Sonntag, 19. Mai 2013

Italienische Station im Exil: Max Ophüls und LA SIGNORA DI TUTTI


LA SIGNORA DI TUTTI
Italien 1934
Regie: Max Ophüls
Darsteller: Isa Miranda (Gaby), Memo Benassi (Leonardo Nanni), Tatiana Pawlova (Alma Nanni), Federico Benfer (Roberto Nanni)



Gaby im OP-Saal, mit Leonardo, Roberto und Alma
Die international gefeierte Schauspielerin Gaby Doriot begeht einen Selbstmordversuch. Im Dämmerzustand zwischen Leben, Tod und der OP-Narkose durchlaufen Teile ihres Lebens wie ein Film ihr geistiges Auge... Als Jugendliche wird sie von ihrer Schule verwiesen, weil einer ihrer Lehrer, der mit ihr eine Liebesbeziehung unterhielt, aus Verzweiflung und Schuldgefühlen gegenüber seiner Familie heraus Selbstmord begangen hat. Fortan wird Gabriella von ihrem strengen Vater unterrichtet. Eines Tages beobachtet eine Gruppe Gymnasiasten das Mädchen im Garten. Einer von ihnen, Roberto, Sohn eines reichen Unternehmers, lädt Gabriella auf einen Familienball ein. Roberto ist in das Mädchen verliebt, und seine Gefühle stoßen durchaus auf Gegenliebe, aber die beiden jungen Menschen finden aus Verlegenheit nicht so recht zueinander, und die Anbahnung eines intimen Moments wird durch den Ruf von Robertos querschnittgelähmter Mutter Alma im Keim erstickt. Diese findet jedoch zur Freude ihres Sohnes schnell Gefallen an Gabriella, da ihr Mann ständig auf Reisen ist und sie sich mangels Bewegungsfreiheit über die nette Konversationsgesellschaft der jungen Frau freut. Als ihr Mann Leonardo zurückkehrt, verliebt er sich Hals über Kopf in Gabriella und vernachlässigt dabei immer mehr seine kranke Ehefrau. Die Rollstuhlfahrerin hegt eines Abends Verdacht, stürzt, als sie zornig und aufgeregt ihren Ehemann sucht, die Treppen hinunter und stirbt.

Die Trauer um seine verstorbene Frau betäubt der Industrielle damit, dass er mit seiner Geliebten Gabriella wochenlang verreist – nachdem er den Wunsch seines Sohns, die junge Frau zu heiraten, höchst energisch zurückgewiesen hat. Leonardos Liebesobsession wird immer besitzergreifender, während die junge Frau fast wahnsinnig vor Schuldgefühlen ob Almas Tod wird. Schließlich verlässt sie nicht nur ihren Liebhaber, sondern kehrt auch ihrem früheren Leben radikal den Rücken zu, um in Paris ihr Glück zu versuchen. Leonardo, der zur Finanzierung seiner ausgedehnten Reise mit Gaby in die Kasse seines Unternehmens gegriffen hat, wird der Veruntreuung angeklagt und landet nach einem Gefängnisaufenthalt auf der Straße. Derweilen kontaktiert Roberto die mittlerweile berühmte Filmdiva und teilt ihr mit, dass er deren Schwester vor einigen Jahren geheiratet hat. Aus Verzweiflung darüber, sich nicht rechtzeitig für Roberto entschieden und trotz Ruhms ein Leben in Einsamkeit geführt zu haben, versucht Gaby, sich umzubringen. Aus der OP-Narkose wird sie nicht mehr wieder aufwachen.


Falls diese Geschichte ein bisschen wie die Zusammenfassung eines schlechten Groschenheftchens klingt, so liegt das vielleicht daran, dass das Filmdrehbuch in der Tat auf einen Fortsetzungsroman basiert, der in einer italienischen Boulevardzeitschrift erschienen ist. Was jedoch Max Ophüls mit diesem Stoff in LA SIGNORA DI TUTTI angestellt hat, grenzt geradezu an ein Wunder. Er hat nicht nur einen höchst experimentellen Film inszeniert, sondern möglicherweise in Rom 1934 seine persönliche Handschrift als Regisseur gefunden. Alle Emotionen, die sich in den Händen eines anderen Filmemachers in Klischees und Plattitüden erschöpft hätten, flimmern in diesem italienischen Film geradezu. Doch wie kam Max Ophüls, ein deutsch-jüdischer Emigrant von 1933, dazu, ein Jahr später im damals bekanntermaßen faschistischen Italien einen Film zu drehen?

Im Frühjahr 1933 hatte er LIEBELEI fertig gestellt, der sein letzter deutscher Film überhaupt bleiben sollte (von der deutschen Produktionsbeteiligung am französischen LOLA MONTÈS abgesehen). Bei der Premiere des Films im März war er noch anwesend, verließ dann aber schnell das Deutsche Reich. Wie viele andere deutsche Film-Emigranten fand er Zuflucht in Paris, wo er als Bürger der Saar sogar relativ einfacher eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beschaffen konnte als seine Kollegen, die Reichsbürger waren. Sein letzter deutscher Film diente Ophüls zugleich auch als eine Art Visitenkarte, denn LIEBELEI wurde in Paris mit Wohlwollen von Publikum und Filmkritik aufgenommen. Unter dem Titel UNE HISTOIRE D‘AMOUR drehte er rasch eine französisch-sprachige Version des Films. Der weitere Weg des Emigranten in Frankreich verlief jedoch nicht so glänzend. Seinen Plan, ein politisches Plädoyer gegen das Nazi-Regime mit dem Titel JE SUIS UN JUIF („Ich bin ein Jude“) zu drehen, scheiterte an der Finanzierung und am mangelnden Interesse. Letzteres soll auch an einer deutschfeindlichen und latent antisemitischen Atmosphäre liegen, die Teile der französischen Filmindustrie und -presse nach dem Exodus deutsch-jüdischer Filmemacher entwickelte. So war es auch Erich Pommer, der Ophüls‘ erstes Filmprojekt im Exil vermittelte: ON A VOLÉ UN HOMME, eine Liebeskomödie um einen Krimiplot, in der sich ein entführter Industrieller und eine Entführungshandlangerin ineinander verlieben. Der Film gilt heute als verschollen.

Viel lieber hätte Ophüls ein anderes und weitaus anspruchsvolleres Pommer-Vorhaben gedreht, nämlich LILIOM, doch dieses ging an Fritz Lang, der nicht nur renommierter als der Saarbrücker war, sondern dem berühmten deutschen Produzenten Pommer aufgrund der langjährigen Zusammenarbeit natürlich näher stand. ON A VOLÉ UN HOMME wurde jedenfalls eher verhalten aufgenommen. Das lag teilweise auch daran, dass der Film (genauso wie der ebenfalls kommerziell wenig erfolgreiche LILIOM) als „deutsch“ wahrgenommen wurde. Nationalkonservative und rechtsradikale Medien veranstalteten eine regelrechte Hetzkampagne gegen die angebliche „Überfremdung“ der französischen Filmindustrie und die Kritik an der Krimikomödie gingen teilweise in persönliche antisemitische Beleidigungen gegen den Regisseur über. Obwohl eine Quotenregelung den Anteil an Ausländern in der französischen Filmindustrie bereits regulierte, zeitigte die anti-deutsche (anti-jüdische) Kampagne in Ophüls‘ Fall durchaus unangenehme Folgen: Ein bereits unterschriebener Regievertrag wurde ihm nach massiven Angriffen in der Presse gekündigt.

Das Angebot des italienischen Verlegers Angelo Rizzoli, in Rom einen Film zu drehen, kam Ophüls daher wie gerufen. Rizzoli (der später noch Filme Vittorio De Sicas, Federico Fellinis und Michelangelo Antonionis produzieren sollte) wollte sein Medienimperium nun auch auf den Filmbereich ausdehnen. Er gab auch den zu bearbeitenden Stoff vor: nämlich einen Roman des Schriftstellers Salvatore Gotta, der in einer seiner zahlreichen Illustrierten erschienen war. Abgesehen davon ließ Rizzoli dem Regisseur vollkommene künstlerische Freiheit, sowohl in der Bearbeitung des Romans wie auch in der Auswahl der Mitarbeiter und gewährte ihm zudem ein überaus üppiges Budget. Mit seiner Familie, den Drehbuchautoren Curt Alexander und Hans Wilhelm, dem Regieassistenten Ralph Baum und dem Sounddesigner Hans Bittman reiste Ophüls im März 1934 nach Rom und begann im Auftrag von Rizzolis frisch gegründeter Produktionsfirma „Novella“ sogleich mit den Dreharbeiten.

Standen hinter der Kamera zahlreiche Deutsche, so rekrutierte Ophüls die Darsteller vor Ort: den Theaterschauspieler Memo Benassi als Leonardo, die aus Russland stammende Theaterregisseurin und Schauspielerin Tatiana Pawlova als Alma, den Deutsch-Italiener Friedrich (Federico) Benfer als Roberto und die bislang eher unbekannte Isa Miranda für die Haupt- und Titelrolle. In letztere verliebte sich Ophüls praktisch auf den ersten Blick, und die Erwiderung seiner Avancen führte zu einer Affäre, die etwa ein halbes Jahr dauerte (knapp 16 Jahre später spielte sie eine Rolle in LA RONDE). Seine Premiere erlebte LA SIGNORA DI TUTTI am 13. August 1934 bei der zweiten Biennale in Venedig, wo er den Preis für den technisch besten Film erhielt – aus symbolischen Gründen sollte der Hauptpreis nicht an ein Filmvorhaben mit maßgeblicher ausländischer Beteiligung verliehen werden.

Ophüls hatte seinen Aufenthalt in Italien eigentlich nur als Notlösung gesehen. Doch nach seinem überaus positiven Arbeitserlebnis plante er weitere Filmprojekte. Gioachino Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ wollte er in Italien drehen: das Drehbuch war bereits fertig ausgearbeitet und eine Kooperation mit Tullio Serafin, dem Dirigenten der römischen Oper, schon in die Wege geleitet. Doch die Budgetvorstellungen sprengten jegliches vernünftiges Maß und da trotz der massiven Werbekampagne in den Rizzoli-Medien LA SIGNORA DI TUTTI beim Publikum floppte, verlief die Opernverfilmung im Sande. Und als ob dies nicht genug wäre, fiel das Saarland nach der Volksabstimmung über dessen Status dem Deutschen Reich zu, was Ophüls perspektivisch zu einem Staatenlosen machte. Er kehrte nach Frankreich zurück und beantragte als erstes die französische Staatsbürgerschaft, die er 1938 erhielt. Sein italienisches Intermezzo war damit jedoch beendet.

Doch der aus dieser Episode entstandene Film kann aufgrund seiner schieren inszenatorischen Bravour keineswegs als Fußnote in Ophüls‘ Werk abgetan werden. Der Filmhistoriker Jean Gili, Spezialist für den italienischen Film, lobte die „dramatische Intensität“ und das „expressionistische Delirium“ von LA SIGNORA DI TUTTI.

Bereits die ersten Minuten, ja gar Sekunden des Films machen deutlich, welch Bild- und Tonstrudel die nächsten anderthalb Stunden bestimmen wird. Als der Vorspann endet (bemerkenswert: ohne eigene Credits für Regisseur Max Ophüls), läuft das romantische Schlagerlied weiter und eine Schwarzblende wird spiralförmig aufgelöst (dieses eigentlich auf den Stummfilm zurückgehende Auf- und Zudecken von Bildarealen nutzte Ophüls später noch ausgefeilter bei LOLA MONTÈS): eine Schallplatte kommt zum Vorschein, die das Vorspann-Lied abspielt. Der Plattenspieler befindet sich in einem Büro, wo zwei Herren sich angeregt unterhalten. Der eine ist ein Filmproduzent, der andere der Agent der Schauspielerin Doriot. Ihre Unterhaltung ist schwer zu verstehen, nicht nur, weil sie die meiste Zeit gleichzeitig sprechen, sondern vor allem, weil die Musik (ein Lied, das die Doriot singt) ihre Unterhaltung fast übertönt. Es geht um die Preisverhandlung für die nächsten beiden Doriot-Filme. Entnervt hebt schließlich der Agent den Tonarm des Spielers (und beendet damit die Musik) und will gehen, doch der Produzent versucht ihn davon abzuhalten, führt ihn, einen Arm vertraulich um die Schultern gelegt, um seinen Schreibtisch, greift versöhnlich nach der Platte und legt sie auf den Grammophon-Teller. Letzteres führt uns in einer Plansequenz von einer Nahaufnahme des Spielers durch das Büro zurück zu einer Nahaufnahme des Spielers.
Natürlich denkt man bei Ophüls an die langen, eleganten Plansequenzen (und die gibt es in LA SIGNORA DI TUTTI zur Genüge), doch gerade die ersten Minuten zeigen, dass der Regisseur auch bei der Nutzung des Tons nur wenig kreative Grenzen kannte. Was im Prolog angelegt ist, also das Überfließen extradiegetischer in intradiegetische Musik, überhaupt die Weiterführung der Soundkulisse in szenendramaturgisch klar abgetrennten Szenenwechsel , die Überlappung von Dialog- und Geräusch-Kulisse, taucht immer wieder im Film auf.

Am beeindruckendsten ist sicherlich die Art, wie ein Opernstück in die Handlung eingefügt wird, indem es die unglückliche Liebe zwischen Gaby und Leonardo begleitet. Beide gehen, auf Anregung Almas, zusammen in die Oper und hören dort erstmals das Stück – die beiden künftigen Liebhaber werden in Doppelbelichtung mit dem Orchester gezeigt. In jener Nacht, als Gaby und Leonardo sich aus dem Haus schleichen, hört Alma gerade dieses Stück aus dem Radio, als sie beginnt, Verdacht zu schöpfen und ihren Ehemann suchen geht. Der dramatische Höhepunkt des Musikstücks begleitet den dramatischen Höhepunkt der Szene: Alma stürzt die Treppen herunter und stirbt. In höchster Erregung stürmt Gaby in Almas Zimmer und zertritt das Radio, bis es wieder schweigt. Und schließlich, nach dem Tod Almas und der ausgiebigen „Hochzeitsreise“ der beiden Geliebten, kehren sie in das trauernde Haus zurück. Der Geist Almas, besonders in Form eines Portraits über dem Kamin, scheint über alles zu schweben (an einer Stelle sehen wir das Wohnzimmer aus dem Point-Of-View-Blick der Portrait-Alma). Plötzlich hört Gaby – aber eben nur sie – das Opernstück aus dem Kamin „strömen“. Die schulderfüllte Erinnerung an die Frau, die ihr vertraut hatte und der sie den Ehemann weggenommen hat, führt sie in einen hysterischen Anfall, während die Musik in ihrem Kopf immer weiter anschwillt.

Der vielleicht irritierndste Einsatz des Tons findet sich jedoch gegen Ende des Films: Leonardo, inzwischen heruntergekommen und wahrscheinlich auf der Straße lebend, besucht die Vorhalle eines Kinos, in dem gerade die Premiere des neuesten Doriot-Films läuft. Er spaziert durch die geräumige Vorhalle und betrachtet weinend die Werbefotos seiner einstigen Geliebten. Die Titel- und Vorspannmelodie „La Signora di tutti“ läuft (ob extradiegetisch oder als in die Vorhalle tönender Abspann des Films aus dem nebenliegenden Kinosaal bleibt unklar). Vor allem aber hört man, bis Leonardo von einem skeptischen Wachmann angesprochen und aus dem Kino raus gebeten wird, eine Alarmglocke! Erst bei einer wiederholten Sichtung und bei meiner intensiveren Auseinandersetzung mit LA SIGNORA DI TUTTI bin ich darauf gekommen, was diese kryptische Tonstörung bedeuten könnte: im Prolog, als der Filmproduzent von dem Selbstmordversuch Gabys erfährt, drückt dieser eine Art Rundtelefon-Alarmknopf, mit dem er Dringlichkeits-Sitzungen der Studioabteilungen einberufen kann. Es ertönen daraufhin eine ganze Reihe verschiedener Alarmglocken. Der Störton, als Leonardo bei der Premiere durch die Vorhalle schlendert, weist also wohl darauf hin, dass etwa zeitgleich Gaby im Sterben liegt. Leonardo geht in Trauer raus und wird von einem Auto überfahren: das Stimmengewirr der Passanten geht beim Szenenübergang nahtlos in das Stimmengewirr des Produktionsbüros über.

Leonardos Streifzug durch die Kinovorhalle ist übrigens eine ausgedehnte, etwa 160 Sekunden dauernde Plansequenz. Die Plansequenz: das vielleicht bekannteste und hervorragendste Merkmal von Max Ophüls‘ Filmen. Sie folgt den Figuren und passt sich dabei an ihren Rhythmus an: in der erwähnten Vorhallen-Sequenz bewegt sich die Kamera zwar stetig, aber relativ langsam und gemächlich. Wenn aber die Figuren hektisch sind, dann beschleunigt auch die Kamera ihr Tempo. Das wird schon im Prolog deutlich, wenn rennende Regie-Assistenten die „verschwundene“ Gaby (die sterbend in ihrem Zimmer liegt) in Kantinen, Schminkräume und Tanzsalons suchen und die Kamera ihnen hinterherrennt – die Bilder bleiben dabei von einer bewundernswerten Klarheit. 

Wie auch in späteren Filmen (am extremsten schließlich in LOLA MONTÈS) lässt sich die Kamera von nichts beirren, was im Weg stehen könnte. Selbst eine Wand kann die Kamera nicht aufhalten, wenn Gabys Agent auf der Suche dem Star deren Hotelsuite Zimmer für Zimmer durchschreitet. Ophüls demonstriert hier auch, dass er eine der Meisterdisziplinen der Plansequenz, nämlich die Kamera-Begleitung tanzender Paare auf einer gerappelt vollen Tanzfläche, schon früh beherrschte (überhaupt war er einer der interessantesten Regisseure für Tänze überhaupt!). Das musikalische Kreisen endet hier mit einem abrupten 360-Grad-Reissschwenk, als Gaby im Freudenrausch (und vor lauter Drehen) auf den Boden sinkt und meint, dass sich ihr alles drehe. 

Nicht nur auf einer audio-visuellen Ebene experimentiert LA SIGNORA DI TUTTI. Zwischen Prolog und Epilog handelt es sich im Prinzip um einen Film-im-Film als Narkose-Traum einer Sterbenden. Innerhalb dieser Traum-Erzählung kommt es mehrmals zu Flashbacks. Viele Wendungen werden sehr implizit angedeutet und nicht weiter erklärt. Manch ein Zeitsprung wird erst im Verlauf der weiteren Handlung als solcher erkennbar und viele Überleitungen werden einfach ausgespart: wenn Gabrielle etwa nach dem Liebschaftsskandal aus der Schule genommen und von ihrem Vater regelrecht zu Hause eingesperrt wird, wenn sie nach einer kurzen Begegnung mit Alma von einer flüchtigen Bekanntschaft zu einer vertrauten Freundin wird oder wenn Leonardo seinem Sohn die Hochzeit mit Gaby mit einem brutalen „Nein“ verweigert und sofort auf den Zug und dann auf das gemeinsame Schlafabteil des Unternehmers und seiner jungen Geliebten geschnitten wird oder gegen Schluss eben aus der provinziellen Gaby ein Weltstar wird. Das führt dazu, dass LA SIGNORA DI TUTTI sich voll und ganz auf die rudimentäre Handlung konzentriert und dadurch auch einen erstaunlich flotten Erzählrhythmus entwickelt.

Wie so oft in Ophüls‘ Filmen steht hier ein weibliches Schicksal im Vordergrund (auch wenn der Name der Figur noch mit „G“, und nicht mit „L“ beginnt). Wie bei vielen anderen Ophüls-Filmen scheint die Grenze zwischen mitfühlendem Humanismus und desillusioniertem Zynismus sehr verschwommen zu sein. Zweifelsohne fühlt Ophüls mit dem Leidensweg der Protagonistin durchaus mit. Da sie gewissermaßen für den Tod zweier Männer und einer Frau und für eine nicht wirklich befriedigende Ehe verantwortlich ist, könnte man sie durchaus als eine Art femme-fatale-Typus sehen. Doch der Film gibt ihr nicht die Schuld und zeigt auch mitfühlsam, wie sie an den Erwartungen ihrer Mitmenschen zerbricht. Ihre Flucht nach vorne (ins Showbusiness) ist auch der Anfang ihres Endes. Trotz einiger heiterer Szenen ist der Grundton des Films arg pessimistisch: niemand entkommt hier seinem Schicksal, aber am allerhärtesten trifft es schlussendlich Gaby selbst. Alma hatte wenigstens noch Menschen um sich, die sie betrauert haben. Doch als Gaby am Ende stirbt, gibt es keine Trauer für sie. Die Filmproduzenten können sie nun nicht mehr gebrauchen und betrauern am ehesten den Verlust von Gewinnen. Die letzten Bilder zeigen, wie die Druckerpresse, die die aktuellsten Gaby-Doriot-Werbeplakate herstellt, abgestellt wird. Ein verbitterter Kommentar über die Pervertierung menschlicher Beziehungen im Showbusiness und ein absolut vernichtendes Ende – auch wenn es 21 Jahre später Lola noch erheblich grausamer treffen würde.


LA SIGNORA DI TUTTI ist in einer italienischen DVD-Edition mit italienischen und englischen Untertitel und in einer englischen Edition mit englischen Untertiteln zu erwerben. Bild und Ton sind – zumindest in der mir vorliegenden italienischen Edition – absolut hervorragend und für das Alter dieses Films auch erstaunlich klar. Eine Anschaffung lohnt sich also durchaus!
Die DVD dauert 86 Minuten. Gemäß imdb läuft LA SIGNORA DI TUTTI jedoch 97 Minuten. Mit einem Film-zu-DVD-Konvertierungsverlust von vier bis fünf Minuten würden also immer noch sechs bis sieben Minuten fehlen. Helmut G. Aspers mutmaßt in seiner Ophüls-Biographie (auf der auch die kontextualisierenden historischen Passagen meiner Besprechung größtenteils aufbauen), dass der Film möglicherweise zwischen der Festival-Premiere und der Kinoauswertung noch bearbeitet worden ist. Eine Zensur sei dabei auszuschließen, da einerseits Ophüls mit Rizzoli einen mächtigen, einflussreichen und wohlwollenden Patron auf seiner Seite wusste, andererseits der komplette Film auf der Kippe hätte stehen müssen, da er mit seiner überaus offenen Thematisierung von Selbstmord gegen die italienischen Zensurbestimmungen verstieß.

Freitag, 10. Mai 2013

Eine Landpartie fällt ins Wasser ... und taucht wieder auf

PARTIE DE CAMPAGNE (EINE LANDPARTIE)
Frankreich 1936/46
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Sylvia Bataille (Henriette), Georges Darnoux (als Georges Saint-Saens, Henri), Jane Marken (als Jeanne Marken, Madame Dufour), Gabriello (Monsieur Dufour), Jacques-Bernard Brunius (als Jacques Borel, Rodolphe), Paul Temps (Anatole), Gabrielle Fontan (Großmutter), Jean Renoir (Père Poulain), Marguerite Renoir (Kellnerin)

"Mit PARTIE DE CAMPAGNE (Sommer 1936) beginnt die vielleicht ›Renoirst'sche Periode‹. Der Film ist wie ein Bild seines Vaters und aller anderen Impressionisten zusammen." (Jacques-Bernard Brunius: En marge du cinéma français, Paris 1954)

Ankunft
Es beginnt mit zwei Texteinblendungen, unter denen das träge dahinfließende Wasser eines Flusses zu sehen ist. Die erste klärt über die Entstehungsgeschichte des Films auf: Jean Renoir konnte den Film nicht beenden, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in seiner Abwesenheit fertiggestellt, und um die Verständlichkeit zu gewährleisten, wurden zwei Zwischentitel hinzugefügt. Der erste davon folgt unmittelbar darauf: An einem Sonntag im Sommer 1860 macht Monsieur Dufour, ein Eisenwarenhändler aus Paris, mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seiner Tochter und mit Anatole, der sein Gehilfe, designierter Nachfolger und zukünftiger Schwiegersohn ist, mit einem vom Milchmann geliehenen Pferdewagen einen Ausflug aufs Land, um die Natur zu entdecken und zu genießen. - Die Handlung beginnt mit der vormittäglichen Ankunft der Dufours am Landgasthaus des bodenständigen Père Poulain am Ufer der Seine. Schon die ersten Dialoge und das Aussteigen aus der Kutsche bringen uns die Familie Dufour näher: Sie wirken sympathisch, ihr Umgang miteinander ist respekt- und liebevoll. Monsieur Dufour ist ein großer dicker Mann, während der schlanke Anatole linkisch und etwas beschränkt wirkt - zusammen erinnern sie etwas an Laurel & Hardy, Anatole allein auch an einen jungen Karl Valentin. Madame Dufour, um die 40, ist auch schon vollschlank, aber recht proper, und die ca. 18-jährige Tochter Henriette ist hübsch. Der schwerhörigen Großmutter nimmt niemand übel, dass man ihr alles zwei- oder dreimal sagen muss, bis sie es versteht. Gemeinsam beschließt man, das bei Père Poulain bestellte Mittagessen als Picknick auf der Wiese hinter dem Gasthaus einzunehmen, wo es auch Schaukeln für die Gäste gibt.

Père Poulain und die Kellnerin; Henri (links), die Kellnerin und Rodolphe
In der Gaststube des Wirtshauses sitzen bereits zwei andere Gäste: Henri und Rodolphe, zwei sportliche junge Männer aus der Gegend, die mit ihren Ruderbooten einen ihrer regelmäßigen Ausflüge machen. In ihrer legeren Sportkleidung bilden sie einen augenfälligen Kontrast zu den bis oben hin zugeknöpften, gutbürgerlichen Dufours in ihrem Sonntagsstaat. Als sie die neuen Gäste ankommen hören, sind sie wenig begeistert. Sie mokieren sich auf arrogante Art über die Großstädter, die sich "wie die Mikroben" breitmachen und jetzt ihre Ruhe stören werden. Aber als sie von der Kellnerin hören, dass sich auch Damen in der Gesellschaft befinden, werden sie neugierig und öffnen die bisher geschlossenen Fensterläden, um sich die Fremden anzusehen. Das Ergebnis ist eine fast schon spektakuläre Einstellung: Renoir arbeitet wie so oft mit deep focus, und das Gastzimmer wird zur Nebensache. Durch das offene Fenster, das jetzt wie ein Bilderrahmen wirkt, flutet das Licht herein und zeigt die Dufours auf der Wiese, wobei Madame und Henriette auf den Schaukeln sitzen bzw. stehen. Die auf ihrer Schaukel stehende Henriette erinnert dabei an ein Gemälde von Renoirs Vater, La Balançoire von 1876. Der Anblick der beiden schaukelnden Damen fasziniert Rodolphe, und er überredet den zögernden Henri, die Ankunft der Pariser ins Positive zu wenden, indem man die beiden verführt. Unterdessen beschäftigen sich die Dufours, nach Geschlechtern getrennt, mit dem, was sie in der "Natur" sehen. Für Monsieur Dufour und Anatole ist es ein Abenteuerspielplatz, den sie in Form von Angeln erkunden wollen. Dufour erzählt vom Hecht, dem "Süßwasserhai", der einen Finger bis auf den Knochen durchbeissen könne, und Anatole hört gebannt zu, als ginge es um Großwildjagd in Afrika. Mutter und Tochter dagegen sitzen unter einem Kirschbaum, beobachten das Krabbeln auf der Wiese und geben sich einer sentimentalen Naturschwärmerei hin. Die fast erwachsene Henriette spürt eine vage, unbestimmte Sehnsucht in sich, die sie auf die Natur projiziert, und sie fragt ihre Mutter, ob sie das in ihrer Jugend auch kannte. Diese weiß, dass die Schmetterlinge im Bauch ihrer Tochter auch andere Ursachen haben, und sie erwidert, dass sie dieses Gefühl immer noch kennt, aber durch ihre Vernunft im Zaum hält.

Schaukeln (l.o. La Balançoire von Pierre-Auguste Renoir)
Nach dem Mittagessen schlägt die Stunde für Henri und Rodolphe. Mutter und Tochter Dufour möchten etwas unternehmen, aber die Männer haben etwas zu sehr dem Essen und dem Wein zugesprochen und sind entsprechend träge. Zuerst machen sie ein Schläfchen, dann wollen sie angeln. Da lassen sich die beiden Damen gern zu einer Ruderpartie einladen, und Dufour gibt auch gern seine Zustimmung, als er von Rodolphe die Angelruten erhält, die er selbst nicht dabei hat. Eigentlich wollte der extrovertierte Rodolphe Henriette "übernehmen" und die Mutter dem verschlosseneren und etwas zynischen Henri überlassen, aber der ist zunehmend von Henriette fasziniert und schnappt sie sich selbst, was Rodolphe sportlich gelassen hinnimmt. So fahren also Henri und Henriette sowie Rodolphe und Madame Dufour mit ihren Booten auf der Seine, um getrennt einsame Uferabschnitte anzusteuern. Während Rodolphe auf einer Lichtung wie ein bocksfüßiger Pan mit Madame herumschäkert, um dann mit ihr hinter einem Busch zu verschwinden, bringt Henri seine ausersehene Beute auf eine kleine Insel. Von der idyllischen Stimmung und vom Gesang einer Nachtigall ist Henriette in eine so sentimentale Stimmung versetzt, dass ihr die Tränen kommen. In diesem Zustand gelingt es Henri mühelos, sie zu verführen. Danach sieht man ihr Gesicht in einer extremen Großaufnahme, und wieder stehen ihr Tränen im Gesicht, aber jetzt vielleicht auch aus anderen Gründen. Ihr kommt wohl die Erkenntnis, dass sich dieser Augenblick nicht festhalten lässt, und dass ihr bald eine vermutlich langjährige und sicher monotone Ehe mit dem unbedarften Langweiler Anatole bevorsteht. Ein Unwetter, das sich schon angekündigt hatte, beendet den Ausflug. Im strömenden Regen wird zurückgerudert, und zugleich schwemmt der Regen symbolisch die Ereignisse des Nachmittags weg, ertränkt sie in bleierner Schwermut. Der zweite Zwischentitel leitet zum Epilog über: "Jahre vergingen, mit Sonntagen so trist wie Montage. Anatole heiratete Henriette, und eines Sonntags ...". Henri rudert wieder einmal zu "seiner" Insel, da läuft er dort Henriette in die Arme. Anatole liegt im Gras und schläft. Henriettes Gesicht ist erwachsener, die naive Schwärmerei ist daraus verschwunden. Henri sagt, dass er oft hierher kommt, weil es seine glücklichsten Erinnerungen zurückbringt, wobei er sentimental wie ein Dackel dreinblickt, und Henriette erwidert, dass sie sich jede Nacht daran erinnert. Da erwacht Anatole und ruft nach Henriette. Wortlos trennen sich Henri und Henriette, die wieder Tränen in den Augen hat. Sie rudert mit ihrem Mann davon, Henri bleibt zurück und steckt sich eine Zigarette an. Die letzten Bilder gehören dem Fluss.

Der "Süßwasserhai" wird beobachtet
PARTIE DE CAMPAGNE ist mit 40 Minuten der kürzeste Film von Renoir in den 30er Jahren. Eigentlich hätte er etwas länger ausfallen sollen, so um die 50 Minuten, dafür waren die zwei Zwischentitel nicht vorgesehen. Dass es anders kam, lag am Wetter. Es hätte für die Beteiligten ein Wohlfühlfilm werden sollen. Vorgesehen waren acht Drehtage vor Ort in der Landschaft, danach noch zwei Drehtage im Studio in Paris. Da es an der Seine im weiten Umkreis von Paris keine unberührten Uferabschnitte mehr gab, wurde in der Nähe des Walds von Fontainebleau am Loing und an der Essonne gedreht, zwei Nebenflüssen der Seine. Das Gasthaus von Père Poulain gehörte in Wirklichkeit einem Förster, dessen Frau mit Renoir befreundet war, und die Equipe war in einem nahe gelegenen Hotel untergebracht. Renoir kannte die Gegend seit seiner Kindheit gut, denn sein Vater hatte hier oft gemalt, und sein erster eigener Film LA FILLE DE L'EAU wurde ganz in der Nähe gedreht. Renoir beschäftigte bei seinen Filmen in den 30er Jahren oft Freunde und Familienmitglieder, und bei PARTIE DE CAMPAGNE war das mehr denn je der Fall. Sein Neffe Claude führte, wie mehrfach in diesem Jahrzehnt, die Kamera, und seine Lebensgefährtin Marguerite Renoir (eigenlich Marguerite Houllé, denn sie waren nicht verheiratet) war nicht nur wie üblich seine Cutterin, sondern sie spielte auch die Kellnerin - keine große Rolle, aber immerhin mit einigen Dialogen. Renoirs damals 14-jähriger Sohn Alain spielte einen fischenden Jungen, ebenfalls mit etwas Text, und er war gleichzeitig Clapper Boy. Dazu kamen einige von Renoirs Freunden, die schon öfters mit ihm gearbeitet hatten. Jacques-Bernard Brunius war schon als Darsteller, Regieassistent und in weiteren Funktionen an Renoir-Filmen beteiligt, Georges Darnoux (eigentlich ein Comte Georges d'Arnoux oder D'Arnoux) ebenfalls schon als Statist und Regieassistent (nebenbei war er auch Autorennfahrer). Renoir beschäftigte neben den offiziellen, in den Credits genannten ein oder zwei Regieassistenten oft noch weitere - hier waren es insgesamt gleich sechs. An erster Stelle gelistet war Jacques Becker, der diese Position in den 30er Jahren am häufigsten inne hatte, an zweiter Stelle Henri Cartier-Bresson, der auch schon Renoir-Erfahrung bei LA VIE EST À NOUS gesammelt hatte, und ungenannt blieben Brunius, Luchino Visconti (der schon bei TONI als Praktikant dabei war), Claude Heymann (der immerhin schon ein Drehbuch zusammen mit Renoir geschrieben hatte), und als Renoir-Neuling Yves Allégret, wie Becker und Visconti später selbst ein Regisseur von Rang. Die meisten der Freunde und Familienmitglieder arbeiteten für wenig oder gar keinen Lohn und wurden dafür am zu erwartenden Gewinn beteiligt, was sich hier aber nicht auszahlte. Becker, Cartier-Bresson, Sylvia Batailles erster Mann, der Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille, sowie Pierre Lestringuez, der als Darsteller und Drehbuchautor an Renoirs ersten Stummfilmen beteiligt war, haben auch einen Cameo-Auftritt als drei Priester-Seminaristen und der beaufsichtigende Pfarrer, der einen davon zurechtweist, als er zu auffällig der schaukelnden Henriette zusieht. Renoir war der Meinung, dass seine Assistenten solche Kurzauftritte absolvieren sollten, um zu wissen, wie es sich anfühlt, vor statt hinter der Kamera zu stehen.

Mutter und Tochter unterhalten sich über das Leben der Raupen und der Menschen
Die Arbeit begann im Juni 1936, und laut Drehbuch spielten alle Szenen bei schönem Wetter. Aber dummerweise war der Sommer 1936 im Norden Frankreichs der verregnetste seit Menschengedenken. Es konnte nur sehr sporadisch in den kurzen Schönwetterphasen gedreht werden, ansonsten saß man herum und wartete, und es verging Woche um Woche. Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, wie sich das auf die Stimmung auswirkte. Laut Sylvia Bataille stellte sich bald der Lagerkoller ein, und alle gingen sich auf die Nerven. Renoir dagegen behauptete später, dass alle außer Bataille guter Dinge waren. Die Wahrheit wird wohl irgendwo dazwischen liegen. Auf jeden Fall war das knappe Budget bald aufgebraucht, und je länger sich die Sache hinzog, desto klarer wurde, dass es keinen finanziellen Gewinn geben würde. Renoir glänzte mehrfach durch längere Abwesenheit, weil er (je nach Bericht) entweder zunehmend das Interesse verlor oder in Paris weiteres Geld auftreiben wollte, während er den Mitwirkenden Anwesenheitspflicht auferlegte, damit bei schönem Wetter unverzüglich gedreht werden konnte. So sollen auch einige Szenen von Becker und Heymann statt von Renoir inszeniert worden sein. Wie immer die Stimmung nun war, dem Film sieht man nichts Negatives davon an. Das Ensemblespiel der Akteure wirkt immer entspannt und natürlich, und gerade Sylvia Bataille liefert eine vorzügliche Leistung. Produzent Pierre Braunberger bewies so viel Geduld, wie man sich nur wünschen konnte, aber schließlich erklärte Renoir selbst das Projekt für beendet, weil sein nächster Film LES BAS-FONDS (mit einem anderen Produzenten) keinen Aufschub mehr duldete. Es fehlten keine wirklich wichtigen Szenen vom Land, aber die Drehtage im Studio fielen ersatzlos weg. Sie hätten zwei Szenen erbringen sollen. Zunächst die Familie Dufour, wie sie sich in Paris den Wagen leiht und dann aufbricht. Und dann eine weitere Szene in Paris, die einige Wochen nach dem Hauptteil spielt: Henri taucht im Eisenwarengeschäft auf, erkundigt sich nach Henriette und erfährt von Madame Dufour, dass ihre Tochter jetzt mit Anatole verheiratet ist. Enttäuscht macht Henri kehrt, nachdem sich Madame noch nach dem Befinden von Rodolphe erkundigt hat.

Beim Picknick und nach dem Picknick
Braunberger unternahm Versuche, die Situation zu retten. Er ließ zunächst von Marguerite Renoir einen Rohschnitt anfertigen, der ungefähr die Länge des jetzigen Films hatte, aber so erschien der Film nicht veröffentlichungsfähig. Braunberger hatte dann die Idee, einen kompletten Spielfilm daraus zu machen, und er ließ Pierre Prévert ein Drehbuch dafür schreiben. Das hätte knapp die Hälfte des bereits gedrehten Materials integriert und einige Charaktere stark verändert. Renoir hielt überhaupt nichts davon und lehnte jede Mitarbeit ab. Daraufhin bot Braunberger den Stoff anderen Regisseuren an, darunter Douglas Sirk, der gerade von Deutschland über Frankreich in die USA emigrierte, aber keiner hatte Lust. Braunberger ließ noch ein weiteres Drehbuch schreiben, aber Renoir hatte endgültig das Interesse verloren, und der Film schien jetzt endgültig gescheitert. 1940 emigrierte Renoir in die USA, und Braunberger, der Jude war, musste untertauchen. Doch nach dem Krieg nahm er seine Pläne wieder auf. Das geschnittene Positiv war von den Nazis zerstört worden, aber ein ungeschnittenes Negativ hatte überlebt. Marguerite Renoir, unterstützt von ihrer Schwester Marinette Cadix, die ebenfalls Cutterin war, schnitt den Film erneut, wobei sie sich am Drehbuch und an ihrer Erinnerung an die erste Fassung orientierte. Laut Braunberger war die zweite Fassung dann sogar besser als die erste. Renoir, der noch in Hollywood unter Vertrag stand, beteiligte sich nicht daran, und er war von Braunbergers Aktivitäten überhaupt nicht begeistert. Er fürchtete, dass die Veröffentlichung dieses unvollendeten Films seinem Ruf eher schaden als nützen würde, aber Braunberger ließ sich nicht beirren. Die Idee, die beiden fehlenden Szenen durch Zwischentitel zu ersetzen, war für jemanden, der wie Braunberger seine Produzentenlaufbahn noch im Stummfilm begonnen hatte, eigentlich naheliegend (er hatte auch schon einige von Renoirs ersten Filmen produziert). Eine weitere gute und ebenfalls naheliegende Idee Braunbergers war es, die Musik von Joseph Kosma schreiben zu lassen, der zu MONSIEUR LANGE ein Lied beigesteuert und dann von LA GRANDE ILLUSION bis LA RÈGLE DU JEU vier Renoir-Filme hintereinander vertont hatte. Kosmas ausdrucksstarke, aber unaufdringliche Musik fügt sich perfekt in den Rhythmus des Films ein, der mit Dialogen und Geräuschen, aber ohne Musik, noch immer keinen veröffentlichungsreifen Eindruck gemacht hatte. Sylvia Bataille formulierte das später so: "Nach dem Krieg, als uns Braunberger den geschnittenen Film ohne Musik zeigte, glaubte keiner, dass es möglich war, das zu veröffentlichen. [...] Aber ehrlich, als Kosma seinen wunderbaren Score hinzugefügt hatte, war der Film mit einem Schlag fertig, fehlerlos - eine echte Überraschung!" Als PARTIE DE CAMPAGNE dann 1946 in den Pariser Kinos anlief, war er ein voller Erfolg bei Kritik und Publikum, und Renoir war auch zufrieden, und er beglückwünschte Braunberger. Die Kritik lobte neben Renoir und Braunberger (für sein Beharrungsvermögen) vor allem Sylvia Bataille, doch deren Karriere, die trotz ihres Talents nie so recht abgehoben hatte, war da ironischerweise kurz vor ihrem Ende. 1946 drehte sie mit Marcel Carnés LES PORTES DE LA NUIT ihren vorletzten Spielfilm, dann folgte noch ein Kurzfilm und 1950 ein letzter Spielfilm. Danach betätigte sie sich als Mitarbeiterin ihres zweiten Mannes, des Psychoanalytikers und Philosophen Jacques Lacan.

Ruderpartie mit impressionistischer Uferstimmung
PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Verfilmung der (fast) gleichnamigen Erzählung Une partie de campagne von Guy de Maupassant (der trotz völlig unterschiedlicher künstlerischer Temperamente mit Pierre-Auguste Renoir befreundet war), die 1881 in der Sammlung La Maison Tellier erschien (eine etwas altertümlich angestaubte Übersetzung kann man hier lesen). Renoir hielt sich eng an die Handlung, dagegen änderte er den Ton der Erzählung gründlich. Während Maupassant seine Protagonisten mit der kühlen Distanziertheit eines Insektenforschers beschreibt, mit gelegentlichen Anflügen von Spott und Zynismus, ist der Film von vorn bis hinten von Renoirs warmherzigem Humanismus erfüllt. Dieser durchzieht fast alle seine Filme, aber selten in einer solchen Reinkultur wie hier. Und wo Maupassant die Charaktere nur sehr skizzenhaft schildert, erfüllt sie Renoir mit Leben und Charakter, durch Details im Dialog, im Schauspiel, in der Ausstattung, immer möglichst fern von vorgefertigten Klischees. Auch das zieht sich durch Renoirs Werk, aber im direkten Vergleich mit Maupassant sieht man es wie in einem Brennglas. Ebenso wichtig wie das bittersüße (fast) Nichts an Handlung ist das Drumherum, die Atmosphäre. Abgesehen von den kurzen Szenen mit Henri und Rodolphe in der Gaststube ist PARTIE DE CAMPAGNE ein kompletter Freiluftfilm, und mit Claude Renoirs Aufnahmen von der Schaukel, vom Garten mit dem Kirschbaum, vom flirrenden Licht auf dem Wasser, mit der am Ufer entlanggleitenden Kamera in den Ruderbooten ist er ein Pendant zur impressionistischen Freiluftmalerei. Renoir hat gelegentlich betont, dass er von den Bildern seines Vaters vor allem den Sinn für eine gute Bildkomposition gelernt habe. Den besaß er zweifellos, aber aus den Renoir-Filmen im Allgemeinen lässt sich dieser Einfluss kaum herauslesen, wenn man es nicht schon weiß. Doch bei PARTIE DE CAMPAGNE (und beim Spätwerk LE DÉJEUNER SUR L'HERBE von 1959) ist der Einfluss der impressionistischen Malerei direkt greifbar. PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Ode an den Fluss, an die Natur, an das Leben. Es ist doch noch ein Wohlfühlfilm geworden, im besten Sinn des Wortes.

Eine Nachtigall leistet Henri Schützenhilfe
PARTIE DE CAMPAGNE ist in England auf einer DVD des British Film Institute mit (nicht ausblendbaren) Untertiteln und mit einem Audiokommentar erschienen. Es gibt auch eine französische Ausgabe auf zwei DVDs, die aber derzeit nur stark überteuert zu haben ist. - Der rumänisch-französische Fotograf und Kameramann Eli Lotar war als Standfotograf beim Dreh dabei. Seine Bilder vom Set sind in einem Buch erhältlich.