da findet sich kein Wort über das Verbot des Films auf Betreiben der Reichsbahn - nur ein schwammiges "Und das, obwohl dieser Film seinerzeit gar nicht in die Kinos kam" -, über Zielkes Schicksal in der Psychiatrie oder über die spätere Verstümmelung des Films auf Betreiben der Deutschen Bundesbahn. Wollte man der Bahn als Lizenzgeber nicht auf die Füße treten? Unnötig zu erwähnen, dass auch eine Bildrestauration nicht stattfand, obwohl teilweise sehr starke Abnutzungsspuren dies nötig gemacht hätten. So erfreulich es ist, dass DAS STAHLTIER überhaupt auf DVD erhältlich ist, diese DVD ist eine kläglich vergebene Chance. BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS sind auf ausgezeichneten DVDs der Edition Filmmuseum erschienen (so macht man das richtig!), PACIFIC 231 ist beispielsweise auf dem US-DVD-Set "Avant-Garde 2: Experimental Cinema 1928-1954" enthalten, und die Filme von Geoffrey Jones sind beim British Film Institute auf der empfehlenswerten DVD "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" erschienen.

Fahrtsymphonie

Montag, 14. November 2011

Ausgleichende Gerechtigkeit

Tod eines Keilers (Alternativtitel: Der Keiler)
(Tod eines Keilers, Schweiz/Deutschland 2006)

Regie: Urs Egger
Darsteller: Joachim Król, Friedrich von Thun, Lale Yavas, Stefan Kurt, Hans-Michael Rehberg, Hanspeter Müller, Martin Rapold, Michael Finger, María Casal, Charlotte Schwab, Robert Hunger-Bühler u.a.

Gottfried Binder ist ein freundlich-kollegialer, seit dem frühen Tod seiner Frau aber auch zurückgezogen lebender Mann, der seit 25 Jahren als Präparator in der Pathologie der Zürcher Universitätsklinik arbeitet. Als er erfährt, dass er Lungenkrebs hat und nur noch wenige Monate leben wird, empfindet er dies als himmelschreiende Ungerechtigkeit, rührte er doch in seinem ganzen Leben nie eine Zigarette an, während sein Vorgesetzter Dr. Götze, ein zynisches Ekel (“Dass die Leute immer am Wochenende sterben müssen!”), alle verachtend und von allen gehasst, sich eine Zigarette nach der anderen anzündet, seinen Qualm genussvoll verbreitet, aber munter sein Programm als Jogger absolviert und Boshaftigkeiten verbreiten darf.

Der philosophische Kneipenwirt Conny macht Binder zwar auf die Natur aufmerksam, die keine Gerechtigkeit kennt, sondern sich einfach jemanden holt, damit ihr Gleichgewicht gewahrt bleibt; doch erst das “Sie dürfen nicht aufgeben!” der  jungen Doktorandin Pat Wyss erinnert ihn nicht nur daran, dass das wichtigste Kriterium in einer solchen Situation noch immer der Mensch ist - sondern lässt ihn auch an einen Keiler zurückdenken, den er vor vielen Jahren auf der Jagd erlegte, der aber noch im Sterben weiterkämpfte, nicht aufgab, auf ihn zu rannte und ihm das Knie zerschmetterte. - Und Binder fragt sich, ob es nicht an ihm liegen könnte, wie einst der Keiler für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, indem er  Götze, der sein “Todesurteil” unterschrieb und sich nun während der Arbeit noch über sein baldiges  Ableben lustig macht (“Schliesslich wissen wir beide, dass Sie einer der Nächsten sind, der hier auf dem Tisch liegen wird”), ins Jenseits befördere. Denn im Grunde genommen möchten alle den Drecksack loswerden: Binders Nachfolger Zimmerli sagt, er könnte ihn erwürgen, und sogar Götzes plötzlich auffällig senil gewordener Chef Professor Charlie Bernbeck schreit nach einer unverschämten Forderung im Treppenhaus, er würde den Kerl am liebsten umbringen. - Wie aber würde es der unter Blackouts leidende Professor wohl tun? Vielleicht mit Blasrohr und Giftpfeil, Bestandteile seiner berühmten Waffensammlung, die sich in seinem stets unverschlossenen Büro befindet?


Bald einmal muss Gottfried Binder feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, einen Menschen zu töten. Er erkennt auch, dass das Eingreifen in das Gefüge der Natur, das eigenwillige Verändern des Schicksals, zwar nicht gerade einen Butterfly-Effect auszulösen vermag, aber tief in der Vergangenheit begrabene Dinge unheilvoll an die Oberfläche zerrt. Und dann ist ihm noch ein Kommissar auf den Fersen, von dem man munkelt, er warte auf Kontakt mit dem Jenseits. Wird dieser Kommissar dem Keiler Binder einen Strich durch die Rechnung machen? Oder sorgt ein schöner Engel dafür, dass er sich seinen letzten Traum erfüllen kann: eine Reise nach Afrika, wo er den Kilimandscharo besteigen und nachher sein Grab finden will?

“Tod eines Keilers” ist die Verfilmung eines Kriminalromans des Schweizer Autors Felix Mettler, der ein grosser Erfolg war und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Möglicherweise rechnete Mettler in seinem Erstlingswerk ein wenig mit einigen arroganten “Göttern in Weiss” ab, hatte er doch selber mehrere Jahre am Institut  für Veterinär-Pathologie an der Universität Zürich gearbeitet. Der Roman “Der Keiler” steht jedoch auch in jener berühmten Schweizer Tradition des Kriminalromans, die nicht in erster Linie mit “Whodunit”-Geschichten daherkommt, sondern in die Tiefe der Figuren eindringt, sich um Authentizität bemüht und  wie hier gelegentlich sogar  philosophischen Fragen nachgeht. Friedrich Glauser (“Wachtmeister Studer”, “Matto regiert”, beide mehrfach verfilmt) und Friedrich Dürrenmatt (“Der Richter und sein Henker”, “Das Versprechen”) seien als wichtigste Vertreter dieser Tradition genannt. Ihre Romane zeichnen sich durch einfache, aber das Wesentliche erfassende Sätze aus, und es geht ihnen neben der eigentlichen Ermittlung vor allem darum, in den üblichen Krimis vernachlässigte Aspekte aufzuarbeiten, vielleicht sogar dem gewohnten Krimi ein Ende zu setzen (Dürrenmatt bezeichnete “Das Versprechen” bekanntlich als “Requiem auf den Kriminalroman”). Es ist eine heute erfolgreiche Art, Kriminalgeschichten zu erzählen, weil sie die Figuren als Menschen erfasst, nicht einfach stereotyp auf mögliche Opfer und Täter reduziert. Sie veranlasst den Leser gelegentlich sogar dazu, sich mit dem - oft schon von Anfang an bekannten - “Täter” zu identifizieren, weil er die sympathischste Figur im Gefüge der erzählten Welt ist, der, wie zum Beispiel in “Der Keiler”, einen Tyrannenmord begeht, nicht nur aus Rache, sondern auch, weil er Gerechtigkeit herstellen will und gegen den Tod ankämpft. Man fiebert förmlich mit Gottfried Binder (im Roman heisst er Gottfried Sonder) mit.

Urs Egger, berühmt für den ersten und wohl raffiniertesten Schweizer Tatort “Howalds Fall” (1989) oder den bereits zusammen mit Nils-Morten Osburg als Drehbuchautor realisierten “Die Rückkehr des Tanzlehrers” (2003), bemühte sich bereits 1990 um die Rechte an Mettlers Roman, als er in Druck ging. Es scheint, als habe er das Potential dieses oft schwarzhumorigen, ja zynischen Stoffs - die Geschichte gipfelt in einer beinahe Dürrenmattsche Ausmasse annehmenden Szene, in der zwei alte Männer sich gegenseitig hinterhältig umbringen wollen - augenblicklich erkannt, auch geahnt, welche Möglichkeiten die stillen, gelegentlich tieftraurigen Momente, die den spannenden Thriller begleiten, einem wirklich guten Darsteller böten. - Dass die Verfilmung erst rund fünfzehn Jahre später zustande kam, hatte damit zu tun, dass die Rechte bereits vergeben waren. Und das nicht ganz an Eggers gewohnte Qualität (er machte sich immerhin mit dem nicht unbedeutenden Schweizer Spielfilm “Kinder der Landstrasse”, 1992, oder dem höchst erfolgreichen Zweiteiler “Opernball”, 1998, einen Namen) anknüpfende Ergebnis dürfte dem Schweizer Fernsehen zu verdanken sein, das den Film zwar zusammen mit dem ZDF produzierte, aber berühmt ist für seine Knausrigkeit am falschen Ort (man fand anschliessend seltsamerweise durchaus das Geld für eine zusätzliche lächerlich wirkende schweizerdeutsche Synchronisation des ursprünglich in Deutsch gedrehten Films). - Gewisse Schwächen machen sich vor allem in den etwas einfallslosen Szenenwechseln bemerkbar, und obwohl man wirklich nicht behaupten kann, “Tod eines Keilers” betreibe Werbung für Zürich (es regnet beinahe während des ganzen Films, was die grauen Häuserwände noch unwirtlicher erscheinen lässt), hielt man es dennoch für nötig, mehrmals mit einer Supertotalen, die die Mündung der Limmat in den Zürichsee zeigt, daran zu erinnern, dass sich der Zuschauer in der Möchtegern-Weltstadt der Schweiz befindet. - Immerhin knüpfen die oft eingeblendeten blau-weissen Trams (= Strassenbahnen) an die konsequent durchgehaltene blau-weisse Atmosphäre in der kühlen Klinik an.


Dass “Tod eines Keilers” trotz der erwähnten Schwächen zu einem sehenswerten Ereignis wurde, ist neben der mit überraschenden Wendungen aufwartenden Geschichte vor allem den hervorragenden Darstellern zu verdanken. Friedrich von Thun sorgt als scheinbar an Demenz leidender Professor für Lacher, die einem gelegentlich im wahrsten Sinne des Wortes im Hals stecken bleiben (wenn er etwa auf Binders Erklärung “Ich hatte Krebs” mit einem abwesenden “Aber sonst - geht es Ihnen gut?” reagiert), oft aber auch herrlich sind (etwa die vom Brüllen der Studenten begleitete Ankündigung seiner Vorlesung “Über den Kreislauf der Geschichte” - was eigentlich ein spannendes Thema für eine Vorlesung wäre!). Hanspeter Müller spielt einen seltsam von Ahnungen erfüllten Ermittler, und Robert Hunger-Bühler ist als philosophierender Kneipenwirt schlicht ein Erlebnis.  Neben Hans-Michael Rehberg ist es natürlich vor allem der begnadete, lange Zeit in etwas seichten Blockbustern eingesetzte Joachim Król, dem es mit seinem differenziert-minimalistischen Spiel gelingt, zu einer sanften Annäherung an den todkranken Mann zu finden, der in das Gefüge der Natur eindringt und den Lauf der Dinge verändert. Die Rolle des Gottfried Binder ist wie gemacht für ihn: Seine Stille wirkt in diesem Film natürlich, glaubhaft. Unnötige Gesten fehlen, und man bemerkt rasch, dass man es bei Binder mit einem Mann zu tun hat, der üblicherweise eher durch seine Gefühle als mit Worten und Taten wirkt. - Król selber schrieb denn auch: “Gottfried Binder hat mich fasziniert, weil er ein Mensch ist, der sich in einer aussergewöhnlichen Lebenssituation befindet. Er hat nicht mehr lange zu leben, und genau das führt bei ihm dazu, dass er ein sehr eigenes Empfinden für Gerechtigkeit entwickelt. ... Sein Verbrechen ist natürlich untragbar. Dass ein Mensch jedoch, der so sehr unter seinen Lebensumständen zu leiden hat, schliesslich zu einer solchen Tat fähig ist und Rache übt, ist  zumindest vorstellbar. Zudem ist Gottfried Binder bereit, sich seiner Verantwortung zu stellen. Er sagt die Wahrheit, verschweigt jedoch seine Tat.” - Wenn sich Schauspieler zu der von ihnen verkörperten Figur äussern, wirkt dies oft wie der verzweifelte Versuch einer Beschreibung dessen, was sie ihr eigentlich gerne mitgegeben hätten. Das ist hier nicht nicht der Fall.

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Die Besprechung eines Thrillers, mag er auch als ruhiger Fernsehfilm daherkommen, ist grundsätzlich eine diffizile Angelegenheit. Man möchte etwas über ihn erzählen, auch neugierig auf ihn machen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, verräterische Äusserungen zu übersehen oder ihnen nicht ausweichen zu können. Ich hoffe deshalb, es sei mir halbwegs gelungen, "Tod eines Keilers" dem Leser schmackhaft zu machen, mit passenden Teasern zu punkten, aber auch ein paar falsche Fährten zu legen.