Mittwoch, 28. November 2012

Kommissar Maigret gibt seinen Einstand

Jean Renoir, einer meiner Lieblingsregisseure, drehte seine ersten Filme Mitte der 20er Jahre, er war also noch ein Kind der Stummfilmzeit. Doch zu richtig großer Form lief er erst mit seinen Tonfilmen der 30er Jahre auf. Durch Renoirs Emigration nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 und die völlig anderen Produktionsbedingungen, die er in Hollywood vorfand, bilden die 15 Filme von 1931 bis 1939 einen in sich geschlossenen Teil von Renoirs Werk. Von diesen 15 Filmen kenne ich bislang neun, und einen Teil davon werde ich in einer losen Reihe chronologisch vorstellen. Dabei konzentriere ich mich auf Filme, die hier zu Lande etwas weniger bekannt sind als die Großtaten DIE GROSSE ILLUSION, BESTIE MENSCH und DIE SPIELREGEL. Vielleicht bespreche ich danach noch zwei oder drei von Renoirs späteren Filmen, aber das überlege ich mir noch. Es beginnt mit einem für Renoir ungewöhnlichen Stoff, nämlich einem Krimi.



LA NUIT DU CARREFOUR
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Pierre Renoir (Kommissar Maigret), Winna Winifried (als Winna Winfried, Else Andersen), Georges Koudria (Carl Andersen), Dignimont (Oscar), Jean Gehret (Michonnet), Georges Térof (Inspektor Lucas), G.A. Martin (Inspektor Grandjean)

"... der Geruch des Regens und der in Nebel gehüllten Felder, jedes Detail, in jedem Augenblick jeder Einstellung macht aus LA NUIT DU CARREFOUR den einzigen großen französischen Kriminalfilm, was sage ich, den einzigen großen französischen Abenteuerfilm." (Jean-Luc Godard, zitiert nach Meinolf Zurhorst: Lexikon des Kriminalfilms)

Kommissar Maigret
Von allen Roman- und Filmkommissaren ist Jules Maigret nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer derjenigen, die von den meisten verschiedenen Schauspielern dargestellt wurden. Wer bei der Frage nach dem ersten Film-Maigret etwa an Jean Gabin denkt, liegt weit daneben, denn schon rund 26 Jahre vor Gabin blickte ein Maigret von der Leinwand, und es war Pierre Renoir, der ältere Bruder des Regisseurs. Georges Simenon, ein bereits durch Groschenromane einigermaßen bekannter Schriftsteller, begann 1931, die ersten Maigret-Romane in Buchform zu publizieren, und wurde damit zum Shootingstar der französischsprachigen Literaturszene. "La Nuit du carrefour", im April 1931 verfasst, war bereits der sechste Maigret-Roman des Schnellschreibers Simenon. Renoir verfolgte Simenon, der sich damals häufig auf Reisen befand, im Herbst 1931 regelrecht, um an die Filmrechte zu kommen. Die Mühe hat sich gelohnt - er bekam nicht nur die Rechte, und Simenon schrieb gemeinsam mit Renoir das Drehbuch, das Zusammentreffen wurde auch zum Beginn einer langjährigen Freundschaft. Aber Renoir gewann das Rennen um den ersten Maigret-Film nur knapp: Rund zehn Wochen nach LA NUIT DU CARREFOUR erschien mit LE CHIEN JAUNE bereits der nächste, Anfang 1933 der dritte. Dann dauerte es aber bis 1943 bis zum vierten (mit dem vierten verschiedenen Maigret-Darsteller). Danach, aber noch vor Jean Gabin, spielten beispielsweise auch noch Charles Laughton und Michel Simon den bedächtigen Kommissar mit der Pfeife.

Carl und Else Andersen
Stilistisch ist LA NUIT DU CARREFOUR ein Vorläufer des Film noir, gelegentlich wurde er sogar als der erste Film noir überhaupt bezeichnet. Der Titel, der übersetzt "Die Nacht an der Kreuzung" bedeutet, beschreibt den Schauplatz treffend. An einer Straßenkreuzung in einer ziemlich einsamen und trostlosen Gegend, ungefähr 30 Kilometer südlich von Paris, stehen drei Anwesen: Eine Autowerkstatt und Tankstelle mit der Wohnung des Besitzers Monsieur Oscar samt Gattin, flankiert von zwei großbürgerlichen Wohnhäusern. In dem einen wohnt der dickliche Versicherungsagent Michonnet mit seiner ebenso dicklichen Frau, im anderen der verschlossene Däne Carl Andersen mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Else. Andersen, früher ein Offizier und Flieger aus nobler Familie, lebt jetzt davon, dass er einmal im Monat Stoffmuster an eine Firma in Paris verkauft. Else, die Carl gegenüber einen ziemlich dominierenden Ton an den Tag legt, zeigt eine Mischung aus (gespielter?) Naivität und Laszivität (Godard schreibt in dem Text, aus dem das obige Zitat stammt, von ihrem "altmodischen Sex wie bei einer rauschgift- oder philosophiesüchtigen Russin"). Eines Tages ist in Michonnets Garage sein Wagen verschwunden, dafür steht überraschenderweise der von Andersen darin. Als man daraufhin gemeinsam in Andersens Garage nachsieht, findet man tatsächlich Michonnets Wagen - mit einer Leiche darin.

Verqualmtes Büro
Der Tote mit Kopfschuss ist, wie sich erweist, ein holländischer Diamantenhändler namens Goldberg. Der einzige Verdächtige ist zunächst Andersen, und Maigret, der die Ermittlungen übernimmt, lässt ihn ins Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres bringen. Doch bei einem stundenlangen zermürbenden Verhör beteuert er nur seine Unschuld und sagt sonst wenig. So lässt ihn Maigret wieder laufen und begibt sich an den Tatort, um sich dort ein Bild zu machen und alle Beteiligten nochmals zu verhören. Als der Abend hereinbricht, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Goldbergs Witwe, die zur Identifizierung ihres Gatten anreist, wird vor Maigrets Augen mit einem Gewehr aus dem Hinterhalt erschossen. Andersen, der seine monatliche Fahrt nach Paris unternimmt, kehrt nicht zurück - hat er sich abgesetzt, oder ist ihm etwas zugestoßen? Else, die allein im großen Haus zurückgeblieben ist, wirft sich jetzt Maigret an den Hals, doch der alte Fuchs hält sie auf Distanz. Mitten in der Nacht - alle Beteiligten sind aber noch wach und beschäftigt - fährt eine offene Limousine vor, und die Insassen beginnen, im Stil von Chicago-Gangstern wild in die Werkstatt hineinzuballern (wie gut, dass Maigret 30 Mann Verstärkung aus Paris kommen ließ). Und das ist noch lange nicht alles. Irgendjemand versucht anscheinend, Else mit Veronal in einer Bierflasche zu vergiften - oder galt der Anschlag etwa Maigret? Carl Andersen wird in der Nähe seines Hauses angeschossen aufgefunden, womit die Frage nach seinem Verbleib geklärt wäre; Michonnet wird beim Versuch, in Andersens Haus einzudringen, festgenommen; Maigret findet heraus, dass Else gar nicht Carls Schwester ist, und mit ihrer noblen Herkunft ist es auch nicht weit her; und als Maigrets Leute die Autowerkstatt auseinandernehmen, finden sie nicht nur Juwelen, die Goldberg anderswo gestohlen und mit sich geführt hat, sondern auch jede Menge Kokain. Am Ende wird eine ziemlich umfangreiche Bande verhaftet, der Mörder Goldbergs überführt, und der Fall ist gelöst - so halbwegs jedenfalls.

Trostlose Gegend bei Regen und Nebel
Denn die Handlung des Film glänzt nicht gerade durch Klarheit, und am Ende bleiben viele Fragen offen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass ein verwirrender Plot zum Konzept eines Film noir gehört (man denke etwa an Howard Hawks' THE BIG SLEEP), aber natürlich macht man es sich damit etwas zu einfach. Jean Mitry hat eine Erklärung für die Konfusion vorgebracht (der spätere Filmtheoretiker und Regisseur von PACIFIC 231 war als Schnittassistent und Nebendarsteller am Film beteiligt): Er habe während oder kurz nach dem Dreh versehentlich zwei bereits belichtete Filmrollen von LA NUIT DU CARREFOUR für einen eigenen Kurzfilm verwendet, den er gerade drehte, so dass sie durch Doppelbelichtung unbrauchbar wurden und für den Schnitt nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Geschichte ist aber angezweifelt worden. Der Produzent Pierre Braunberger, der in den 20er und 30er Jahren etliche Filme Renoirs produzierte (nicht jedoch LA NUIT DU CARREFOUR), soll bei einer Probevorführung gegenüber Renoir geäußert haben, dass bei der Verfilmung ungefähr zwölf Seiten des Scripts (das Braunberger kannte) schlicht vergessen worden seien. Pascal Mérigeau, der gerade eine nagelneue Renoir-Biographie von 1100 Seiten vorgelegt hat, hält Mitrys Version für falsch, ist aber auch nicht sicher, ob die Braunberger-Version stimmt - so bleibt die Frage vorerst (und vielleicht für immer) offen. (Für hilfreiche Informationen zu diesem Punkt danke ich Prof. Chris Faulkner von der Carleton University, Ottawa.)

Else umgarnt Maigret
Wie dem auch sein mag - Logik und eine stringente Handlungsführung gehören nicht zu den Stärken von LA NUIT DU CARREFOUR. Dafür punktet der Film im Atmosphärischen. Wie schon geschrieben, besitzt er Ingredienzien eines Film noir. Starke Schwarzweißkontraste; verqualmte Polizeibüros im Halbdunkel am Quai des Orfèvres; der ebenso verqualmte Salon im Haus der Andersens; die meisten Szenen im Freien bieten Regen, Nebel, Dämmerung oder eine Kombination daraus, und ein beträchtlicher Teil des Films spielt sowieso in der Nacht. Und es gibt eine echte femme fatale. Die Dänin Winna Winifried ist fast so mysteriös wie die von ihr gespielte Else Andersen. Das beginnt schon mit ihrem Geburtsdatum - in der IMDb findet man nur "ca. 1914". Ich nehme an, dass Renoir selbst die Quelle dafür ist, denn er hat irgendwann mal geäußert, dass sie beim Dreh erst 17 war. Die Unsicherheit setzt sich bei ihrem Künstlernamen fort. In den Credits erscheint sie als "Winna Winfried", in den meisten Quellen jedoch als "Winna Winifried", in manchen aber auch als "Winna Winifred". Immerhin scheint festzustehen, dass sie als Amalie Nielsen in Kopenhagen geboren wurde. (Godard hielt übrigens ihren dänischen für einen englischen Akzent - da kannte er wohl Anna Karina noch nicht.) LA NUIT DU CARREFOUR war ihr erster Film, dem laut IMDb sechs weitere folgten - zuerst drei in England, dann wieder drei in Frankreich. Sie scheinen allesamt ziemlich obskur und vergessen zu sein. Nach 1940 verliert sich dann offenbar Winifrieds Spur.

Ein Zeitungsstand als "Uhr"
Ich bin zwar nicht so enthusiastisch wie Godard, aber sehenswert ist LA NUIT DU CARREFOUR allemal. Renoir zeigt sein Gespür für Stimmungen und glänzt mit kleinen Details. Beispielsweise verdeutlicht er die stundenlange Dauer von Andersens Verhör durch mehrmalige Zwischenschnitte zum unteren Teil eines Zeitungsstands. Man sieht nur die Beine der Kunden, aber man hört ihre Bestellungen: Beim ersten Mal "Le Matin" (eine Morgenzeitung), beim nächsten Mal "Paris-Midi" (ein Mittagsblatt), schließlich - man ahnt es schon - mit "Paris-Soir" eine Abendzeitung. Am Schluss liegen die Zeitungen gelesen und weggeworfen im Rinnstein. Gekonnt ist auch Renoirs Umgang mit Direktton (in der Frühzeit des Tonfilms keine Selbstverständlichkeit) in der Autowerkstatt und auf der Straße. Gelegentlich gewinnt die Geräuschkulisse die Dichte von Musique concrète. Und nicht zuletzt ist Pierre Renoir mit seinem "faulen Falkenauge" (Godard schon wieder) ein ganz ausgezeichneter Maigret. Simenon soll ihn sogar mal als den überzeugendsten Maigret bezeichnet haben, allerdings ist andernorts auch zu lesen, dass er diese Ehre Gabin und Rupert Davies zuerkannte. - LA NUIT DU CARREFOUR ist unter seinem Originaltitel in den USA auf DVD erschienen.

Montag, 19. November 2012

Lantana

Dies ist nun die letzte Besprechung, die Bruno geschrieben hat, vor ungefähr drei Monaten.

Manfred




Lantana
(Lantana, Australien/Deutschland 2001)

Regie: Ray Lawrence

Obwohl die Figuren im Abräumer bei den AFI-Awards 2001 zu komplex sind, als dass sich der Film von Ray Lawrence auf ein einzelnes Thema festlegen liesse,  kann man doch sagen, die Bereitschaft, sich über sich selber zu täuschen und sich von anderen täuschen zu lassen, spiele eine grosse Rolle. Die Täuschungsproblematik überträgt sich sogar auf den Zuschauer, der Erwartungshaltungen aufbaut, die sich schlicht als falsch erweisen. Denn „Lantana“ spielt nicht in einem nach Australien verlegten Twin Peaks, hat überhaupt nur auf den ersten Blick etwas mit David Lynch zu tun. Er lässt sich auch nicht mit Robert Altman’s „Short Cuts“ (1993) vergleichen, schon gar nicht mit dem Krötenregner „Magnolia“ (1999) von P.T. Anderson. Wer solche verlockenden Vergleiche, wie sie vom Criticus Roger Ebert angeboten werden, einmal überwunden hat, wird das dichte, auf einem Bühnenstück von Andrew Bovell mit dem passenden Titel „Speaking in Tongues“ beruhende Werk in seiner Eigenständigkeit zu würdigen lernen.


Im Mittelpunkt von „Lantana“ stehen vier Paare. Der unter dem Verlust seiner Gefühle leidende Polizist Leon Zat betrügt seine Frau Sonja mit Jane O’May, die sich von ihrem Mann getrennt hat. O’May wiederum beneidet ihren arbeitslosen Nachbarn Nik Daniels und dessen Frau um ihre offen gezeigte, uneingeschränkte Liebe zueinander. Sonja versucht Leidenschaft in ihre Ehe zurückzubringen, indem sie ihren Mann für einen wöchentlichen Salsa-Abend begeistern will, an dem allerdings auch die Frau teilnimmt, mit der er zweimal Sex hatte. Doch auch Sonja verheimlicht etwas vor Leon: Sie besucht die Psychotherapeutin Valerie und erzählt ihr von ihren Ängsten, betrogen zu werden. Valerie, die die Ermordung ihrer Tochter nie überwunden hat, ist allerdings selber vor Täuschungen nicht gefeit: Als ihr ein schwuler Patient zunehmend herausfordernd von seiner Beziehung zu einem verheirateten Mann berichtet, überkommt sie das Gefühl, er spiele auf ihren verschlossenen Gatten John an. – Und über all dem schwebt unheilvoll die Leiche einer Frau, zu der uns die Kamera am Anfang im dichten Tropengestrüpp, das dem Film seinen Titel gab, geführt hat.


Diese Leiche ist es, die den Zuschauer vom eigentlichen Problem der Vorstadtbewohner, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, ablenkt. Sie verlockt ihn zu gewohnten Vorstellungen vom Ablauf eines Krimis, und er rätselt während der ersten Hälfte von „Lantana“, um wen es sich bei dieser Leiche handeln möge, während er die zweite Hälfte der Frage widmet, ob und von wem die entdeckte Tote ermordet worden ist. Denn Jane, die von ihrem Liebhaber verlassen wurde und ihren Mann nicht zurück haben will, entdeckt, das Glück anderer Menschen nicht ertragend, an ungewöhnlicher Stelle einen Schuh… - Erst mit der Zeit erkennt man, dass der Toten im Gestrüpp eine ganz unerwartete Funktion zukommen könnte: Sie ist vielleicht das Opfer, das die Figuren benötigten, um wenigstens für eine gewisse Zeit ihrem Beziehungsgestrüpp zu entkommen und zu dem zu finden, was ihnen entgangen war oder von ihnen verdrängt wurde. Am Ende sieht man eine Jane O’May, die sich ihre Einsamkeit durch konsequent falsches Handeln unbewusst erstritten hatte, sich ganz alleine dem Salsa hingeben, während ein anderes Paar seine Probleme überwunden hat und eng umschlungen tanzt. Ein Schwuler beobachtet im Regen seinen kurzfristigen Liebhaber, der zu seiner Frau zurückgekehrt ist, während sich ein anderer Mann endlich der stillen Trauer um sein verlorenes Kind hingeben darf, die er vor seiner Frau verheimlichte.


Einzelne geradezu erlösend wirkende Szenen deuten an, was eigentlich im Zentrum steht: die Unfähigkeit der von Anthony LaPaglia, Geoffrey Rush, Barbara Hershey und  anderen hervorragend verkörperten Charaktere,  Gefühle einander mitzuteilen und sie offen auszuleben: Ein Mann, der beim Joggen mit dem Polizisten Leon zusammenstösst, sich plötzlich an ihn klammert und hemmungslos zu weinen beginnt, ein verstörter Mann, der von der sich befreiend ihrer Hysterie ergebenden Valerie nachts auf der bevölkerten Strasse angeschrien wird, weil er sie angesprochen haben soll. – Versuche, den Ensemblefilm mit „Short Cuts“ oder dem Krötending zu vergleichen, sind nicht berechtigt: Das Hauptthema und die sich daraus ergebenden Beziehungsprobleme halten die  Geschichte enger zusammen als die lockeren, verschiedenen Erzählungen von Raymond Carver entnommenen Episoden in Altman’s Meisterwerk. Und das unaufgeregte Fortschreiten mit scheinbar  dem echten Leben entnommenen Figuren zeigt, wie wenig sich „Lantana“  der Küche Hollywood mit ihrem gelegentlich unerträglichen Pathos anpasst. Hier wird in einer eigenen Liga gespielt, die derjenige für entdeckenswert halten wird, der seine Erwartungen ablegt und sich – Missverständnisse überwindend - dem Salsa hingibt.

Donnerstag, 15. November 2012

Fūkeiron - Landschaft mit Serienmörder

A.K.A. SERIAL KILLER (RYAKUSHŌ RENZOKU SHASATSUMA)
Japan 1969/75
Regie: Masao Adachi


Um es vorwegzunehmen: A.K.A. SERIAL KILLER hat mit dem Genre des Serienkillerfilms nichts zu tun, obwohl die reale Geschichte eines vierfachen Mörders nacherzählt wird. Der Film wird gelegentlich als Dokumentation bezeichnet, aber das trifft es auch nicht ganz. Es gibt keine Aufnahmen des Mörders aus Fernseh- oder Wochenschauberichten zu sehen, keine aktuellen Aufnahmen der unmittelbaren Tatorte, keine Interviews mit Zeugen, Polizisten, Anwälten oder Angehörigen der Opfer. Was es zu sehen gibt, sind Bilder der Orte, in denen der Mörder im Lauf seines Lebens gelebt hat, und von denen er - nach Ansicht Adachis und seiner Mitstreiter - geprägt wurde. Ich würde A.K.A. SERIAL KILLER am ehesten als Essayfilm bezeichnen. Tatsächlich hat er mich etwas an SANS SOLEIL von Chris Marker erinnert, der als der Essayfilm schlechthin gilt und zu einem großen Teil in Japan gedreht wurde. Sein (nicht unberechtigtes) Image als Vertreter des unabhängigen japanischen Sexfilms (pink film, japan. pinku eiga) hat Adachi mit diesem Film unterlaufen, und sein (erst recht berechtigtes) Image als politischer Radikalinsky scheinbar auch - aber nur scheinbar.


Der Film beginnt mit einer Texttafel: "Im Herbst letzten Jahres gab es vier Mordfälle, die in vier Städten mit derselben Schusswaffe begangen wurden. Diesen Frühling wurde ein 19-jähriger Mann verhaftet. Er wurde als der "Schusswaffen-Serienmörder" bekannt". Der Name des Täters wird weder hier noch später im Film genannt, aber das war auch nicht notwendig, weil damals in Japan auch so jeder wusste, wer gemeint war. Zwischen dem 11. Oktober und dem 5. November 1968 erschoss der 19-jährige Norio Nagayama bei vier Überfällen jeweils einen Mann. In einem Land mit einer so geringen Verbrechensquote wie damals in Japan war das ein ungemein spektakulärer Vorgang. Bei einem erneuten versuchten Überfall im April 1969 wurde Nagayama festgenommen. Er wurde zum Tod verurteilt, und nach langwierigen Gerichtsverhandlungen wurde das Todesurteil 1990 endgültig bestätigt. Nagayama, der im Gefängnis ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war, wurde 1997, fast 29 Jahre nach seinen Taten, gehängt, auf die in Japan übliche Art: Der Delinquent erfährt erst am Tag der Hinrichtung von seinem unmittelbar bevorstehenden Ableben, Angehörige und Anwälte erfahren erst hinterher davon, und die Öffentlichkeit wird von den Behörden überhaupt nicht informiert.


Doch das lag 1969 noch in weiter Zukunft. Nach der Texttafel wird die Geschichte Nagayamas bis zu seiner Verhaftung von einem Sprecher verlesen: Adachi selbst, der mit sachlicher Stimme, ohne Anteilnahme oder Sensationalismus, in kleinen Texthäppchen die wichtigsten äußeren Stationen von Nagayamas Biographie vorträgt: Ort und Jahr der Geburt, Zahl der Geschwister, wann die Familie von dieser in jene Stadt umzog. Dialoge oder sonstigen gesprochenen Text außer diesen kurzen Statements gibt es nicht. Schon als Grundschüler reisst Nagayama zum ersten Mal aus, wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Über die Gründe dafür, allgemein über Nagayamas Innenleben, erzählt der Text nichts. Mehrere Anläufe Nagayamas, eine höhere Schule zu besuchen, bricht er schnell wieder ab, und in den Gelegenheitsjobs, die er dazwischen ausübt, hält er es auch nicht lange aus. Er wohnt in irgendwelchen provisorischen Unterkünften, und es gibt weitere Ausreissversuche, sogar als blinder Passagier auf einem Schiff, aber alle scheitern. Er wird mehrfach durch kleine Diebstähle auffällig, aber immer glimpflich oder gar nicht bestraft. Meist hilft ihm einer seiner Brüder aus der Patsche. Als er nichts besseres mehr mit sich anzufangen weiß, meldet er sich freiwillig zur Armee, aber er wird abgewiesen. Anfang Oktober 1968 stiehlt er in einer amerikanischen Militärbasis den kleinkalibrigen Revolver, mit dem er kurz darauf mit den Überfällen beginnt.


Dazu gibt es, wie gesagt, dokumentarische Bilder von den jeweiligen Orten: Angefangen mit der Kleinstadt in Hokkaido, in der Nagayama geboren wurde, über seine verschiedenen Stationen bis Harajuku in Tokyo. Es gibt Straßen und Gebäude zu sehen, öffentliche Verkehrsmittel, Passanten, Menschen bei der Arbeit, zwischen den meist urbanen Schauplätzen gelegentlich auch ländliche Gegenden. Statische Aufnahmen, Zooms, lange Schwenks, Aufnahmen aus dem fahrenden Auto heraus. Wer mag, kann die Stationen hier nachvollziehen. Adachi und sein Team brauchten vier Monate, um sie abzuklappern. Die wichtigste Erkenntnis, die sie dabei für sich selbst gewannen, war der Eindruck einer weit fortgeschrittenen Homogenisierung, einer Uniformisierung der Landschaften: Überall im japanischen Archipel sah es im Grunde gleich aus. Das unterschied ihre Reise von derjenigen Nagayamas - dessen "Reise" hatte ja 19 Jahre gedauert.


Der gesprochene Text nimmt zusammengenommen nur einen sehr kleinen Teil der Laufzeit des Films ein. Dazwischen gibt es lange bis sehr lange wortlose Passagen, in denen neben den Bildern auch der free-jazzige Soundtrack dominiert, der Schlagzeug und traditionelle japanische Schlaginstrumente mit Saxophon vereint. Neben ruhigen Passagen gibt es dabei immer wieder schrille Misstöne und jähe Crescendi, die die Bilder wirkungsvoll akzentuieren. Eingespielt wurde der Score vom Schlagzeuger Masahiko Togashi und dem Saxophonisten Mototeru Takagi, und der Musikkritiker Hisato Aikura war auch irgendwie an der Entstehung beteiligt.


Nach einer guten Dreiviertelstunde, etwas mehr als Halbzeit des Films, sagt der Sprecher folgendes: "Der erste Zwischenfall ereignete sich am 11. Oktober beim Tokyo Prince Hotel, der zweite am 14. Oktober beim Yasaka-Schrein in Kyoto, der dritte am 26. Oktober auf einer Straße in einer Vorstadt von Hakodate in Hokkaido, und der vierte am 5. November auf einer Straße in Nagoya." Die "Zwischenfälle" sind die Überfälle mit den Morden, und mehr als das erfährt man über die Tathergänge nicht. Nach diesem Angelpunkt des Films folgt die mit 24 Minuten bei weitem längste wortlose Passage. Danach gibt es nur noch zwei Texthäppchen: Nach den Morden vergräbt der Täter die Waffe in einem Versteck, und nach einigen Monaten gräbt er sie wieder aus, um den Überfall zu begehen, bei dem er dann geschnappt wird. Am Ende des Films schließt sich der Kreis: Es wird nochmal dieselbe Texttafel wie am Anfang eingeblendet.


Was will uns Adachi mit diesem Film sagen? Will er überhaupt etwas sagen? Ja, er will. Adachi, dessen Anfänge um 1960 im studentischen Experimentalfilm lagen, verfolgte schon damals Ansätze zum Kollektivfilm, in dem der einzelne Autor (oder auteur) in den Hintergrund tritt. 1969 nahm er diese Tendenzen wieder auf, wohl inspiriert von der Groupe Dziga Vertov, die Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin und andere 1968 aus der Taufe hoben. Adachi, der Drehbuchautor Mamoru Sasaki, der Filmkritiker Masao Matsuda und einige weitere Gleichgesinnte gründeten die Gruppe "Kritische Front" (Hihyō Sensen) und entwarfen gemeinsam eine "Theorie der Landschaft" (fūkeiron). Unter "Landschaft" verstanden sie nicht nur natürliche Landschaften, sondern auch und vor allem die vom Menschen geschaffenen Kultur- und Stadtlandschaften, die, so die Theorie, die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegeln, und die einen bestimmenden Einfluss auf die darin lebenden Menschen ausüben. Gesellschaftskritische Filme sollten sich nun nicht mehr mit "Situationen", sondern mit diesen "Landschaften" auseinandersetzen. A.K.A. SERIAL KILLER war der erste und prototypische Film, der die Prinzipien von fūkeiron in die Tat umsetzen sollte. In einer Filmzeitschrift, die die Gruppe 1970 gründete, wurden fūkeiron und andere Aspekte linken Filmschaffens weiter diskutiert. Der kürzlich verstorbene Kōji Wakamatsu, mit dem Adachi jahrelang eng zusammenarbeitete, gehörte zwar nicht zu Hihyō Sensen, aber zumindest sein RUNNING IN MADNESS, DYING IN LOVE von 1969, zu dem Adachi das Drehbuch schrieb, ist auch von fūkeiron geprägt. Ungefähr zur selben Zeit entwickelte auch Nagisa Ōshima (mit dem Adachi ebenfalls zusammengearbeitet hat) ähnliche Ideen, die einige seiner Filme beeinflussten, v.a. BOY (1969).


Ich muss gestehen, dass mir Adachis Absichten beim ersten Sehen von A.K.A. SERIAL KILLER weitgehend verborgen blieben. Da ich seine radikalen politischen Ansichten schon länger kannte, erwartete ich etwas in der Richtung "der Mörder wurde erst vom Staat oder der Gesellschaft dazu gemacht" - allein, ich konnte es aus dem Film nicht herauslesen. Allenfalls Bilder von Militär und martialisch auftretender Polizei gegen Ende des Films schienen Gesellschaftskritik zu transportieren. Der gesprochene Text vermeidet jede Schuldzuweisung oder Erklärung für Nagayamas Taten, und die Gesamtheit der Bilder, unterstützt vom Soundtrack, wirkte auf mich wie ein Filmgedicht oder eine filmische Meditation über die japanische Gegenwart von 1969, ohne klare politische Stoßrichtung. Das wurde dadurch befördert, dass ein Teil der Bilder trotz ihres dokumentarischen Charakters von erlesener Schönheit ist - da war ein Könner an der Kamera am Werk. (Kameramann Yutaka Yamasaki gibt mir übrigens Rätsel auf. Laut IMDb war A.K.A. SERIAL KILLER sein erster Film, und sein zweiter war AFTER LIFE (1998) von Hirokazu Koreeda, für den Yamasaki seitdem noch mehrmals arbeitete. Was hat Yamasaki in den 29 Jahren zwischen seinem ersten und zweiten Film gemacht? Ich weiß es nicht.) Trotz oder vielleicht auch wegen seiner Uneindeutigkeit hat mich A.K.A. SERIAL KILLER schon bei der ersten Sichtung fasziniert. Nachdem ich nachgelesen habe, was es mit fūkeiron auf sich hat, und ihn dann nochmals ansah, hat sich die Faszination durchaus gehalten, wenn nicht sogar noch gesteigert. Aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, wurde A.K.A. SERIAL KILLER nach seiner Fertigstellung zunächst nicht veröffentlicht, sondern er kam erst 1975 heraus. Mich würde interessieren, inwieweit das damalige japanische Publikum Adachis Absichten verstand, ohne vorher in Interviews oder Manifesten davon gelesen zu haben, aber leider weiß ich nichts darüber.


Nachdem im Juli 1973 Terroristen der "Japanischen Roten Armee" (Nihon Sekigun oder JRA für Japanese Red Army) ein japanisches Flugzeug über den Niederlanden entführt hatten, trat Adachi als Sprecher dieser Gruppierung in Erscheinung. Die JRA war u.a. für das Gemetzel im Flughafen von Tel Aviv im Jahr 1972 (26 Tote und Dutzende Verletzte) verantwortlich. 1974 tauchte Adachi im Libanon unter, um sich endgültig der JRA anzuschließen. Erste Kontakte zu der Gruppe hatte er schon 1971 geknüpft. Adachi und Kōji Wakamatsu legten auf der Rückreise von Cannes einen Zwischenstopp in Beirut ein und drehten dort (wiederum mit fūkeiron im Hinterkopf) die Propaganda-Doku SEKIGUN - PFLP: SEKAI SENSŌ SENGEN (RED ARMY - PFLP: DECLARATION OF WORLD WAR) über die JRA, die sich gerade erst im Libanon etabliert hatte, und ihre Gastgeber von der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP). Adachis Leben im Untergrund dauerte bis 1997. Dann wurden er, die JRA-Gründerin und -Führerin Fusako Shigenobu und drei weitere Mitglieder im Libanon verhaftet und zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Passfälschung verurteilt. Im Jahr 2000 wurden dann vier der fünf, darunter Adachi und Shigenobu, nach Japan ausgeliefert. Weil man ihm keine direkte Beteiligung an Anschlägen nachweisen konnte, wurde Adachi in Japan wiederum wegen Passfälschung zu einer weiteren kurzen Haftstrafe verurteilt, und seit September 2001 ist er frei (Shigenobu wurde dagegen zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt). Was genau Adachi in den 23 Jahren im Untergrund gemacht hat, ist noch ziemlich im Dunkeln. In den Interviews, die er seit 2001 gegeben hat, wird das Thema weitgehend umschifft (zumindest in denen, die ich gelesen habe). Man könnte fast den Eindruck gewinnen, er sei nur auf einem sehr langen Abenteuerurlaub gewesen. Die Journalistin Regine Igel schreibt aber in einem Artikel in Telepolis, dass sich anhand von Stasi-Dokumenten nachweisen lasse, dass Adachi sich als Strippenzieher der JRA im Hintergrund betätigte. Mindestens seit 1987 und wahrscheinlich schon vorher waren Adachi und Shigenobu auch als Agenten der Stasi registriert, so Igel in ihrem Artikel. Was immer Adachi da nun tatsächlich getrieben hat - er ist und bleibt eine schillernde Figur.


Mehr über Masao Adachi gibt es hier auf Deutsch und hier auf Englisch. 2011 drehte der Künstler Eric Baudelaire als Teil einer Ausstellung, die in Frankreich, Spanien und England gezeigt wurde, den Dokumentarfilm L'ANABASE DE MAY ET FUSAKO SHIGENOBU, MASAO ADACHI ET 27 ANNÉES SANS IMAGES (Mei oder May Shigenobu ist die Tochter von Fusako), und zwar interessanterweise nach den Prinzipien von fūkeiron. Der Miterfinder der "Theorie der Landschaft" wird also selbst zum Untersuchungsobjekt seiner Theorie. Ob man daraus wirklich etwas Konkretes über Adachis Aktivitäten erfährt, weiß ich aber nicht. - 1970 drehte Kaneto Shindō den Spielfilm HEUTE LEBEN, MORGEN STERBEN (HADAKA NO JŪKYŪ-SAI), der eng an die Geschichte von Norio Nagayama angelehnt ist.

Sonntag, 11. November 2012

Randnotizen zu Zwillingsschwestern und Olivia de Havilland

Wie ich schon angekündigt habe, gibt es noch zwei Besprechungen von Bruno, die wir euch nicht vorenthalten wollen. Diese hier ist die erste, die zweite folgt dann nach meinem nächsten Text in ungefähr zehn Tagen.

Manfred




Der schwarze Spiegel
(The Dark Mirror, USA 1946)

Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Olivia de Havilland, Lew Ayres, Thomas Mitchell, Richard Long, Charles Evans, Lela Bliss u.a.

Wen hätte es erstaunt, wenn Olivia de Havilland nach ihrer für einen Oscar nominierten Melanie Hamilton in “Gone With the Wind” (1939) nur noch als sich aufopfernde Frau mit engelhaftem Gesicht zu sehen gewesen wäre? - Tatsächlich sollte ihre Karriere jedoch einen anderen Verlauf nehmen, was nicht zuletzt mit einem Prozess zusammenhing, den sie gegen Warner Brothers führte und im Gegensatz zu ihrer Freundin Bette Davis, die in den 30ern etwas Ähnliches versucht hatte, auch gewann. Dieser Prozess ging zwar mit einer dreijährigen Zwangspause einher , ermöglichte der Schauspielerin, von der man behauptet, sie sei privat alles andere als “engelhaft” gewesen (sie soll mit ihrer Schwester Joan Fontaine zeit ihres Lebens kein Wort mehr gewechselt haben, weil diese vor ihr einen Oscar erhielt), aber anschliessend ein wesentlich vielfältigeres Rollenspektrum.

Olivia de Havilland ging schon früh einen jener berüchtigten Siebenjahresverträge mit Warner ein und wurde in der Folge mit Vorliebe als Partnerin von Errol Flynn besetzt, der dafür bekannt war, dass er sämtliche gut aussehenden Frauen und Männer, mit denen er spielte, ins Bett zu kriegen versuchte, während ausgerechnet die Schauspielerin, in die er sich hoffnungslos verliebte, nicht an ihm interessiert war. - Es kam zu einem ersten Konflikt mit ihrem Studio, als man sie für “Gone With the Wind” nicht an Selznick ausleihen wollte. Anfangs der 40er Jahre wurde de Havilland von Warner suspendiert, weil sie sich weigerte, eine Rolle anzunehmen. Gleichzeitig entliess man sie nicht aus ihrem mittlerweile abgelaufenen Vertrag. Gegen diese Allmacht der Studios zog die Schauspielerin bis vor den Obersten Gerichtshof der USA. Ihr Sieg läutete den Beginn einer neuen Ära ein.

Nach ihrer Rückkehr ins Filmgeschäft war de Havilland zwar weiterhin auch in Melodramen zu sehen (ihren ersten Oscar erhielt sie für die Mitchell Leisen-Schnulze “To Each His Own”, 1946); aus heutiger Sicht interessanter dürfte jedoch ihre Entscheidung sein, vor allem auch zwielichtige, zwiespältige, ja in sich gebrochene Charaktere zu spielen - denn solche Rollen ermöglichten es ihr, in der zweiten Hälfte der 40er Jahre Gestalten auf die Leinwand zu bringen, wie man sie bis anhin nicht gesehen hatte. Dass solche Rollen überhaupt in den Bereich des Möglichen gerieten, hatte mit dem aufflammenden Interesse Hollywoods am Psychoanalytischen zu tun, das dank über 400 aus Europa emigrierter Psychiater und Psychoanalytiker dabei war, die USA zu erobern. Und es waren, was wohl nicht erstaunlich ist, vor allem ursprünglich aus Europa stammende Regisseure, die das Interesse mit zum Teil kleinen Meisterwerken zu bedienen wussten. --- Hier soll an einen Film erinnert werden, mit dem Olivia de Havilland nach ihrem Comeback das Publikum überraschte: "The Dark Mirror".


Es war nicht zuletzt der amerikanischen Kriminalfilm, der sich psychoanalytischer Elemente begeistert annahm und dem von John Huston und Billy Wilder (“Double Indemnity”, 1944) geprägten Modell (desillusionierter Mann erliegt einer “femme fatale”) ein zweites entgegenstellte, das sich ebenfalls einiger Stilelemente des "Film noir" bediente und in dem ursprünglich psychologische Elemente von Drehbuchautoren oft derart popularisiert wurden, dass sie kaum mehr etwas mit der eigentlichen Wissenschaft zu tun hatten (Hitchcocks “Spellbound”, 1945, Langs “Secret Beyond the Door”, 1947, Ophüls’ “The Reckless Moment”, 1949). - Robert Siodmak, ein Regisseur, dem ein typisch deutsches Emigranten-Schicksal beschieden war (er hatte 1929 in Deutschland als Co-Regisseur mit dem Meisterwerk “Menschen am Sonntag” begonnen und endete auch in Deutschland mit Karl May-Filmen!), drehte im Exil in Hollywood einige Klassiker des psychologisch angehauchten Krimis, darunter einen der grossen Nägelkauer der Filmgeschichte, “The Spiral Staircase” (1945). - “The Dark Mirror” zeigt schon zu Beginn, dass er diesem Subgenre zuzuordnen ist, machen doch bereits hinter dem Vorspann die berühmten Rorschach-Tintenkleckse auf sich aufmerksam. Ein Arzt wird in seiner Wohnung ermordet aufgefunden, und der Fall scheint für Lieutenant Stevenson auf den ersten Blick so gut wie gelöst zu sein: Mehrere Zeugen sagen aus, der Ermordete habe mit Terry Collins ein Verhältnis gehabt, und diese sei nach der Tat beim Verlassen der Wohnung beobachtet worden. Plötzlich tauchen aber auch Zeugen (darunter ein Polizist) auf, die Terry zur Tatzeit in einem weit entfernten Park gesehen haben. Die junge Frau scheint also ein perfektes Alibi zu haben. Der verzweifelte Lieutenant begibt sich noch einmal in die Wohnung der ursprünglich Verdächtigten - und es erwartet ihn eine Überraschung: Terry hat eine (identische) Zwillingsschwester namens Ruth! Von nun an zeigen sich die beiden Frauen (beide gespielt von Olivia de Havilland) wenig kooperativ, was den Polizisten dazu veranlasst, die Hilfe des Psychologen Dr. Scott Elliott in Anspruch zu nehmen. Dieser soll es mithilfe “psychologischer” Ermittlungsverfahren ermöglichen, zwischen einer “guten” und einer “bösen” Zwillingsschwester zu unterscheiden.

Der Film musste mit einem kleinen Budget gedreht werden, was man ihm an vielen Details anmerkt: Lew Ayres, der nach seiner Hauptrolle in Lewis Milestone's "All Quiet On the Western Front" (1930) vor allem mit seinen Dr. Kildare-Filmen eine gewisse “Berühmtheit” erlangt hatte, wirkt als sich langsam in die unschuldige Schwester verliebender - langweiliger - Psychiater so deplaziert wie manche andere Darsteller, die man wohl verzweifelt akzeptieren musste; das Drehbuch, dessen Pseudo-Anleihen bei der Psychoanalyse gelegentlich zum Lachen reizen und Mark Rutland's nächtliche Analyse seiner Frau in Hitch’s “Marnie (1964) direkt professionell erscheinen lassen, strotzt vor Ungereimtheiten (der “Kenner” der Materie negiert die Möglichkeit, dass Zwillinge die gute und die böse Seite im Menschen repräsentieren können, was aber genau der Clou dieser Neuauflage von “Dr. Jekyll and Mr. Hyde” mit weiblicher Besetzung ist, der man allerdings zugute halten muss, dass sie nicht darauf aus ist, einem klassischen “Whodunit” Konkurrenz zu machen). Auch die Musik von Dimitri Tiomkin übertreibt es in gewissen Szenen (beim Test mit dem Lügendetektor wird jeder Ausschlag mit der Nadel musikalisch derart hysterisch unterstützt, dass der Eindruck entsteht, man eile dem unausweichlichen Höhepunkt, einer Katastrophe entgegen). Sogar Siodmak scheint sich einige Nachlässigkeiten zu erlauben: Warum etwa muss er die beiden Schwestern durch Halsketten und Broschen mit Namen voneinander unterscheiden, wo Olivia de Havilland’s Gestik und Mimik doch bereits mehr als deutlich verraten, mit wem wir es gerade zu tun haben (die unschuldige Schwester tritt stets freundlich, aber mit gesenktem Blick und unruhig gefalteten Händen, die schuldige selbstbewusst, sich ihrer zu sicher, auf). Ein typisches B-Movie eben! Oder doch nicht so ganz?

“The Dark Mirror” beeindruckte mich als kleinen Knirps, der sich in den 60ern auch Krimis erlaubte, zutiefst. Eine kürzlich erfolgte Neusichtung  liess mich ihn vor allem als Kind seiner Zeit verstehen und früher nicht bemerkte Details schätzen: Ich denke etwa an die in vielen Szenen unauffällig platzierten Spiegel und das raffiniert eingesetzte Schüfftan-Verfahren, mit dessen Hilfe eine hervorragend spielende Olivia de Havilland als Zwillingsschwestern Terry und Ruth im gleichen Bild gezeigt werden konnte. Und noch immer weist die beängstigende Entwicklung zwischen den Schwestern (die Mörderin versucht ihre zunehmend besorgt reagierende Schwester in den Wahnsinn zu treiben, indem sie ihr einredet, sie leide unter Halluzinationen) auf die dunkle Seite der menschlichen Psyche hin, lässt uns an Freuds “Das Unheimliche” denken. Als dann gegen Schluss die eine (böse) Variante von de Havilland der Polizei einzureden versucht, ihre tot geglaubte Schwester habe den Mord begangen, blitzt der blanke Wahnsinn aus ihren Augen. Diese schauspielerische Meisterleistung (wer hätte sie von “Melanie Hamilton” je erwartet?) kann man nur bewundern. - Sie lässt das tatsächliche Zerbrechen eines Spiegels am Ende des Films wie eine Erlösung erscheinen.


Der zügig inszenierte Thriller erhielt immerhin eine Oscar-Nominierung für das Drehbuch, was zeigt, dass er dem entsprach, was die Zuschauer damals von einem psychologisch angehauchten Krimi erwarteten. Wenn man ihn kritisiert, dann muss man es auf hohem Niveau tun, ihn etwa mit den oben genannten Filmen von Hitchcock oder Lang vergleichen. Dass ein 1984 gedrehtes Remake mit Jane Seymour in der Hauptrolle in die Hosen (der Geschichte!) gehen musste, liegt auf der Hand.

Dienstag, 6. November 2012

Eine Weimarer Pizza geht nach Wien oder zur Psychopathologie österreichischer Toiletten: Bericht von der Viennale 2012



Am Donnerstag, den 25. Oktober, bin ich in Richtung Österreich gereist, um dem 50. Internationalen Filmfestival Wien (25. Oktober bis 7. November 2012), auch als Viennale bekannt, einen Besuch abzustatten. Der Weg führte mich von Weimar, über Jena, Leipzig, Dresden, Prag bis in die ehemals kaiserliche Hauptstadt. Drei Tage voller Filme erwarteten mich: neue, alte, gute und nicht so gute. Und extrem gute Kaffees. Und merkwürdige Bekanntschaften mit österreichischen Toiletten. Und nasse Füsse. Und eine hirnverbrannte Festival-Organisation... aber dazu später.

Donnerstag 25. Oktober 2012

Bei einem dreistündigen Halt in Leipzig stimmte ich mich Kino-technisch etwas auf die Viennale ein und ließ mich in einer Pressevorführung vom neuen James-Bond-Film begeistern. Diese hatte zwar nichts mit dem österreichischen Filmfestival zu tun, wird in meinem Gedächtnis aber immer mit meiner ersten Viennale-Reise verbunden sein. An anderer Stelle habe ich mich schon etwas über den nunmehr 23. (bzw. je nach Perspektive 24., 25., 26.) Bond-Film ausgelassen. Hier also eine Zusammenfassung meiner durch und durch positiven Eindrücke in freier Assoziation.

10.00 Uhr, Cinestar Leipzig
Skyfall
UK/USA 2012, 143 Minuten
Regie: Sam Mendes

James Bond goes Apocalypse Now. James Bond goes art house. James Bond goes avant garde. James Bond goes back to childhood. James Bond goes back to the roots. James Bond goes bi (maybe). James Bond goes Caspar David Friedrich. James Bond goes crazy deadly drinking games. James Bond goes dada. James Bond goes expressionistic. James Bond goes for a swim. James Bond goes Freudian. James Bond goes Gothic. James Bond goes Greek tragedy. James Bond goes greyish. James Bond goes Heineken. James Bond goes hunting knife. James Bond goes introspective. James Bond goes James Bond. James Bond goes meta. James Bond goes neon signs. James Bond goes Oedipus. James Bond goes Oskar Fischinger. James Bond goes sawed-off shotgun. James Bond goes self-aware. James Bond goes shadow play. James Bond goes sicko. James Bond goes vintage. James Bond goes weirdo.
James Bond goes Skyfall!
P.S.: „Q“ goes hipster-nerd. Bond villain goes Hannibal Lecter. Bond side villain goes Stromberg.


Nach einer sehr langen Reise (Start: 07:20 Uhr in Weimar) kam ich also kurz nach 22.00 Uhr in Wien an. Nach einem Bier und einem Wodka mit meinem Gastgeber, dem ich vom neuen Bond-Film und von der kommenden Fritz-Lang-Retrospektive vorschwärmte, ging es zur Eröffnungsparty der Viennale. Zu der Eröffnungsparty oder vielleicht auch zu einer Eröffnungsparty. Mehr noch als die fürchterliche Musik, die Kälte und die horrenden Bierpreise brachten mich die Toiletten zur rasenden Verzweiflung. Vor ihnen stand eine gefühlt vierzig Meter lange Schlange. Dixie-Klos im Innenhof waren die Alternative. Sie waren zwar nicht beleuchtet, aber hier konnte ich mich zum letzten Mal während meines Wien-Aufenthalts ohne Klaustrophobie-Anfall erleichtern...


Freitag 26. Oktober 2012

Nach vierstündigem Schlaf ging es weiter. Zunächst durch die Innenstadt etwas spazieren. Beim Stephansdom einen Cappuccino to go genommen, der mich bei der ersten Berührung mit meinen Geschmacksknospen in den Himmel geführt hat. Was ich letztes Jahr in Graz erlebt hatte, wiederholte sich nun in Wien: österreichischer Kaffee ist der beste der Welt, oder zumindest der beste, den ich kenne. Die Österreicher haben Mut zur Bohne, und das ist gut so!
Weiter zum Hilton Hotel Wien, wo die Presse-Karte abgeholt wurde. Die Freude über das kostenlose Festivalkatalog, das kostenlose Fritz-Lang-Buch und über die Viennale-Umhängetasche verflog zunächst angesichts des Info-Blattes für „Teilnehmer“. Irgendetwas von 4,50 Euro pro Film stand da. Es stellte sich später glücklicherweise heraus, dass auch die niedrige Journaille kostenlos in die Filme gehen durfte. Als schwerwiegenderes Problem stellte sich später allerdings das ineffiziente Reservierungs-System für Pressekarten heraus.
Schwer bepackt ging ich zusammen mit meinem lieben Mitreisenden, luzifus von the-gaffer.de, zum Metro-Kino, wo um 11 Uhr unser erster Festivalfilm begann. Wir hatten nicht „reserviert“ und mussten deshalb über die „Warteliste“ rein, bekamen dann aber trotzdem Karten.
An den Kino-Toiletten hing ein stolzes Schild über den gelungenen Umbau des Örtchens zu einer behinderten-gerechten Einrichtung. Diesen Wienerischen Witz habe ich leider nicht verstanden, denn eine Warnung für Klaustrophobiker wäre angesichts der unglaublichen Enge der Örtlichkeit angemessener gewesen. Ein Ort, der wirklich nur in einem sehr basisch-physischen Sinne Erleichterung brachte.
Der Kino-Saal jedoch war prunkvoll, mit schönen roten Sitzen und Seitenlogen ausgestattet. Die eher mäßige Beinfreiheit stellte sich später als für Wienerische Verhältnisse absolut extravagant heraus...


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
Vous n‘avez encore rien vu
Frankreich/Deutschland 2012, 115 Minuten
Regie: Alain Resnais

Ein Theater-Regisseur stirbt. Sein Butler ruft eine ganze Horde an berühmten Schauspielern an (Michel Piccoli, Pierre Arditi, Sabine Azéma, Lambert Wilson, Mathieu Amalric, Anny Duperey, Hippolyte Girardot etc.), um sie zur Trauerfeierlichkeit und Nachlass-Erklärung einzuladen. Der letzte Wunsch: die Geladenen mögen bitte das Probevideo einer unbekannten Theatergruppe, die das berühmteste Stück des Regisseurs spielt, bewerten und eine Empfehlung geben. Während das Video abgespielt wird, erinnern sich die anwesenden Schauspieler – die wohlgemerkt alle sich selbst spielen – an ihre respektiven Rollen in dieser Adaption der griechischen Sage um Orpheus und Eurydike und beginnen, selbst das Stück im Austausch mit der Leinwand zu spielen.
Was als spannender Film über die Interaktion von Kino mit dem „wahren“ Leben erscheint, entpuppt sich als eine brachiale Tortur von einem „Film“, der über das Niveau eines abgefilmten (schlechten) Theaterstücks nicht hinausreicht. Der Genuss, so viele tolle französische Schauspieler auf einem Haufen zu sehen, wird einem gründlich verdorben. Grottenschlechte CGI-Effekte widerspiegeln entweder den Wunsch des nunmehr 90-jährigen Regisseurs, auch mal moderne Technologie zu nutzen, oder sollen wohl zweck Verfremdungs-Effekt absichtlich „beschissen“ aussehen. Nur mäßig verklausuliert erschien der Film auch als eine völlig ungehemmte und neunmalkluge Selbstbeweihräucherung Resnais‘. Nach gefühlten zwei Stunden lud der Film zum Sekundenschlaf ein, obwohl noch über eine halbe Stunde übrig blieb. Kein schönes Festivaleröffnungs-Erlebnis.


Zwanzig Meter vom Metro-Kino entfernt befand sich eine Imbissbude, bei der der hungrige Festival-Besucher einen ganz ausgezeichneten Dürum (u. a. mit einer scharfen Sauce aus frischen Chillies) genießen konnte. Gleich daneben die Café-Version eines internationalen Fastfood-Konzerns, dessen doppelter Espresso jedoch durchaus „österreichisch“ schmeckte und den Verfasser dieser Zeilen noch vor gar zu schlimmen Sekundenschlaf-Anfällen retten sollte.
In der Zwischenzeit kam heraus, dass die Journaille ausschließlich Wartelisten-Plätze erhält, wenn sie nicht vorher ihre Karten bei der zentralen telefonischen Presse-Reservierung bestellt. Dies sollte sich später noch als echtes Problem erweisen.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
Pearblossom Highway
USA 2012, 80 Minuten
Regie: Mike Ott

Mit einem nunmehr etwas günstigeren Platz begann der zweite Film in Anwesenheit des überaus sympathischen Regisseurs. Plakate habe er mitgebracht, und wer den Film möge, könne sich im Anschluss eins bei ihm holen. Wer den Film nicht möge, könne sich aber ebenfalls eins holen.
Zwei junge Menschen am Wüstenrand von Los Angeles stehen im Mittelpunkt dieses kleinen Independent-Films. Cory redet ständig und filmt ein Videotagebuch, das er gerne einmal zu einer Reality-Show ausbauen möchte. Atsuko bzw. Anna, eine immigrierte Japanerin, spricht hingegen kaum und bereitet sich auf ihren Einbürgerungs-Test vor. Außer ihrem besten Freund Cory, dessen geistige Gesundheit fraglich und soziale Kompetenz gänzlich unausgeprägt ist, ist die junge Frau völlig von ihrer Umwelt entfremdet. Ihr Nebenjob als Prostituierte verbessert diese soziale Isolation nicht gerade. Erleichterung findet sie nur in den Telefongesprächen mit ihrer Großmutter in Japan, die jedoch zunehmend erkrankt. Derweilen hat Cory immer größere Probleme mit seinem älteren Bruder, einem Armee-Veteranen.
Die scheinbar absolute Loslösung dieses größtenteils eher still vor sich hinplätschernden Films erklärte sich im nachhinein daraus, dass er ein Sequel zu Mike Otts „Littlerock“ ist, der die Figuren Cory und Anna übernimmt. Der Film plätscherte in der Tat: Langweilig, rührend, lustig, emotional, nervig, öde, quicklebendig – all dies war „Pearblossom Highway“, und manchmal sogar gleichzeitig. Nervend waren die immer wiederkehrenden, von einem verfremdeten Polaroidkamera-Klickgeräusch begleiteten Montage-Verdichtungen, die etwas übermäßig bemüht den ansonsten eher realistischen Stil des Films konterkarieren wollten. Atsuko Okatsuka (auch Drehbuchautorin des Films) als Atsuko-Anna bot hingegen eine sehr überzeugende minimalistische Darstellung der entfremdeten Japanerin.
Auch wenn ich mich stellenweise schwer gelangweilt habe, so bleibt im Nachhinein doch ein tendenziell eher netter Eindruck. Das liegt vielleicht am unterhaltsamen Q & A mit dem Regisseur, der sich ganz natürlich, völlig unprätentiös und absolut sympathisch mit dem Publikum austauschte. Ott versprach etwa einer Zuschauerin, die nach einer DVD-Veröffentlichung von „Littlerock“ gefragt hatte, einen Link zu einem Download zu geben.


Nach dem dritten Kaffee des Tages ging ich ins Wiener Filmmuseum, um meinen ersten Film der Fritz-Lang-Retrospektive zu schauen. Luzifus ging derweilen – am 26. Oktober ist österreichischer Nationalfeiertag – zu irgendeinem feierlichen Empfang in der österreichischen Nationalbibliothek, wo der Bundespräsident dem anwesenden Pöbel die Hand schütteln sollte... Gähn! Langweilig! Wer will schon dem österreichischen Staatsoberhaupt die Hand schütteln, wenn er stattdessen einen Fritz-Lang-Film in Kino sehen kann?
Vor „Hangmen Also Die!“ trank ich im Filmmuseum den größten und teuersten und schmackhaftesten doppelten Espresso meines Lebens. Doch auch in diesem Kino spielten mir die Toiletten einen bösen Streich: sie hatten nur eine winzige Kabine und drei Pissoirs, die so eng nebeneinander gestellt waren, dass Mann sie alle gleichzeitig hätte nutzen können. Ein sehr junger Zuschauer besetzte eine halbe Stunde lang die Kabine unter der Aufsicht seines Vaters, der den Rest der Örtlichkeit blockierte. Natürliche Bedürfnisse werden angesichts eines Filmfestivals selbstverständlich völlig überschätzt, aber trotzdem...


16.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Hangmen Also Die!
USA 1943, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

„Hangmen Also Die!“ ist einer der drei offenen Anti-Nazi-Filme, die der Emigrant Lang in den USA drehte und basiert auf einem Drehbuch von Bertolt Brecht, der sich wenig später vom Film distanzierte. Er ist eine Hommage an den tschechoslowakischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation und behandelt die Ermordung des „Henkers von Prag“ Reinhard Heydrich.
Jeder Film verlangt natürlich eine filmhistorisch kontextualisierte Sichtung, doch „Hangmen Also Die!“ sicherlich in einem ganz besonderen Maße. Wir kennen alle das Klischee des überbösen und dämonischen Nazis bis zum Überdruss. Dieses wurde unter anderem gerade hier „erfunden“ und ikonographisch in Zelluloid gebrannt – wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als eben die Nazis noch an der Macht waren und halb Europa besetzten und terrorisierten! Langs Nazis sind mit ihren Pickeln im Gesicht wirklich hässlich. Sie verhalten sich ur-“deutsch“, wenn sie zum Kaffee eine Wurst essen und diese in zwei Hälften so knacken, dass Fleisch und Fett durch das ganze Zimmer fliegen. Sie sind gnadenlos grausam, etwa in Prügelszenen, die selbst mit heutigen Zuschauergewohnheiten noch äußerst brutal wirken. Sie tragen (ironischerweise) Monokel. Zugleich sind sie feige, verantwortungslos und kriecherisch, womit Lang im Prinzip auch das spätere reale „Ich habe nur Befehle ausgeführt“-Narrativ cinematographisch vorweggenommen hat.
Den „Lang im Film“ erkennt man durch die subtile Psychologisierung der Figuren: Schuldgefühle, moralische Dilemmata und Rachegelüste. Der Attentäter Svoboda lebt mit dem unlösbaren moralischen Dilemma, sein Leben zu retten und dabei unschuldige Menschen (Geiseln der Nazis) auf dem Gewissen zu haben oder aber sich zu ergeben und damit zugleich die Widerstandsbewegung in Gefahr zu bringen. Gerade das Thema des Unschuldigen, der in die Knochenmühle der Gewalt gerät, wird hier vielfältig variiert. Lang geht schließlich so weit, dass ein tschechischer Kollaborateur für seine Sünden damit bezahlt, dass er durch eine Verschwörung des Widerstands für ein Verbrechen gerichtet wird, das er nicht begangen hat!


Nach drei Filmen völlig erschöpft und kaum noch fähig, einen verständlichen Satz zu verstehen oder gar selbst zu formulieren, entließ ich mich in eine Dinier-Pause mit einem originalen Wiener Schnitzel und einem Gespräch mit Einheimischen über die Bedeutung des Nationalfeiertages und der österreichischen Neutralität. Gestärkt und mit einem leichteren Geldbeutel ausgestattet kehrte ich, diesmal mit luzifus, in das Wiener Filmmuseum zurück.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
You Only Live Once
USA 1937, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

Langs zweiter US-amerikanischer Film um einen ehemaligen Kleinkriminellen (ein junger Henry Fonda), der nach drei Jahren Gefängnis nach kurzer Zeit des Glücks zu Tode verurteilt wird, schwankt zwischen einem “amerikanischen“, kontroversen Thema und einer „deutschen“ Ästhetik.
Gerade die barock-expressionistischen Momente wirken auf einer Kino-Leinwand großartig. Nachdem die Hauptfigur Eddie seine Geliebte Joan geheiratet hat, spricht er über seine Kindheitserlebnisse. Dazwischen geschnitten werden Nah- und Extremnahaufnahmen von Fröschen in einem kleinen Gartenteich (vielleicht ein visuelles Vorbild für das spätere „Night Of The Hunter“?), während das Paar durch gebrochenes Wasser umgekehrt gespiegelt wird. Auch die Isolations-Todeszelle, deren Gitterschatten sich in alle Richtungen ausbreiten, markieren visuell beeindruckend die Verlorenheit der Hauptfigur. Als Eddie kurz vor seiner Hinrichtung ausbricht, flieht er durch ein dichtes, atmosphärisches Nebelmeer mit seiner Geisel in Richtung Ausgangstor. Die Flucht des Paares endet in einem offensichtlich im Studio nachgebauten und deshalb so hochstilisierten Wald: eine schöne und hoffnungsvolle Idylle, aber letztlich ein Trugschluss.
Auch wenn das persönliche Schicksal eines Außenseiters im Mittelpunkt steht, so lässt sich „You Only Live Once“ auch als sehr starkes und nicht wenig subversives Plädoyer gegen die Todesstrafe in den USA sehen: Verbrechen entstehen aus sozialen Ursachen, über Schuld besteht keine Garantie, es gibt keine Gerechtigkeit (daher die anfänglich deplatziert wirkende Figur des italienischen Obsthändlers, der sich darüber beklagt, dass patrouillierende Polizisten ihm Äpfel klauen), und die Todesstrafe zerstört nicht nur Leben, sondern auch das gesellschaftliche Gefüge. Die drückende, fast nihilistische Atmosphäre wird schließlich mit einer christlichen Erlösung gedämpft, die jedoch keine richtige Erleichterung zu bringen vermag.
Fritz Lang war die wichtigste Vermittlungsfigur zwischen dem deutschen (expressionistischen) Stummfilm und dem US-amerikanischen film noir. „You Only Live Once“ ist dabei eines der wichtigsten Glieder dieser Verbindungskette, ein spätes strukturelles Sequel zu „M“, ein Vorläufer des Schuld-und-Reue-Melodrams „Scarlet Street“, und dabei doch ein eigenständiges Meisterwerk. Eindeutig ein Höhepunkt der Viennale.


Mittlerweile nicht mehr ganz so frisch erfolgte der Umzug zum Gartenbau-Kino am Stubenring, wo mich erwartete:


23.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Double Feature Room 237 & The Shining

Bereits kurz nach 23.00 Uhr traf ich im Gartenbau ein und holte mir meine (reservierte) Pressekarte für das große Shining-Double-Feature. Das Foyer des Kinos füllte sich immer mehr mit Zuschauern, es wurde immer enger, und schließlich so eng, dass jemand, der ob der schlechten Luft ohnmächtig geworden wäre, nicht hätte auf den Boden fallen können. 23.40 Uhr kündete ein Mitarbeiter an, dass sich der Einlass wegen der vorherigen Veranstaltung noch um zehn Minuten verzögern würde. Bis zum Einlass 20 Minuten später also weiter klaustrophobische Unruhe und Ströme an Schweiß...


23.30 Uhr (faktisch etwa um 00.15 Uhr), Gartenbau-Kino Wien
Room 237
USA 2012, 102 Minuten
Regie: Rodney Ascher

„The Shining“ ist zwar ein Kultfilm eigenen Rechts, aber er wäre vielleicht nicht das Werk des Stanley Kubrick, das einem als erstes für eine abendfüllende Dokumentation einfallen würde... zu unrecht, wie sich herausstellte.
Der anwesende Regisseur Rodney Ascher hat mehrere Leute – dass man nicht erfährt, wen genau, kann man je nach dem als irrelevant oder als Schwäche sehen – zur Verfilmung von Stephen Kings Roman befragt und dabei Erstaunliches erfahren: von Kleindetails bis zu umfassenden Interpretationen.
Eine mögliche Sichtweise auf „The Shining“ wäre zum Beispiel, dass es sich um Kubricks allegorische Verarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den amerikanischen Ureinwohnern handelt. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass das „Overlook“ auf einem Indianerfriedhof gebaut wurde. Während des ganzen Films im Hintergrund verteilte Regalien (Calumet-Backpulverdosen, ausgestopfte Büffel-Köpfe, Häuptling-Portraits, Teppichkunst etc.) lassen diese Interpretation in Ansätzen plausibel wirken.
Stanley Kubrick hatte in den frühen 1990ern bekanntermaßen angefangen, mit „Aryan Papers“ einen Film über den Holocaust zu drehen. Mit „Schindler‘s List“ ließ er sein Projekt als obsolet fallen. Möglich wäre auch – so einer der Interviewten –, dass Kubrick mit „The Shining“ seinen Holocaust-Film bereits gedreht hatte: die apokalyptischen Blutfluten sprechen am offensichtlichsten dafür. Mehrere Überblenden von Personen auf Reisekoffer-Haufen (eine der vielen Holocaust-Ikonographien) und umgekehrt an einer und derselben Stelle weisen subtiler auf eine solche potentielle Interpretation. Dass die riesigen Büchsen „kosher dill“ in der Speisekammer oder das Arrangement der Fleischhaufen im Kühlraum (das tatsächlich an Lager-Schlafbarracken-Bilder erinnerte) keinem Interviewten aufgefallen ist, scheint überaus verwunderlich.

Erheblich abstruser scheint die Interpretation von „The Shining“ als Kubricks persönliche Bewältigung seiner Beteiligung an der Fälschung der Mondlandungs-Bilder, wozu man über Dannys Apollo-Pullover und diverse Zahlenspielereien mit der Raumnummer 237 kommt. Lacher waren hier garantiert.
Mehrere Interpretationen waren zumindest sehr viel ergebnisoffener. Kubrick sei als Mensch mit überdurchschnittlichen intellektuellen Kapazitäten seit Anfang der 1970er Jahre zutiefst gelangweilt gewesen und habe daher angefangen, seine Filme mit noch erheblich mehr mit elaborierten, geradezu manischen Details zu spicken. „The Shining“ sei in diesem Sinne ein strukturelles Sequel von „Barry Lyndon“: ein Meta-Film über ein gelangweiltes, weil intellektuell unterfordertes Genie. Deshalb gäbe es auch in der Szene des Vorstellungsgesprächs einfach mal eine Phallus-Konstruktion, die sich aus dem Kamerawinkel in Verbindung mit einer dunklen Papierablage ergäbe. Auch relativ ergebnisoffen ist die Deutung von „The Shining“ als philosophisches Essay über Vergangenheit.
Wenngleich „Room 237“ vielleicht 20 Minuten weniger ganz gut getan hätten, so war er doch eine schöne Erfahrung. Zunächst hat er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen Film gelenkt, der manchmal wohl etwas zu schnell als „Kubricks Horrorfilm“ abgetan wird und ihm damit eine schöne Hommage geschenkt. Zweitens hat er auch gezeigt, dass ein gutes Kunstwerk in seiner Ausdeutung sich immer sehr schnell von den möglichen Intentionen des Künstlers freimachen kann. Genauso, wie Kubrick den King-Stoff auf persönliche Weise verarbeitet hat, eignet sich der Zuschauer den Film in ganz eigener Art an... Der Beweis erfolgte in einem Q & A mit dem vielleicht großartigsten Zuschauerkommentar aller Zeiten: ob Rodney Ascher bemerkt habe, dass die Deckenverzierung des Kinosaals den Teppichmustern in „The Shining“ ähnlich sei...


Nach spätestens einer halben Stunde bemerkte nicht nur ich, sondern auch luzifus und mein lieber Wien-Gastgeber, dass die Sitze des Gartenbau-Kinos zu streng quadratisch geformt (und daher sehr unbequem) sind und dass Füße und Knie sich permanent an den Vordersitz anstoßen. Länger als anderthalb Stunden hier zu sitzen, sollte sich also theoretisch als die reinste Tortur erweisen. Wir haben aber zu diesem Zeitpunkt noch über drei Stunden vor uns! Dosenbier kann vielleicht etwas Erleichterung schaffen (was sich später als Illusion erweist).


etwa um 02.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
The Shining
UK/USA 1980, 119 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Die ganzen Lacher und Ahas und Ohhs, die während der Vorführung durch das Publikum gingen, wenn eine in „Room 237“ prominent besprochene Stelle kam, waren sicherlich besonders bemerkenswert und der Beweis, dass Filme im Kino geschaut werden sollten. Doch erst richtig einmalig war die 35-mm-Filmkopie: vollkommen ausgewaschen, rotstichig, mit permanenten tiefen Kratzern und teils so schweren Beschädigungen, dass man in manchen Momenten einen Filmriss erwartete.
Meine zweite Sichtung von „The Shining“ war also ein großartiges, einmaliges, und wirklich niemals wiederholbares Erlebnis. Manch Schock-Effekt wurde zwar dank der Verfremdung der schlechten Kopie minimal gedämpft, doch nur im Kino kann man wohl erleben, was für ein PHÄNOMENAL LAUTER Film „The Shining“ eigentlich ist.
Mir ist übrigens aufgefallen, dass auf der roten Männer-Toilette eine Toilettenschüssel im Hintergrund viel zu nahe an der Trennwand der Kabine montiert ist, und daher – zumindest für große Geschäfte – unmöglich nutzbar wäre. Sehr irritierend! Sehr beunruhigend!



... ... zum ersten Mal in meinem Leben das Kino um vier Uhr morgens verlassen. Gehirn fühlt sich wie Matschepampe an. Füße und Knie ebenso. Ins Bett gekommen um 04.30 Uhr, jedoch noch eine Stunde gebraucht, um einzuschlafen...


Samstag 27. Oktober 2012

Das diesjährige Viennale-Tribute befasste sich mit Michael Caine und zeigte zehn Filme des charismatischen britischen Schauspielers. Zwei von ihnen sollten jeweils den Einstieg in den Tag bilden.


12.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Hannah And Her Sisters
USA 1986, 105 Minuten
Regie: Woody Allen

Ein typischer 1970er- und 1980er-Jahre Woody-Allen-Film: es wird massenweise geredet (über Sex, Neurosen und den ganzen üblichen Rest), zwischendurch die Bettpartner gewechselt, es gibt ein bisschen Lustiges, ein bisschen Trauriges, und das ganze plätschert in kleinen Episoden nett vor sich hin. Manch begeistertes und überschwängliches Kritikerlob für Woody Allen kann ich nicht so recht nachvollziehen. Im Kino „Hannah And Her Sisters“ auf einer 35-mm-Kopie zu sehen, war nichtsdestotrotz ein nettes Erlebnis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!


Club-Mate wird auch in Österreich verkauft, wenngleich etwas überteuert. Eine willkommene Pause zu den ganzen üblichen doppelten Espressi.


14.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Sinapupunan (Thy Womb)
Philippinen 2012, 106 Minuten
Regie: Brillante Mendoza

Eine nicht mehr blutjunge Geburtshelferin in einem philippinischen Fischerdorf ist selbst unfruchtbar und fordert ihren Mann dazu auf, sich eine neue Ehefrau zu suchen, die ihm Nachwuchs gebären kann.
Was zunächst narrativ, atmosphärisch und ästhetisch eher wackelig beginnt, entwickelt sich nach einiger Zeit zu einem exzellenten ethnographischen Tableau über Glück und Mühen des Lebens in einem isolierten Fischerdorf. Man könnte, wie etwa mein lieber Kollege luzifus, bedauern, dass der Film über weite Strecken und ganz besonders im Mittelteil seine „eigentliche Story“ und sogar seine beiden Hauptfiguren vergisst. Dieser Verlust des Fokus kann aber auch als große Chance begriffen werden, als Möglichkeit, ein umfassendes Panorama dörflichen Lebens in Südostasien in sorgfältig komponierten Weitwinkelbildern zu entfalten. Den Höhepunkt bildet die lange Vorbereitung einer Hochzeitsfeier (wohlgemerkt: nicht der männlichen Hauptfigur, sondern eines unbekannten jungen Paars) und ihre Durchführung: Einkaufen am Markt, Schlachtung der Tiere, Kochen, die religiöse Vermählung, Baderitual im Meer, die Tanz- und Sing-Zeremonie... Entrückt schöne Bilder aus einer anderen Welt. Ganz ruhig nimmt dann der Film seinen „eigentlichen“ roten Faden wieder auf.
Nebst der wunderbaren Photographie, deren zeitweilige Wackelästhetik allein der Tatsache geschuldet ist, dass der Film entweder in Booten oder auf wackligen Pfahlhütten spielt, sei hier besonders die großartige Darstellung der berühmten philippinischen Schauspielerin Nora Aunor erwähnt. Sie verleiht mit ihrem differenzierten Spiel der Figur der kinderlosen Geburtshelferin und Fischerin eine besondere Würde und Willensstärke. Ein sehr sperriger, aber schöner Film.


Dank der unbequemen Sitze herrscht kurz nach dem Film eine gewisse Unsicherheit darüber, ob ich überhaupt noch Knie und Beine besitze. In die Pause raustorkelnd lässt sich die Frage knapp bejahen. Wir nehmen uns vor, den nächsten Film mit Beinfreiheit in der ganz ersten Reihe zu sehen.


17.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Meanwhile
USA 2011, 60 Minuten
Regie: Hal Hartley

Ups! Wenn man ganz vorne sitzt, ist die Leinwand wirklich riesig. Dürfte aber zu einem kurzen Film passen.
Hal Hartley, eine Gallionsfigur des US-amerikanischen Independent-Kinos der 1990er Jahre, zeigt knapp 24 Stunden im Leben eines End-Dreißiger New Yorkers. Er fliegt aus der Wohnung seiner erheblich jüngeren Freundin raus, unterhält sich an der Brooklyn Bridge mit einer möglicherweise suizid-gefährdeten Frau, kann aufgrund einer Kontensperrung kein Geld abheben und streitet sich deshalb mit einer Gläubigerin, repariert die Schreibmaschine eines Schriftstellers in einer Bar, plant ein großes Geschäft um den Import europäischer Isolierfenster, bietet chiropraktische Hilfestellung an, tritt als Schlagzeuger bei einer Band-Audienz auf und macht noch diverse andere Sachen. Einen Roman mit dem Titel „Meanwhile“, der mindestens um die 700 Seiten hat, hat er auch schon geschrieben.
„Meanwhile“ war gewissermaßen das Gegenstück zu „Vous n‘avez encore rien vu“, der alles verkörperte, was man an Kunstkino hasst. Hartley Film hat hingegen vieles, was wir an Kunstkino mögen: eine augenzwinkernde Leichtigkeit, eine Freude am Filmemachen und an skurrilen Figuren sowie eine Bereitschaft, die Dinge einfach mal assoziativ geschehen zu lassen. Das wirkte nicht zuletzt deshalb erfrischend, weil der Film sich selbst nicht allzu ernst nimmt, und dem Zuschauer gerade deshalb erlaubt, ihn für voll zu nehmen. Vom Mut, nach einer Stunde einfach mal fertig zu sein, könnte sich manch Film eine Scheibe abschneiden. Kein unvergessliches Meisterwerk, sondern eher der nette kleine Indie-Film von nebenan (und mit nebenan meine ich natürlich: New York).


Die Beine und die Knie sind für die tolle Idee, mich in der ersten Reihe hinzusetzen, höchst dankbar. Der Nacken möchte mich hingegen am liebsten umbringen. So was nennt man wohl ausgleichende Ungerechtigkeit.
Auf dem Weg zum bislang noch unbekannten Stadtkino habe ich auf Anraten von luzifus eine Käsekrainer gegessen. Dazu ein Gösser getrunken. Es stellte sich als eine gute Möglichkeit heraus, sich für den nächsten Film zu stärken. Getrübt wurde diese Erhebung lediglich durch den wieder einmal völlig depperten Preis für Wurst und Bier und durch die Tatsache, dass Löcher in meinen Sohlen der Trockenheit meiner Füße in einem überaus regnerischen Wien nicht gerade zuträglich waren.
Auch das Stadtkino drückte mit seinen sanitären Einrichtungen das psychopathologische Malaise der Österreicher gegenüber ihren Toiletten aus, der dem demonstrativen Wienerischen Prunk diametral entgegensteht.


20.30 Uhr, Stadtkino Wien
Student
Kasachstan 2012, 90 Minuten
Regie: Darezhan Omirbayev

Es lässt sich nicht leugnen. Sowjetisches bzw. postsowjetisches Kino hat eine komplett eigene Ästhetik, die sich nur schwer erklären lässt. Verzicht auf Dialoge, absurde Situationen, unverständliche Handlungen ohne Motive und eine Kadrierung, die nur selten das zeigt, was man zu sehen erwartet...
Auch „Student“, der sechste Film des Kasachen Darezhan Omirbayev, weist diese Merkmale auf. Sein Anspruch war es, Dostoevsjkijs „Schuld und Sühne“ auf das moderne Kasachstan zu übertragen. Der titelgebende Student ist von der Transformation der Gesellschaft angeekelt: sozialdarwinistischer Egoismus wird in den Vorlesungen gepredigt, bullige Mafiosi prügeln sich herbei, was sie wollen, während Dichter und Denker in Sozialwohnungen am Rande des Existenzminimums darben. Dass der Student ausgerechnet einen unbedeutenden Kleinladen-Verkäufer und eine junge Kundin erschießt, erscheint völlig sinnlos. Von seinen Motiven erfahren wir nichts, da er von seiner Umwelt so stark entfremdet ist, dass er kaum mit ihr spricht – tatsächlich dürfte der Hauptdarsteller in 90 Minuten vielleicht allerhöchstens zwei mit Großbuchstaben bedruckte A4-Seiten an Dialogzeilen haben. Ein bizarrer und teils verstörender Film: eine Szene, in der ein Gangster mit einem Golfschläger einen Esel erschlägt, der sein Auto aus einem Flussbett gezogen hat, mutet wie viele andere wie absurdes Theater an. Trotzdem vermag „Student“ es nicht, einen mit ungebrochener Anspannung durch die ganzen 90 Minuten hindurch zu fesseln.


Auf dem Weg zum Gartenbau-Kino zurück geht der ohnehin feuchte Regen in ekelhaft matschig-nassen Schneeregen über. Die nassen Füße sorgen für eine entsprechende Stimmung und für die schlechteste Vorbereitung zum Abschlussfilm des Tages.


23.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Che Sau (Motorway)
Hongkong 2012, 90 Minuten
Regie: Soi Cheang

Ein Gangster spielt gerne mit Autos rum. Ein Polizist spielt ebenfalls gerne mit Autos rum, und sein älterer Streifendienst-Partner hat das früher auch gemacht. Dann gibt es irgendeine Flucht aus dem Gefängnis, bei der irgendein geklauter Diamant auch noch eine Rolle spielt.
Mit anderen Worten: das Drehbuch von „Che Sau“ kann man getrost in die Tonne kloppen. Auch die Figuren sind nur holzschnittartige Klischees und daher nur wenig interessant. Bleibt also die Autoverfolgungsjagd-Action. Tatsächlich stellt sich heraus, dass auch da der Regisseur keinen richtigen Bock hatte und die Arbeit einfach seiner anscheinend hyperaktiven Cutter-Crew überlassen hat. Der „Höhepunkt“ des Films ist die wahrscheinlich lächerlichste, dämlichste, bescheuerteste, unansehnlichste, unvisuellste und vor allen Dingen unübersichtlichste Autoverfolgungsjagd aller Zeiten. Ein völlig konsternierender Tagesabschluss. Dabei hatte ich mich so auf einen Autoverfolgungsjagd-Hongkong-Actioner gefreut...


Sonntag 28. Oktober 2012

Die Zeit habe ich umgestellt und wollte anschließend meinen Tagesplan über die Presse-Reservierungshotline zusammenstellen. Von 10.00 Uhr bis kurz vor 11.00 Uhr habe ich wohl mindestens ein Dutzend mal angerufen, nur um das Besetzt-Zeichen zu hören. Und genau an diesem Morgen ist mir aufgefallen, wie absurd schlecht die Viennale organisiert ist. Sogar der City-Pizza-Lieferdienst in Weimar ist mit zwei Nummern besser aufgestellt als der Presse-Service des Internationalen Filmfestivals Wien. Dies sollte sich später am Tag noch an mir rächen.


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
The Quiet American
USA/UK/Australien/Deutschland/Frankreich 2002, 101 Minuten
Regie: Phillip Noyce

Trotz zweier Kaffees intus schaute ich diesen Film mehr in einem dauerhaften Dämmerzustand als wirklich wach. Vielleicht angesichts der tropischen Hitze, des permanenten Saufens, der schwülen Liebesgeschichte und der bedrückenden politischen Lage gar nicht so unpassend. Ein Film, der meiner Meinung nach aus seinem Setting durchaus mehr hätte tun können und letztlich vor allem von der exzellenten Darstellung und der Dynamik seiner beiden Hauptdarsteller Michael Caine und Brendan Fraser lebt.


Ein Dürum-Döner, anschließend ein doppelter Espresso. Hunger gestillt. Müdigkeit nur oberflächlich angekratzt.
„They Wanted To See Something Different. Eine kleine Geschichte des Unheimlichen“ hieß bei der diesjährigen Viennale ein Spezialprogramm mit Retrospektiven-Charakter, der vom deutschen Horrorfilm-Regisseur und Filmkritiker Jörg Buttgereit vorbereitet worden ist. Unter anderem sollten Beispiele des „Kinos des Abseitigen“ wie „Cannibal Holocaust“, „The Hills Have Eyes“, „The Texas Chain Saw Massacre“ und andere gezeigt werden, die in der ganzen Welt als Klassiker gelten, in Deutschland aber teils indiziert bzw. beschlagnahmt sind. Die Terminplanung brachte uns zu einem anderen Film.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
The Thing From Another World
USA 1951, 87 Minuten
Regie: Christian Nyby

John Carpenters Splatter-Horror „The Thing“ von 1982 ist das Remake dieser Howard-Hawks-Produktion. Die Geschichte ist bekannt: ein komischer Außerirdischer taucht in einer Eisstation auf und randaliert rum.
Angeblich ist der Film deshalb so berühmt, weil man das Monster kaum je sieht. Tatsächlich taucht der Mann im lächerlichen Kostüm etwas zu oft auf. Der Rest des Films sieht bzw. hört sich wie die Adaption eines Hörspiels. So unfassbar dialoglastig und unvisuell er war, lud er dazu ein, seine Augen zu schließen und dem Sekundenschlaf nachzugeben. Ed Wood-Filme sind vielleicht noch erheblich unkohärenter, aber wenigstens sehr viel unterhaltsamer!


„Was hätte sein können, Teil 1“: nach „The Quiet American“ wäre wahrscheinlich für ein Dürum und ein Espresso keine Zeit mehr geblieben, da wir zum Gartenbau-Kino hätten rennen müssen, um folgendes zu sehen:


13.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Donovan‘s Reef
USA 1963, 109 Minuten
Regie: John Ford

Die Vorstellung, einen John-Wayne-Film von John Ford auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino zu sehen, entbehrt nicht eines gewissen Reizes... um es mal im Sinne eines Understatements auszudrücken. Nicht zuletzt terminliche Gesichtspunkte haben für „The Thing From Another World“ gesprochen, aber auch natürlich die relative Bequemlichkeit der Sitze im Metro-Kino und der ganz eigene Reiz, einen Sci-Fi-Klassiker mit Trash-Elementen auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino sehen zu können. Im Nachhinein ist man immer klüger!


Aufgrund der vorher geschilderten Reservierungsprobleme kamen wir für eine geplante Vorstellung im Urania-Kino um 16.00 Uhr nur auf die Warteliste. Ich war die Nummer 6, luzifus die Nummer 7. Um 15.55 wurde die Liste aufgerufen und die Tickets verteilt... und zwar bis zur Nummer... 5! Die beiläufige Bemerkung der Mitarbeiterin, dass wir hätten reservieren müssen, führte fast zum Amoklauf: unter Schlafmangel leidende Filmfreaks, die durch einen Overkill an Filmen und einer Überdosis an starkem Kaffee völlig zugedröhnt sind, sollte man eigentlich nicht so freimütig provozieren. Das Niederbrennen des Urania-Kinos erschien uns als Rache zwar ganz sinnvoll, zumal hier völlig überdimensionierte, ewig lange und verschwenderisch prunkvolle Treppen wieder einmal zu Toiletten führten, die das Wort Klaustrophobie neu definiert haben. Wir suchten dann aber doch nach weniger gewalttätigen Alternativen. Während luzifus für Fäkalstreiche optierte, entschied ich mich für die dadaistische Variante: ich überlegte, bei City Pizza Weimar eine Bestellung für das Urania-Kino in Wien aufzugeben. Was schließlich folgte, war ein Aufenthalt in unserem Lieblingscafé bei starkem Kaffee und leckerem Kuchen. Leider auch keine richtige Alternative zu „Was hätte sein können, Teil 2“:


16.00 Uhr, Urania-Kino Wien
Killer Joe
USA 2011, 103 Minuten
Regie: William Friedkin

Am 2. November erscheint der Film in Deutschland auf DVD und Blu-Ray. Insofern zeugt auch „Killer Joe“ davon, dass die Viennale nicht immer das Allerfrischeste an Filmen präsentiert. Eine überaus sprachgewaltige, metaphernreiche  und lustmachende Kritik, die wir im Zug in Richtung Wien gelesen hatten, versprach jedoch ein lustig-durchgeknallt-krankes Kinovergnügen. Stattdessen also: bis bald auf DVD.


18.30 Uhr, Filmmuseum Wien
Man Hunt
USA 1941, 100 Minuten
Regie: Fritz Lang

Noch einmal etwas mit Lang und Nazis. Diesmal dreht sich die Geschichte um den Briten Thorndike, der an der deutsch-österreichischen Grenze mit einem Zielfernrohr-Jagdgewehr unterwegs ist und Adolf Hitler ins Visier nimmt (ein früher und spannender POV durch ein Fernrohr mit Fadenkreuz). In Gefangenschaft geraten, wird der Jäger gefoltert und dazu animiert, ein Geständnis zu unterschreiben, wonach er im Auftrag der britischen Regierung Hitler ermorden sollte. Dies lehnt er ab und kann schließlich fliehen. Doch die Nazis heften sich dicht an seine Fersen.

Ein eher unbekannterer Film des Meisters, der wegen seiner eindeutigen Anti-Nazi-Haltung in den damals noch neutralen USA nur ungern gesehen wurde, zumal auch noch das Production Code Office an der Figur der Prostituierten, die Thorndike bei der Flucht hilft und sich in ihn verliebt, Anstoß nahm. Eine Nähmaschine musste also in ihr Zimmer gestellt werden, damit der Zuschauer sie für eine Näherin hielt!
Ganz ohne die großen Ambitionen von „Hangmen Also Die!“, der vergleichsweise sperriger ist, inszenierte Fritz Lang hier einen überaus spannenden Hetzjagd-Thriller, der von den herrlichen komödiantischen und romantischen Szenen mit der Cockney-sprechenden Prostituierten aufgelockert wird – teilweise gar zu stark. Was an psychologischen Tiefgang fehlt, macht Lang mit seinen kontrastreichen Hell-Dunkel-Kompositionen wieder wett. Der Action-Höhepunkt ist eine Verfolgungsjagd in der Londoner U-Bahn, die mit einem tödlichen Kampf auf der Fahrtbahn endet. „Man Hunt“ ähnelt ein wenig dem ein Jahr zuvor präsentierten „Foreign Correspondent“ Alfred Hitchcocks, und sollte den Vergleich keineswegs scheuen.


Vor dem nächsten Fritz-Lang-Film mit Hitchcock-Vergleichs-Potential ging es in eine eisige Kälte raus, um bei einer Würstchen-Bude um die Ecke den cinephilen Hunger zu stillen. Ein Filmmuseum-Espresso später konnte es dann auch weiter gehen.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Secret Beyond The Door
USA 1947, 99 Minuten
Regie: Fritz Lang

Blaubart trifft auf Fritz Lang trifft auf Hitchcocks „Rebecca“: Eine junge Frau in Trauer namens Celia – sie hat gerade ihren Bruder verloren – heiratet Hals über Kopf den dahergelaufenen Architekten Mark. Schnell merkt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist: die Hochzeitsnacht läuft im weitesten Sinne „unbefriedigend“, Mark verheimlicht seine geschäftlichen Probleme, in seinem Anwesen tauchen plötzlich skurrile Figuren wie eine überaus dominante Schwester, ein nicht erwähnter Sohn aus erster Ehe, eine Sekretärin mit entstelltem Gesicht sowie der Geist einer wohl nicht ganz natürlich verstorbenen ersten Ehefrau auf und der Ehemann sammelt gerne Zimmer, in denen berühmte Morde stattgefunden haben. Kein Wunder, dass in jeder Szene mindestens einmal ein Schatten Joan Bennetts Gesicht verdeckt.

„Secret Beyond The Door“ ist ein Film, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass mehr dahinterstecken könnte oder sollte. Tatsächlich sollte ursprünglich das Voice-Over von Celias innerer Stimme nicht von der Celia-Darstellerin Joan Bennett gesprochen werden, sondern von einer anderen Frau, um damit die Zerrissenheit der Hauptfigur auf beunruhigendere Weise deutlich zu machen. Auch der Schluss vermag angesichts seiner fast konsternierenden Banalität kaum zu überzeugen. Dies wiegt umso mehr, als dass der konsequent aus der Sicht Celias erzählte Film etwa 20 Minuten vor Schluss – nach einer Bedrohungssituation mit offenem Ende – die Perspektive radikal ändert und Mark zum Erzähler macht. Für einige wahrhaftig großartige Minuten verläuft „Secret Beyond The Door“ in einer Art schlafwandlerischen und verrückten Autopilot voller Ambivalenzen, löst sich dann aber leider wieder in Wohlgefallen auf, statt konsequenter und mutiger im kompletten Wahnsinn zu enden.
Aus dem Vergleich mit dem thematisch und atmosphärisch sehr ähnlichen „Rebecca“ (der sich freilich ebenso am Schluss in Wohlgefallen auflöst) geht „Secret Beyond The Door“ eindeutig als Verlierer hervor. Zurück bleibt kein schlechter Film, aber einer, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass er sein Potential nicht ausgenutzt hat. 


Antriebslos und müde raus. Was nun?


23.30 Uhr, Urbania-Kino Wien
Gimme The Loot
USA 2012, 81 Minuten
Regie: Adam Leon

Was es so mit „Gimme The Loot“ auf sich hat, habe ich vorerst nicht erfahren. Er hätte als letzte Spätvorstellung noch gut gepasst. Müdigkeit und unsichere U-Bahn-Pläne haben letztlich dazu geführt, dass die letzten physischen Ressourcen für die Suche nach einer Kneipe verwendet wurden... für ein überteures und nicht übermäßig gutes Bier... Gute Nacht und wieder aufstehen um 07.00 Uhr, diesmal für die Heimfahrt.


Fazit
Insgesamt hatte ich ein bisschen mehr von der Viennale erwartet. Richtige Knaller jenseits der Retrospektiven sind im Grunde ausgeblieben und irgendwie blieb das unangenehme Gefühl, dass der beste aktuelle Film dieser Reise... „Skyfall“ war. „Sinapupunan“, „Meanwhile“ und „Student“ waren bestimmt sehr interessante Filme, die jedoch eine Reise von über 700 Kilometern (bzw. über 1500 Kilometern mit Rückfahrt) nicht vollends zu rechtfertigen vermögen. Der Anteil der absoluten Totalgurken war mit einem Film pro Tag gut sichtbar, während das wohlige Gefühl, mehrere Filme auf 35-mm-Kopien zu sehen, meine subjektive Bewertung der Filme selbst oft übertraf – von „The Shining“ abgesehen. Ich kann mich jedoch sehr über meine Fortschritte im Bereich des „Amerikaners Fritz Lang“ freuen. Vor drei Jahren hätte ich mich wohl noch zu der blödsinnigen, banausigen und vorurteilsbeladenen Aussage verführen lassen, dass Fritz Lang in den USA nur noch Grütze inszeniert hat. Im Rahmen einer persönlichen film noir-Retrospektive habe ich dieses Jahr mit „Scarlet Street“ und „The Big Heat“ einen überaus interessanten und spannenden Fritz Lang jenseits von „Metropolis“ und „M“ entdeckt. Die vier bei der Viennale gesichteten Langs haben meine Absicht bekräftigt, mich mehr mit seinen „Amerikanern“ zu beschäftigen, die schließlich quantitativ fast zwei Drittel seines Oeuvres umfassen. Das ist immerhin etwas. Eine Wiederholung der Reise dürfte also vom Retrospektiven-Programm abhängen... denn Wien wird bis dahin nicht günstiger werden und seine Toiletten wahrscheinlich nicht geräumiger.