Dienstag, 31. Januar 2012

Jetzt schlägt's 13

Jetzt schlägt's 13 (Alternativtitel: Es schlägt 13)
(Jetzt schlägt's 13, Österreich 1950)

Regie: E.W. Emo

Mit dem Rat “Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!” verabschiedet sich der soeben entlassene Hausdiener und Nietzsche-Kenner Max von seinem ehemaligen Herrn, der das harte Los der Ehe gezogen hat. Und tatsächlich: Dessen Angetraute soll rasch dafür sorgen, dass sich die vom "jungen Glück" bewohnte Villa Sonnenschein in eine (vermeintliche) Mördergrube verwandelt, die es mit jeder Edgar Wallace-Spelunke aufnehmen kann - woran Max selber allerdings auch nicht ganz unschuldig ist...


Es war nicht zuletzt der während des Dritten Reichs als linientreu geltende Komödienspezialist und Hausregisseur der Wien-Film E.W. Emo (eigentlich Emerich Josef Wojtek), der mit leichten Unterhaltungsfilmen (Theo Lingen bezeichnete sie als “Limonadenfilme”) dafür sorgte, dass dem deutschsprachigen Publikum das Lachen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht abhanden kam. Das Muster, nach dem diese Filme gestrickt waren, darf als denkbar einfach bezeichnet werden. Sie standen in der Tradition des  Schwanks, wie ihn etwa die Autoren Arnold und Bach (“Die spanische Fliege”, 1913, “Der wahre Jakob”, 1924) im frühen 20. Jahrhundert geprägt hatten: Man lasse ein scheinbar geregeltes Familienleben durch ein unvorhergesehenes Ereignis aus dem Lot geraten und sorge dafür, dass ein schier hoffnungsloses Tohuwabohu mit mehreren Beteiligten entsteht, das sich am Ende erstaunlicherweise zur Zufriedenheit aller auflöst. Emos Trümpfe waren zwei hervorragende Komiker, die er wegen der denkbar unterschiedlichen Typen, die sie verkörperten, gerne (gelegentlich mit Heinz Rühmann) zusammen einsetzte und gegeneinander ausspielte: der nuschelnde österreichische Volksschauspieler Hans Moser mit seinem griesgrämigen Gesicht und der näselnde, oft als versnobbter Kleinbürger daherkommende Hannoveraner Theo Lingen. Diese beiden Schauspieler sollten auch nach dem Krieg für Erfolge garantieren; und dies, “brave 50er" hin oder her, wesentlich schneller, pointenreicher, gelegentlich sogar etwas schlüpfriger als unter Goebbels’ totaler Kontrolle. So entstanden ein paar Filme, die trotz des bescheidenen Budgets, das zur Verfügung stand, noch heute entschieden grösseren Unterhaltungswert besitzen als so manche Operette oder Heimatschnulze der Zeit. Deshalb lohnt es sich, an den weitgehend vergessenen E.W. Emo zu erinnern.

Im Hause des erst seit drei Wochen verheirateten Schriftstellers und Verfassers des Buchs “Das Glück in der Ehe” Mario Jaconis herrscht Krieg. Seine eifersüchtige Frau Hedy weiss sehr wohl, dass ihm sein treuer Diener Max, ein gieriger Zeitungsleser und Verschlinger seines Horoskops,  dabei hilft, ehemalige Liebschaften zu verheimlichen und - nicht wörtlich nehmen! - zu erledigen. Der Gehilfe muss weg, ein neuer Hausdiener her. Dieser findet sich im braven Ferdinand, dessen einzige Leidenschaft Kriminalromane sind und der leider betont,  seine früheren Herrschaften seien alle verstorben. - Die Verwechslung zweier Koffer hat zur Folge, dass beide Diener zu der Überzeugung gelangen, der andere sei ein Raubmörder und es sei ihre Pflicht, die Herrschaft vor dem jeweiligen Bösewicht zu schützen. Max kehrt in die Villa Sonnenschein zurück, und als dann noch eine alte Freundin von Hedy nebst Jaconis neuem Verleger eintreffen, bricht das Chaos aus: Ferdinand fühlt sich plötzlich vergiftet, versucht sich mit Milch zu entgiften und lässt sich sogar zu einem “Ich bin lieber feig als tot” (man stelle sich diesen Satz in einer Komödie der Nazi-Zeit vor!) hinreissen. Max wiederum vergeht die Lust, mit den Hausmädchen zu flirten (“Bei jedem jungen Mädchen werde ich mich gerne deiner erinnern”), und die Herrschaften verdächtigen sich noch mehr der gegenseitigen Untreue als zuvor. Werden am Ende nur noch Leichen im Kohlenkeller und unter dem Tisch liegen - oder hilft doch ein spezielles Gemüse: Rhabarber?


Das wirkliche Leben der schon während des Dritten Reichs höchst erfolgreichen Komiker Hans Moser und Theo Lingen zeichnete sich übrigens durch alles andere als unbeschwerte Komik aus: Beide waren mit Frauen jüdischer Herkunft verheiratet und durften sich nur weiterhin als Schauspieler betätigen, weil der Propagandaminister einsah, wie bedeutend sie für das deutsche Lustspiel waren. Der stille, intellektuelle Lingen, in den frühen 30ern in ernsten Rollen von Fritz Lang geschätzt,  konnte mit seiner Frau, einer Halbjüdin, unter Entbehrungen zusammenbleiben, die Frau des Grantlers Hans Moser, der als Mitglied diverser Wanderbühnen Jahre bitterer Armut hinter sich hatte, emigrierte bis Kriegsende nach Ungarn.  - In den 50er Jahren sollten die beiden Schauspieler noch in ein paar sehenswerten Lustspielen wie “Jetzt schlägt’s 13” (ganz auf sie zugeschnitten, weshalb der junge Josef Meinrad als Jaconi erstaunlich blass wirkt) glänzen; als aber die deutsche Komödie nicht zuletzt “dank” sich für Schauspieler haltender Sänger immer mehr ins Seichte abglitt, sank der begnadete Theo Lingen mit ihr und gab sich für peinliche Erzeugnisse wie “Wenn mein Schätzchen auf die Pauke haut” (1971) her. Kein schöner Abschluss einer wirklich bemerkenswerten Karriere! -  Obwohl “Jetzt schlägt’s 13” in mancher Beziehung veraltet und stereotyp wirken mag, nimmt er es tempomässig rasch mit einer amerikanischen Komödie dieses Jahrtausends auf und spart auch nicht mit herrlichen Pointen. Ein Rhabarber-Film, der noch immer für einen heiteren Abend sorgt:

Freitag, 20. Januar 2012

Und noch ein DÖS-Abschluss

Zeit für DÖS

Wie schon beim Eingangsposting, wird auch mein Abschlussposting kürzer als das von Whoknows - ich bin nun mal kein Essay-Schreiber, und ich werde auch keiner mehr. Wirklich grundlegende neue Erkenntnisse hat mir die Aktion DÖS zwar nicht gebracht - ich war diesem Thema gegenüber schon immer aufgeschlossen -, aber doch einige interessante Einsichten. Etwa, dass Zbyněk Brynych, den ich als Fernsehregisseur schon sehr lange kenne und liebe, auch ein interessanter Filmregisseur zu sein scheint (die Überprüfung steht aber noch aus). Einiges neue habe ich über den Schweizer Film erfahren, vor allem natürlich von Whoknows, der das Thema auch schon vor der Aktion behandelte, aber beispielweise auch von gabelingeber. Etwas enttäuschend war dagegen die Ausbeute an österreichischen Filmen. Gab es da überhaupt längere Besprechungen (abgesehen von WIENERINNEN, den ich selbst im Angebot hatte)? Da hätte etwas mehr kommen können, liebe Kollegen aus dem Süden ...

Jetzt sollte eigentlich eine Liste von fünf Lieblingsfilmen kommen, die ich während der Aktion kennengelernt habe (die Nebenbedingung hat Whoknows etwas, äh, kreativ ausgelegt :-). Allein, ich komme auf keine fünf Filme, die dazu geeignet sind. Entweder kenne ich sie schon länger, oder sie haben mich nicht ausreichend überzeugt, um als Lieblingsfilme gelten zu können. Also belasse ich es einmal bei EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL, der für mich wohl die Entdeckung des Jahres ist.

Hier die Liste meiner eigenen Besprechungen:

JONAS (Ottomar Domnick, 1957)
EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL (Thomas Schamoni, 1970)
SAN DOMINGO (Hans-Jürgen Syberberg, 1970)
DAS STAHLTIER (Willy Zielke, 1934)
WIENERINNEN (Kurt Steinwendner, 1952)
VENEDIG (Kurt Steinwendner, 1961)

Wenn man mag, kann man noch BLUT AN DEN LIPPEN von Harry Kümel dazuzählen, der immerhin eine deutsche Co-Produktion, aber letztlich doch eher ein belgischer Film ist.

Da ich am Beginn der Aktion eigentlich nur mit zwei oder drei Artikeln von mir gerechnet habe, bin ich mit meiner Ausbeute quantitativ sehr zufrieden (die qualitative Beurteilung bleibt natürlich der Leserschaft vorbehalten). Im Hinblick auf die Aktion habe ich aber in den letzten Monaten DÖS-Filme vorgezogen, die sonst länger hätten warten müssen. Das lässt sich aber nicht dauerhaft fortsetzen, es wird also in Zukunft weniger DÖS pro Zeiteinheit von mir geben, auch wenn schon noch die eine oder andere DÖS-Besprechung folgen wird.

Donnerstag, 19. Januar 2012

Aktion DÖS - Abschlussposting von Whoknows


Im März 2011 startete der Intergalactic Ape-Man seine "Aktion DÖS". Erstaunlich viele Blogs glänzten mit einem Eingangsposting und  zählten zehn ihrer deutschsprachigen Lieblingsfilme auf. Dass nur ein Bruchteil dieser Blogs auch längere Besprechungen liefern würde, war zu erwarten. Trotzdem durfte der Urheber der Idee eine stolze Ernte einfahren, und ich möchte mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben. - Was mich erstaunte: Ich hatte lange den Eindruck, man versuche die Zeit des Dritten Reiches regelrecht aus dem Gedächtnis zu verbannen, während ich sie zum Teil bewusst, manchmal mich von ihr eingeholt fühlend (etwa die Besprechung von Imhoofs "Das Boot ist voll") als problematischen Teil unserer Geschichte in meine Beiträge miteinbezog. Später sollten weitere Blogger hinzukommen, die dies ebenfalls taten und zeigten, dass Filme aus dieser Zeit oft faszinierend sein konnten, ihre Tendenz und Entstehungsbedingungen aber dem über sie Schreibenden die (verbliebenen) Haare zu Berge stehen liessen. Ebenfalls interessant: Gerade einige der mit Pomp oder Anspruch internationale Bedeutung anstrebenden Werke (von Josef von Bákys „Münchhausen“, 1943, über Helmut Käutners sich an „Citizen Kane“ anlehnenden „Ludwig II. – Glanz und Elend eines Königs“, 1955, bis hin zu den Produktionen aus der Bernd Eichinger-Küche) fanden kaum Beachtung. Hingegen wurden neben Unumgehlichem kleine, oft nicht erwartete deutschsprachige Filme in den Mittelpunkt gestellt (sogar der „Neue Deutsche Film“ war mit Überraschungen vertreten). Einige der besprochenen Arbeiten interessierten mich weniger, andere nahm ich dankbar als lohnenswerte Entdeckungen, die ich mir bei Gelegenheit zulegen muss, entgegen.

Was mir die Aktion nebenbei brachte: Es kam nolens, volens zu einer Annäherung an Regisseure, denen ich mich lange Zeit aus kaum nachzuvollziehenden Gründen verweigert hatte: Plötzlich sehe ich mich etwa veranlasst, Werner Herzog eine Chance zu geben. Filme, wie sie mein Co-Admin besprach, erinnerten mich auch an weit zurückliegende Sichtungen, über deren Wert ich auf einmal nachzudenken begann. Dabei fiel mir auf, wie dankbar Regisseure, deren Filme in diesem Jahrtausend etwa in der Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ ausgestrahlt wurden,  sein dürfen, weil man diese häufig zusätzlich auf einer DVD begutachten kann. Denn ich rätsle jetzt plötzlich darüber, ob zum Beispiel Hartmut Griesmayers „Fallstudien“ (1979), ein Film, der den Alltag in einem Bordell schildert, den hohen Stellenwert wohl behalten würde, den er in meiner Erinnerung hat. Dieses Rätsel wird sich nicht auflösen, weil die Rarität nicht „gebrannt“ erhältlich und an eine Neuausstrahlung kaum zu denken ist. Ähnlich geht es mir mit ein paar Schweizer Filmen, etwa Mark Rissis "Die schwarze Spinne" (1983) oder Urs Odermatts "Der Tod zu Basel" (1990).  – Dies als kleine Aufforderung, lohnenswerte deutschsprachige Filme vor dem Vergessen zu bewahren und dem Filmfreund als DVD zugänglich zu machen.

Nun zu den fünf „Lieblingsfilmen“: Ich bemerkte schon im Eingangsposting, dass es sich bei meinen zehn ausgewählten Filmen eher um für die jeweilige Zeit bedeutende Ereignisse als um Lieblingsfilme handle. Die geforderte  Betonung auf „Lieblings-„ am Ende der Aktion macht die Sache ausserordentlich schwierig.  Ich müsste etwa als Anhänger des Genres Murnaus „Nosferatu“ (1922) nennen, auch den im Rahmen dieser Aktion überaus geschätzten „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), dessen Bedeutung mir nicht entgeht. Aber sind dies nach vielen Sichtungen immer noch Filme, die ich der Liste meiner nun rund dreissig Titel umfassenden Lieblingswerke vorziehen würde? Muss ich nicht in diesem Moment erst recht auf Subjektivität beharren? – Hier eine recht willkürliche Auswahl aus meiner schon qualvoll zusammengeschrumpften Liste:


Menschen am Sonntag (Deutschland 1930)
Die von jungen Amateurfilmern gedrehte Collage einer Grossstadt am Sonntag wirkt so poetisch und zugleich authentisch, dass man sich ihrer Unbeschwertheit hingeben möchte und einfach vergessen will, was aus diesen Menschen und dem Land, in dem sie lebten, wenige Jahre später werden sollte. Ein letzter Traum, den ich immer wieder voller Hingabe mitträume – ohne darauf zu achten, welche Szenen „inszeniert“, welche spontan wirken.


Der Untertan (DDR 1951)
Eine Literaturverfilmung gehört einfach in die Liste des ehemaligen Literaturstudenten. Ich schwankte lange zwischen Staudtes Meisterwerk und Schlöndorffs Musil-Adaption, die zu einem der frühen Erfolge des Neuen Deutschen Films werden sollte und die ich bei Gelegenheit besprechen möchte. Die einzigartige Heinrich Mann-Verfilmung erhielt letztlich den Vorrang, weil sie auch als hinterlistige frühe Abrechnung mit dem buckelnden und verehrenden Nationalsozialisten angelegt ist. Für mich zusätzlich reizvoll: Heinrich Mann wurde als ehemaliger Sozialist in der frühen  BRD wie andere heute anerkannte Schriftsteller im Gegensatz zu seinem Bruder gemieden. Wenn es also etwas gibt, wofür wir der DDR dankbar sein müssen, so ist es das Aufrechterhalten der Erinnerung an ihn und manche seiner Zeitgenossen.

 
 Das Brot des Bäckers (Deutschland 1973)
Zwei Schweizer Regisseure, deren grösstes Werk in den 70er Jahren entstand, buhlten um meine Gunst. Eigentlich hätte ich mich für Kurt Früh entscheiden müssen, der seine späte traurige Ballade „Dällebach Kari“ (1970) auch in der Schweiz drehte. Erwin Keuschs Filmdebut wirkt jedoch noch heute so aktuell und überzeugend, dass es letztlich den Vorrang erhielt. Es soll zugleich insistierend an etwas erinnern:  Solche Filme müssen als DVD zu haben sein, wenn man eine einseitige Erinnerung an den deutschen Film jener Zeit verhindern will. „Das Brot des Bäckers" ist überdies ein Meisterwerk, das internationale Beachtung erhielt und sie auch heute noch verdient.


Heimat – Eine deutsche Chronik (Deutschland 1984)
Edgar Reitz‘ im Jahre 1919 einsetzende Alltagsgeschichten aus einem Dorf im Hunsrück sind, wie ich schon in meinem Eingangsposting erwähnte, ein filmisches Ereignis der Sonderklasse. Diese deutsche Chronologie en miniature, die auf raffinierte Weise zwischen Schwarzweiss und Farbe wechselt, wird in den nächsten Jahrzehnten niemand überbieten können. Trotzdem sollte ihr Versuch, sich am Alltäglichen, nicht am Pompösen zu orientieren, für Filmemacher unserer Zeit ein Vorbild sein – und es ist gut, dass viele dies erkannt haben.

Todesspiel (Deutschland 1997)
Heinrich Breloers Doku-Drama über die Rote Armee Fraktion und den berüchtigten Herbst des Jahres 1977 mit der Schleyer-Entführung und Mogadischu ist auch eher zufällig in meiner Liste gelandet. Dass Breloers Talent für Semi-Dokus ungleich grösser ist als das für Spielfilme, bewies er mit seinem desaströsen „Buddenbrooks“ (2008). Hier geht es mir jedoch vor allem darum, dass ich die Geschichte der Rote Armee Fraktion seinerzeit lediglich  über Fernsehreportagen und Tagesschaumeldungen mitbekommen konnte. Deren Einseitigkeit wurde spätestens dann erkannt, wenn man einen brüllenden Franz Josef Strauss vor dem Mikrophon sah. Lange Zeit blieb der Eindruck bestehen, ich würde nie mehr als Bruchstücke über die wirklichen Hintergründe der Abläufe erfahren, die ich mit so grossem (jugendlichem) Interesse verfolgte. Die späte Aufarbeitung als Doku-Drama  faszinierte mich deshalb überaus, und ich bin noch heute dankbar dafür. Sie „erhellte“ mir ein wichtiges Stück deutscher Geschichte.

Jetzt müssten mindestens  zehn, fünfzehn weitere Filme erwähnt werden, angefangen bei „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ (1937), an den mich Manfred Polak erinnerte, vorläufig endend beim provozierenden, weil realistischen „Eierdiebe“ (2003), dessen Regisseur der verheerenden Versuchung Hollywood nicht widerstehen konnte. Ich freue mich über Filmschaffende, die verstehen, wie wichtig es ist, dass sie ihre Arbeit in Deutschland fortsetzen und vom scheinbar unbedeutenden Alltag, von eigenen kleinen Erfahrungen ausgehen, um in ihnen das vorhandene Material für eine gute Geschichte zu entdecken. Eine solche Herangehensweise machte den deutschen Film immer gross und wird es weiterhin tun. Die Schweiz, die in diesem Jahrtausend mehrfach mit viel Schmalz vergeblich um Oscars und internationalen Ruhm buhlte, zeigt: So geht es nicht.

***

Mit diesem Abschlussposting endet für mich die “Aktion DÖS“. Gleichzeitig sehe ich mich unabhängig von ihr – wie wohl diverse andere Teilnehmer auch – in der Pflicht, weiterhin deutschsprachige Filme zu besprechen, mögen diese auch nicht mehr wie in den letzten Monaten als geballte Ladung anrücken. Unser Intergalactic Ape-Man wäre dankbar für die geregelte Fortsetzung seiner Schöpfung in irgendeiner Form gewesen. Er erhielt Absagen, unter anderem auch von mir, in den er ein wenig Hoffnung gesetzt hatte. Ich musste meine Absage mit dem Argument begründen, über das ein paar Leser bereits Bescheid wissen: Als HIV-Langzeitüberlebender mit entsprechender Krankengeschichte wäre ich ein höchst ungeeigneter, weil unzuverlässiger „DÖS“-Leiter. Der Sinn meines Daseins beschränkt sich auf das Ärgern des werten Lesers.

Vielleicht ist es auch ganz gut, jetzt einen Endpunkt zu setzen und die Aktion als Anregung zu betrachten. Würde man sie künstlich am Leben erhalten, könnte dies von einigen als Zwang betrachtet werden, dem sie sich entziehen möchten. Die Situation ist aber so, dass ich sicher nicht der einzige bin, der sich in den letzten neun Monaten eine rechte Anzahl DÖS-Filme (weniger aus der Schweiz, da unsere Produktion so beeindruckend nicht ist) zugelegt hat, die besprochen werden wollen, der verschiedene Stränge aufnehmen und intensiver verfolgen möchte. In meinem Fall steht zum Beispiel ein Aufarbeiten des deutschen Films der letzten acht bis zehn Jahre noch an.

Das wär‘s für den Moment. Ich danke dem Intergalactic Ape-Man für seine spannende Anregung und den Aufwand, dem er sich ausgesetzt hat. Möge die Beschäftigung mit dem deutschsprachigen Film anhalten und weitere Blogger reizen! Leute, wir sind wer! Und mit den Massenproduktionen aus Hollywood nehmen wir es noch lange auf.

Gruss Bruno 


Freitag, 13. Januar 2012

Zwangsneurotisches Oscarvehikel

Aviator
(The Aviator, USA/Deutschland 2004)

Regie: Martin Scorsese

Darsteller: Leonardo DiCaprio, Cate Blanchett, Kate Beckinsale, John C. Reilly, Alec Baldwin, Alan Alda, Ian Holm, Danny Huston, Gwen Stefani, Jude Law, Adam Scott, Matt Ross, Kelli Garner u.a.

“There’s too much Howard Hughes in Howard Hughes.” - Diese der Schauspielerin Katharine Hepburn in den Mund gelegte Bemerkung fasst vielleicht das zusammen, was die Amerikaner auf der Leinwand von ihrer Ikone zu sehen bekommen wollten: einen Mann, der vom Ehrgeiz getrieben das vergass, was einen Menschen ausmacht, der aber seine Energie in so unterschiedliche Bereiche investierte, dass er stattdessen zum Mythos avancierte und  in einer längst versunkenen Glitzerwelt den “American Dream” verkörperte - um letztlich, während ihm die Welt zu Füssen lag, von seinen Obsessionen eingeholt zu werden und innerlich zu scheitern. Die Bemerkung weist aber auch auf Probleme hin, mit denen sich ein Film, der sich mit der Figur beschäftigt, konfrontiert sieht: Wie soll er dieses “too much”  dem Zuschauer, der doch vor allem an den Erfolgen eines Amerikaners, der angeblich die Zukunft gestaltete, teilhaben will, vermitteln, ohne ihn einer banalen “Rise and Fall”-Geschichte auszusetzen? Und wie viel von diesem “too much”, das den historischen Howard Hughes ausmachte, darf er ihm tatsächlich zumuten? Soll er auch auf das Dunkle im Wesen des Tycoons zu sprechen kommen? Wobei ich mit dem Dunklen beileibe nicht dessen Zwangsneurose und ihre Auswirkungen meine...

Howard Hughes war für mich in den 70er Jahren vor allem der steinreiche Exzentriker, der seit langer Zeit versteckt in einer Hotel-Suite in Las Vegas lebte, die auf den ewig gleichen Bildern in Zeitschriften, die in Friseursalons herumlagen, von einem dicken Pfeil “attackiert“ wurde. Er hatte (warum eigentlich?) einst für Jane Russell einen speziellen Büstenhalter kreiert und den Film “Hell’s Angels” gedreht, liess aber so gut wie niemanden mehr an sich heran (seine Pionierleistungen im Bereich der Aviatik interessierte die Damen in Lockenwicklern wenig). Erst als der in einem Flugzeug verstorbene verwahrloste und nur Windeln tragende Milliardär (“mit Fingernägeln wie Krallen”) vom FBI identifiziert werden musste, begann ich mich ein wenig mehr mit ihm und seinem Leben zu beschäftigen. Und wieder einmal bestätigte sich mein boshaftes Vorurteil, dass steinreiche Männer keineswegs in erster Linie die grossen und vielleicht wegen ihrer “Leiden” zu bedauernden Figuren sind, als die sie gerne in die Geschichte eingingen:  Der seiner Zwangsneurose ausgesetzte Hughes war seit jeher auch ein hemmungsloser Rassist und Antisemit mit entsprechenden Verbindungen während des Zweiten Weltkriegs, leistete sich nicht nur Politiker in Massen, sondern unterhielt sogar  enge Verbindungen zur Mafia (der er später halb Las Vegas abkaufte). Nach dem Krieg entwickelte er einen geradezu krankhaften Wahn gegen die angeblich die USA infiltrierenden Kommunisten, weshalb er 1948 die Kontrolle über die RKO übernahm und sie von "Verdächtigen" säuberte. Über seine zweifelhafte Rolle im Watergate-Skandal wurde viel geschrieben, auch über seinen misslungenen Versuch, der CIA bei der Bergung. eines gesunkenen sowjetischen U-Boots zu helfen. Dass der böse Juan Trippe mit seiner angeblich übermächtigen Pan Am ihn und seine "kleine" TWA je an die Wand zu drücken vermochte, gehört hingeben ins Reich der Legende. - Man könnte Howard Hughes - und ich stimme hier einem hervorragenden Artikel von David Walsh in der  “World Socialist Web Site” zu - als “gangster-industrialist”, der Kontakte zu den schlimmsten Diktatoren der Welt nicht scheute, bezeichnen.

 Nun ist das Biopic in seiner amerikanischen Ausprägung seit jeher ein tendenziell reaktionäres Subgenre, dem es um die Verherrlichung seiner Hauptfigur und ihrer Leiden geht. Diese Verherrlichung nimmt es mit den geschichtlichen Abläufen (die Hepburn galt zum Beispiel noch nicht als “Kassengift”, als sie Hughes kennenlernte), auch mit der Wahrheit nicht sehr genau. Sie reduziert das Leben ihres “Sterns”, der sich von den (hier prominent besetzten) Nebenfiguren wie die Sonne von Planeten umkreisen lässt, auf seine Glanzzeit oder einen entscheidenden Wendepunkt - und bringt im besten Fall grosse Unterhaltung mit beschränkter Glaubwürdigkeit zustande. Einige der stilprägenden Biopics verdanken wir den 50er Jahren (“The Glenn Miller Story”, 1954, “Love Me Or Leave Me”, 1955, “I’ll Cry Tomorrow”, 1955 etc.). Was zu dieser Zeit verschwiegen werden musste, verschweigen interessanterweise auch die bekanntesten biographischen Schlaftabletten, die uns dieses Millenium bescherte (etwa “Ray”, 2004, “Walk the Line”, 2005): das, was dem Mythos schaden könnte.


Gerade Martin Scorsese schien freilich der Regisseur zu sein, der dieses ungeschriebene Gesetz der reinen Verherrlichung zu brechen in der Lage war, verkörperte er doch selber einen Mythos: Er galt als Mann, der die Fähigkeit besass, tief in die von ihm ins Auge gefassten Figuren und ihr Umfeld einzudringen und auf diese Weise zusätzlich die amerikanische Geschichte mit ihren Schattenseiten schonungslos aufzuarbeiten. Was das für das Biopic bedeutete, hatte er in seinem grandiosen Boxerfilm „Raging Bull“ (1980) gezeigt; und der leider gefloppte „New York, New York“ (1977) bewies, dass er seine Schwäche für den alten Hollywood-Film, der er bestimmt auch bei einer Verfilmung des Lebens von Howard Hughes würde nachgehen können, gezielt zur Beleuchtung dessen, was sich hinter all dem Glamour abspielte, einsetzen konnte. – Scorsese wartete aber auch seit den späten 70er Jahren vergeblich auf seinen Regie-Oscar, und es war vielleicht damit zu rechnen, dass er das eigentlich für Michael Mann konzipierte Spektakel als Gelegenheit betrachten würde, sich auf beeindruckende Weise – wenn auch vergeblich - an Hollywood anzubiedern. Wie schwierig das Resultat dieses Sich-Anbiederns zu beurteilen sein sollte, zeigte sich an den Reviews, die das Oscarvehikel  zum Teil brüsk ablehnten, die Schuld für sein Scheitern dem unterschätzten  Leonardo DiCaprio oder Cate Blanchett, die aus Katharine Hepburn eine Karikatur machte, in die Schuhe schoben – oder es manchmal mit bemühten Argumenten, oft aber oberflächlich doch zum Meisterwerk erhoben.


„The Aviator“ kommt tatsächlich als beinahe altmodisches Epos daher, will – und dies deuten verschiedene Kleinigkeiten wie das den Filmen der jeweiligen Epoche entsprechende Einfärben einzelner Szenen an – ein gigantischer alter Hollywood-Reigen mit überwältigenden Bildern sein. Er ist im Gegensatz zu anderen Biopics jener Jahre auch ein zumindest vorübergehend berauschendes Erlebnis: Das sich wiederholende Umfahren der mächtigen Flugzeuge wirkt, als möchte die Kamera sie – besässe sie denn Arme – umschlingen. Bachs berühmte Toccata und Fuge in d-Moll wird zur Untermalung solcher Aufnahmen bemüht. Ruhm, Ausschweifungen und Obsessionen, aber auch Hughes‘ Absturz mit der XF-11 in ein Wohngebiet von Beverly Hills werden in Bilder eingefangen, von denen man den Eindruck erhält, man würde sie für immer im Gedächtnis behalten. Für mich besonders beeindruckend: die Gestaltung des nächtlichen Telefonats mit dem „Mädchen für alles“ Noah Dietrich, nachdem Hughes seine Kleider verbrannt hatte (kleine Berichtigung: er tat dies in Wirklichkeit nicht, weil die Hepburn ihn verliess, sondern weil er von der Syphilis erfuhr, die er sich einfing und die auch ihren Anteil an seiner späteren Entwicklung gehabt haben dürfte). – Aber ist dieser Film denn mehr als eine Feier seiner selbst und des Filmemachens der alten Schule? Entfernt er sich nicht vor lauter Gier nach Glanz weit von seinem Thema und der eigentlichen Wahrheit? - Vor allem aber: Warum muss man anlässlich einer zweiten Sichtung zugeben, dass man sich kaum an den Bilderrausch zu erinnern vermag?

Scorsese und Drehbuchautor John Logan beschränken sich bekanntlich auf die Jahre 1927 – 1947, die Zeit, in der Howard Hughes seine grossen Erfolge als Filmregisseur, Produzent, Flugzeugbauer und Besitzer seiner eigenen Fluglinie feierte. Wir begegnen ihm als Millionenerben, der auf dem Set von „Hell’s Angels“, dem grössten privaten Flughafen der Welt, nicht nur energisch mit Mühe zu erfüllende Befehle erteilt, sondern von seinem Meteorologen sogar „private“ Wolken für sich beansprucht („Find me some clouds!“), treffen ihn im dekadenten „Cocoanut Groove“, den er passend zum Song „I’ll Build a Stairway to Paradise“ betritt, um sich von Louis B. Mayer zwei weitere Kameras für sein hoffnungslos verschuldetes Projekt auszuleihen. Mit seinem Flugzeug fliegt er das Set eines Katharine Hepburn-Films an, weil er die Schauspielerin, eine seiner vielen Eroberungen („Actrices are cheap!“), die hier neben Ava Gardner hervorgehoben wird, zum Golf einladen möchte. Später wird ihn der Zwang zum Ruhm trotz der Warnungen seines Managers Noah Dietrich vor waghalsigen bis illegalen Geschäften zum Kauf der TWA verlocken und einflussreiche Männer mit zweifelhaften Mädchen bestechen lassen, weil er den Auftrag zum Bau der Hercules bekommen möchte.

All dies müsste  Hughes eigentlich zum abstossenden Kapitalisten mit einem unerträglich grossen Ego und einem nicht minder grossen Frauenverschleiss machen. Zum „Glück“ litt der Milliardär jedoch noch unter einer Zwangsneurose, die er sich leisten konnte und dank der man ihn mit der Aura des Bemitleidenswerten zu umgeben vermochte. Scorsese führt diese Neurose allerdings auf geradezu billige Weise auf Mutti zurück, die ihren Sohn in einer Zeit der Typhus-Epidemien mit den Worten „You are not safe“ wusch, wozu er das Wort „Q-U-A-R-A-N-T-I-N-E“ (an dem er sich später  festhalten konnte) buchstabierte. Auch in seinem weiteren Leben werden es neben den von ihm entworfenen Flugzeugen, die er liebevoll streichelt, um sie auf herausragende Nieten abzutasten, angeblich Mutterfiguren sein, die Hughes eine Zeitlang zu leiten und ihm Halt zu geben vermögen: Katharine Hepburn mit ihrer Warnung „Howard, we’re … we’re not like everyone else“ (er trinkt während eines Flugs sogar aus der gleichen Milchflasche wie sie!) oder Ava Gardner, die ihn nach seinem Elendsjahr im Vorführungsraum mit vollgepissten Milchflaschen und einer keimfreien Zone für die Anhörung vor dem Senatsausschuss wegen seiner Geschäfte, die ihn zum Kriegsgewinnler zu stempeln drohen, mit den Worten „Nothing’s clean, Howard. But we do our best“ aufrichtet, als er sich nicht waschen möchte, weil der fürchtet, das Wasser könnte nicht rein genug sein. Die anderen Gestalten in seinem Umkreis dienen ihm oder stören im schlimmsten Fall (wie der Flegel Errol Flynn, der eine Erbse von seinem perfekt arrangierten Teller isst) sein Universum. – Abgesehen von den wirklich erschütternden Bildern des völlig dem Wahnsinn verfallenden Mannes im Vorführraum kostet Scorsese vor allem Hughes‘ Waschzwang aus; das wilde Reinigen der Hände mit der Kernseife nimmt, wie verschiedentlich erwähnt wurde, geradezu masturbatorische Züge an.


Doch die Amerikaner bewundern letztlich nicht das Leiden, sondern Erfolg und Macht – und Scorsese  erliegt einer Schwäche, die kennzeichnend für viele Biopics  ist: Er will „The Aviator“, der so verschiedene Stränge verfolgte, dass es ihm ohnehin an einer Richtung fehlt, unbedingt mit einem Triumph seines Helden beenden. Dieser Triumph soll der kurze Flug mit der als „Spruce Goose“ bezeichneten Holzkiste „Hercules“ werden, der seinerzeit ein Medienereignis war, aber eigentlich nur bewies, dass das während des Weltkriegs entwickelte Monster mit voller Last fluguntauglich gewesen wäre (man verstaute das Flugzeug später in einem Hangar; seine Aufbewahrung verschlang Millionen). – Der vermeintliche Höhepunkt verbietet den oft und zu Unrecht beschworenen Vergleich mit „Citizen Kane“ (1941). Hughes bleibt im Film der unangefochten grosse Amerikaner; sein späterer Gang in die Einsamkeit des endgültigen Wahnsinns wird am Schluss nur diskret angedeutet.

"The Aviator" ist ein Film, der im Betrachter selber ein zwangsneurotisches Verhalten auszulösen vermag. Denn es darf doch gar nicht sein, dass ein derart gigantisches Werk von Scorsese in Wirklichkeit so leer ist, viel über Howard Hughes erzählt, ohne wirklich in ihn einzudringen, ja seinen Helden stattdessen auf oberflächliche Weise preist. Man beginnt förmlich nach einer bedeutsameren Ebene hinter dem Biopic der alten Schule zu suchen. - Mich beschäftigte zum Beispiel eine Zeitlang die berühmte Szene in einer Flugzeughalle, in der sich Hughes Blaupausen ansieht (sie endet mit dem mehrfach wiederholten "Show me all the blueprints!"). Man sieht dort für einen Moment, wie rasch sich alles im Gehirn des Pioniers abzuspielen vermag, mit einem Tempo, das unserer Realität nicht mehr standhält und ihn letztlich überfordern, zum Kranken machen muss. Und ich begann mich zu fragen, ob die abrupt wechselnden Schauplätze, an denen er im Film auftritt, sein Wahrnehmen, die mangelnde Kontinuität seines Seins, wiedergeben wollen. Mit anderen Worten: Ist "The Aviator" in erster Linie gar kein Hughes-Biopic, sondern ein Film über einen Zwangsneurotiker, an dessen subjektivem Empfinden wir teilhaben. Dies würde erklären, warum wir nie auch nur einen Funken Liebe in der Liebesgeschichte zwischen ihm und Katharine Hepburn entdecken. Und dieses unfassbare Durcheinander in der "We're all socialists here"-Familie der Diva kann doch nur als weit von jeder Wahrscheinlichkeit entferntes Wahrnehmen gedeutet werden, ebenso die kleinsten Flecken, die Hughes auf den Anzügen anderer Leute stören oder der Versuch von Juan Trippe, den Rauch seiner Pfeife durch ein Türschloss zu blasen. Ich kann heute auch Georg Seßlen bis zu einem gewissen Grad verstehen, der den Film  wiederum überschwänglich als Darstellung der Geschichte der USA loben möchte, die sich als Spirale in die Barbarei erweist, in der Hughes Täter und Opfer ist. - All das mag zutreffen; aber es reicht nicht aus, kommt nicht deutlich genug zur Sprache, weshalb man es förmlich in den Film hineinlesen muss. Und spätestens wenn man abwechslungsweise einen leidenden  Howard Hughes (als Sympathieträger!) in seinem Vorführungsraum und einen vor Reportern gegen ihn hetzenden Senator Brewster sieht, erkennt man die eigentliche Intention von "The Aviator": Martin Scorsese wollte sich mit diesem Vehikel ohne Scorsese selber ein Denkmal setzen. Er, wegen seines Drangs nach Perfektion auch oft als Neurotiker betrachtet (er leidet ironischerweise unter Flugangst), scheute hier nicht vor den billigsten Effekten zurück, weil er endlich an das Ding rankommen wollte, das ihm "Departed" (2006) dann ja  bescheren sollte. Dass er mit seiner einseitigen und verlogenen Hughes-Huldigung langfristig seinen Ruf aufs Spiel setzen könnte, kümmerte ihn offenbar wenig.


In den letzten Jahren ist wenig über "The Aviator" geschrieben worden. Man erhält den Eindruck, die Leute, die den Film einst lobten, seien bemüht, ihre Worte zu verdrängen und sich eher dem vorher geschmähten Blick auf die Anfänge jenes New York, das der Regisseur in den 70ern geschildert hatte, "Gangs of New York" (2002), zuzuwenden. Andere wiederum sehen sich im Urteil von Jonathan Rosenbaum bestätigt: "There just isn't a lot to chew on once it's over." - Vermutlich werde ich mich in ein paar Jahren einer vierten Sichtung aussetzen und erneut nach dem suchen, was der Film nicht enthält. Das ist natürlich auch eine Wirkung, über deren Bedeutsamkeit sich streiten liesse...

Sonntag, 8. Januar 2012

Kurzbesprechung: Venedig im Wasser

VENEDIG
Österreich 1961
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)

Selbstverständlich liegt Venedig im Wasser - das weiß man doch. Was soll also der Titel? Steinwendners 11-minütiger Film besteht nur aus Ansichten von Venedig, ohne Handlung, ohne Kommentar. Das Besondere: Die Stadt wird nicht direkt gefilmt, sondern als Reflexion im mehr oder weniger gekräuselten Wasser der Lagune und der Kanäle. So ergeben sich Bilder von leicht verzerrt bis völlig abstrakt. Die Kamera wurde dafür kopfüber gehalten, so dass die gespiegelten Bilder wieder aufrecht stehen. Einmal fiel die Kamera ins Wasser, aber sie konnte geborgen werden, und nach gründlicher Reinigung in den Arri-Werken in München konnte es weitergehen. Dass die poetischen Impressionen nicht ins Süßliche abgleiten, dafür sorgt auch die avantgardistische Musik, die von einem Eric Siday stammt, der wohl in den 60er Jahren ein Pionier auf frühen Modellen des Moog-Synthesizers war [siehe Update unten]. Die frühere Vorliebe Steinwendners für das nicht nur in WIENERINNEN eingesetzte Heliophon findet hier seine logische Weiterentwicklung. Die Einrichtung der Musik für den Film, also Tonschnitt etc., übernahm Steinwendners zweite Frau, die frühere Burgschauspielerin Antonia Mittrowsky. Der originelle und extravagante Film erhielt 1962 bei der Berlinale einen Silbernen Bären. Wie schon im Artikel über WIENERINNEN erwähnt, ist VENEDIG als Bonusfilm auf einer DVD enthalten, die als Beilage einer Monographie über Steinwendner erhältlich ist. Und jetzt sollen die Screenshots für sich sprechen.

UPDATE, Januar 2017: In den Credits von VENEDIG wird der Komponist "Eric Sidey" genannt (und so nannte auch ich ihn hier bis jetzt), im Steinwendner-Büchlein dagegen "Erik Sidey". Als ich den Artikel schrieb, habe ich mich darüber gewundert, dass ich so wenig über diesen Herrn zutage fördern konnte. Inzwischen kenne ich die Lösung: Beide Schreibweisen sind falsch, denn er hieß in Wirklichkeit Eric Siday. Er war in der Tat ein Pionier der elektronischen Musikerzeugung, der beispielsweise Musik zur Frühphase der Serie DR. WHO beisteuerte, der in seinen jungen Jahren aber auch ein fähiger Jazzgeiger war. Als Robert Moog im Oktober 1964 seinen ersten Synthesizer auf einer Tagung von Toningenieuren in New York vorstellte, wurden zwei der Geräte vom Fleck weg bestellt - der zweite Besteller war Eric Siday. Er besaß damals ein gut gehendes Tonstudio in New York, das elektronische Musik und Jingles für Radio- und TV-Werbung produzierte. Als der bestellte Synthesizer von Moog persönlich in Sidays Wohnung in Manhattan, die schon mit elektronischen Geräten vollgestopft war, abgeliefert wurde, bekam Sidays Frau einen hysterischen Anfall und schrie "Eric, more shit in this house!" - so erzählte es jedenfalls Moog in späteren Jahren. Der Soundtrack von VENEDIG entstand aber natürlich vorher, konnte also nicht mit einem Gerät von Moog produziert worden sein. Eine Auswahl von Sidays elektronischer Musik ist 2014 unter dem Titel The Ultra Sonic Perception auf CD und LP erschienen.

Nun aber endlich zu den Screenshots:










Dienstag, 3. Januar 2012

Neorealismus, Noir und Schund: WIENERINNEN

WIENERINNEN (Alternativtitel: SCHREI NACH LIEBE, WIENERINNEN IM SCHATTEN DER GROSSSTADT, VIER FRAUENSCHICKSALE, FÜNF FRAUENSCHICKSALE)
Österreich 1952
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)
Darsteller:
ANNI: Elisabeth Stemberger (Anni), Hans Lazarowitsch (Fritz), Hilde Rom (Annis Schwester), Maria Eis (Annis Mutter), Heinz Moog (Annis Vater)
HELENE: Edith Prager (= Edith Klinger, Helene), Karlheinz Böhm (Walter), Ilka Windisch (Edith)
GABRIELE: Helmi Mareich (Gabriele), Hans Putz (Paul Rosenauer), Rudolf Rösner (Hans Friedmann), Wolfgang Hutter (Maler)
OLGA: Margit Herzog (Olga), Kurt Jaggberg (Anton), Rudolf Rhomberg (Carlo), Ellen Umlauf (Vera)
THERESE (nicht mehr vollständig erhalten): Anni Weltner (Therese), Elfe Gerhart (Jacqueline), Rolf Wanka, Florl Leithner, Michael Toost

Anni (l.o.), Helene (r.o.), Gabriele (l.u.), Olga
Der Film beginnt mit Postkartenansichten Wiens: Der Stephansdom, Schloss Schönbrunn, weitere Sehenswürdigkeiten als Hintergrundbilder für die Credits, unterlegt mit Walzermusik. Doch das dient nur als vorab eingespritztes Kontrastmittel. Die Walzerklänge enden abrupt und gehen in merkwürdige elektronische Klänge über, und es wird von einer Statue auf das verzerrte Gesicht von Anni überblendet. Dazu ein Sprecher aus dem Off: "Anni war Ziegeleiarbeiterin im anderen Wien." Das "andere Wien" ist das Wien der schmucklosen Arbeiterviertel und der tristen Industrieanlagen an der Peripherie der Donaumetropole. "Die riesigen Fabriksanlagen mit ihren hochragenden Schloten, die Seilbahnen und Schwungräder, die Häuser der Arbeiter bilden eine eigene Stadt. Der rote Ziegelstaub bedeckt alles, auch das Brot, das dort gegessen wird." Damit ist die intendierte Grundstimmung des Films vorgegeben: Die des Neorealismus. Erzählt werden nun vier (ursprünglich fünf) unabhängige Episoden, die jeweils nach der weiblichen Hauptfigur benannt sind.

Für 1952 relativ viel Haut
Anni
Die lebenslustige und attraktive Anni ist Arbeiterin in einem Ziegelwerk. Sie beginnt ein Verhältnis mit Fritz, dem Sohn des Werkmeisters. Was jedoch außer Annis Mutter niemand weiß: Die Mutter, früher selbst Arbeiterin in der Ziegelei, wurde einst vom Werkmeister vergewaltigt, und Anni ist das Ergebnis davon - Anni und Fritz sind also Halbgeschwister. Dem Wahnsinn nahe, drängt die Mutter ihren Mann, einen dumpfen Saufkopf, die unselige Verbindung mit Gewalt zu unterbinden. Und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf ...

Helene
Helene leitet ein kleines Puppentheater für Kinder, mit dem sie in Wiener Schulen auftritt. Sie liebt den jungen Komponisten Walter, der auf einem Akkordeon das Kasperltheater begleitet. Doch Walter fürchtet, dabei zu versauern, statt seine Karriere voranzubringen. Als ihn die neue Kollegin Edith im Stil einer femme fatale umgarnt, widersteht er nicht lange, und er verlässt das Puppentheater. Helene, verzweifelt und nachts in einer Schule allein, spielt wie im Delirium mit ihren Puppen die Dreiecksgeschichte nach. Erst ein Schüler, der nächtens in die Schule einsteigt, um heimlich auf Walters Akkordeon zu spielen, holt sie in die Realität zurück.

Gabriele
Gabriele ist Aktmodell für Maler. Ihr Verlobter Hans wurde für einen Mord verurteilt, doch sie glaubt an seine Unschuld. Sie will einen gewissen Paul Rosenauer aufsuchen, einen Bekannten des Mordopfers, weil der etwas über den Mord wissen könnte. Unterdessen gelingt Hans bei einem Gefangenentransport auf einem verschneiten Bahnhofsgelände die Flucht. Als sich die Wege der drei Personen kreuzen, eskalieren die Ereignisse.

Olga
Olga ist Prostituierte in der Gegend eines Speicherhafens an der Donau. Doch sie sehnt sich nach der "reinen Liebe", und als ihr Carlo, der Kapitän eines Schleppers, das Angebot macht, mit ihm an Bord zu gehen, um ein neues Leben anzufangen, ist sie nicht abgeneigt. Doch ihr eifersüchtiger Zuhälter Anton kommt ihr auf die Schliche. Als Olga Carlos Angebot annimmt, will Anton sie in einem Getreidespeicher für immer verschwinden lassen.

Therese
In dieser nur mehr teilweise existierenden Episode geht es nicht um Mord und Totschlag oder sonstige Abgründe, sondern um Heurigenmusiker (zwei Komponisten tauschen untereinander ihre Sängerinnen aus, oder etwas in der Art). Laut zeitgenössischen Presseberichten soll die Episode recht kitschig gewesen sein, trotz des Bemühens, die üblichen Klischees der Heurigenseligkeit zu vermeiden.
Schräge Perspektiven, Ober- und Untersicht
WIENERINNEN ist eine hochinteressante, aber unausgegorene Mischung verschiedener stilistischer Mittel. Die sachlich-nüchterne Kameraführung des italienischen Neorealismus war Steinwendners Sache nicht. Im Gegenteil: Er und seine beiden Kameramänner (Walter Partsch filmte GABRIELE und THERESE, Elio Carniel die restlichen drei Episoden) griffen tief in die filmgeschichtliche Kiste. Viele Aufnahmen zeigen sehr ungewöhnliche Perspektiven, extreme Ober- oder Untersicht oder verdrehte Blickwinkel, die Kritiker zu Vergleichen mit dem Konstruktivismus veranlassten. Manche Sequenzen sind mit sehr beweglicher Kamera (möglicherweise Handkamera) realisiert, und dann gibt es wieder Szenen mit grellen Kontrasten von Licht und Schatten, die Regisseuren und Kameramännern des Film noir wie Robert Siodmak oder John Alton zur Ehre gereicht hätten, und die in den extremsten Ausprägungen gar an den Expressionismus der Stummfilmzeit heranreichen. Es war übrigens Steinwendners schon im Vorfeld explizit geäußerte Absicht, möglichst viel visuell zu erzählen und die Dialoge knapp zu halten. In der nächtlichen Szene mit Helene wird das naturkundliche Zimmer einer Schule als surreales Gruselkabinett inszeniert. Steinwendner und Carniel arbeiten hier nicht nur mit sehr harten Schlagschatten, sondern sie verwenden auch Unschärfefilter und verzerrende Linsen oder Spiegel. Der von Paul Kont und Gerhard Bronner geschriebene Soundtrack wurde zum größten Teil von dem Musiker und Erfinder Bruno Helberger auf dem von ihm konstruierten Heliophon (ein mit Vakuumröhren bestücktes elektronischen Instrument mit zwei Tastenmanualen) eingespielt. Besonders subtil ist diese Musik allerdings nicht - manchmal werden allzu aufdringliche Akzente gesetzt, auf dass der Zuseher einen dramatischen Höhepunkt auch ja nicht verpasse. Was damals sicher fremdartig und zukunftsweisend klang, wirkt auf mich heute eher altbacken.

Bilder wie aus einem Film noir
Nach der Premiere im Februar 1952 drosch die österreichische Presse auf den Film ein. Die Kritik richtete sich hauptsächlich gegen die Handlung der einzelnen Episoden, die tatsächlich über Kolportage nicht hinauskommt. Dramaturgie und Figurenzeichnung lassen doch sehr zu wünschen übrig. So gerät etwa Annis Mutter fast zur Karikatur einer Hexe, als sie zur Beute des Wahnsinns wird. Gelobt wurden dagegen die Kameraführung und merkwürdigerweise auch die Musik, sowie einige der Schauspieler. Es wurde allgemein abgestritten, dass Steinwendner den (auch schon im Vorfeld in Presse-Statements) behaupteten (neo-)realistischen Anspruch einlöste. Die konstruierte Pseudodramatik hätte mit dem Geist des echten Neorealismus nichts zu tun, wurde nicht zu Unrecht vorgebracht. "Bittere Ziegel" höhnten Kritiker, in Verballhornung von "Bitterer Reis", dem Klassiker von Giuseppe de Santis. Nicht nur der stilistische, sondern auch der tatsächliche Realismusgehalt des Films wurde angezweifelt. Die Ziegeleiarbeiter in ANNI sind Proleten, die in verdreckten Wohnungen hausen und sich nur mit Alkohol und Sex vergnügen. Gegen die Darstellung "schwelender Sinnenfreude" (so ein Vorbericht 1951) protestierte der Betriebsrat der Firma Wienerberger, auf deren Gelände am Laaer Berg ANNI gedreht wurde, schon während der Dreharbeiten und verwies auf soziale Errungenschaften wie Bildungseinrichtungen für die Arbeiter. Die Firmenleitung schloss sich dem an, drohte mit rechtlichen Schritten und verlangte eine Probesichtung der Episode, um ggf. imageschädigende Szenen entfernen zu lassen. Möglicherweise mit Erfolg, denn in einem Bericht im Spiegel vom Oktober 1951 ist von Ratten die Rede, die ich im Film bisher nicht erspähen konnte - vielleicht habe ich sie aber auch nur übersehen. Auch nach der Premiere giftete die Presse gegen die "Verleumdung" der Arbeiter, und mindestens ein linkes Blatt witterte darin eine reaktionäre Tendenz. Steinwendner dagegen beharrte darauf, die Realität abgebildet zu haben: "Aber es entspricht durchaus dem Eindruck, den ich schon beim ersten Besuch im Werk hatte. 3000 Menschen leben in dieser fast hermetisch vom übrigen Wien abgeschlossenen Gemeinschaft und heiraten meist untereinander. Und was die sinnliche Atmosphäre anbetrifft - eine originalgetreue Schilderung würde keine Zensur durchlassen. [...] Die Trinkerfamilie gibt es wirklich, davon hat mir der Volksbildungsreferent, der mich herumführte, gleich erzählt. [...] Im Ziegelwerk fand ich eben keine 'herzige' Heurigenparty, sondern ein bacchantisches Geburtstagstrinkgelage verschwitzter Arbeiterinnen."

Noir zum zweiten
Was die Presse ebenfalls übelnahm, war die für damalige Verhältnisse ziemlich freizügige Darstellung nackter Haut, die dramaturgisch kaum motiviert, also recht spekulativ war. Der Kritiker von Der Abend wetterte, "[...] treiben den Wiener Belzebub des seichten Heurigenkitsches mit dem ungleich bösartigeren Hollywooder Satanas des Schmutz- und Schundfilms aus" (dabei wären Darstellungen wie in WIENERINNEN in einem Hollywoodfilm von 1952 überhaupt nicht möglich gewesen), und fand das Ergebnis "niederschmetternd". Aber ungeachtet der übertriebenen Polemik erweist sich WIENERINNEN in der Handlung tatsächlich als ein Vorläufer des "Schundfilms" der 60er Jahre, wie er in seiner österreichischen Ausprägung etwa von Eddy Saller und Frits Fronz repräsentiert wurde. So bleibt ein zwiespältiges Fazit. Je nachdem, ob man dem Inhalt oder der formalen Gestaltung den Vorrang gibt, kann man WIENERINNEN als auf hohem Niveau gescheitert oder als gelungen mit kleinen Schönheitsfehlern betrachten. Wie auch immer - mit seinem ungestümen Kunstwillen und seinem zeitgeschichtlichen Nährwert ist der Film allemal interessanter und sympathischer als fast alles, was Steinwendners Mainstream-Kollegen von Franz Antel bis Ernst Marischka in den 50er Jahren hervorbrachten.

Edith (Ilka Windisch, l.o.), ein Maler (Wolfgang Hutter), Vera (Ellen Umlauf, unten)
Die Initiative zu WIENERINNEN ging nicht von Steinwendner, sondern vom Produzenten Ernest Müller aus. Inspiriert wurde Müller wahrscheinlich von Harald Röbbelings ASPHALT (1951), der ebenfalls in fünf Episoden und in neorealistischem Gestus (und mit Walter Partsch an der Kamera) das Abgleiten von Jugendlichen in Prostitution und Kriminalität schildert. Ursprünglich sollte jede Episode von WIENERINNEN von anderen Autoren und Regisseuren gestaltet werden. Aber die eingereichten Bücher von Steinwendners Mitbewerbern waren wohl nicht besonders brauchbar, und nachdem er ANNI abgedreht hatte, bekam er auch den Auftrag für den restlichen Film. Laut Credits hatte August Rieger die "künstlerische Oberleitung" der Dreharbeiten. Was das genau bedeutet, weiß ich nicht. Vielleicht war er nur Ernest Müllers Aufpasser, der dafür sorgte, dass Steinwendner das äußerst knapp bemessene Budget nicht überzog. Jedenfalls war Rieger nicht nur durch langjährige künstlerische Zusammenarbeit mit Müller verbunden, er war auch Prokurist in dessen Produktionsfirma. Gedreht wurde fast nichts im Studio, sondern an Originalschauplätzen - neben dem Laaer Berg (ANNI) etwa am Franz-Josefs-Bahnhof (GABRIELE), am Alberner Hafen und dem nahegelegenen "Friedhof der Namenlosen" (OLGA). Zur Kostenersparnis trug auch bei, dass neben einigen schon arrivierten Schauspielern viele Nachwuchsdarsteller verplichtet wurden - so hatten Elisabeth Stemberger (eine Tante zweiten Grades von Julia und Katharina Stemberger) und Kurt Jaggberg ihren ersten Filmauftritt, und auch Karlheinz Böhm spielte eine seiner ersten Rollen. In neorealistischer Manier wurden auch Laiendarsteller eingesetzt.

ANNI (l.o. Maria Eis und Heinz Moog als Annis Eltern)
Bei der Premiere im Februar 1952 wurden gar nicht alle fünf Episoden gezeigt, sondern nur ANNI, OLGA, GABRIELE und THERESE (in dieser Reihenfolge, die von der heutigen abweicht). Warum HELENE damals fehlte, ist mir nicht bekannt, ebenso, wann und warum THERESE (von dem es noch ein Fragment geben soll) entfernt wurde. Die diversen Alternativtitel des Films legen jedenfalls nahe, dass er eine etwas verworrene Schnitt- und Aufführungsgeschichte hinter sich hat. Ein Presseartikel von 1954 behauptet, dass nur auf Drängen des Produzenten eine Heurigenepisode (also THERESE) aufgenommen wurde. Steinwendner behauptete dagegen zumindest damals, dass WIENERINNEN "in völliger Harmonie" mit Müller entstanden sei. Vielleicht war es trotzdem er, der THERESE irgendwann loswerden wollte.

HELENE - Karlheinz Böhm in einer frühen Rolle
Kurt Steinwendner (1920-92) war ursprünglich Maler und Bildhauer. Er gehörte zur dynamischen Avantgarde-Szene junger Künstler, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien um ein paar ältere Leitfiguren wie Albert Paris Gütersloh (bei dem Steinwendner studiert hatte) formierte. Seinen ersten Film DER RABE (1951) drehte Steinwendner zusammen mit dem Psychologen, Fotografen und späteren Journalisten Wolfgang Kudrnofsky. Es handelt sich um eine 14-minütige avantgardistische Interpretation von Edgar Allan Poes Gedicht. DER RABE markiert den Beginn des österreichischen Nachkriegs-Experimentalfilms, der sich mit Regisseuren wie Ferry Radax und Peter Kubelka zu beachtlichen Höhen aufschwang. Nach WIENERINNEN drehte Steinwendner mit FLUCHT INS SCHILF (1953) einen weiteren bemerkenswerten Spielfilm. Es folgten noch eine Reihe von Kurzfilmen, wie der experimentelle Tanzfilm GIGANT UND MÄDCHEN (1955), die preisgekrönte Impression VENEDIG (1961), und diverse Werbe- und Industriefilme. Aber in den 60er Jahren wandte er sich zunehmend der Objektkunst zu und feierte damit Erfolge. 1969 nahm er offiziell das Pseudonym Curt Stenvert an, das schon 16 Jahre zuvor jemand für ihn erfunden hatte. Unter diesem Namen wurde er auch international zu einer anerkannten Größe im Kunstbetrieb. Sein letzter Film VORSTOSS INS NIEMANDSLAND ist eine Art Selbstportrait des Künstlers Stenvert. Seit 1977 lebte und arbeitete er in Köln, wo er auch starb. Während der Künstler Stenvert Erfolge feierte, geriet der Regisseur Steinwendner etwas in Vergessenheit. Das lag auch daran, dass WIENERINNEN lange als verschollen galt. Aber 1989 wurde eine wieder aufgefundene und in der jetzigen Form rekonstruierte Kopie vom Filmarchiv Austria präsentiert und wenig später vom ORF in der Reihe "Kunststücke" ausgestrahlt, wodurch der Regisseur und sein Film auch einem breiteren Publikum zugänglich wurden.

GABRIELE (oben Rudolf Rösner als Hans, r.u. Hans Putz als Paul Rosenauer)
WIENERINNEN ist mit DER RABE als Bonusfilm in der vorbildlichen DVD-Reihe "Der österreichische Film" erschienen. In den letzten Wochen bekam die Rezeption von Steinwendner/Stenvert neuen Schwung: Das Filmarchiv Austria veranstaltete im November und Dezember eine Retrospektive seiner Filme, parallel dazu läuft noch bis Mitte Januar im Wiener Schloss Belvedere eine Ausstellung, die sich dem Objektkünstler Stenvert widmet, und im November erschien erstmals eine Monographie über Steinwendner - vielleicht wird darin ja etwas Licht in die mysteriöse Geschichte von WIENERINNEN nach der Premiere gebracht. Das Büchlein enthält als Beigabe eine DVD mit WIENERINNEN, die nicht mit der aus der Edition "Der österreichische Film" identisch ist, denn statt DER RABE sind andere Kurzfilme Steinwendners als Bonus enthalten.

OLGA (r.o. Rudolf Rhomberg als Carlo, unten Kurt Jaggberg als Anton)
UPDATE, 8. Januar:
Ich konnte nicht widerstehen und hab mir das Büchlein (160 kleinformatige Seiten) über Steinwendner besorgt. Allein schon wegen der DVD hat es sich gelohnt. Das Fragment von THERESE mit einer Länge von immerhin neun Minuten ist als Bonus enthalten. Anscheinend handelt es sich um die kompletten letzten neun Minuten der Episode. Und ja - sie ist kitschig. Sie, und damit ursprünglich der ganze Film, endet sogar mit einem Schwenk über liebliche Weinberge vor den Toren Wiens, was ja den restlichen Film völlig konterkariert. Steinwendner bestätigt auch in einem Interview von 1989, das im Buch abgedruckt ist, dass ihm THERESE von Ernest Müller aufgenötigt wurde. HELENE wurde bei der Premiere nicht gezeigt, weil es diese Episode da noch gar nicht gab. Sie war in Steinwendners Drehbuch vorhanden, wurde aber von Ernest Müller zugunsten seines Heurigen-Schmarrns abgelehnt. Als nach der Premiere die Kritiken zu THERESE besonders negativ waren, sah Müller seinen Fehler ein, und Steinwendner erhielt den Auftrag, HELENE als Ersatz nachzudrehen. Gelegentlich wurde der Film dann aber auch mit allen fünf Episoden gezeigt, wie deutsche Pressekritiken von 1953 belegen, und wie ja auch der Alternativtitel FÜNF FRAUENSCHICKSALE schon nahelegte. Steinwendner hatte damit nichts mehr zu tun. Nachdem er den Film ablieferte, lagen alle Rechte bei Müller, mit dem sich Steinwendner auch bald verkrachte. Tatsächlich sah er WIENERINNEN nach 1952 erst 1989 in der rekonstruierten Fassung wieder.

THERESE: l.o. Anni Weltner als Therese, r.o. Elfe Gerhart als Jacqueline,
unten ganz rechts Michael Toost
Die DVD zum Buch enthält außer WIENERINNEN und dem Fragment von THERESE noch ALFRED KUBIN - ABENTEUER EINER ZEICHENFEDER (1955) - ein eigenwilliges 12-minütiges Portrait des Zeichners - und WAS WÄRE OHNE..?! (1957) - eine sehr schräge 13-minütige Auftragsarbeit, die Propaganda für den Ausbau der Wasserkraft in Österreich macht (u.a. mit Helmut Qualtinger in Mini-Rollen wie ein singender Cowboy, Hans-Moser-Imitator und japanischer Judo-Kämpfer!). Höhepunkt neben WIENERINNEN ist aber VENEDIG, dem ich deshalb eine Kurzbesprechung spendiere.