Montag, 25. Februar 2013

Das Arbeiterkollektiv und der gerechte Mord

LE CRIME DE MONSIEUR LANGE (DAS VERBRECHEN DES HERRN LANGE)
Frankreich 1935
Regie: Jean Renoir
Darsteller: René Lefèvre (Amédée Lange), Florelle (Valentine), Jules Berry (Batala), Sylvia Bataille (Edith), Nadia Sibirskaïa (Estelle), Maurice Baquet (Charles), Marcel Lévesque (M. Beznard, Concierge), Henri Guisol (Meunier jr.)

Valentine beginnt ihre Erzählung
Mitte der 30er Jahre war Jean Renoir politisch weit nach links gerückt, und LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war der erste Film, in dem das seinen Ausdruck fand. Während etwa noch in TONI die Arbeitsbedingungen im Steinbruch und die allgemeinere Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln keine Rolle spielten, stand letzteres Thema im Mittelpunkt des Interesses von LE CRIME DE MONSIEUR LANGE. Doch mit seiner glänzenden Charakterisierungskunst und der weit fortgeschrittenen Beherrschung der kinematographischen Technik lieferte Renoir kein dröges Thesenstück, sondern ein lebendiges Drama, das Versatzstücke verschiedener Genres geschickt und unterhaltsam kombiniert. - Im äußersten Norden Frankreichs braust ein Wagen bis kurz vor die belgische Grenze, setzt ein junges Paar ab und verschwindet wieder. In einem Gasthof, der sich etwas hochtrabend Hotel de la Frontière nennt, nehmen die beiden ein Zimmer, was in der Gaststube eine erregte Diskussion auslöst: Man hat gerade auf einem Steckbrief das Gesicht des Mannes gesehen - er wird wegen Mordes gesucht. Der Sohn des Wirts drängt dazu, die Polizei zu verständigen, nicht nur wegen der Bürgerpflicht, sondern vor allem wegen der ausgesetzten Belohnung. Andere raten dazu, sich nicht einzumischen, oder zumindest erst einmal abzuwarten, bis man mehr weiß. Während der gesuchte Monsieur Lange erschöpft ins Bett sinkt und eindöst, geht seine Begleiterin Valentine zurück in den Schankraum, und sie erkennt sofort, worum sich die schlagartig verstummte Unterhaltung drehte. Unumwunden gibt sie zu, dass Lange den Mord begangen hat, und dann beginnt sie zu erzählen, wie es zu der Tat kam.

Lange klärt Valentine über Arizona auf (wo er nie war)
Rückblende: Ungefähr ein Jahr zuvor in Paris. Amédée Lange ist ein äußerst begeisterungsfähiger, aber vorerst erfolgloser Verfasser von Wildwestgeschichten um den Helden "Arizona Jim", die er in seiner Freizeit schreibt, indem er sich die Nächte um die Ohren schlägt. Tagsüber ist er Angestellter von Monsieur Batala, der einen Groschenheft-Verlag besitzt, statt Langes Westerngeschichten jedoch lieber eine Krimi-Reihe druckt. Batala ist ein übler Patron, der jedermann ausnutzt und manipuliert. Er bezahlt seine Angestellten schlecht, er haut seine Geschäftspartner und Werbekunden übers Ohr, er betatscht jede hübsche Frau, die in seine Nähe gerät. Auch sonst sind seine Hände ständig in Bewegung und dienen neben seinen Redeschwällen der Kontrolle und Manipulation seiner Mitmenschen. Von allen Charakteren in Renoir-Filmen ist Batala einer der negativsten. Es lässt sich aber auch nicht abstreiten, dass er Charme und Charisma besitzt, dass er eine gewisse Faszination ausübt. Mit einer nur leichten Akzentverschiebung hätte man aus ihm auch einen Hallodri, einen sympathischen Antihelden machen können - so aber ist er ein Stinkstiefel, ein Schmarotzer in jeder Beziehung.

Batala zieht einen Kunden über den Tisch
Batalas Verlagsräume mit der dazu gehörigen Druckerei liegen an einem kleinen Innenhof, ebenso wie eine Wäscherei, die Valentine gehört, Langes kleine Wohnung sowie weitere Wohnungen. Valentine, die früher einmal Batalas Geliebte war, aber jetzt gründlich von ihm kuriert ist, hat ein Auge auf Lange geworfen, aber der ist etwas schüchtern und unsicher im Umgang mit Frauen, und er sträubt sich. Im Erdgeschoß neben der Wäscherei residiert der Concierge Monsieur Beznard, ein reaktionärer alter Griesgram, der ständig von seiner Militärzeit im Indochinakrieg schwärmt. Sein Sohn Charles liebt Estelle, eine von Valentines vier Büglerinnen, aber die Liebe liegt vorerst auf Eis, denn Charles liegt mit einem gebrochenen Bein zuhause, und seine Mutter verhindert Estelles Zugang zu ihm mit Hilfe falscher Behauptungen (und ihrer Körperfülle). Charles' Zimmer ist ein dunkles Loch, denn sein einziges Fenster zum Hof wird durch eine große Plakatwand verstellt, die Batalas Krimi-Reihe bewirbt. Der Innenhof und die angrenzenden Räumlichkeiten werden von Renoir als ein dicht bevölkerter Mikrokosmos inszeniert, der von der äußerst beweglichen Kamera geradezu aktiv erforscht wird.

Estelle und Valentine
Trotz seiner Machenschaften gehen Batalas Geschäfte schlecht, und er hat überall Schulden. Einen Abgesandten seines Hauptgläubigers Meunier kann er bestechen, aber schon steht der nächste auf der Matte, der sich beschwert, dass seine "Ranimax-Pillen" nicht wie vereinbart in Batalas Heften beworben werden. Um den Mann abzuwimmeln, hat Batala eine Eingebung: Er präsentiert ihm den verdutzten Lange als einen genialen Autor, den neuen Victor Hugo, und "Arizona Jim" als die kommende literarische Sensation und somit als idealen Werbeträger. Verwirrt vor Freude darüber, dass "Arizona Jim" jetzt endlich gedruckt wird, lässt sich Lange über den Tisch ziehen, und er tritt unwissentlich alle Rechte daran an Batala ab. Um seinen Erfolg abzusichern, schickt Batala seine Sekretärin und derzeitige Geliebte Edith zu dem Ranimax-Mann mit dem eindeutigen Auftrag, mit ihm zu schlafen, und Edith, die einzige weit und breit, die Batala mag, lässt sich darauf ein. Kaum ist sie gegangen, bedrängt und verführt er Estelle. Der Ranimax-Coup bringt nur einen kurzen Aufschub, denn jetzt möchte ein Inspektor von der Polizei Batala sprechen, und der findet, dass es Zeit ist, vorübergehend unterzutauchen. Er packt hastig seine Koffer und fährt mit der Eisenbahn aufs Land. Doch da bringt das Radio die Nachricht, dass es zu einem Zugunglück mit vielen Toten kam, und Batala ist unter den Opfern, während etliche Überlebende unter Schock den Unglücksort verließen, ohne ihre Identität registrieren zu lassen.

Lange lässt sich von einer Straßenhure abschleppen
Die Belegschaft fasst sich ein Herz: Statt sich neue Arbeitsstellen zu suchen, gründen sie eine Kooperative, um den Verlag und die Druckerei in Eigenregie weiterzuführen. Da trifft es sich gut, dass der vermeintliche Polizeiinspektor in Wirklichkeit Batalas Cousin und einziger Verwandter ist, der aus Gründen, die er nur dunkel andeutet, aus dem Polizeidienst geflogen ist. Er ist weder in der Lage noch willens, als Erbe den neuen Chef zu spielen, und er lässt die Kooperative gewähren, wenn er nur selbst einen Job bekommt. Schwieriger gestalten sich die Verhandlungen mit den Gläubigern, die die Firma liquidieren wollen, um ihre Forderungen zu bedienen. Den Ausschlag gibt Monsieur Meunier jr., der Sohn des Hauptgläubigers, der seinen erkrankten Vater vertritt. Der junge Meunier ist auf seine Art ein ebenso enthusiastischer Mann wie Lange, und er lässt sich von der Begeisterung für die Kooperative mitreissen, ohne genau zu wissen, was eine Kooperative überhaupt ist. Lange und seine Kollegen reissen jetzt Batalas Plakatwand im Hof nieder - ein ebenso pragmatisch-nützlicher (für Charles, der jetzt endlich Tageslicht und frische Luft hat) wie symbolischer Akt. Das führt auch indirekt dazu, dass Charles und Estelle endlich zueinander finden. Auch Valentine schafft es jetzt, den sichtlich selbstbewusster gewordenen Lange zu erobern. Und selbst der bisher so unleidliche Beznard schließt seinen Frieden mit der Kooperative und wird ein Teil der Gemeinschaft. Im Lauf der nächsten Wochen und Monate führt die Kooperative durch die gemeinsame Anstrengung den Verlag zum Erfolg, und "Arizona Jim" ist der neue Renner, der reissenden Absatz findet, während Batalas alte Krimi-Reihe eingestellt wird.

Batala und Edith
Auf dem Höhepunkt des Erfolgs hat Meunier eine Idee: Er will einen Film mit Arizona Jim produzieren, und aus diesem Anlass wird eine feucht-fröhliche Feier organisiert. Unterdessen taucht Batala in der Soutane eines Priesters in Paris auf. Er hatte sich im Zug mit einem Priester unterhalten, der dann offenbar unter den Opfern war, so dass er seine Kleider entwenden und ihm seine eigenen Papiere unterschieben konnte. An einem Zeitschriftenkiosk benutzt er seine Verkleidung, um ein kostenloses Exemplar von "Arizona Jim" zu ergaunern, und er "leiht" sich noch Geld, das er natürlich nie zurückzahlen wird - er ist also noch derselbe Schmarotzer wie eh und je. Während sich auf dem Fest der angeheiterte Beznard als Stimmungskanone entpuppt, geht Lange kurz ins Büro, um eine Idee für den Film aufzuschreiben, und überascht dabei Batala, immer noch als Priester verkleidet. Der schockierte Lange will Batala mit etwas Geld dazu bringen, wieder zu verschwinden, doch dieser macht unmissverständlich klar, dass er alles will: Mit dem von der Kooperative erwirtschafteten Geld wird er seine Schulden bezahlen und wieder die Herrschaft im Betrieb antreten. Über Lange und die Kooperative macht er sich nur in zynischer Weise lustig. Im Gehen sagt er noch spöttisch, wenn Lange das verhindern wolle, müsse er ihn schon umbringen. Im Hof begegnet er Valentine, und er kann nicht anders, als sie anzubaggern. Das verschafft dem zunächst völlig konsternierten Lange die nötige Zeit. Nachdem er aus seiner Lethargie erwacht ist, geht er mit der Pistole aus Batalas Schreibtisch hinterher und schießt ihn auf dem Hof ohne große Worte nieder. Während der sterbende Batala im Priestergewand ironischerweise nach einem Priester verlangt, kommt als nächstes Meunier hinzu. Er rät Lange, sofort zu verschwinden, und bietet seine Hilfe an. Es ist Meunier, der Lange und Valentine am nächsten Tag an der Grenze absetzt.

Batala "leiht" sich Geld von Beznard, bevor er untertaucht
Damit ist Valentines Bericht beendet, und die Dörfler im Gasthaus, die als eine Art inoffizielle Geschworenenjury zugehört haben, müssen nicht lange beraten: Sie liefern Lange, der die Erzählung seiner Geschichte komplett verschlafen hat, nicht der Polizei aus, sondern sie geleiten ihn und Valentine zur Grenze, wo sie am Strand entlang in die Freiheit waten. - "Dieser Film basiert auf der Idee, dass jeder Mensch, der sich einen Platz in der Gesellschaft erobert hat, und der sich dieser Position würdig erweist, das Recht hat, diesen Platz zu behalten und ihn gegen jeden zu verteidigen, der ihn ihm wegnehmen will, auch wenn dieser Dieb seine Aktionen auf Gesetze gründet." (aus der Präambel der ersten Drehbuchfassung, abgedruckt in André Bazins Renoir-Buch). Angesichts der Tatsache, dass LE CRIME DE MONSIEUR LANGE vor Leben überquillt und auch der Humor nicht zu kurz kommt, könnte man fast übersehen, dass es sich nebenbei auch um ein Lehrstück im Brechtschen Sinne handelt. Die Verbindung zu Brecht ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Renoir und Brecht waren befreundet, und sie trafen sich in den 30er Jahren regelmäßig, wenn Brecht aus seinem Exil in Dänemark nach Paris fuhr, auch 1935, während LE CRIME DE MONSIEUR LANGE vorbereitet wurde. Man kann den Mikrokosmos des Films als Modell für die französische Gesellschaft insgesamt sehen. Damit liegt MONSIEUR LANGE auf einer Linie mit den Vorstellungen der linken Front populaire, deren Anhänger Renoir war (ich werde in der Besprechung von LA VIE EST À NOUS auf die Front populaire zurückkommen, deshalb hier nicht mehr dazu).

Valentine macht Fortschritte bei Lange
Die erste Drehbuchfassung schrieben Renoir und Jean Castanier (in den Credits Castanyer geschrieben), nach einer Idee von Castanier. Castanier war ein mit Renoir befreundeter spanischer Maler, der, wie Renoir scherzhaft schrieb, zu faul zum Malen war, und er war auch Set-Designer bei BOUDU, CHOTARD ET CIE (1932) und MONSIEUR LANGE. Das Stück hieß ursprünglich Sur la cour ("Auf" oder "Über dem Hof"), was die Tatsache widerspiegelt, dass der Innenhof den Brennpunkt des Geschehens bildet. Abgesehen von den Szenen an der Grenze, die den Film einrahmen, verlassen die Protagonisten und damit die Kamera den Hof und die angrenzenden Räume nur selten. Errichtet wurden die Kulissen in einem Studio in Billancourt bei Paris, die Szenen an der Grenze wurden in der Normandie gedreht. Weil Renoir und Castanier fanden, dass am Drehbuch noch irgendwas fehlte, wurde Jacques Prévert hinzugezogen, der die endgültige Fassung schrieb. Wobei "endgültig" wie so oft bei Renoir bedeutete, dass auch während der Dreharbeiten, bei denen auch Prévert anwesend war, noch geändert und improvisiert wurde. Hier sogar in besonderem Ausmaß, denn LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war passend zum Thema des Films auch eine Kollektivarbeit. Das galt in gewissem Ausmaß ohnehin für die meisten von Renoirs Filmen der 20er und 30er Jahre, bei denen Renoir beständig die Meinung seiner Mitarbeiter einholte und oft Änderungsvorschläge berücksichtigte, so dass die Mitarbeiter zu Recht das Gefühl haben konnten, dass es auch ihr Film sei.

Durchblicke (hier aus dem Hof in Valentines Wäscherei)
Das Besondere bei LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war, dass sehr viele der Mitwirkenden von der linksradikalen Agitprop-Theatergruppe Groupe Octobre stammten: Castanier; Jacques und sein Bruder Pierre Prévert, der ebenso wie Castanier inoffizieller Regieassistent war (der offizielle Regieassistent war Georges D'Arnoux, wie schon bei TONI); der Komponist Joseph Kosma, der zu einem Text von Jacques Prévert ein Lied für Florelle schrieb (der Rest der Filmmusik ist von Jean Wiener); insbesondere aber eine ganze Reihe der Schauspieler: Florelle (eigentlich Odette Rousseau), Sylvia Bataille (die nacheinander mit Georges Bataille und Jacques Lacan verheiratet war), Maurice Baquet, Jacques-Bernard Brunius (der mit Renoir gut befreundet war und in einigen seiner Filme in verschiedenen Positionen mitwirkte, hier spielt er den Ranimax-Kunden), Sylvain Itkine (als Batalas Cousin), Jean Dasté (ein Graphiker im Verlag), und etliche weitere Nebendarsteller. Mitglieder der Groupe Octobre hatten zuvor schon in anderen Filmen mitgewirkt, etwa in der Taschendieb-Szene in L'ATALANTE, aber jetzt traten sie so massiv auf, dass manche Kritiker in MONSIEUR LANGE mehr einen Groupe Octobre-Film als einen Renoir-Film sehen wollten. Nicht zur Groupe Octobre gehörte dagegen Jules Berry, der die schauspielerische Hauptattraktion von MONSIEUR LANGE bildet. Mit seinem exaltierten Spiel beherrscht er jede Szene, in der er auftritt, und mit improvisiertem Text (mit voller Billigung Renoirs) - was je nach Quelle seiner Unlust, vorgefertigte Texte zu sprechen, oder seinem schlechten Gedächtnis für Texte zugeschrieben wird - bereicherte er die Figur Batala um Facetten, die nicht im Drehbuch standen. Ursprünglich war er ein Boulevard-Schauspieler, aber nachdem er sich vom Theater mehr auf den Film verlegt hatte, spielte er noch öfters Schurkenrollen, beispielsweise in Marcel Carnés LE JOUR SE LÈVE als Gegenspieler von Jean Gabin.

Im Hof wird ein Titelbild für "Arizona Jim" aufgenommen
Die zweite Hauptattraktion ist, wie schon angedeutet, die Kamera, die hier beweglicher ist als je zuvor bei Renoir (unter anderem deshalb ist es eben doch ein Renoir-Film und kein Groupe Octobre-Film). Es gibt natürlich auch statische Einstellungen, die dann oft genutzt werden, um die Protagonisten in der Tiefe des Raumes zu bewegen, wie man es schon in früheren Renoir-Filmen sah. Besonders der langgestreckte Verlags- und Druckereiraum im ersten Stock, der durch eine Wendeltreppe mit dem Erdgeschoß verbunden ist, wird dafür geschickt genutzt, und es gibt immer wieder gerahmte Aus- und Durchblicke, etwa aus der Wäscherei oder Charles' Zimmer durch Fenster hindurch auf den Hof hinaus. Aber auffälliger sind die teilweise sehr langen und sorgfältig komponierten Kamerafahrten und -schwenks. Auch solche gab es bereits in früheren Renoir-Filmen, aber nicht so spektakulär, und insbesondere wurde die dritte Dimension (der Verlag im ersten Stock, die anderen relevanten Örtlichkeiten am Erdboden) nicht so effektiv einbezogen. Vielgepriesener Höhepunkt ist die Mordszene: Batala steht nächtens in einer Ecke des Hofs und beschwatzt Valentine. Die Kamera zeigt die beiden in Großaufnahme, fährt dann schräg an der dunklen Wand hoch und zeigt durch ein Fenster in Batalas Büro Lange, der seine Lethargie abschüttelt und sich nach links in Bewegung setzt, durch den langen Verlagsraum. Die Kamera folgt dem Weg, wobei man Lange durch drei oder vier weitere Fenster sieht, dann ein Schwenk nach unten in den offenen Hauseingang, durch den hindurch man Lange die Treppe herunterkommen sieht. In der Horizontalen war das bisher ein Schwenk um ungefähr 90° nach links. Als Lange im Hauseingang steht, ein Schnitt, die Kamera ist jetzt näher an ihm dran. Er setzt seinen Weg fort, aus Sicht des Zuschauers nach rechts, direkt auf Batala zu. Konventionell wäre es gewesen, wenn ihm die Kamera folgt, also wieder ein Schwenk nach rechts. Doch Renoir macht genau das Gegenteil: Die Kamera schwenkt seelenruhig nach links, über den hier leeren Hof hinweg, um nach einer Dreivierteldrehung wieder am Ausgangspunkt der ganzen Sequenz anzukommen, nämlich bei Batala. Doch jetzt steht Lange direkt vor ihm und drückt ab. Durch den Schnitt handelt es sich technisch nicht um einen 360°-Schwenk, doch im Endeffekt läuft es darauf hinaus.

Ein falscher Priester taucht auf
Zum Unterhaltungswert von LE CRIME DE MONSIEUR LANGE trägt auch bei, dass Renoir immer wieder ironische Distanz herstellt. Das beginnt schon ganz am Anfang, als Meuniers Auto zur Grenze braust und kurz eine Musik unterlegt ist, die klingt wie in einem Western, wenn die Kavallerie zur Rettung vor den Indianern heranreitet. Überhaupt werden ständig implizite Parallelen zwischen der Filmhandlung und der Handlung von Langes Westerngeschichten, zwischen Lange selbst und Arizona Jim hergestellt. - LE CRIME DE MONSIEUR LANGE ist in Frankreich und Spanien auf DVD (ohne bzw. mit spanischen Untertiteln) sowie mit (nicht ausblendbaren) engl. Untertiteln auf einer DVD-R in den USA erschienen.

Samstag, 16. Februar 2013

Der Turm der sieben Buckligen

LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS
Spanien 1944
Regie: Edgar Neville
Darsteller: Antonio Casal (Basilio Beltrán), Isabel de Pomés (Inés), Guillermo Marín (Dr. Sabatino), Félix de Pomés (Robinsón de Mantua)

Ein Geist tritt auf
Madrid im 19. Jahrhundert. Basilio Beltrán ist ein etwas leichtlebiger Student, er ist sehr abergläubisch, und er ist pleite. Als ein Abendessen mit einer flotten Varietésängerin winkt, wenn er denn zahlen kann, geht er ins Spielcasino, um seine letzten Peseten einzusetzen. Dort erscheint ein merkwürdig aussehender großer Mann mit Zylinder, Augenklappe, und, wie Basilio erst später bemerkt, einer klaffenden Wunde am Hals, die aber nicht blutet. Schnell erkennt Basilio, dass außer ihm niemand den Fremden wahrnehmen kann. Und merkwürdiger noch: Die unheimliche Erscheinung deutet mit seinem Spazierstock auf die Felder am Roulettetisch, die dann gewinnen, so dass Basilio ein hübsches Sümmchen einsackt, bis der Fremde ihm bedeutet, dass es genug ist. Draußen auf der dunklen Straße erwähnt der Mann nebenbei, dass die Wunde am Hals seinen Tod verursacht hat, und er stellt sich vor: Don Robinsón de Mantua, zu Lebzeiten Professor der Archäologie. Er führt Basilio zu seiner Adresse und deutet beim Abschied an, dass er eine Gegenleistung für die Hilfe beim Roulette erwartet.

Hilfestellung beim Roulette
Als Basilio am nächsten Tag das Haus aufsucht, erfährt er vom Hausmeisterpaar, dass der Professor schon vor einem Jahr Selbstmord begangen habe, aber er lernt seine hübsche Nichte Inés kennen, die mit einer Haushälterin in der früheren Wohnung des Professors wohnt (und die Varietésängerin ist sofort vergessen). Im Arbeitszimmer des Verstorbenen staunt Basilio, der selbst Archäologie studiert, über Fundstücke mit seltsamen kabbalistischen Zeichen, die etwas über einen "Turm der sieben Buckligen" aussagen, und Inés erzählt ihm, dass damals, als Robinsón de Mantua starb, dessen Freund und Kollege Zacarías spurlos verschwand. Vor Inés' Wohnung begegnet Basilio mehrfach einigen buckligen Herren, darunter dem etwas aufdringlichen Doktor Sabatino. Einige Tage später erscheint der Professor in Basilios Wohnung und eröffnet ihm, dass er in Wirklichkeit ermordet wurde und jetzt seine Hilfe benötige. Aber nicht, um sich zu rächen, sondern um Inés zu beschützen, die jetzt selbst in Gefahr sei. Nähere Instruktionen gibt er nicht - Basilio muss selbst wissen, was zu tun ist. Dann taucht auch noch der Geist von Napoleon auf, der glaubt, spiritistisch herbeigerufen worden zu sein. Nach etwas Smalltalk mit dem Professor - von Geist zu Geist - verabschiedet er sich wieder, weil er sich wohl in der Etage geirrt habe und in den ersten Stock müsse.

Basilio trifft zwei Bucklige
Der Professor behält Recht: Dr. Sabatino, der über hypnotische Kräfte verfügt, die über eine gewisse Entfernung hinweg wirken, entführt Inés direkt aus ihrer Wohnung heraus. Mit seinem Freund, Inspektor Martínez von der Kriminalpolizei, macht sich Basilio auf die Suche nach ihr, in privater Mission, denn für eine offizielle Ermittlung gibt es nicht genug Hinweise auf eine Entführung. Martínez ist eigentlich einer Geldfälscheraffäre auf der Spur, in die ein Buckliger verwickelt ist, und als die beiden nächtens einen Verdächtigen beschatten, finden sie über ein baufälliges altes Gebäude den Zugang zum Turm der sieben Buckligen, der nicht nach oben, sondern in den Untergrund von Madrid errichtet wurde. Martínez stürzt in einem Schacht zu Tode, aber Basilio gelangt heil nach unten. Dort findet er zunächst Zacarías, der ihm das Geheimnis des Turms verrät: Es handelt sich um eine unterirdische Stadt samt Synagoge, die spanische Juden vor Jahrhunderten errichteten, um Verfolgung und Ausweisung zu entgehen. Jetzt dient sie als Fälscherwerkstatt und Rückzugsort der Bande von Buckligen, die von Sabatino geführt wird. Zacarías und de Mantua waren bei Ausgrabungen auf den Turm gestoßen, und während ersterer seitdem gefangengehalten wurde, gelang letzterem die Flucht, aber er wurde von der Bande ermordet, bevor er reden konnte.

Ein unerwarteter Gast
Basilio trifft auch auf Inés, aber die steht immer noch unter Hypnose und verhält sich abweisend. Dann wird Basilio von Sabatino ertappt und bedroht, aber er kann ihn überrumpeln und in waghalsiger Flucht wieder nach oben gelangen, allerdings ohne Inés. Dr. Sabatino gibt die Anordnung, die Zugänge zum unterirdischen Turm durch Sprengungen zu versperren. Bei der Polizei will man Basilio nicht glauben, aber immerhin begleitet ihn eine Abordnung in Inés' Wohnung. Doch dort wird Inés unversehrt angetroffen. Sie kann sich an nichts erinnern und streitet Basilios Erzählungen ab, so dass der nur knapp einem Arrest wegen groben Unfugs entgeht. Nachdem die Polizei abgezogen ist, redet Basilio weiter auf Inés ein, so dass sich diese doch noch dunkel daran erinnert, dass die unterirdische Stadt nach einer Explosion in sich zusammengestürzt ist, was in einer kurzen und nicht sehr überzeugend gefilmten Rückblende gezeigt wird. Der Professor, der noch einmal erscheint, um sich von Basilio zu verabschieden, erwähnt nebenbei, dass Sabatino tot ist, dann fallen sich Basilio und Inés in die Arme, und der Film ist aus.

Dr. Sabatino stellt sich vor
LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS entstand nach einem in den 20er Jahren erschienenen Roman mit dem selben Titel, der offiziell von Emilio Carrere stammt, der aber in Teilen von Jesús de Aragón als Ghostwriter verfasst wurde. Es handelt sich um einen guten Film, aber kein Meisterwerk. Nichts gegen humoristische Einlagen, aber die Napoleon-Episode ist dann doch etwas zu kindisch. Der größte Schwachpunkt ist aber der Schluss. Der zu erwartende spektakuläre oder zumindest spannende Showdown fällt kurzerhand aus. Vielleicht fehlten Neville die finanziellen oder technischen Mittel, um die unterirdische Welt wirklich überzeugend einstürzen zu lassen, aber dann hätte er sich eben etwas anderes einfallen lassen sollen. Inés' blasse Erinnerung ist da jedenfalls keine gelungene Lösung. Und zumindest einen finalen Zweikampf zwischen Basilio und Sabatino hätte es geben können, aber auch der fällt aus, und der Professor muss Sabatino rein verbal von den Lebenden zu den Toten befördern. Damit in Zusammenhang steht eine weitere Schwäche: Neville holt zuwenig aus Sabatino heraus, der eigentlich die interessanteste Figur im Film ist. Es gibt Ansätze, ihn nicht nur als platten Schurken, sondern als einen vielschichtigen Charakter zu zeigen, aber es bleibt eben bei den Ansätzen, die nicht ausgeschöpft werden. Gegen Schluss wird klar, dass auch Sabatino in Inés verliebt ist. Nachdem Basilio fliehen konnte, wird Sabatino von den anderen Bandenmitgliedern aufgefordert, Inés als gefährliche Zeugin zu töten, doch er zögert. Es ist am Ende eigentlich klar, dass nur er Inés in ihre Wohnung zurückgebracht haben kann, doch das muss man sich als Zuschauer selbst zusammenreimen. Weder sein innerer Konflikt zwischen Neigung und Verbrecherpflicht noch der äußere Konflikt mit seinen Komplizen wird dann tatsächlich ausgespielt. Man kann auch nur raten, ob sich Sabatino am Ende bewusst in die Luft gesprengt hat oder ob beim Versuch, die Zugänge zu schließen, etwas schiefgegangen ist. Die Chance, Dr. Sabatino als eine faszinierende Figur mit tragischem Abgang zu präsentieren, wurde verschenkt.

Inés und Basilio
Kein Meisterwerk also, aber doch ein sehr ordentlicher und vor allem unterhaltsamer Film. Die Erzählhaltung würde ich als naiv bezeichnen, was nicht abwertend gemeint ist. Als filmisches Vorbild für Dr. Sabatino und seine Bande kam mir nicht Dr. Mabuse in den Sinn (der in einer spanischen TV-Doku über Neville in diesem Zusammenhang genannt wird), sondern eher Louis Feuillades Serials aus den 1910er Jahren wie FANTÔMAS und LES VAMPIRES. Die Schauspieler machen ihre Sache gut, ohne dass einer herausstechen würde. LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS punktet aber vor allem mit seinem fantasievollen Design und der guten Kameraarbeit, die gelegentlich Erinnerungen an den Expressionismus aufkommen lässt. Die unterirdische Welt mag vielleicht nicht besonders aufwändig gestaltet sein, aber durch die sparsame Beleuchtung ins Halbdunkel getaucht, fällt das nicht besonders auf. Eine wirklich unheimliche oder bedrohliche Atmosphäre entsteht allerdings nicht - neben Napoleon sorgen weitere Nebenfiguren regelmäßig für Auflockerung und eine insgesamt entspannte Grundstimmung.

Entführung per Fernhypnose
Das spanische Kino der 40er Jahre genießt einen schlechten Ruf, der wohl im Großen und Ganzen auch berechtigt ist. Im repressiven Klima nach dem Bürgerkrieg gediehen Anpassung, Mittelmaß und Belanglosigkeit. Ambitionierte Regisseure wie Juan Antonio Bardem oder Luis García Berlanga, die zumindest unterschwellig die herrschenden Verhältnisse in Frage stellten, traten erst in den 50er Jahren auf. Aber die eine oder andere Nische gab es doch, und natürlich gab es Regisseure, die ihr Handwerk verstanden, und Neville war einer von ihnen. Edgar Neville (1899-1967) war mütterlicherseits von aristokratischer Herkunft (sein Vater war ein englischer Ingenieur) und hieß vollständig Edgar Neville Romrée, IV Conde de Berlanga del Duero. In den 20er Jahren gehörte er zum erweiterten Dunstkreis einer Gruppe von Schriftstellern und weiteren Künstlern, die man Generación del 27 nannte. Nach seinem Jurastudium war er einige Zeit im diplomatischen Dienst in verschiedenen Ländern tätig, u.a. als Botschaftssekretär in Washington. Von dort zog es ihn in den frühen 30er Jahren nach Hollywood und endgültig zu den Künsten. Er war an der Herstellung spanischsprachiger Filmversionen bei MGM beteiligt, und er schloss Freundschaft mit Größen wie Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin (er spielte auch eine kleine Rolle in CITY LIGHTS). Dann ging er zurück nach Spanien, und seine Laufbahn als Regisseur begann. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs ging er kurz ins Ausland, aber er arrangierte sich schnell mit den Franquisten, kehrte zurück und drehte sogar einige Propagandafilme für das neue Regime. Die Gründe dafür werden in Spanien anscheinend kontrovers diskutiert (siehe dazu hier). Jedenfalls hatte er in seiner Laufbahn beim Film und als Roman- und Bühnenautor nie Schwierigkeiten mit dem Franco-Regime.

Expressive Kameraarbeit
Privat war Neville, seit Kindheit an Luxus gewöhnt, ein Bonvivant, dessen Vorliebe für gutes und reichliches Essen sich mit den Jahren in zunehmender Körperfülle niederschlug. Seine Freundschaften mit internationalen Kollegen pflegte Neville weiterhin (so hatte er 1959 einen Cameo-Auftritt in Michael Powells LUNA DE MIEL Korrektur: Er spielt in diesem Film gar nicht selbst mit, sondern wird von dem Produzenten Jaime Prades dargestellt). Nach seinem Tod geriet er in Spanien etwas in Vergessenheit, aber seit den 90er Jahren gab es ein Neville-Revival. 1991 entstand mit EL TIEMPO DE NEVILLE ein Dokumentarfilm über ihn, einige seiner Filme wurden erstmals im Fernsehen gezeigt, und als 1995 die erste Ausgabe der neuen Filmzeitschrift Nickel Odeon die besten spanischen Filme aller Zeiten kürte, landete LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS auf dem 10. Platz, zur Überraschung vieler, denen der Name Neville überhaupt nichts sagte.

Der unterirdische Turm
LA TORRE DE LOS SIETE JOROBADOS ist in Spanien und Frankreich auf weitgehend identischen DVDs der Firma Versus Entertainment erschienen (franz. LA TOUR DES SEPT BOSSUS), mit span. und franz. Untertiteln. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Seiten zum Download, doch diese sind zur DVD-Version des Films nicht ganz synchron, so dass man mit einem Untertitel-Editor wie Subtitle Edit nacharbeiten muss.

Sonntag, 10. Februar 2013

Ein Blick in den Balkan: verbotene Kurzfilme der „schwarzen Welle“

In knapp zwei Monaten beginnt in Wiesbaden das 13. go East Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Es wird interessierten Cinephilen erneut die große Vielfalt des Kino-Schaffens von Warschau bis Belgrad, von Prag bis Moskau, von Priština bis Taškent aus vielen Jahrzehnten präsentieren. Letztes Jahr zeigte das Festival einige Leihgaben der slowenischen Kinemathek. In einer Nachmittags-Vorstellung wurden vier Kurzfilme des jugoslawischen Regisseurs Karpo Godina unter dem Motto „Poetisch-subversive Ironie“ in der Caligari FilmBühne projiziert.
Karpo Godina, 1943 im mazedonischen Skopje geboren, beteiligte sich Ende der 1960er Jahre als Kameramann und Cutter an Filmen der sogenannten „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ – gewissermaßen ein lokaler Ableger der nouvelle vague. Regisseure wie Želmir Žilnik und Dušan Makavejev bemühten sich darum, die ästhetischen und thematischen Grenzen des jugoslawischen Kinos auszuloten und zu erweitern, mussten aber oft mit Zensur kämpfen. Als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in Personalunion drehte Godina seit 1968 eigene Kurzfilme.




GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK (Gratiniertes Hirn von Pupilija Ferkeverk), 1970



Die sehr extreme formale Strenge Karpo Godinas wird bei GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK schnell deutlich: eine statische Kamera hält unentwegt das selbe Dekor fest, filmische Bewegung entsteht ausschließlich durch das Spiel der Darsteller sowie durch Bildmontage und musikalische Untermalung. Welch kreatives und auch humoristisches Resultat diese Selbstbeschränkung erzeugen kann, ist im Endresultat sehr deutlich!
Die Figuranten (von „Schauspiel“ oder „Darstellung“ im engeren Sinne kann hier eigentlich kaum die Rede sein) waren Mitglieder einer experimentellen Theatergruppe aus Ljubljana. Zusammen mit dem ein Jahr später gedrehten ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU wurde der Film bei den 17. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1971 gezeigt. In Jugoslawien selbst wurde er jedoch sogleich verboten, nicht zuletzt, weil der letzte Zwischentitel zum Konsum von LSD auffordert.



ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU (Die Litanei der heiteren Leute), 1971



Die autonome Region Vojvodina im Norden Serbiens beherbergt bis heute eine der ethnisch-sprachlich vielfältigsten Bevölkerung in Europa. Nebst einer relativen Mehrheit an Serben beherbergt dieses landwirtschaftlich fruchtbare Gebiet auch Magyaren, Slowaken, Kroaten, Roma, Rumänen, Montenegriner, Bunjewatzen, Russinen, Mazedonier, Ukrainer, Muslime, Deutsche, Albaner, Slowenen, Bulgaren und andere Nationalitäten. Wenngleich eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber Serbien unwahrscheinlich ist, so pflegt die Vojvodina durchaus eine gewisse Distanz und Autonomie zum Kerngebiet Serbiens: Novi Sad ist nicht Belgrad!
In ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU präsentiert Godina ein multiethnisches Dorf in dieser Region. Er lässt einige Bewohner frei über alles mögliche sprechen und sinnieren, und kommentiert die Bilder mit einem Lied, der das Brüderlichkeit-und-Einigkeit-Dogma von Titos Jugoslawien mittels Übertreibung auf den Korn nimmt – erneut beansprucht die Musikbegleitung eine so zentrale Rolle, dass man praktisch von einem Musik-Clip sprechen kann. Auch dieser Film wurde verboten, unter dem Vorwurf, das multinationale Zusammenleben in Jugoslawien zu verhöhnen.
Ein gewisses Maß an Frechheit und Respektlosigkeit verströmt der Film sicher, wenngleich nicht unbedingt gegenüber den dargestellten Menschen, sondern durch parodierende Übertreibung eher gegenüber politischen Dogmen, die gerade in Jugoslawien über populäre Musik transportiert wurden. Godina zeigt eben keine funktionale, multikulturelle, sozialistisch-entwickelte Gesellschaft, sondern eher eine in ethnische Clans zersplitterte dörfliche Gemeinschaft. Feindseligkeit zwischen den dargestellten Menschen ist nicht zu spüren – sie leben einfach nur separiert in unterschiedlichen Trachten gekleidet und in verschiedenartig bemalten (und stellenweise durchaus renovierungsbedürftigen) Häusern wohnend nebeneinander und in einer Welt, in der die Begriffe Sozialismus und Jugoslawien anscheinend keine überragende Rolle spielen.
Folgende Nationalitäten werden nacheinander präsentiert:
1 Russinen (bzw. Rusniaken, Ruthenen, Karpato-Ukrainer), deren Sprache von manchen Philologen als unabhängige ostslawische Sprache, von anderen wiederum als westlicher Dialekt des Ukrainischen bezeichnet wird. Der Geistliche bezeichnet sich selbst als „Ukrainer“. Die weltbekannteste Person russinischer Herkunft dürfte übrigens Andy Warhol sein.
2 Magyaren (Ungarn): nach den Serben die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der Vojvodina.
3 Kroaten bzw. eigentlich Bunjewatzen: kleine ethnische Minderheit katholischen Glaubens und mit einem eigenen Dialekt, die trotz beharrlicher ikavischer Aussprache im sozialistischen Jugoslawien den Kroaten zugerechnet wurde.
4 Slowaken
5 Rumänen
6 Roma: mehrere Kommilitonen und Spezialisten des Balkans meinten in Gesprächen mit mir, dass „cigany“ nicht nur eine Fremd-, sondern auch die Eigenbezeichnung südslawischer Roma ist, und per se keinen pejorativen Charakter hat wie „Zigeuner“ oder „tsigane“ in Westeuropa.



O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM (Von der Kunst der Liebe oder Ein Film in 14441 Bildern), 1972



Nach mehreren Verboten dürfte Godina 1972 eigentlich als „heißes Eisen“ gegolten haben. Deshalb erscheint es so skurril, dass er tatsächlich den Zuschlag zur Inszenierung eines Rekrutierungs-Werbefilms für die Jugoslawische Volksarmee erhielt! Das bedeutete, dass dem Regisseur Armee-Gelder und -Materialien sowie Hunderte von Soldaten zur Verfügung gestellt wurden. Was sich die größte Armee Jugoslawiens dabei dachte, erscheint angesichts dessen, wie O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM im Endeffekt aussah, als Rätsel. Soldaten werden scheinbar vollkommen sinnlos durch eine Gebirgslandschaft gehetzt, während dazu ein Sänger fröhlich von den Freuden des Sommers trällert und sich wundert, warum es so viele Männer, so viele Frauen, aber keine Kinder gäbe.
Das Resultat war als Werbefilm für die Volksarmee natürlich vollkommen ungeeignet, und der Regisseur wanderte aufgrund des Vorwurfs, Armee-Gelder, -Personal und -Eigentum missbraucht und zweckentfremdet zu haben, für einige Monate ins Gefängnis (Armee-Verantwortliche sollen sogar eine siebenjährige Haftstrafe gefordert haben).



NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Ich vermisse Sonja Henie), 1972

(Der zweite Teil des Films neigt zu leichter Bild-Ton-Asynchronität. Diese Fassung hier hat dieses Problem nicht, verfügt allerdings auch nicht über Untertitel)

Dieser Film wurde 1972 während des Belgrader Filmfestivals gedreht. Godina wirkte hier nicht so sehr als Regisseur im engeren Sinne, sondern eher als Konzeptgestalter. Er hatte mehrere Filmemacher, die das Festival besuchten, gefragt, ob sie mit jeweils einem Fragment an einem Kurzfilm teilnehmen würden: Tinto Brass, Puriša Đorđević, Miloš Forman, Buck Henry, Dušan Makavejev, Paul Morrissey, Frederick Wiseman. Mit von der Partie war auch der Filmkritiker Bogdan Tirnanić. Folgende Instruktionen erhielten sie von Godina: das Fragment sollte nicht länger als drei Minuten dauern, mit fixer Kamera in einem einzigen Raum gedreht werden und mindestens einer der Darsteller sollte an einer Stelle das Snoopy-Zitat „I miss Sonja Henie“ äußern.
Das Resultat ist ein Film, der größtenteils ziemlich dumm, ziemlich geschmacklos und ziemlich anstrengend ist – und wahlweise frivol oder obszön. Godinas gestalterische Kohärenz mit ihren musikalisch-poetischen rhythmischen Montagen fehlt, ohne, dass irgendetwas wirklich gewinnbringendes an die Stelle tritt. In seiner vollkommenen Absurdität ist NEDOSTAJE MI SONJA HENI trotzdem ganz witzig, zumal Miloš Forman in seinem eigenen Filmabschnitt als ganzkörper-bandagierter Patient mitwirkt. Letzteres hat die jugoslawischen Behörden natürlich nicht davon abgehalten, auch diesen Film zu verbieten.


Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.