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Mittwoch, 7. Dezember 2011

Das Jahr, das uns die Alten brachte

Lina Braake (Alternativtitel: Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat)
(Lina Braake, Deutschland 1975)

Regie: Bernhard Sinkel
Darsteller: Lina Carstens, Fritz Rasp, Ellen Mahlke, Herbert Bötticher, Benno Hoffmann, Rainer Basedow, Erica Schramm, Wilfried Klaus, Teseo Tavernese u.a.

Der sich vom reinen Unterhaltungsfilm abgrenzende deutsche Autorenfilm der 70er Jahre zeichnete sich durch eine bemerkenswert vielfältige, oft beinahe dokumentarische Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen und zeitgeschichtlichen Themen aus, die uns heute noch beeindruckt, mochten wir ihn und seine utopische Forderung nach einer besseren Welt vielleicht gelegentlich auch in künstlerischer Hinsicht ein wenig überschätzen.  Denn nicht zuletzt wegen des Heranwachsens immer neuer Regisseure benötigte er eine intensive Förderung; und die erhielt er spätestens seit dem zum Markstein gewordenen Abkommen zwischen der Filmförderungsanstalt und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Jahre 1974 vom Fernsehen, das sich wiederum eine rasche Übernahme  der Produktionen nach der Kinoauswertung sicherte. Eine Zweckehe war geboren, die den deutschen Film nachhaltig veränderte: Zwar gab es immer noch die international erfolgreichen Werke der "bedeutenden" Figuren des “Neuen Deutschen Films”; gerade Jungregisseure sahen sich jedoch veranlasst, sich in ihrer Ästhetik dem Medium Fernsehen anzupassen, sozusagen für den Bildschirm statt für die grosse Leinwand zu inszenieren. - Und so waren einige der Streifen, die wir in dieser Zeit als epochemachende Produkte eines fortschrittlichen Denkens verherrlichten, in erster Linie kleine für den Tag geschriebene Fernsehfilme mit verzeihlichen Schwächen, die bei  einer Sichtung nach vielen Jahren aber doch ins Gewicht fallen.


Dies trifft sicher nicht auf alle geförderten Werke jener Jahre zu. Gerade der von mir bei früherer Gelegenheit besprochene und leider noch immer nicht auf DVD erhältliche Erstling von  Erwin Keusch, “Das Brot des Bäckers” (1977), setzt seine Geschichte vom Niedergang des Kleingewerbes in jeder Hinsicht tadellos und zeitlos ins Medium Film um. Es beruhigte mich jedoch, dass mein Blogger-Kollege von "Sieben Berge" anlässlich einer Besprechung von Hark Bohms “Moritz, lieber Moritz” (1978) von einem historischen Abstand zur Welt der 70er Jahre schrieb, der sich unter anderem in einem betulich wirkenden Erzählton bemerkbar mache, aber auch in einem Optimismus, der den heutigen Zuschauer befremdet. Denn ich hatte kurz zuvor ähnlich zwiespältige Erfahrungen gemacht - mit einem Film, der uns seinerzeit vorbehaltlos begeisterte und die Presse zu kollektiven Lobgesängen hinriss.

Mit seinem sozialkritischen Schelmenstück “Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat” betrat der Debütant Bernhard Sinkel in zweierlei Hinsicht Neuland: Er entdeckte die Komödie für den “Neuen Deutschen Film” der 70er Jahre, und er besetzte sie mit Senioren. Der Publikumserfolg veranlasste den SPIEGEL gleich zu einem Artikel, in dem ein “Altenkult” beschworen wurde:  1975 sei das Jahr, das uns die Alten wieder ins Bewusstsein bringe, im Film, Fernsehen und Theater. Rainer Werner Fassbinder habe mit “Angst essen Seele auf” (1974) den Anstoss gegeben; jetzt würden mit Serien wie “Rest des Lebens”, Theaterstücken wie Karl Otto Mühls “Rheinpromenade” oder Tankred Dorsts “Eiszeit” - ja gar mit Curd Jürgens’ “60 Jahre und kein bisschen weise” Greise zum Thema der Saison. “Ade, süsser Vogel Jugend, willkommen, ihr Mühseligen und Bejahrten”. Willkommen aber vor allem auch Lina Braake, die zeigt, dass man selbst im Alter noch einen übermächtigen Gegner zu überlisten vermag!

Die Presse neigt bekanntlich zu Übertreibungen und Pauschalisierungen. Eine Kriminalkomödie, die sich für die Rechte alter Menschen stark machte, den Zuschauer  sogar Sympathie für die kriminellen Alten empfinden liess, weil sie gegen einen Goliath antraten, fuhr aber schon ein: Obwohl der 81-jährigen Lina Braake von ihrem verstorbenen Vermieter schriftlich ein Wohnrecht auf Lebenszeit zugesichert wurde, kündigt ihr die Bank, die den Altbau übernommen hat und abreissen will, gnadenlos und schiebt sie in ein idyllisch gelegenes, jedoch völlig verlottertes Altenheim ab. Dort leidet Lina nicht nur unter der ungewohnten Umgebung und den Marotten der anderen Bewohner; die früher selbständige Frau muss auch erkennen, dass ihre Hilfe nicht mehr gefragt ist. Sie lässt sich in eine Lethargie fallen, verbringt den ganzen Tag nur noch im Bett. Erst der ihr zunächst kauzig vorkommende entmündigte ehemalige Bankfachmann und Betrüger Gustaf Härtlein weckt ihre Lebensgeister wieder. Er erinnert Lina daran, dass sie noch eine Rechnung begleichen möchte und er ihr dabei helfen kann. So kommt es, dass nach längerem gemeinsamem Monopoly-Spielen und vielen Lektionen zum Thema Geldzirkulation eines Tages eine distinguiert wirkende ältere Dame die Deutsche Boden- und Kreditbank betritt, um dort 20'000 Mark abzuheben, die ihr nicht gehören. Mit dem erschwindelten Geld kauft sie für den Friseur-Gehilfen Ettore einen Hof in Sardinien, wo sie selber noch einmal die ihrem Alter angemessene Wärme spüren will. Am Ende wird Lina von der Polizei zurück ins Heim gebracht. Aber sie hat einen Trumpf in der Tasche...

Ein Thema, wie es von bleibenderer Aktualität nicht sein könnte. Da lebt ein Mensch sein bescheidenes Leben, ist zufrieden damit und denkt, wenigstens an ihm seien die gesichtslosen Mächtigen nicht interessiert  (zu Beginn betritt Lina den Salon ihres Friseurs und meint zu den laut tönenden Sirenen des Krankenautos, es habe sich wieder einer aus dem Fenster gestürzt, weil man ihm die Wohnung wegnahm - was ihr ja nie passieren könne). Man passt sich sogar den unbequemen Veränderungen der Moderne an (eine Szene, die Lina vor zwei Aufzügen zeigt, deren Türen sich gleichzeitig öffnen und gleich darauf wieder schliessen, wirkt wie eine Reverenz an Jacques Tatis “Playtime”, 1967). --- Doch dann tauchen sie auf, die legalen Abzocker, reissen diesen Menschen aus seinem kleinen Dasein und führen sich sogar als die eigentlichen Opfer auf (“Aber wir sind doch eine Bank! Wir handeln mit Geld...”). Wünscht man sich da nicht ein Märchen, in dem mit dem Pack abgerechnet wird? Ist es nicht das, was sich die heute weltweit Sympathien erntende “Occupy"-Bewegung ebenfalls als utopisches Ziel setzt?

Von nun an gehört der Film ganz den beiden alten Menschen, die dieses Märchen frech und aufmüpfig Realität werden lassen wollen. Man sieht Lina förmlich an den unter einem “Wie gehts uns denn heute” des Heimleiters noch depressiven Augen an, wie das Leben in sie zurückkehrt, als Härtlein sie in die Geheimnisse des Betrugs einzuweisen beginnt (herrlich: die Szene, in der die beiden den korrekten Auftritt der Dame von Welt am Bankschalter einüben). Die traurige alte Frau, die zu der Bemerkung “Schaden kanns nix. Aber obs hilft?” in der Kirche eine Kerze anzündete, wird wieder zum selbständigen Wesen, das auf seinem mit der Unterstützung des Hausmeisters zusammengebastelten Fahrrad herumfährt - und als dann im Friseursalon zum Tango-Leitmotiv des Jazz-Pädagogen Joe Haider die Worte “Bella Lina” erklingen, weiss der Zuschauer, dass das bescheidene Märchen auf Zeit in Erfüllung gehen wird. - Es ermöglicht sogar Lina Carstens, die ab 1935 schon unter Douglas Sirk gespielt hatte, und Fritz Rasp, wegen seiner eng zusammenliegenden Augen immer wieder zu Rollen in Krimis verurteilt, als Gaunerpärchen selber noch einen späten Triumph zu feiern, nachdem man sie schon weitgehend abgeschrieben hatte.

Dieser Triumph der beiden Altstars ist jedoch auch dafür verantwortlich, dass man als Betrachter des Films den zeitlichen Abstand zu den 70er Jahren heute so stark empfindet. Denn nur Lina und Gustaf werden als Menschen gezeichnet, alle anderen Figuren um sie herum sind lediglich Typen, als seien sie als Nebenfiguren der “Lindenstrasse” entsprungen, hätte es diese damals schon gegeben. Der Heimleiter Körner ist nicht mehr als ein spiessiger Emporkömmling, wie man ihn sich damals eben vorstellte: nach oben wegen des kleinen Etats jammernd, nach unten tyrannisierend - und dann noch staunend, weil man ihn offenbar nicht liebt (“Manchmal habe ich das Gefühl, dass die mich hassen”). Jawlonsky, der Hausmeister, wird zum schon beinahe unerträglich stereotypen harten Kerl mit weicher Schale. Und dann beschwört man natürlich noch den Antiquitätenhändler herauf, der die Alten ausnehmen will. - Dass im Zusammenhang mit dem italienischen Friseurgehilfen Ettore sogar die Situation der italienischen Gastarbeiter in Deutschland thematisiert werden muss, zeigt, dass eine 70er Jahre-Komödie eben nicht nur eine Komödie sein kann, sondern sich zusätzlich mit weiteren gesellschaftlichen Problemen überladen muss.


Wer jedoch in den “Genuss” von “Dinosaurier - Gegen uns seht ihr alt aus!” (2009) kam, muss zugeben:  man jammert als Kritiker von “Lina Braake” auf einem hohen Niveau. Selbst die teilweise etwas einfallslosen Dialoge (lediglich Härtling darf sich Bonmots wie “Schwarze Kleider. Geeignet für Beerdigungen und Bankgeschäfte” leisten) wirken im Vergleich zum Remake direkt inspiriert. Und das scheinbar gelegentlich zu lange Verharren der Kamera an einer Stelle im ersten Teil geht vergessen, wenn man die nicht weniger langen Einstellungen geniesst, die Lina unter der Sonne Italiens am Strand sitzend oder in die Landschaft blickend zeigen. Diese Aufnahmen dienen nicht touristischen Zwecken; sie widerspiegeln einfach den Gemütszustand einer alten Frau, der List und Tücke noch zur Möglichkeit verhalfen, nicht nur eine offene Rechnung zu begleichen, sondern einen Traum für sich zu verwirklichen. - Und in solchen Augenblicken sehnt man sich - ich berufe mich noch einmal auf  "Sieben Berge" - zurück nach der tief versunkenen Welt der 70er Jahre mit ihren optimistischen Vorstellungen. Denn trotz aller Bewegungen gegen die Mächtigen vermag man heute nicht mehr die Kraft aufzubringen, an kleine Wunder zu glauben, zu deren Verwirklichung uns das Jahr, das uns die Alten brachte, auf der Leinwand oder am Bildschirm beinahe anspornte.