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Mittwoch, 14. Dezember 2011

Independent-Kleinod: NOTHING BUT A MAN

NOTHING BUT A MAN
USA 1964
Regie: Michael Roemer
Darsteller: Ivan Dixon (Duff), Abbey Lincoln (Josie), Julius Harris (Duffs Vater), Gloria Foster (Lee), Stanley Greene (Reverend Dawson), Leonard Parker, Yaphet Kotto (Duffs Kollegen)

Kann etwas Gescheites dabei herauskommen, wenn ein intellektueller jüdischer Regisseur aus Neuengland, geboren in Deutschland, einen Film über das Lebensgefühl der Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten der 60er Jahre dreht? Es kann - Michael Roemer hat es bewiesen.


Duff Anderson ist Streckenarbeiter bei der Bahn in Alabama - obwohl traditionell von Demokraten regiert, seinerzeit einer der reaktionärsten US-Bundesstaaten. Duff und seine Kollegen, allesamt Schwarze, verrichten die anstrengende, aber ordentlich bezahlte Arbeit immer dort, wo gerade Schienen verlegt werden, und hausen dabei gemeinsam in Baracken. Ihre Freizeit verbringen sie in Spelunken mit Billard, Alkohol und leichten Mädchen. Aber Duff hat das unstete Leben langsam satt. In einer Kleinstadt lernt er die Lehrerin Josie Dawson kennen, Tochter eines Baptistenpfarrers, und die beiden verlieben sich. Josie und ihre Eltern gehören zur schwarzen Mittelschicht des Städtchens und pflegen einen gutbürgerlichen, um nicht zu sagen spießbürgerlichen Lebensstil. Etwas polemisch könnte man sagen, sie möchten weißer sein als die Weißen. Doch der übertriebene Anpassungswille, den Duff scharf kritisiert, ist nicht ohne Grund: Der letzte Lynchmord in der Gegend liegt erst acht Jahre zurück. Duff als einfacher Arbeiter mit unsolidem Lebenswandel bekommt zu spüren, dass er nicht in dieses Milieu passt. Bei seinem ersten Besuch im Haus von Josies Eltern wird er höflich behandelt, aber die latente Ablehnung durch Josies Vater ist sofort spürbar.


Bei einem Besuch in Birmingham, der größten Stadt des Bundesstaats, besucht Duff seinen vierjährigen unehelichen Sohn. Dessen Mutter hat sich mit einem anderen Mann aus dem Staub gemacht, und das Kindermädchen, das sich um den Jungen kümmert, hat kein Geld mehr von ihr erhalten. Eigentlich sollte Duff das Kind jetzt zu sich nehmen, aber er drückt sich davor. Duff trifft in Birmingham auch seinen Vater, einen kranken und alkoholsüchtigen Taugenichts, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. Die beiden erkennen sich gegenseitig kaum wieder und haben sich wenig zu sagen. Duffs zaghafter Versuch einer Wiederannäherung wird vom Vater schroff abgewiesen. Er gibt seinem Sohn nur noch den Ratschlag mit auf den Weg, sich von der Ehe fernzuhalten. Vielleicht gerade deshalb heiraten Duff und Josie bald darauf, den Widerständen zum Trotz. Sie beziehen ein eigenes Häuschen, das aber zunächst nur eine baufällige Bruchbude ist und erst in Schuss gebracht werden muss.


Um Josie näher sein zu können, tauscht Duff den Job bei der Bahn gegen einen in einem Sägewerk, doch das erweist sich als Fehler. Er verdient nicht nur viel weniger, er verliert auch die Arbeit bald wieder, als er seine neuen Kollegen überreden will, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die nun folgende Arbeitssuche gestaltet sich zermürbend. Stellen als livrierter Lakai oder als Baumwollpflücker für einen Hungerlohn nimmt Duff gar nicht erst an, einen Job an einer Tankstelle verliert er gleich wieder, als er von ein paar Rednecks provoziert wird. Eigentlich verdient Josie als Lehrerin genug für beide, aber das verträgt Duffs Ego nicht. Außerdem wird Josie schwanger, so dass sie in ein paar Monaten nicht mehr arbeiten können wird. Duff wird zunehmend unleidlich, sogar gewalttätig, und die Ehe gerät in eine Krise. Schließlich packt Duff die Koffer und geht allein nach Birmingham. Doch als sein Vater im Suff stirbt, packt ihn die Erkenntnis, dass er eines Tages auch so enden könnte, wenn er nicht gegensteuert. Er holt seinen Sohn ab und geht mit ihm zurück zu Josie. Ausgang offen - doch der gute Wille zu einem Neuanfang ist auf beiden Seiten vorhanden.


NOTHING BUT A MAN ist ein unspektakulärer Independent-Film mit semidokumentarischem Touch. Roemer und sein Kameramann, Co-Autor und Co-Produzent Robert M. Young hatten auch ein Standbein im Dokumentarfilm. Die beiden waren Studienkollegen und hatten schon 1949 an der Harvard-Universität gemeinsam einen Studentenfilm gedreht. Für NOTHING BUT A MAN recherchierten sie intensiv in den Südstaaten: Fast im Stil von Ethnologen ließen sie sich drei Monate lang von einer Gemeinde oder Gastfamilie zur nächsten weiterreichen und sammelten Eindrücke, bis sich ihre Vorstellungen so weit verdichtet hatten, dass sie ein Drehbuch daraus machen konnten. Den Kontakt zu ihren Hauptdarstellern vermittelte der schwarze Schriftsteller Charles Gordone. Ivan Dixon war bereits professioneller Schauspieler; später fand er sein Auskommen vor allem durch eine Serienrolle in "Hogan's Heroes". Seine letzte nennenswerte Filmrolle war in CAR WASH (1976), schon vorher hatte er sich auf eine Laufbahn als Fernsehregisseur verlegt. Die Jazzsängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln dagegen spielte ihre erste Rolle, abgesehen von einem Auftritt als sie selbst in Frank Tashlins THE GIRL CAN'T HELP IT. Nicht nur für eine Debütantin macht sie ihre Sache außerordentlich gut. Auch Julius Harris, der Darsteller von Duffs Vater, hatte hier seinen ersten Auftritt - zuvor war er Krankenpfleger. Später war er hauptsächlich in Blaxploitation-Filmen zu sehen. Generell zeigt NOTHING BUT A MAN sehr gute, immer authentisch wirkende Darstellerleistungen.


Der Soundtrack des Films stammt von Motown-Künstlern wie Martha and the Vandellas, Mary Wells und Stevie Wonder (damals, mit 14 Jahren, noch "Little Stevie Wonder"). Er verleiht zusätzliches authentisches Flair, ohne in den Vordergrund gerückt zu werden. NOTHING BUT A MAN ist kein Film über die Swingin' Sixties - dazu wäre Alabama auch der falsche Ort. Gedreht wurde übrigens gar nicht in Alabama, was durchaus riskant hätte werden können, sondern in New Jersey. Auch die gesellschaftspolitischen Umbrüche der Zeit, insbesondere das Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung, bilden nur den latenten Hintergrund des Films, ohne offen angesprochen zu werden (was sich durchaus angeboten hätte - die Darsteller nahmen sich im August 1963 Urlaub von den Dreharbeiten, um an Martin Luther Kings Marsch nach Washington teilzunehmen). Aber Roemer und Young wollten keinen vordergründig politischen Film drehen: "We thought that the most powerful, useful political statement would be a human one" (Roemer). Letztlich ist NOTHING BUT A MAN ein Film über Selbstachtung, Respekt und einen sinnvollen Platz im Leben. Dennoch wird der alltägliche Rassismus unverblümt gezeigt - die Standardanrede der weißen Rednecks für Schwarze ist etwa immer noch "Boy".


NOTHING BUT A MAN lief auf einigen internationalen Festivals und gewann zwei Preise in Venedig, aber der kommerzielle Erfolg in den USA war sehr bescheiden. Immerhin kursierten ausleihbare 16mm-Kopien lange in schwarzen Gemeinden. Dass Roemer heute als Regisseur nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt in erster Linie an seinem nächsten Film THE PLOT AGAINST HARRY, wieder mit Young als Partner realisiert. Es handelt sich um eine Gaunerkomödie, wiederum nach ausgiebigen Milieustudien mit semidokumentarischem Anstrich gedreht, und stilistisch irgendwo zwischen Woody Allen und John Cassavetes angesiedelt. Harry, ein jüdischer Ganove in New York, hat nach einem Gefängnisaufenthalt Schwierigkeiten, wieder ins Berufsleben als Verbrecher einzusteigen, und wird schließlich von seinen Verwandten mit Tricks und Schlichen (dem "Plot") wieder auf den Pfad der Tugend und des spießigen Familienlebens geführt. Der Film wurde 1969 gedreht, aber die kleine Firma aus Seattle, die ihn finanzierte, hielt ihn für einen kompletten Fehlschlag, und nach einer desaströsen Probevorführung, bei der niemand lachte, schloss sich Roemer resigniert dieser Meinung an. Abgesehen von einem kurzen Lauf in einem einzelnen Kino in Seattle kam THE PLOT AGAINST HARRY gar nicht erst in den Verleih. Doch 1989 nahm Roemer einen neuen Anlauf. Er reichte zwei Kopien bei den Filmfestivals von Toronto und New York ein, wurde in beiden Fällen angenommen, und THE PLOT AGAINST HARRY geriet zum Überraschungserfolg. Er kam jetzt endlich in die Kinos und lief auf weiteren Festivals, so auf dem Münchner Filmfest 1990 (in einem Programm mit den weiteren Independent-Wiederentdeckungen BLAST OF SILENCE, CARNIVAL OF SOULS und THE HONEYMOON KILLERS). Im Gefolge dieser Wiederauferstehung kam 1993 auch NOTHING BUT A MAN wieder in den Verleih, diesmal mit größerem Erfolg an der Kasse, und 1994 wurde er von der Kongressbibliothek in die National Film Registry aufgenommen. Roemer nahm den neuen Erfolg in den 90er Jahren erfreut, aber gelassen zur Kenntnis. Er lehrt seit 1966 als Professor für Film an der Yale University und drehte nach der vermeintlichen Pleite mit THE PLOT AGAINST HARRY nur noch sehr sporadisch weitere Filme. "I don't think I've made a film that isn't as alive today as it was when we made it", sagte er 2004 in einem Interview. "I feel good about that. Everything still looks like it happened yesterday rather than 40 years ago."


NOTHING BUT A MAN und THE PLOT AGAINST HARRY sind in den USA auf DVD erschienen, ersterer auch in England. In den USA gibt es auch eine DVD-R-Box mit sieben Filmen Roemers.

Samstag, 8. Oktober 2011

Drehen in der Höhle des Löwen: DILEMMA

DILEMMA (engl. auch A WORLD OF STRANGERS)
Dänemark 1962
Regie: Henning Carlsen
Darsteller: Zakes Mokae (Steven Sitole), Ivan Jackson (Toby Hood), Evelyn Frank (Anna Louw), Marijke Haakman (Cecil Alexander), Gideon Nxumalo (Sam Mofokenzazi)


Johannesburg um 1960. In der südafrikanischen Metropole kreuzen sich die Wege von mehreren jungen Menschen. Anna Louw, die aus einer Burenfamilie stammt, ist eine politisch engagierte Rechtsanwältin in einem Rechtshilfebüro, das Schwarzen, Mischlingen und Indern kostenlose Vertretung gewährt. Einer ihrer regelmäßigen Klienten ist Steven Sitole, ein intelligenter und sorgloser Luftikus, der mal dieses und mal jenes treibt - momentan versucht er sich als Fotograf - und dabei gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Einen solideren Lebenswandel pflegt sein Freund Sam, ein Komponist, vor allem, seit seine Frau schwanger ist. Ein Neuankömmling in Südafrika ist der Brite Toby Hood, der neuerdings die Johannesburger Filiale eines englischen Verlagshauses leitet. Er ist der Neffe des Verlegers und soll irgendwann den gesamten Verlag führen.


Als Mitglied der Oberschicht erhält Toby Einladungen in die feinen Kreise Johannesburgs. Er lernt Cecil Alexander kennen, eine reiche Tochter aus gutem Haus (den Vornamen schreibt man wirklich so - eine Referenz an Cecil Rhodes). Gelegentlich arbeitet sie als Model, sonst tut sie nichts; sie ist gelangweilt und leicht blasiert, aber nicht unsympathisch. Auch die Mitglieder ihrer Clique sind nett, adrett und gastfreundlich. Sie wohnen in strahlend weißen Villen, sie haben schwarze Hausdiener, Kindermädchen und Caddies zum Golfen - aber diese müssen nach Feierabend die Gegend verlassen, dann gilt für das Wohnviertel "Whites only". Durch die Angelegenheiten eines seiner schwarzen Angestellten lernt Toby auch Anna kennen, und über sie auch Steven und Sam, und er befreundet sich mit allen dreien. So lernt er auch die andere Seite des südafrikanischen Lebens kennen, die Dynamik und Lebensfreude urbaner südafrikanischer Kultur, und natürlich die Apartheid und alle Abstufungen von Rassismus. Für den liberalen, unbefangenen Engländer Toby ist die Freundschaft mit den Schwarzen Steven und Sam nichts Außergewöhnliches, aber bei seinen vornehmen Bekannten würde er damit völliges Unverständnis auslösen, deshalb erwähnt er dort nichts davon.


Toby bemerkt schnell, dass Anna nicht nur Rechtshilfe leistet, sondern dass sie auch in verbotene politische Aktivitäten verstrickt ist - sie wird auch bereits seit längerem von der Geheimpolizei observiert. Tobys Freundschaft zu Anna ist platonisch, aber mit Cecil beginnt er ein Verhältnis, das jedoch oberflächlich bleibt. Als er ihr von Sam erzählt, findet sie es nur amüsant, dass er jemanden kennt, der den Namen "Mofokenzazi" trägt. Während Toby mit Cecil schläft, schiebt ihm Steven eine Nachricht unter die Tür - Anna wurde verhaftet. Toby, Steven und Sam treffen sich zu einer Krisensitzung, doch die endet in Ratlosigkeit - es gibt nichts, was sie tun könnten. Und es kommt noch schlimmer ...


DILEMMA ist Henning Carlsens erster Spielfilm. Zuvor hatte er ab 1949 ca. 25 Dokumentar- und Industriefilme gedreht. Einer davon, der 1958 zum 25-jährigen Jubiläum der Firma Danfoss entstand, führte Carlsen um die halbe Welt, und auch nach Südafrika. Dort lernte er völlig unvorbereitet die Apartheid kennen, von der damals in Europa wenig bekannt war. Carlsen erzählt im Bonusmaterial der DVD von DILEMMA, wie auch ältere Schwarze von jungen Weißen mit "Boy" angeredet wurden, oder wie er zusammen mit einem Mitarbeiter und einem jungen Schwarzen in einem Hotel drei Bier bestellte und nur zwei bekam, weil an "Kaffern" kein Alkohol verkauft wurde. Damals nahm sich Carlsen vor, dass sein erster Spielfilm dieses Thema behandeln sollte, falls er je das Geld dazu hätte. Die Gelegenheit ergab sich bald durch eine Erbschaft. Um unter dem Vorwand, den für Danfoss gedrehten Film zu erweitern, in Südafrika arbeiten zu können, erbat sich Carlsen von einem Danfoss-Manager ein Empfehlungsschreiben - und er erhielt gleich eine Blanko-Vollmacht in dreifacher Ausfertigung, ausgestellt von Danfoss-Gründer Mads Clausen persönlich. Für Carlsens Vorgehen gab es schon ein Vorbild: 1958 hatte der Amerikaner Lionel Rogosin unter dem Vorwand, harmlose südafrikanische Musiker zu filmen, im Großraum Johannesburg seinen dokumentarischen Spielfilm COME BACK, AFRICA gedreht, unter Einbeziehung dokumentarischer Aufnahmen im Stil des Direct Cinema bzw. Cinéma vérité, und dafür Festivalpreise gewonnen. Im März 1960 erregte das Massaker von Sharpeville internationale Aufmerksamkeit, aber Hintergrundberichte zum System der Apartheid waren nach wie vor dünn gesät.


Carlsen konsultierte drei skandinavische Autoren, die bereits über dieses Thema gearbeitet hatten, und erhielt den Rat, sich mit Nadine Gordimer in Verbindung zu setzen. Die südafrikanische Literatur-Nobelpreisträgerin von 1991 hatte 1958 ihren zweiten Roman "A World of Strangers" veröffentlicht. Sie traf sich mit Carlsen, und sie beschlossen, aus dem Roman ein Drehbuch zu entwickeln. Gemeinsam nahmen sie die nötigen Kürzungen und Änderungen vor - insbesondere der Schluss wurde dramaturgisch zugespitzt (der Roman kommt laut Kindlers Literaturlexikon ohne dramatische und melodramatische Effekte aus). Noch während der Arbeit am Film wurde die Taschenbuchausgabe von Penguin Books verboten, denn diese konnte sich auch das schwarze Massenpublikum leisten, und das machte den ohnehin mißliebigen Roman für das Regime zum gefährlichen Sprengstoff.


Durch eine glückliche Fügung war Carlsen gleich mit zwei Kameramännern nach Südafrika gereist, dem Dänen Henning Kristiansen und dem Schweden Arne Lagercrantz. Ähnlich wie Toby im Film, wurde Carlsen von der südafrikanischen High Society freundlich empfangen - man erhoffte sich eine positive Berichterstattung. Carlsen wurde sogar ins engere Umfeld von Hendrik Verwoerd aufgenommen, dem damaligen Ministerpräsidenten und Architekten der Apartheids-Gesetze. Die beiden Kameramänner ermöglichten Carlsen ein regelrechtes Doppelleben: Während der eine Kameramann mit leerer Kamera so tat, als würde er gesellschaftliche Ereignisse filmen, drehte Carlsen mit dem anderen in Townships, wo er sich nicht einmal aufhalten, geschweige denn filmen durfte. Die belichteten Filmrollen wurden unentwickelt mit Diplomatenpost nach Dänemark geschickt. Das ging lange gut, doch dann wollten die Kameramänner die Qualität ihrer Arbeit kontrollieren, und es wurde eine Filmrolle an ein südafrikanisches Kopierwerk geschickt. Zwar ohne Ton, aber die Südafrikaner bekamen trotzdem Wind vom politischen Inhalt des Films - vielleicht durch einen Lippenleser. Jedenfalls war jetzt die Geheimpolizei auf der Spur der Filmemacher, und es gab eine diplomatische Anfrage im zuständigen dänischen Konsulat. Nur mit Mühe konnte der Film fertiggestellt und die letzten Filmrollen außer Landes geschafft werden. Wie Zakes Mokae viel später gegenüber Carlsen feststellte, hätte sogar die Gefahr bestanden, dass das Regime das komplette Filmteam verschwinden lässt. Als dann der Film Premiere hatte, kam es zu einer regelrechten diplomatischen Krise zwischen Südafrika und Dänemark. Bald danach bildeten sich in Kopenhagen, Stockholm und Oslo Anti-Apartheid-Komitees, und Dänemark, Schweden und Norwegen gehörten in den folgenden Jahren zu den Ländern, die am intensivsten gegen die Apartheid kämpften.


DILEMMA hat durchaus seine Fehler. Das Budget war minimal, Carlsen hatte keine Erfahrung mit Schaupielerführung, und die Darsteller, überwiegend Amateure, sind gelegentlich etwas hölzern. Manches wirkt plakativ, auf den politischen Zweck abgestellt. So wird etwa Annas indischer Ex-Mann nur eingeführt, damit Anna später Toby etwas über die sozialen und psychologischen Probleme von gemischtrassigen Ehen in Südafrika erzählen kann. Ereignisse der jüngeren südafrikanischen Zeitgeschichte - etwa die Enteignungen und Zwangsumsiedlungen von Schwarzen aus den Townships Alexandra und Sophiatown ins weiter vom Zentrum Johannesburgs entfernte Soweto - werden dramaturgisch etwas holprig in die Handlung integriert. Wie schon erwähnt, wird der alltägliche Rassismus in unterschiedlichen Abstufungen vorgestellt. Manchmal frontal: Etwa, wenn ohne weiteren Kommentar (der auch nicht nötig ist) eine Parkbank gezeigt wird, auf der "Nur für Weiße" steht - hier setzt Carlsen eine der Erfahrungen, die ihm 1958 einen Schock versetzten, eins zu eins ins Bild um. Tobys Sekretärin ist konsterniert über seinen freundschaftlichen Umgang mit Steven; als sie Steven Kaffee und Sandwiches servieren soll, reagiert sie patzig, und als sich Toby davon nicht beeindrucken lässt, kündigt sie. Ähnlich Tobys Vermieterin: Sie duldet keine "Kaffern" in ihrem Haus, und sie droht mit der Polizei, als Toby sie selbst und nicht Steven und Sam aus seiner Wohnung wirft. Aber es geht auch subtiler. Auf einer Party von Annas liberalen Freunden bittet eine junge Weiße Steven um eine Zigarette. Der hat nur noch eine, und er steckt sie sich, durch ein Gespräch abgelenkt, selbst in den Mund und zündet sie an, um sie dann doch der Frau anzubieten. Doch die zögert - sie zögert sehr lange, bis sie die Zigarette schließlich annimmt, und die Kamera hält währenddessen auf ihr Gesicht und zeigt ihre vielsagenden Blicke, die Unsicherheit ausdrücken. Solche Szenen waren es, die manche Rezensenten an John Cassavetes erinnerten.


Die kleinen Schwächen verblassen vor dem dokumentarischen und zeitgeschichtlichen Wert des Films. Immer wieder eingeschnittene Straßenszenen aus Johannesburg und den Townships, Aufnahmen aus verrauchten Kaschemmen, in die Toby - quasi als Kundschafter des Zuschauers (Gordimers Roman ist aus Tobys Ich-Perspektive geschrieben) - mit Steven vordringt, zeigen eine dynamisch pulsierende, urbane Metropole. Und das Wesen der Apartheid wird so deutlich enthüllt wie in keinem europäischen Film zuvor (von Hollywood ganz zu schweigen). (Diese Qualitäten - Stärken im Dokumentarischen und gewisse Schwächen in der Spielhandlung - wurden übrigens auch Rogosins COME BACK, AFRICA zugeschrieben.)


DILEMMA verfügt noch über eine andere Stärke, nämlich den Soundtrack. Dieser stammt zum überwiegenden Teil von Gideon Nxumalo, dem Darsteller von Sam (das "Nx" im Namen ist übrigens ein Schnalzlaut). Er spielte nicht nur einen Komponisten und Musiker, er war tatsächlich einer. Und zwar, bis zu seinem frühen Tod 1970, einer der vielseitigsten in Südafrika. Von europäischer Klassik über verschiedene Jazzrichtungen bis zu traditionellen einheimischen Musikstilen war er auf einem weiten Feld bewandert, aber sein Schwerpunkt lag im Jazz. Ein bekannter Radio-DJ war er auch. Seine Vielseitigkeit bewies Nxumalo auch in DILEMMA. Einerseits gibt es mehrere Szenen, in denen eine Band mit Sängern und Sängerinnen einen "Marabi" genannten eingängigen Jazz mit einem Einschlag von Rhythm and Blues spielt. Andererseits werden einige der Szenen in der schönen, strahlend hellen Wohngegend der weißen Oberschicht mit bewusst süßlicher Klaviermusik unterlegt und so ironisch kommentiert. An einigen markanten Stellen des Films stammt die Musik nicht von Nxumalo, sondern aus "We Insist! Freedom Now Suite", einem wegweisenden Konzeptalbum, das der Schlagzeuger Max Roach mit einer Handvoll Musiker 1960 in New York aufnahm. Die Sängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln, die später auch mit Roach verheiratet war, übernahm den Gesang. Formaler Höhepunkt von DILEMMA ist eine grandiose Montage, die eine Gewalttat mit der Geburt von Sams Kind verknüpft, und über die Lincolns expressiver Vocalpart aus dem Stück "Triptych" gelegt ist. Allein dieser Geniestreich macht schon sämtliche Schwächen des Films wett.


Zakes Mokae begann seine Laufbahn in den 50er Jahren in einer Theatertruppe, die er mit dem weißen südafrikanischen Schriftsteller Athol Fugard gegründet hatte. Nach DILEMMA fühlte er sich in Südafrika nicht mehr sicher, er verließ fluchtartig das Land und ging zunächst nach England, 1969 dann in die USA. Dort war er ein vielbeschäftiger Schauspieler, vor allem am Theater. 1982 gewann er für eine Rolle in einem Stück von Fugard einen "Tony", den Broadway-Oscar. Evelyn Frank war keinen direkten Schikanen ausgesetzt, aber das allgemeine Klima der Repression veranlasste auch sie 1965, mit ihrer Familie in die USA zu emigrieren. 1996 trafen sich Carlsen, Mokae, Evelyn Frank und Nadine Gordimer in Johannesburg wieder, was von dem dänischen Regisseur Anders Høgsbro Østergaard in der 53-minütigen Doku GENSYN MED JOHANNESBURG (JOHANNESBURG REVISITED) festgehalten wurde.


DILEMMA lief 1962 auf der Internationalen Filmwoche Mannheim und gewann dort drei Preise, darunter den Hauptpreis für den besten Spielfilm. Henning Carlsen stieg im Verlauf der 60er Jahre in die Oberliga der dänischen Regisseure auf, insbesondere durch die grandiose Hamsun-Verfilmung HUNGER (1966). Carlsens Website liegt zum größten Teil auch auf Englisch vor. Dort kann man auch seine Spielfilme auf DVD bestellen (jedoch nicht alle mit Untertiteln). Die DVD von DILEMMA bietet GENSYN MED JOHANNESBURG sowie ein 25-minütiges Video-Statement von Carlsen, in dem er die Entstehung von DILEMMA rekapituliert, als Bonus; die dänischen Teile des Bonusmaterials haben engl. Untertitel. UPDATE: Nach Carlsens Tod im Jahr 2014 ist die Website nicht mehr online.

Trailer: