Sonntag, 22. September 2013

Ein siebenbürgischer Emigrant in Mexiko


EL VAMPIRO
Mexiko 1957
Regie: Fernando Méndez
Darsteller: Ariadna Welter (Marta), Abel Salazar (Dr. Enrique), Germán Robles (Duval), Carmen Montejo (Eloisa), Alicia Montoya (María)


Die junge Marta reist zum Landgut ihrer Tante María, die gerade im Sterben liegt. Am Bahnhof ist jedoch niemand da, um sie abzuholen und so kommt sie mit einem anderen Reisenden ins Gespräch, der ohne Mitfahrgelegenheit da steht: Dr. Enrique. Da sie beide nicht am Bahnhof übernachten möchten, überzeugen sie nur mit großer Mühe einen Kutscher, sie ein Stück weit mitzunehmen. An einer Weggabelung werden sie höchst unfreundlich weggeschickt. Auf dem Landgut stellt sich heraus, dass Martas Tante María verstorben ist und bereits beerdigt wurde. Als Erbin der Hacienda muss Marta nun entscheiden, was mit dem bereits stark verfallenden und verödenden Gebäude passieren soll. Ihre Tante Eloisa bedrängt sie höchst penetrant dazu, die Immobilie zu einem Freundschaftspreis an den adeligen Nachbarn Duval zu verkaufen. Das tut die düstere Tante durchaus in eigenem Interesse: Duval ist nämlich nicht nur ihr Liebhaber, sondern wie sie selbst auch ein Vampir...

Die Menschen (oben): Marta und Dr. Enrique
Die Vampire (unten): Eloisa und Duval
Ein Vampirfilm aus Mexiko – das klingt zunächst einmal ziemlich exotisch und abgefahren. Ist es aber eigentlich nicht wirklich. Denn Horrorfilme haben im mexikanischen Kino schon seit den 1930er Jahren eine eigene Tradition. Diese ist vor allem verbunden mit dem Namen Juan Bustillo Oro, der in diesem Jahrzehnt zahlreiche Drehbücher schrieb und Filme inszenierte, die in Mexiko großen Erfolg hatten, jedoch außerhalb des Landes kaum wahrgenommen wurden. In den 1950er Jahren erlebte das mexikanische Kino eine zweite Horrorfilm-Welle, und an dieser war Fernando Méndez maßgeblich beteiligt. Méndez wurde 1908 in eine bereits recht filmaffine Familie geboren: Sein Onkel, Francisco Garcia Urbizu, war in den 1920er Jahren Stummfilmregisseur. Méndez selbst ging Anfang der 1930er Jahre in die USA, wo er das Filmhandwerk erlernte, kehrte dann in seine Heimat zurück und inszenierte 1939 seinen ersten Film. In den 1950er Jahren wurde er zu einem der produktivsten Regisseure Mexikos: zwischen 1950 und 1961 drehte er 36 Filme – Komödien, Westerns, Musicals, und eben auch Horrorfilme. Nur kurze Zeit vor EL VAMPIRO erzielte sein LADRÓN DE CADÁVERES ein Sensationserfolg in den mexikanischen Kinos. In diesem Film ermitteln ein Detektiv und ein Wrestler gegen einen verrückten Wissenschaftler, der Sportlern Tiergehirne einpflanzt. Mit diesem Film trug Méndez auch wesentlich zum mexikanischen Sub-Genre des Lucha-Libre-Horrorfilms bei: Horrorfilme, in denen Wrestler maßgebliche Figuren sind. Sein EL VAMPIRO, tatsächlich nur eine Woche nach LADRÓN DE CADÁVERES veröffentlicht, war ein ebenso großer Erfolg in Mexiko und zog ein Sequel nach sich (EL ATAÚD DEL VAMPIRO, 1958). Wegen Gesundheitsproblemen zog sich Méndez 1961 aus dem Filmgeschäft zurück, und verstarb fünf Jahre später an einem Herzinfarkt in Mexico City.

EL VAMPIRO, in Mexiko ein Sensationserfolg, erlitt im Ausland ein etwas unglückliches Schicksal. Die Hammer Film Productions in Großbritannien lancierten etwa zeitgleich ihre äußerst erfolgreiche Dracula-Reihe mit Christopher Lee, beginnend mit DRACULA, der seine US- und UK-Premieren über ein halbes Jahr nach der Mexiko-Premiere von EL VAMPIRO feierte. Der internationale Vertrieb des mexikanischen Kassenschlagers jedoch zog sich wesentlich länger hin, als diese wenigen Monate. Als EL VAMPIRO also schließlich auch in nordamerikanische und europäische Kinos kam, hatte das dortige Publikum schon längst den DRACULA mit Christopher Lee kennen und lieben gelernt. Gegenüber dem britischen Technicolor-Film wirkte der mexikanische Schwarzweiß-Film durch das höchst ungünstige Timing wie ein Billig-Abklatsch der Hammer-Produktion, obwohl er in Wirklichkeit als erster gedreht worden war!

Deep focus photography & intradiegetische Rahmen
Die bemerkenswerten ästhetischen Qualitäten des lateinamerikanischen Vampirfilms blieben deshalb jahrelang eher unbeachtet. Vom Drehbuch her ist EL VAMPIRO eher schwach: es ist bestenfalls als solides Mittelmaß zu bezeichnen, und auch die Figuren wirken größtenteils wie grobe Klötze aus dem Genre-Baukasten. Umso bemerkenswerter sind die ausdrucksstarken Bilder, die Méndez mit seinem Kameramann Rosalío Solano und seinem Setdesigner Gunther Gerszo geschaffen hat und deren Wirkung durch Gustavo César Carrións dramatische Musik noch verstärkt wird. EL VAMPIRO geht vollkommen in seinen bedrohlichen Bildern und seiner brodelnden Atmosphäre auf. Die Welt des Films spielt in höchst künstlichen, barocken Studiobauten, die mit Nebel durchflutet und mit zahllosen vollen Spinnweben verhangen sind, erleuchtet in starken Hell-Dunkel-Kontrasten.

Das Landgut, in dem der größte Teil der Handlung spielt, inszenieren die Macher praktisch als eigenständige Filmfigur, als drohendes Monstrum, das die Figuren geradezu zu verschlucken droht: in zahlreichen Totalen (besonders in den Innenhof-Szenen) werden sie zu „Winzlingen“ degradiert, und von intradiegetischen Rahmen noch zusätzlich bedrängt. Letzteres ist ein Stilmittel, das 35 Jahre zuvor schon Friedrich Wilhelm Murnau in NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS ausgiebig im Prototyp des Vampirfilms eingesetzt hatte. In EL VAMPIRO verbindet Méndez dieses Mittel mit einer sehr ausladenden Raumtiefe. Die Analogien zum Stummfilm erschöpfen sich allerdings nicht nur darin, dass er allgemein ein „expressionistisches“ Feeling hat. Vielmehr hat Méndez‘ Film auch ausgedehnte, minutenlange Passagen ohne jegliche Dialoge und mit gedämpfter Geräuschkulisse, in denen die Handlung ausschließlich durch die Bilder, die Montage, die teils sehr komplexen Kamerafahrten und die Musik vorangetrieben werden. Man könnte natürlich sagen, dass auch die Spezialeffekte auf dem Niveau von Stummfilmen sind: die technischen Unzulänglichkeiten sind kaum zu übersehen (die Modell-Fledermäuse sind recht „putzige“ Stoffknäuel und die Fäden, an denen sie gezogen werden, sind klar sichtbar), allerdings dürfte man sie bei der schieren visuellen Fantasie, die der Film sonst aufzubieten hat, rasch vergessen. Denn EL VAMPIRO ist durch und durch ein 80-minütiger visueller Leckerbissen.

Höchst interessant ist auch, wie der Film den Vampir, ein europäisches Konstrukt, und seinen metaphorischen Anhang sehr glaubwürdig in einen spezifisch mexikanischen Kontext einbettet. EL VAMPIRO spielt nicht in einem nachgebauten Europa, sondern in einem nachgebauten ländlichen Mexiko, wo starker Katholizismus und bäuerlicher Volks-Aberglaube einen guten und natürlichen Nährboden für den Vampirismus bilden. Das wird besonders in der beeindruckenden Begräbnis-Sequenz zu Beginn sehr deutlich. Der Blutsauger-Mythos, auch eine Metapher für den Untergang des Adels in der bürgerlichen Gesellschaft, wirkt in einer verfallenden mexikanischen Hacienda nicht weniger plausibel als auf dem Landsitz eines Adeligen in Osteuropa. Dass der Hauptvampir des Films letztendlich doch ein Emigrant aus Siebenbürgen ist und seine ungarische Erde in Holzkisten importieren muss, bestätigt eigentlich nur den Befund, wie anpassungsfähig so ein Blutsauger doch ist.

Spukige Gestalten in der Hacienda
Selbstironie?
Wo man auch hinsieht: überall beigesetzte Méndez-Angehörige in der Familiengruft
Ein Film voller expressiver Bilder

EL VAMPIRO ist gibt es in britischer, italienischer, deutscher und US-amerikanischer DVD-Edition. Ich persönlich kann die deutsche Edition von Subkultur Entertainment nur wärmstens empfehlen: solide Bild- und Tonqualität, hübsche Aufmachung, dazu ein schönes Booklet mit einem Essay von Caspar Lein, dem ich einige Informationen für diese Besprechung verdanke.
Noch eine kleine Bemerkung: gemäß imdb dauert der Film 95 Minuten, und wurde in Großbritannien in einer 84-Minuten-Fassung veröffentlicht. Es wäre also zu vermuten, dass es eine einheimische mexikanische Fassung gibt, und für die internationale Auswertung eine kürzere Version erstellt worden ist. Tatsächlich aber dauern alle DVD-Fassungen, die ich gefunden habe, 84 Minuten bzw. (mit Frame-Rate-Unterschied) 80 Minuten. Gemäß ofdb dauert gerade auch die Fassung auf der mexikanischen DVD nur 84 Minuten. Hiermit seien also die Spekulationen eröffnet: gab es tatsächlich unterschiedliche Cuts und die mexikanische 95-Minuten-Urfassung ist verschollen? Gab es eine Vorpremieren-Fassung, die kurz vor der Auswertung in Mexiko noch umgeschnitten wurde (und auch verschollen ist)? Oder irrt sich imdb?

4 Kommentare:

  1. Sehr interessantes Thema, der mexikanische (oder überhaupt lateinamerikanische) Horrorfilm. Von Tod Brownings DRACULA entstand ja gleichzeitig die spanischsprachige Alternativversion DRÁCULA, die wohl auch hauptsächlich auf den mexikanischen Markt zielte. Vielleicht hat dieser Film ja dazu beigetragen, den ersten Boom in den 30er Jahren auszulösen.

    Die Screenshots vermitteln wirklich den Eindruck, dass da sehr gekonnt mit der Kamera gearbeitet wurde. Von den (wenigen) mexikanischen Filmen aus dieser Periode, die ich kenne, fällt mir zum Vergleich am ehesten MACARIO ein, mit keinem Geringeren als Gabriel Figueroa an der Kamera, aber der ist viel mehr Märchen- als Horrorfilm.

    Duval in der Frontalansicht erinnert mich etwas an Chaplin in LIMELIGHT oder MONSIEUR VERDOUX, aber wahrscheinlich legt sich das aus anderen Blickwinkeln.

    Ach ja: Dass es Vampire in Mexiko gibt, ist doch überhaupt nichts besonderes. Haben sie sich doch sogar in ein islamisches Land wie Pakistan vorgewagt ...

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    1. Dass die Universal-Horrorfilme mitverantwortlich sein könnten für die erste mexikanische Horrorfilm-Welle ist, klingt durchaus plausibel.
      Von Méndez habe ich vor wenigen Tagen auch MISTERIOS DE ULTRATUMBA gesehen (wenn auch in sehr müder Verfassung). Anderer Kameramann, gleicher Setdesigner, ähnlich ausdrucksstarke Bilder (unter anderem eine beeindruckende Ball-Szene mit schwarz sillhouettierten Tänzer in einem komplett leeren, weißen Raum). Das Drehbuch (gleicher Autor: Ramón Obón) war jedoch wieder ähnlich hanebüchen (irgendwas mit Spiritisten, und einem entstellter Mörder, und einer Serienkilerin in einem Irrenhaus, die sich aus unerfindlichen Gründen in die Haare kriegen). Aber das machte nichts, denn die Bilder waren wundervoll. Mexikanische Horrorfilme aus den 1950er Jahren sollte man also grundsätzlich gut im Auge behalten ;-)
      An Chaplin habe ich bei der Sichtung von EL VAMPIRO zu keinem Zeitpunkt gedacht. Von seiner ganzen Art her ähnelt Germán Robles tatsächlich (dem späteren) Christopher Lee.
      DRACULA IN PAKISTAN habe ich irgendwo auf VHS rumliegen (habe die arte-Ausstrahlung damals aufgezeichnet), aber noch nicht gesehen - u.a. weil in der Zwischenzeit der VHS-Player den Geist aufgegeben hat. Scheint aber wohl eher ein can-see als ein must-see zu sein.

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  2. Lieber David, vielen Dank für diesen ausführlichen Text! Für einen Gothic Horror-Aficionado wie mich bietet Mexiko in der Tat eine wahre Fundgrube an stimmungsvollen, atmosphärischen Filmen und es treten ständig neue ans Tageslicht, es scheint wie ein Fass ohne Boden und ich würde behaupten, in den 50er und 60er Jahren dürfte Mexiko was die reine Anzahl dieser Art von Filmen betrifft, die USA, England und Italien weit hinter sich lassen. Im VAMPIRO mochte ich besonders die Metamorphose des Vampirs zu einem vertikalem schwarzem Strich, das mag zwar eine aus Kostengründen entstandene Kompromißlösung gewesen sein, verleiht dem ganzen aber eine reizvoll irreale Note. Sehr zu empfehlen sind auch einige Werke von Benito Alazraki (MUNECOS INFERNALES und ESPIRITISMO, seine Version der "Affenpfote"), Chano Urueta (EL BARON DEL TERROR und THE WITCH'S MIRROR), sowie Rafael Balédon (LA MALDICIÓN DE LA LLORONA, LA LOBA, MUSEO DEL HORROR) - die "Llorona" (weinende Frau) ist übrigens ein genuin mexikanisches Horrormotiv, das auch bereits 1933 von Ramón Peón eine Filmadaption enthielt. Das sympathische US-Label CASANEGRA brachte einige dieser Filme in feinen Editionen auf DVD heraus, ging aber leider schnell pleite - hier und da bekommt man noch ein Exemplar, aber scheinbar werden auch ihre Master wie in der dt. Fassung von VAMPIRO weiterverwendet, so daß es nicht ganz umsonst war.
    MACARIO finde ich auch ganz fantastisch! Regisseur Gavaldón drehte 1951 mit EN LA PALMA DE TU MANO einen großartigen Noir-Thriller, der sich vor den amerikanischen Meisterwerken der Periode nicht zu verstecken braucht. Und, wo ich einmal dabei bin: PEDRO PÁRAMO, eine Juan Rulfo-Verfilmung von Carlos Velo, ist auch ganz toll.
    Pardon, wenn ich mich etwas in Rage geschrieben habe, ist halt eins meiner Lieblingsthemen (und bin gespannt auf das angekündige Buch VAMPIROS Y MONSTRUOS von Mirek Lipinski, das sich allein dem mexikanischem Horrorfilm widmet) - erneut: Vielen Dank für den Text!

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    1. Dir, Alex, vielen lieben Dank für den kenntnisreichen und weiterführenden Kommentar. Ich selber habe mich ja als Mexiko-Laie an die Besprechung wagen müssen: abgesehen von einigen Buñuels und einigen 2000er-Episoden-Filmen (Iñárritu & co.) kenne ich das mexikanische Kino bislang nur unzureichend. Vielleicht bringen cinephile Kleinlabels wie Subkultur auch in Zukunft mehr Filme aus diesem Land heraus.
      Für die, die EL VAMPIRO noch nicht gesehen haben:
      "Im VAMPIRO mochte ich besonders die Metamorphose des Vampirs zu einem vertikalem schwarzem Strich, das mag zwar eine aus Kostengründen entstandene Kompromißlösung gewesen sein, verleiht dem ganzen aber eine reizvoll irreale Note." den entsprechenden Screenshot gibt es im letzten Bild, unten rechts.

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