Dienstag, 20. Dezember 2011

Kommt, ihr Christen all, und hört!

Die rote Herberge (Alternativtitel: Die unheimliche Herberge)
(L'auberge rouge, Frankreich 1951)

Regie: Claude Autant-Lara
Darsteller: Fernandel, Françoise Rosay, Julien Carette, Lud Germain, Marie-Claire Olivia, Didier d'Yd, Grégoire Aslan u.a.

Im Jahre 1989 hielt ein in Vergessenheit geratener Regisseur, der sich aus Verbitterung für Le Pens rechtsextremistischen “Front National” ins Europäische Parlament hatte wählen lassen, seine Eröffnungsrede als Alterspräsident. Diese war derart von rassistischen Äusserungen durchzogen, bezeichnete sogar die Existenz der Gaskammern als Lüge, dass er seine letzten Bewunderer verlor, während Politiker jeder Couleur den Saal verliessen. Nach dem Tod des alten Mannes hiess es denn auch, er gehöre zwar zur Filmgeschichte wie Leni Riefenstahl oder Veit Harlan; es gebe aber keinen Grund, ihm Träne nachzuweinen. -   Tatsächlich war die  Rede wohl der letzte Versuch des - ich spiele auf den Titel seiner Autobiographie an -  den Schmerz in seinem Herzen spürenden Claude Autant-Lara (1901-2000)  das zu tun, was er ein Leben lang getan hatte: anzuecken. Ursprünglich kämpferischer Pazifist, war er mit seinem Filmschaffen früher vor allem von der rechten Presse attackiert worden. Sein Film “Le diable au corps” (1947) mit dem unvergessenen Gérard Philipe in der Hauptrolle sollte, dies wurde gefordert, von der Leinwand verschwinden,  “Tu ne tueras point” (1961), die Geschichte eines Kriegsdienstverweigerers, rief sogar die Zensurbehörde auf den Plan. Doch der Mann, der sich  “bürgerlicher Anarchist” nannte, blieb bei seiner Devise, wonach ein Film, der nicht boshaft sei, langweile - und er hetzte munter weiter gegen seine liebsten Feinde: die Armee, die Bourgeoisie und den Klerus. Selbst gegen  Godard und Truffaut begehrte er auf; doch die Nouvelle Vague tat ihn, sich auf etwas schwülstige Literaturverfilmungen wie "Le rouge et le noir", 1954, oder "Le comte de Monte Christo", 1961, berufend, schlicht als typischen Vertreter des alten französischen Kinos ab, als Mann, der Glanz ohne Substanz produzierte. Das musste den agent provocateur, der sein Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, verletzen.


Es gibt nichts, was das traurige Ende des Franzosen rechtfertigen könnte. Seine unbequemen Filme, die eine ganz andere Sprache sprechen,  sollten aber nicht zusammen mit ihm abgetan werden, erinnern sie doch auf meisterhafte Weise an das, was einst die braven Gaullisten das Fürchten lehrte. - Insbesondere “L’auberge rouge”, eine der schwärzesten Komödien, die wir dem französischen Kino verdanken, gibt die lächerliche Hilflosigkeit des real existierenden Katholizismus in einer kritischen Situation auf derart boshafte Weise dem Gelächter des Publikums preis, dass er auch nach vielen Jahren nichts von seiner Wirkung verloren hat: In einer Winternacht des frühen 19. Jahrhunderts sucht eine Kutsche mit vornehmen Gästen Unterschlupf in einer abgelegenen Herberge in der Ardèche  im südlichen Frankreich. Kurz darauf finden sich auch ein Mönch und sein Novize ein, die auf dem Weg zu ihrem Kloster sind und dem Schneetreiben entkommen wollten. Das geschwätzige Mönchlein mit seinem himmelschreienden Dialekt freut sich jedoch vergeblich auf die aufgetischte Suppe, da die Herrin des Hauses plötzlich das Bedürfnis überkommt, die Beichte abzulegen. Und was sie zu erzählen hat, verschlägt ihm den Appetit endgültig: Das Wirtepaar hat zusammen mit seiner hinterhältigen Tochter Mathilde im Laufe der Jahre bereits 102 Gäste umgebracht und ausgeraubt, bevor es sie in der Umgebung des Hauses begrub. Ein gerade kaltblütig ermordeter Spielmann wurde mit Hilfe des schwarzen Dieners (“Un nègre? Mais ce sont des sauvages! Vous n'avez pas peur?”, lässt der hämische Regisseur eine dicke Frau in der Kutsche die  mitreisende Mathilde ankreischend fragen, ohne zu ahnen, dass er eines Tages selber ein Rassist werden sollte) zum Schneemann umfunktioniert. Man möchte den unerwarteten Gästen - sie sollen, man wolle sich langsam zur Ruhe setzen, die letzten Herbergsleichen werden - schliesslich keinen Grund zur Besorgnis geben. - Von nun an sieht sich der an das Beichtgeheimnis gebundene Mönch in der misslichen Lage, das Leben der ahnungslos Essenden und sich Spässchen Hingebenden retten zu müssen, ohne etwas zu verraten. Doch je weniger er die nebensächlichen Gebote seiner katholischen Kirche verletzen will, beim Essentiellen aber auch mal fünfe gerade sein lässt (er erklärt sich sogar einverstanden, seinen verliebten Novizen mit der Wirtstochter zu verheiraten), desto mehr reitet er sich in  - man verzeihe mir oder geniesse den Ausdruck! - Gottes heilige Scheisse hinein...

“L’auberge rouge” beginnt zwar mit dem zu an den expressionistischen Film erinnernden Aufnahmen von kahlen Bäumen, Felsen und Schluchten erklingenden unheilvollen Gesang von Yves Montand (“Chrétiens, venez tous écouter!”) wie eine Schauermär, entpuppt sich jedoch bald als respektlose Farce, in deren Mittelpunkt der heuchlerische Katholizismus und der nicht minder heuchlerische Umgang der Bourgeoisie mit ihm stehen. Dies zeigt sich schon an dem sich anbiedernden Getue, mit dem der Mönch dem wohlhabenden Klüngel, der diverse Untugenden (Völlerei, Spielsucht, aussereheliche Liebe) verkörpert, das Geld für die Unterkunft abbettelt. Für die makabre Beichte muss, damit Schein und gebührender Abstand gewahrt bleiben, ein Grillgitter herhalten. Es hält das Gesicht des Mönchs  nicht davon ab, sich immer panischere Grimassen zu gönnen, ermöglicht es dem Geistlichen  aber doch, der mordenden Wirtin am Ende - wie es sich gehört - die Absolution zu erteilen. Es ist ja alles nicht so schlimm... - Die vor einer schnarchenden Hochzeitsgesellschaft (man hatte die Gäste bereits betäubt) gehaltene Predigt zur Vermählung des Novizen und der Mördertochter - der Mönch darf sogar die passenden Ringe aus der Beute der früheren Opfer aussuchen -  artet mit ihrem stotternden Scheinlatein und ihren Anspielungen derart ins Lächerliche aus, dass sie Autant-Lara seinerzeit das bescherte, wonach er eigentlich gierte: den entschiedenen Einspruch der Kirche und eine Kampagne gegen den Film. - Am Morgen findet dann noch eine Schneeballschlacht um die “Entblössung” der Leiche im Schneemann statt. Doch während der Zuschauer sich langsam auf ein Happy End einstellt, kommt es noch schlimmer. Das letzte Bild, das ein wegen seines Versagens mit allen Gliedmassen  fuchtelndes Mönchlein durch den hohen Schnee rennen und das Kreuz hinter sich lassend zeigt,  ist mehr als das Ende einer makabren Komödie. Es enthält vielmehr eine gnadenlose Aufdeckung des Wesens der Heuchelei und dessen, wozu sie führt, und es sucht seinesgleichen in der Geschichte des französischen Films.

Fernandel, damals langsam zum Star herangewachsen, hasste “L’auberge rouge” und wechselte angeblich nie wieder ein Wort mit dem Regisseur. Über die Gründe für sein Verhalten gibt es nur Mutmassungen: Es ist denkbar, dass er das Gefühl hatte, trotz seiner Glanzrolle, die es ihm als lächerlichem “Patois”-Geistlichen ermöglichte, den ganzen Film mit herrlich verharmlosendem Geschwätz und sinnlosen Gesten zu füllen, sich neben dem von zwei Veteranen des französischen Kinos gespielten Mörderpaar nicht immer ausreichend hervorheben zu können. Vielleicht reagierte auch der als Tyrann verrufene Regisseur (ich bin mir nicht sicher, ob Jean Gabin der einzige Schauspieler war, der von ihm eine Ohrfeige in Empfang nehmen durfte) unwirsch auf die Versuche des Hauptdarstellers, sich in jeder Szene in den Vordergrund zu drängen. - Auf jeden Fall, und dies scheint mir den Sachverhalt am ehesten zu erklären, war Fernandel ein konservativer  und gottesfürchtiger Mann, der keineswegs Gefallen daran fand, einen ständig herumfuchtelnden heuchlerischen Mönch, der sich zum Esel machte, zu spielen - obwohl er darauf bei Autant-Lara hätte gefasst sein müssen. Die Rolle im ersten “Don Camillo”-Film (ebenfalls 1951), in dem er zu Gott Junior höchstpersönlich Kontakt haben sollte, wird ihm eher zugesagt haben. Sie reicht meines Erachtens aber nicht an seine perfekt übersteigerte Figur des Mönchleins in Gewissensnot - vielleicht seine beste Leistung - heran.


“L’auberge rouge” beruht trotz eines sich hartnäckig haltenden Gerüchts nicht auf einer Erzählung von Honoré de Balzac, in der es ebenfalls um einen (!) Mord geht. Und obwohl Herbergen in Literatur, Film und Musik ein beliebter Ort sind, um Leute zusammenzubringen, die einander Geschichten erzählen (Chaucer’s “The Canterbury Tales”, Hauffs “Das Wirtshaus im Spessart") oder eben "seltsamere" Geschäfte  erledigen (“Psycho“, 1960, und der Eagles-Song “Hotel California“), haben wir es auch nicht mit einer fiktiven Angelegenheit zu tun: Der Film beruht vielmehr auf einer wahren Begebenheit, die 1833 mit der Exekution eines Ehepaars endete, das in einer abgelegenen Herberge in der Ardèche über fünfzig Gäste umgebracht hatte. - Die Geschichte wäre eine ideale Vorlage für einen Horror-Film gewesen; der provozierende Regisseur erkannte jedoch rasch ihr Potential für eine rabenschwarze Komödie, die es ihm ermöglichen würde, seine boshaften Pfeile auf meisterhafte Weise und treffsicher abzuschiessen. Oder, um ihn noch einmal zu bemühen: “Wenn ein Film kein Gift enthält, taugt er nichts.” Diese Überzeugung sollte ihm im Falle von “L’auberge rouge” zum Erfolg verhelfen. Dass sie sich nicht oder nur bedingt auf Reden im wahren Leben übertragen lässt,  sah der alte Narr wohl nicht mehr ein. Dies ist aber kein Grund, sein grandioses filmisches Schaffen aus unserem Gedächtnis zu verbannen.


2007 wagte sich Gérard Krawczyk an ein Remake des Meisterwerks. Ich habe es nicht gesehen. Kenner empfehlen jedoch, den gnädigen Mantel des Vergessens lieber darüber als über die 1951er Version zu legen.

***
Der dieser Besprechung beigefügte Titel dürfte Kennern eine Ahnung vermittelt haben: Dies war mein Weihnachtsfilm 2011. Dank Fernandel und götllicher Eingebung ist es mir nach dem letztjährigen Soldatenengel aus Courgenay bereits zum zweiten Mal gelungen, die üblichen weihnachtlichen Tränenerzeuger zu umschiffen. - Ob Manfred Polak in den nächsten Tagen noch etwas bringt, weiss ich nicht. Für mich war dies die letzte Belästigung des Jahres via Blog, da ich mich jetzt mit Taschentüchern bewaffnet all diesen Hollywood-Schnulzen widme, über die ich nie schreiben würde. Ich wünsche unseren Lesern schniefend



Mittwoch, 14. Dezember 2011

Independent-Kleinod: NOTHING BUT A MAN

NOTHING BUT A MAN
USA 1964
Regie: Michael Roemer
Darsteller: Ivan Dixon (Duff), Abbey Lincoln (Josie), Julius Harris (Duffs Vater), Gloria Foster (Lee), Stanley Greene (Reverend Dawson), Leonard Parker, Yaphet Kotto (Duffs Kollegen)

Kann etwas Gescheites dabei herauskommen, wenn ein intellektueller jüdischer Regisseur aus Neuengland, geboren in Deutschland, einen Film über das Lebensgefühl der Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten der 60er Jahre dreht? Es kann - Michael Roemer hat es bewiesen.


Duff Anderson ist Streckenarbeiter bei der Bahn in Alabama - obwohl traditionell von Demokraten regiert, seinerzeit einer der reaktionärsten US-Bundesstaaten. Duff und seine Kollegen, allesamt Schwarze, verrichten die anstrengende, aber ordentlich bezahlte Arbeit immer dort, wo gerade Schienen verlegt werden, und hausen dabei gemeinsam in Baracken. Ihre Freizeit verbringen sie in Spelunken mit Billard, Alkohol und leichten Mädchen. Aber Duff hat das unstete Leben langsam satt. In einer Kleinstadt lernt er die Lehrerin Josie Dawson kennen, Tochter eines Baptistenpfarrers, und die beiden verlieben sich. Josie und ihre Eltern gehören zur schwarzen Mittelschicht des Städtchens und pflegen einen gutbürgerlichen, um nicht zu sagen spießbürgerlichen Lebensstil. Etwas polemisch könnte man sagen, sie möchten weißer sein als die Weißen. Doch der übertriebene Anpassungswille, den Duff scharf kritisiert, ist nicht ohne Grund: Der letzte Lynchmord in der Gegend liegt erst acht Jahre zurück. Duff als einfacher Arbeiter mit unsolidem Lebenswandel bekommt zu spüren, dass er nicht in dieses Milieu passt. Bei seinem ersten Besuch im Haus von Josies Eltern wird er höflich behandelt, aber die latente Ablehnung durch Josies Vater ist sofort spürbar.


Bei einem Besuch in Birmingham, der größten Stadt des Bundesstaats, besucht Duff seinen vierjährigen unehelichen Sohn. Dessen Mutter hat sich mit einem anderen Mann aus dem Staub gemacht, und das Kindermädchen, das sich um den Jungen kümmert, hat kein Geld mehr von ihr erhalten. Eigentlich sollte Duff das Kind jetzt zu sich nehmen, aber er drückt sich davor. Duff trifft in Birmingham auch seinen Vater, einen kranken und alkoholsüchtigen Taugenichts, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. Die beiden erkennen sich gegenseitig kaum wieder und haben sich wenig zu sagen. Duffs zaghafter Versuch einer Wiederannäherung wird vom Vater schroff abgewiesen. Er gibt seinem Sohn nur noch den Ratschlag mit auf den Weg, sich von der Ehe fernzuhalten. Vielleicht gerade deshalb heiraten Duff und Josie bald darauf, den Widerständen zum Trotz. Sie beziehen ein eigenes Häuschen, das aber zunächst nur eine baufällige Bruchbude ist und erst in Schuss gebracht werden muss.


Um Josie näher sein zu können, tauscht Duff den Job bei der Bahn gegen einen in einem Sägewerk, doch das erweist sich als Fehler. Er verdient nicht nur viel weniger, er verliert auch die Arbeit bald wieder, als er seine neuen Kollegen überreden will, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die nun folgende Arbeitssuche gestaltet sich zermürbend. Stellen als livrierter Lakai oder als Baumwollpflücker für einen Hungerlohn nimmt Duff gar nicht erst an, einen Job an einer Tankstelle verliert er gleich wieder, als er von ein paar Rednecks provoziert wird. Eigentlich verdient Josie als Lehrerin genug für beide, aber das verträgt Duffs Ego nicht. Außerdem wird Josie schwanger, so dass sie in ein paar Monaten nicht mehr arbeiten können wird. Duff wird zunehmend unleidlich, sogar gewalttätig, und die Ehe gerät in eine Krise. Schließlich packt Duff die Koffer und geht allein nach Birmingham. Doch als sein Vater im Suff stirbt, packt ihn die Erkenntnis, dass er eines Tages auch so enden könnte, wenn er nicht gegensteuert. Er holt seinen Sohn ab und geht mit ihm zurück zu Josie. Ausgang offen - doch der gute Wille zu einem Neuanfang ist auf beiden Seiten vorhanden.


NOTHING BUT A MAN ist ein unspektakulärer Independent-Film mit semidokumentarischem Touch. Roemer und sein Kameramann, Co-Autor und Co-Produzent Robert M. Young hatten auch ein Standbein im Dokumentarfilm. Die beiden waren Studienkollegen und hatten schon 1949 an der Harvard-Universität gemeinsam einen Studentenfilm gedreht. Für NOTHING BUT A MAN recherchierten sie intensiv in den Südstaaten: Fast im Stil von Ethnologen ließen sie sich drei Monate lang von einer Gemeinde oder Gastfamilie zur nächsten weiterreichen und sammelten Eindrücke, bis sich ihre Vorstellungen so weit verdichtet hatten, dass sie ein Drehbuch daraus machen konnten. Den Kontakt zu ihren Hauptdarstellern vermittelte der schwarze Schriftsteller Charles Gordone. Ivan Dixon war bereits professioneller Schauspieler; später fand er sein Auskommen vor allem durch eine Serienrolle in "Hogan's Heroes". Seine letzte nennenswerte Filmrolle war in CAR WASH (1976), schon vorher hatte er sich auf eine Laufbahn als Fernsehregisseur verlegt. Die Jazzsängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln dagegen spielte ihre erste Rolle, abgesehen von einem Auftritt als sie selbst in Frank Tashlins THE GIRL CAN'T HELP IT. Nicht nur für eine Debütantin macht sie ihre Sache außerordentlich gut. Auch Julius Harris, der Darsteller von Duffs Vater, hatte hier seinen ersten Auftritt - zuvor war er Krankenpfleger. Später war er hauptsächlich in Blaxploitation-Filmen zu sehen. Generell zeigt NOTHING BUT A MAN sehr gute, immer authentisch wirkende Darstellerleistungen.


Der Soundtrack des Films stammt von Motown-Künstlern wie Martha and the Vandellas, Mary Wells und Stevie Wonder (damals, mit 14 Jahren, noch "Little Stevie Wonder"). Er verleiht zusätzliches authentisches Flair, ohne in den Vordergrund gerückt zu werden. NOTHING BUT A MAN ist kein Film über die Swingin' Sixties - dazu wäre Alabama auch der falsche Ort. Gedreht wurde übrigens gar nicht in Alabama, was durchaus riskant hätte werden können, sondern in New Jersey. Auch die gesellschaftspolitischen Umbrüche der Zeit, insbesondere das Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung, bilden nur den latenten Hintergrund des Films, ohne offen angesprochen zu werden (was sich durchaus angeboten hätte - die Darsteller nahmen sich im August 1963 Urlaub von den Dreharbeiten, um an Martin Luther Kings Marsch nach Washington teilzunehmen). Aber Roemer und Young wollten keinen vordergründig politischen Film drehen: "We thought that the most powerful, useful political statement would be a human one" (Roemer). Letztlich ist NOTHING BUT A MAN ein Film über Selbstachtung, Respekt und einen sinnvollen Platz im Leben. Dennoch wird der alltägliche Rassismus unverblümt gezeigt - die Standardanrede der weißen Rednecks für Schwarze ist etwa immer noch "Boy".


NOTHING BUT A MAN lief auf einigen internationalen Festivals und gewann zwei Preise in Venedig, aber der kommerzielle Erfolg in den USA war sehr bescheiden. Immerhin kursierten ausleihbare 16mm-Kopien lange in schwarzen Gemeinden. Dass Roemer heute als Regisseur nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt in erster Linie an seinem nächsten Film THE PLOT AGAINST HARRY, wieder mit Young als Partner realisiert. Es handelt sich um eine Gaunerkomödie, wiederum nach ausgiebigen Milieustudien mit semidokumentarischem Anstrich gedreht, und stilistisch irgendwo zwischen Woody Allen und John Cassavetes angesiedelt. Harry, ein jüdischer Ganove in New York, hat nach einem Gefängnisaufenthalt Schwierigkeiten, wieder ins Berufsleben als Verbrecher einzusteigen, und wird schließlich von seinen Verwandten mit Tricks und Schlichen (dem "Plot") wieder auf den Pfad der Tugend und des spießigen Familienlebens geführt. Der Film wurde 1969 gedreht, aber die kleine Firma aus Seattle, die ihn finanzierte, hielt ihn für einen kompletten Fehlschlag, und nach einer desaströsen Probevorführung, bei der niemand lachte, schloss sich Roemer resigniert dieser Meinung an. Abgesehen von einem kurzen Lauf in einem einzelnen Kino in Seattle kam THE PLOT AGAINST HARRY gar nicht erst in den Verleih. Doch 1989 nahm Roemer einen neuen Anlauf. Er reichte zwei Kopien bei den Filmfestivals von Toronto und New York ein, wurde in beiden Fällen angenommen, und THE PLOT AGAINST HARRY geriet zum Überraschungserfolg. Er kam jetzt endlich in die Kinos und lief auf weiteren Festivals, so auf dem Münchner Filmfest 1990 (in einem Programm mit den weiteren Independent-Wiederentdeckungen BLAST OF SILENCE, CARNIVAL OF SOULS und THE HONEYMOON KILLERS). Im Gefolge dieser Wiederauferstehung kam 1993 auch NOTHING BUT A MAN wieder in den Verleih, diesmal mit größerem Erfolg an der Kasse, und 1994 wurde er von der Kongressbibliothek in die National Film Registry aufgenommen. Roemer nahm den neuen Erfolg in den 90er Jahren erfreut, aber gelassen zur Kenntnis. Er lehrt seit 1966 als Professor für Film an der Yale University und drehte nach der vermeintlichen Pleite mit THE PLOT AGAINST HARRY nur noch sehr sporadisch weitere Filme. "I don't think I've made a film that isn't as alive today as it was when we made it", sagte er 2004 in einem Interview. "I feel good about that. Everything still looks like it happened yesterday rather than 40 years ago."


NOTHING BUT A MAN und THE PLOT AGAINST HARRY sind in den USA auf DVD erschienen, ersterer auch in England. In den USA gibt es auch eine DVD-R-Box mit sieben Filmen Roemers.

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Das Jahr, das uns die Alten brachte

Lina Braake (Alternativtitel: Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat)
(Lina Braake, Deutschland 1975)

Regie: Bernhard Sinkel
Darsteller: Lina Carstens, Fritz Rasp, Ellen Mahlke, Herbert Bötticher, Benno Hoffmann, Rainer Basedow, Erica Schramm, Wilfried Klaus, Teseo Tavernese u.a.

Der sich vom reinen Unterhaltungsfilm abgrenzende deutsche Autorenfilm der 70er Jahre zeichnete sich durch eine bemerkenswert vielfältige, oft beinahe dokumentarische Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen und zeitgeschichtlichen Themen aus, die uns heute noch beeindruckt, mochten wir ihn und seine utopische Forderung nach einer besseren Welt vielleicht gelegentlich auch in künstlerischer Hinsicht ein wenig überschätzen.  Denn nicht zuletzt wegen des Heranwachsens immer neuer Regisseure benötigte er eine intensive Förderung; und die erhielt er spätestens seit dem zum Markstein gewordenen Abkommen zwischen der Filmförderungsanstalt und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Jahre 1974 vom Fernsehen, das sich wiederum eine rasche Übernahme  der Produktionen nach der Kinoauswertung sicherte. Eine Zweckehe war geboren, die den deutschen Film nachhaltig veränderte: Zwar gab es immer noch die international erfolgreichen Werke der "bedeutenden" Figuren des “Neuen Deutschen Films”; gerade Jungregisseure sahen sich jedoch veranlasst, sich in ihrer Ästhetik dem Medium Fernsehen anzupassen, sozusagen für den Bildschirm statt für die grosse Leinwand zu inszenieren. - Und so waren einige der Streifen, die wir in dieser Zeit als epochemachende Produkte eines fortschrittlichen Denkens verherrlichten, in erster Linie kleine für den Tag geschriebene Fernsehfilme mit verzeihlichen Schwächen, die bei  einer Sichtung nach vielen Jahren aber doch ins Gewicht fallen.


Dies trifft sicher nicht auf alle geförderten Werke jener Jahre zu. Gerade der von mir bei früherer Gelegenheit besprochene und leider noch immer nicht auf DVD erhältliche Erstling von  Erwin Keusch, “Das Brot des Bäckers” (1977), setzt seine Geschichte vom Niedergang des Kleingewerbes in jeder Hinsicht tadellos und zeitlos ins Medium Film um. Es beruhigte mich jedoch, dass mein Blogger-Kollege von "Sieben Berge" anlässlich einer Besprechung von Hark Bohms “Moritz, lieber Moritz” (1978) von einem historischen Abstand zur Welt der 70er Jahre schrieb, der sich unter anderem in einem betulich wirkenden Erzählton bemerkbar mache, aber auch in einem Optimismus, der den heutigen Zuschauer befremdet. Denn ich hatte kurz zuvor ähnlich zwiespältige Erfahrungen gemacht - mit einem Film, der uns seinerzeit vorbehaltlos begeisterte und die Presse zu kollektiven Lobgesängen hinriss.

Mit seinem sozialkritischen Schelmenstück “Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat” betrat der Debütant Bernhard Sinkel in zweierlei Hinsicht Neuland: Er entdeckte die Komödie für den “Neuen Deutschen Film” der 70er Jahre, und er besetzte sie mit Senioren. Der Publikumserfolg veranlasste den SPIEGEL gleich zu einem Artikel, in dem ein “Altenkult” beschworen wurde:  1975 sei das Jahr, das uns die Alten wieder ins Bewusstsein bringe, im Film, Fernsehen und Theater. Rainer Werner Fassbinder habe mit “Angst essen Seele auf” (1974) den Anstoss gegeben; jetzt würden mit Serien wie “Rest des Lebens”, Theaterstücken wie Karl Otto Mühls “Rheinpromenade” oder Tankred Dorsts “Eiszeit” - ja gar mit Curd Jürgens’ “60 Jahre und kein bisschen weise” Greise zum Thema der Saison. “Ade, süsser Vogel Jugend, willkommen, ihr Mühseligen und Bejahrten”. Willkommen aber vor allem auch Lina Braake, die zeigt, dass man selbst im Alter noch einen übermächtigen Gegner zu überlisten vermag!

Die Presse neigt bekanntlich zu Übertreibungen und Pauschalisierungen. Eine Kriminalkomödie, die sich für die Rechte alter Menschen stark machte, den Zuschauer  sogar Sympathie für die kriminellen Alten empfinden liess, weil sie gegen einen Goliath antraten, fuhr aber schon ein: Obwohl der 81-jährigen Lina Braake von ihrem verstorbenen Vermieter schriftlich ein Wohnrecht auf Lebenszeit zugesichert wurde, kündigt ihr die Bank, die den Altbau übernommen hat und abreissen will, gnadenlos und schiebt sie in ein idyllisch gelegenes, jedoch völlig verlottertes Altenheim ab. Dort leidet Lina nicht nur unter der ungewohnten Umgebung und den Marotten der anderen Bewohner; die früher selbständige Frau muss auch erkennen, dass ihre Hilfe nicht mehr gefragt ist. Sie lässt sich in eine Lethargie fallen, verbringt den ganzen Tag nur noch im Bett. Erst der ihr zunächst kauzig vorkommende entmündigte ehemalige Bankfachmann und Betrüger Gustaf Härtlein weckt ihre Lebensgeister wieder. Er erinnert Lina daran, dass sie noch eine Rechnung begleichen möchte und er ihr dabei helfen kann. So kommt es, dass nach längerem gemeinsamem Monopoly-Spielen und vielen Lektionen zum Thema Geldzirkulation eines Tages eine distinguiert wirkende ältere Dame die Deutsche Boden- und Kreditbank betritt, um dort 20'000 Mark abzuheben, die ihr nicht gehören. Mit dem erschwindelten Geld kauft sie für den Friseur-Gehilfen Ettore einen Hof in Sardinien, wo sie selber noch einmal die ihrem Alter angemessene Wärme spüren will. Am Ende wird Lina von der Polizei zurück ins Heim gebracht. Aber sie hat einen Trumpf in der Tasche...

Ein Thema, wie es von bleibenderer Aktualität nicht sein könnte. Da lebt ein Mensch sein bescheidenes Leben, ist zufrieden damit und denkt, wenigstens an ihm seien die gesichtslosen Mächtigen nicht interessiert  (zu Beginn betritt Lina den Salon ihres Friseurs und meint zu den laut tönenden Sirenen des Krankenautos, es habe sich wieder einer aus dem Fenster gestürzt, weil man ihm die Wohnung wegnahm - was ihr ja nie passieren könne). Man passt sich sogar den unbequemen Veränderungen der Moderne an (eine Szene, die Lina vor zwei Aufzügen zeigt, deren Türen sich gleichzeitig öffnen und gleich darauf wieder schliessen, wirkt wie eine Reverenz an Jacques Tatis “Playtime”, 1967). --- Doch dann tauchen sie auf, die legalen Abzocker, reissen diesen Menschen aus seinem kleinen Dasein und führen sich sogar als die eigentlichen Opfer auf (“Aber wir sind doch eine Bank! Wir handeln mit Geld...”). Wünscht man sich da nicht ein Märchen, in dem mit dem Pack abgerechnet wird? Ist es nicht das, was sich die heute weltweit Sympathien erntende “Occupy"-Bewegung ebenfalls als utopisches Ziel setzt?

Von nun an gehört der Film ganz den beiden alten Menschen, die dieses Märchen frech und aufmüpfig Realität werden lassen wollen. Man sieht Lina förmlich an den unter einem “Wie gehts uns denn heute” des Heimleiters noch depressiven Augen an, wie das Leben in sie zurückkehrt, als Härtlein sie in die Geheimnisse des Betrugs einzuweisen beginnt (herrlich: die Szene, in der die beiden den korrekten Auftritt der Dame von Welt am Bankschalter einüben). Die traurige alte Frau, die zu der Bemerkung “Schaden kanns nix. Aber obs hilft?” in der Kirche eine Kerze anzündete, wird wieder zum selbständigen Wesen, das auf seinem mit der Unterstützung des Hausmeisters zusammengebastelten Fahrrad herumfährt - und als dann im Friseursalon zum Tango-Leitmotiv des Jazz-Pädagogen Joe Haider die Worte “Bella Lina” erklingen, weiss der Zuschauer, dass das bescheidene Märchen auf Zeit in Erfüllung gehen wird. - Es ermöglicht sogar Lina Carstens, die ab 1935 schon unter Douglas Sirk gespielt hatte, und Fritz Rasp, wegen seiner eng zusammenliegenden Augen immer wieder zu Rollen in Krimis verurteilt, als Gaunerpärchen selber noch einen späten Triumph zu feiern, nachdem man sie schon weitgehend abgeschrieben hatte.

Dieser Triumph der beiden Altstars ist jedoch auch dafür verantwortlich, dass man als Betrachter des Films den zeitlichen Abstand zu den 70er Jahren heute so stark empfindet. Denn nur Lina und Gustaf werden als Menschen gezeichnet, alle anderen Figuren um sie herum sind lediglich Typen, als seien sie als Nebenfiguren der “Lindenstrasse” entsprungen, hätte es diese damals schon gegeben. Der Heimleiter Körner ist nicht mehr als ein spiessiger Emporkömmling, wie man ihn sich damals eben vorstellte: nach oben wegen des kleinen Etats jammernd, nach unten tyrannisierend - und dann noch staunend, weil man ihn offenbar nicht liebt (“Manchmal habe ich das Gefühl, dass die mich hassen”). Jawlonsky, der Hausmeister, wird zum schon beinahe unerträglich stereotypen harten Kerl mit weicher Schale. Und dann beschwört man natürlich noch den Antiquitätenhändler herauf, der die Alten ausnehmen will. - Dass im Zusammenhang mit dem italienischen Friseurgehilfen Ettore sogar die Situation der italienischen Gastarbeiter in Deutschland thematisiert werden muss, zeigt, dass eine 70er Jahre-Komödie eben nicht nur eine Komödie sein kann, sondern sich zusätzlich mit weiteren gesellschaftlichen Problemen überladen muss.


Wer jedoch in den “Genuss” von “Dinosaurier - Gegen uns seht ihr alt aus!” (2009) kam, muss zugeben:  man jammert als Kritiker von “Lina Braake” auf einem hohen Niveau. Selbst die teilweise etwas einfallslosen Dialoge (lediglich Härtling darf sich Bonmots wie “Schwarze Kleider. Geeignet für Beerdigungen und Bankgeschäfte” leisten) wirken im Vergleich zum Remake direkt inspiriert. Und das scheinbar gelegentlich zu lange Verharren der Kamera an einer Stelle im ersten Teil geht vergessen, wenn man die nicht weniger langen Einstellungen geniesst, die Lina unter der Sonne Italiens am Strand sitzend oder in die Landschaft blickend zeigen. Diese Aufnahmen dienen nicht touristischen Zwecken; sie widerspiegeln einfach den Gemütszustand einer alten Frau, der List und Tücke noch zur Möglichkeit verhalfen, nicht nur eine offene Rechnung zu begleichen, sondern einen Traum für sich zu verwirklichen. - Und in solchen Augenblicken sehnt man sich - ich berufe mich noch einmal auf  "Sieben Berge" - zurück nach der tief versunkenen Welt der 70er Jahre mit ihren optimistischen Vorstellungen. Denn trotz aller Bewegungen gegen die Mächtigen vermag man heute nicht mehr die Kraft aufzubringen, an kleine Wunder zu glauben, zu deren Verwirklichung uns das Jahr, das uns die Alten brachte, auf der Leinwand oder am Bildschirm beinahe anspornte.