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Sonntag, 26. August 2018

Zeugin aus der Hölle

Zum hundertsten Geburtstag von Artur Brauner am 1. August 2018

ZEUGIN AUS DER HÖLLE / GORKE TRAVE
BRD/Jugoslawien 1965/67
Regie: Žika Mitrović
Darsteller: Irene Papas (Lea Weiss/Clément), Daniel Gélin (Bora Petrović), Heinz Drache (Dr. Hoffmann), Werner Peters (von Walden), Alice Treff (Frau Ritter), Jean Claudio (Nino Bianchi), Hans Zesch-Ballot (Dr. Berger), Radmila Guteša (Telefonistin)

Lea, die Zeugin aus der Hölle
Bora Petrović, ein gestandener jugoslawischer Journalist, bekommt eines Tages unerwarteten Besuch aus Deutschland in seiner Belgrader Redaktion: Dr. Hoffmann, ein Staatsanwalt an der Ludwigsburger Zentralen Stelle für Nazi-Verbrechen. Er ist seit Monaten dem früheren KZ-Arzt Dr. Berger auf der Spur, der in einem Lager grausame Menschenversuche und Zwangssterilisationen an weiblichen Häftlingen durchgeführt hat. Doch jetzt führt Berger als wissenschaftlicher Direktor einer großen Pharmafirma ein gutbürgerlichen Leben mitten in der Bundesrepublik. Er gab sogar einem Fernsehteam ein Interview, in dem er die Vorwürfe gegen ihn jovial-herablassend als frei erfunden abbügelt, ließ dann aber die Ausstrahlung durch seinen Anwalt verhindern. Aber Dr. Hoffmann hat eine potentielle Belastungszeugin: Die jüdische KZ-Überlebende Lea Weiss, nach ihrer Hochzeit mit einem Franzosen (der inzwischen als Reporter in Vietnam verschollen und wahrscheinlich tot ist) Lea Clément. Diese hatte unmittelbar nach dem Krieg ihre Erinnerungen an das Konzentrationslager Petrović diktiert, der das als Buch in Jugoslawien herausbrachte. Dieses Buch, in dem Dr. Berger schwer belastet wird, ist erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen, und so ist Dr. Hoffmann auf Lea Clément, die wieder in Deutschland lebt, aufmerksam geworden. Doch Lea will nicht in einem Prozess aussagen und behauptet sogar, ihre Aussagen in dem Buch seien Übertreibungen und "Mystifikationen" gewesen. Das alles erzählt nun Dr. Hoffmann im Büro von Petrović und bittet ihn um eine Einschätzung. Petrović kann kaum glauben, was er da hört - er ist fest davon überzeugt, dass in dem Buch jedes Wort wahr ist. Und so begleitet Petrović nun Hoffmann auf dessen Bitte hin nach Deutschland, um mit Lea zu sprechen.

Bora Petrović und Dr. Hoffmann
Diese hat bis vor einiger Zeit ein halbwegs normales Leben in einer westdeutschen Großstadt geführt und als Pianistin in einem Hotel gearbeitet. (Die städtischen Außenaufnahmen entstanden in Berlin, doch die Stadt wird nicht beim Namen genannt, ist aber durch einige dezente Hinweise erkennbar.) Doch seit einigen Wochen ist sie mehr oder weniger auf der Flucht, zieht in kurzer Folge von Hotel zu Pension. Sie lässt nur noch zwei Personen an sich heran, ihren zwielichtig-schmierigen Anwalt von Walden und ihren derzeitigen Geliebten Bianchi, einen Autohändler. Dieser weiß nichts von Leas Vergangenheit, kann sich keinen Reim auf die hastigen Umzüge machen und ist davon genervt. Bianchi bleibt eine Randfigur, er verschwindet bald aus dem Film. Unmittelbar nach Hoffmanns und Petrović' Ankunft in Leas derzeitigem Hotel packt diese wieder die Koffer und zieht in eine großbürgerliche Villa am Stadtrand, deren ältliche Besitzerin Frau Ritter auch dort wohnt und Zimmer vermietet. (In IMDb, Wikipedia und sonstigen Quellen wird sie aus mir unbekannten Gründen "Frau von Keller" genannt - mehr dazu weiter unten.) Wie man später erfährt, hat von Walden Lea diese Adresse empfohlen. Doch Petrović und Hoffmann geben nicht auf. Mit Hilfe von Bianchi finden sie die Villa, und eine indiskrete Hoteltelefonistin enthüllt den Grund für Leas Verhalten: Sie erhält Drohbriefe und -anrufe mit Inhalten wie "Jude raus!", "Du hast eine Entschädigung bekommen, was willst Du hier noch, Du Blutsaugerin?" (mit einem Hakenkreuz versehen) oder "Du stinkige Judensau, die man vergessen hat zu vergasen, was suchst Du noch in unserem Land?". Der Film nimmt hier wirklich kein Blatt vor den Mund - und gibt wieder, was sich Mitte der 60er Jahre, zur Zeit des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, vielfach tatsächlich ereignet hat. Für den Fall, dass Lea gegen Dr. Berger aussagt, wird sie mit dem Tod bedroht. Es ist also die Angst, die jetzt ihr Verhalten diktiert, aber nicht nur das. Durch das erneute Trauma hat sie wieder Alpträume von ihrer Verhaftung und Deportation und von der Zeit im Lager. In einem der Träume bietet ihr Dr. Berger ein großes Stück tätowierte Menschenhaut als Geschenk an. (Das Thema der tätowierten Menschenhaut, aus der angeblich Lampenschirme gefertigt wurden, ist komplex und diffizil. Hans Schmid hat in seinem Artikel über die ILSA-Filme und deren reale Hintergründe im Lager Buchenwald ausführlich darüber berichtet.) Lea hat die begründete Furcht, dass sie es nicht durchstehen würde, in einem Prozess ihre Geschichte noch einmal durchleben zu müssen.

Wiedersehen von Bora und Lea nach vielen Jahren
Dr. Hoffmann lässt durch die Polizei Recherchen anstellen und findet so schnell heraus, dass Frau Ritters Bruder ein hoher SS-Offizier war, was von Walden Lea gegenüber natürlich nicht erwähnt hat. Und Frau Ritter und von Walden sind alte Freunde, sie nennt ihn "Rudi". Gegen Ende des Films stellt sich sogar heraus, dass dieser dubiose Anwalt auch Dr. Berger vertritt. Und natürlich ist der KZ-Arzt sein eigentlicher Klient, dem er loyal ist, und an Lea hat er sich nur herangewanzt, um sie bequem manipulieren zu können. Und kein anderer als von Walden veranstaltet durch seine Gehilfen die Terrorkampagne gegen Lea. Schon zuvor hat man durch Gespräche der Protagonisten einige Details aus Leas Vergangenheit erfahren, die Dr. Hoffmann noch nicht kannte, weil sie nicht im Buch stehen. Lea und Petrović waren damals, kurz nach dem Krieg, für kurze Zeit ein Paar, bis sie ihn ohne Vorwarnung verließ. Den Grund kannte Petrović selbst noch nicht, aber jetzt erfährt er ihn: Es war sein Wunsch nach Kindern, den er gar nicht offensiv geäußert hatte, den ihm Lea aber angemerkt hatte. Aufgrund ihrer Zwangssterilisation ertrug sie das nicht, konnte auch nicht darüber sprechen und ergriff die Flucht. Und noch etwas erfährt man, das selbst Petrović noch nicht wusste, weil sich Lea damals zu sehr geschämt hatte: Sie war nicht nur den üblichen Qualen und der Sterilisation ausgesetzt, sondern sie musste auch im Lagerbordell arbeiten und war einige Zeit zwangsweise Dr. Bergers Mätresse, bis er ihrer überdrüssig wurde und sie an einen Kollegen abgab, der an Häftlingen Unterkühlungsexperimente in Wassertanks durchführte. Lea musste dann bei diesen Experimenten assistieren, indem sie sich nackt zu den fast erfrorenen Opfern legte, um diese wieder aufzutauen.

Undurchsichtige Gastgeberin: Frau Ritter
Nachdem Lea aus den Fängen von Frau Ritter und "Rudi" befreit wurde und von einem Kriminalbeamten bewacht wird, wirkt sie vorübergehend entspannter. Doch der Schein trügt, Lea wird die Dämonen aus der Vergangenheit nie loswerden. Einmal sagt sie zu Petrović, es wäre besser gewesen, sie wäre vor ihrer Verhaftung aus dem Fenster gesprungen. Nicht, um sich zu retten - das Fenster war im 4. Stock. Doch damals fehlte ihr der Mut dazu. Vor Gericht will sie jetzt immer noch nicht aussagen, aber sie macht in Hoffmanns Büro eine per Tonband mitgeschnittene offizielle Aussage. Das reicht zumindest mal für einen Haftbefehl, und Dr. Berger wird festgesetzt. Aber die Aussage übersteigt Leas Kräfte, und am Ende kollabiert sie mit einer Nervenkrise. Und als Reaktion auf Dr. Bergers Verhaftung aktiviert von Walden wieder seine Drohanrufer - dummerweise hat man Lea im selben Hotel wie vor ihrem Wechsel in die Villa untergebracht, so dass er nicht lange nach ihr suchen musste. Lea ist jetzt am Ende. Als drei junge Männer im Hotelflur Radau machen, kann sie Realität und Vergangenheit nicht mehr unterscheiden - sie wähnt sich wieder am Tag ihrer Verhaftung und glaubt, dass sie jetzt abgeholt wird. Und diesmal springt sie aus dem Fenster.

Lea erhält Drohanrufe
Es ist starker Tobak, der dem deutschen Publikum von ZEUGIN AUS DER HÖLLE präsentiert wurde, und erwartungsgemäß wollten die meisten das nicht sehen. Doch die Zeit war reif für diesen Film, denn von 1963 bis zur Urteilsverkündung im August 1965 hatte der erste Frankfurter Auschwitzprozess stattgefunden. Der Prozess war nicht nur ein epochales Ereignis der westdeutschen Justizgeschichte, er löste auch ausgiebige juristische, politische und historische Debatten aus und inspirierte mediale und künstlerische Auseinandersetzungen mit der Materie, wie etwa Peter Weiss' szenisches Oratorium "Die Ermittlung". Und ganz offensichtlich wurde auch ZEUGIN AUS DER HÖLLE vom Prozess angestoßen. Und er spricht das Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager so deutlich und unverblümt an wie kein anderer bundesdeutscher Film der 60er Jahre, den ich kenne. Er braucht dazu, abgesehen von den Personen, nichts erfinden, sondern kann sich an verbürgte Details halten, nur der Ort wird manchmal verlagert. Aufgrund des zeitgeschichtlichen Kontextes könnte man ganz automatisch annehmen, dass auch Lea in Auschwitz war, aber das wird nie ausgesprochen. Tatsächlich legen zwei im Film zu sehende Fotos und eine Bemerkung von Dr. Hoffmann nahe, dass sie im KZ Natzweiler-Struthof im Elsass war. Die Unterkühlungsexperimente fanden in der Realität weder in Auschwitz noch in Struthof statt, sondern im KZ Dachau - die Verlegung im Film ist eine legitime künstlerische Komprimierung dieser Abartigkeiten (ebenso wie die Sache mit der tätowierten Haut, die eigentlich nach Buchenwald gehört). Aber tatsächlich geschehen sind diese Versuche, sogar das mit den nackten Frauen neben den halb (oder schon ganz) erfrorenen Opfern ist tatsächlich passiert. Das klingt so abseitig, dass ich hier eine Originalquelle zitieren möchte. Der tschechische Arzt Dr. Franz Blaha, ab 1941 als Gefangener in Dachau, sagte im Januar 1946 als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aus. Er hatte zuvor eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, die nun verlesen wurde, und darin hieß es unter anderem:
5. [Dr. Sigmund] Rascher hat auch Versuche über die Wirkung kalten Wassers an Menschen durchgeführt. Dies wurde getan, um einen Weg zu finden, die Flieger wieder zu beleben, die in den Ozean fielen. Die Person wurde ins eiskalte Wasser gesetzt und dort solange gehalten, bis er das Bewußtsein verlor. [...] Manche Männer hielten 24-36 Stunden aus. Die niedrigste Körpertemperatur erreichte 19 Grad C., aber die meisten Männer starben bei 25 bis 26 Grad Celsius. Als die Menschen vom Eiswasser entfernt wurden, hat man versucht, sie durch Kunst-Sonnenwärme, heißes Wasser, Elektro-Therapie und Tierwärme zu beleben. Für das letztere sind Prostituierte benutzt worden, und man legte den Körper des bewußtlosen Mannes zwischen die Körper zweier Frauen. [...] Ich war persönlich bei einigen dieser Kaltwasser-Versuche anwesend, zur Zeit, wo Rascher abwesend war, und ich sah auch Notizen und Diagramme darüber in Raschers Laboratorium. An ungefähr 300 Personen wurden diese Versuche durchgeführt. Die Mehrzahl von denen starb.


Es wurde gelegentlich vermutet, dass es für Lea ein reales Vorbild gab, nämlich die aus Russland stammende jüdische Auschwitz-Überlebende Dunia bzw. Dounia Wasserstrom, die 1964 als Zeugin im Frankfurter Prozess aussagte. Wasserstrom, die nach der Befreiung zunächst in Frankreich und dann in Mexiko lebte, war seit ihrer Hochzeit mit einem Franzosen französische Bürgerin, genau wie Lea Weiss/Clément. Dounia Wasserstrom war nicht bei medizinischen Experimenten anwesend, sondern sie war in der Politischen Abteilung in Auschwitz als Dolmetscherin eingesetzt, wo sie vor allem die Verbrechen von Wilhelm Boger, einem der 22 Angeklagten in Frankfurt, aus nächster Nähe miterleben musste. Boger hatte die "Boger-Schaukel" erfunden, auf der er viele Häftlinge zu Tode prügelte. Vor allem ein Detail aus Wasserstroms Aussage in Frankfurt hat die Öffentlichkeit schockiert: Boger ermordete einen vier- bis fünfjährigen Jungen, indem er ihn an den Füßen packte und seinen Kopf gegen eine Wand schmetterte. (Es gibt in Bertoluccis NOVECENTO eine ähnliche und sehr beklemmende Szene.) Wasserstrom musste danach die Wand säubern. Sie war davon so traumatisiert, dass sie keine Kinder mehr sehen konnte, ohne dabei depressiv zu werden, weshalb sie später, als sie schwanger wurde, eine Abtreibung durchführen ließ - eine gewisse Parallele zu Lea, die aus einem anderen Grund keine Kinder mehr bekommen kann. Wasserstrom hatte schon längere Zeit vor dem Prozess in der deutschen Botschaft in Paris eine Aussage zu Protokoll gegeben, aber ebenso wie Lea in ihrem Buch konnte sie damals noch nicht alles sagen - die Ermordung des Jungen hat sie damals noch für sich behalten. Wasserstrom hat auch auf Französisch, Spanisch und Englisch Bücher über ihr Schicksal und über Auschwitz verfasst. Es ist gut möglich, dass sie tatsächlich als Vorbild für Lea diente, aber wirklich wichtig ist das nicht - es gab zu viele ähnliche Schicksale.

Rechtsanwalt von Walden
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist eine westdeutsch-jugoslawische Coproduktion eines Belgrader Studios mit der CCC von Artur, genannt "Atze" Brauner, und damals hätte wohl auch kein anderer westdeutscher Produzent als er diesen Film machen wollen. (Kleine Randnotiz: Als Dr. Hoffmann und Petrović mit Hoffmanns Wagen vor einem Fernsehstudio vorfahren, um sich das unveröffentlichte TV-Interview mit Dr. Berger anzusehen, ist dieses Studio in Wirklichkeit das CCC-Studio in Spandau. Immer sparsam, der Atze.) Brauner, ein aus Polen stammender Jude, dessen meiste Angehörige im Holocaust umgekommen sind, hat in seinem Berliner Studio bekanntlich vor allem anspruchslose Kommerzfilme in Serie produziert, aber dazwischen auch immer wieder mal Filme über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Vor allem in den letzten vier Jahrzehnten, als er darauf bauen konnte, dass diese Filme auch im Fernsehen gezeigt wurden und dort ein Millionenpublikum fanden. Wie etwa HITLERJUNGE SALOMON (1990) von Agnieszka Holland, von dem Brauner behauptet, er hätte ihm den Oscar gebracht, wenn er vom deutschen Auswahlgremium nominiert worden wäre (was aber nicht geschah). Doch schon 1948 mit MORITURI (Regie Eugen York) begann Brauner diesen Strang seiner Produzententätigkeit. Es handelt sich um ein Drama um einen KZ-Ausbruch und darum, was die erfolgreichen polnischen und jüdischen Ausbrecher mit einem deutschen Soldaten anfangen sollen, der ihnen in die Hände fällt. Die Westdeutschen wollten sich aber nicht gern einen Spiegel vorhalten lassen. Die zeitgenössischen Kritiken waren durchwachsen, und es gab Randale pöbelnder Zuschauer, als sei das Jahr nicht 1948, sondern 1933. Der Film wurde fast überall vorzeitig aus dem Programm genommen oder gar nicht erst gestartet. Das ließ Brauner vorsichtig werden, und seine ambitionierten Filme über die braune Vergangenheit waren nun erst mal dünn gesät. Zu nennen ist etwa noch DER 20. JULI (1955, Regie Falk Harnack), einer von zwei zeitgleich erschienenen Filmen über das Stauffenberg-Attentat (der andere ist ES GESCHAH AM 20. JULI von G.W. Pabst).

In der Villa ...
Und nun also ein Auschwitz-Film, auch wenn er gar nicht in Auschwitz spielt - wie schon erwähnt, ziemlich singulär in der bundesdeutschen Kino-Landschaft der 60er Jahre. Im Fernsehen immerhin gab es 1966 DIE ERMITTLUNG als Umsetzung von Peter Weiss' Stück (produziert von Egon Monk für den NDR, Regie Peter Schulze-Rohr), und 1968 das Fernsehspiel MORD IN FRANKFURT um einen Auschwitz-Prozess (und einen zeitgleich dazu passierenden Mord an einem Taxifahrer), von Rolf Hädrich für den WDR inszeniert (bei Pidax auf DVD erschienen). Die jugoslawische Seite der Coproduktion stellte nicht nur etliche Nebendarsteller, sondern auch den Regisseur. Živorad, genannt "Žika" Mitrović (1921-2005) war nicht nur Regisseur von ungefähr 20 Spielfilmen, sondern auch passionierter Comiczeichner. Man findet nicht viele Informationen über ihn in mir verständlichen Sprachen. Wenn ich das, was mir der Google Translator aus dem serbischen Wikipedia-Artikel über ihn übersetzt, richtig interpretiere, war er wohl Spezialist für historische oder zeitgeschichtliche Stoffe. Mitrović' Frau, die aus Sarajevo stammende Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin (aus dem Französischen) Frida Filipović (1913-2002), hatte die Idee zum Stoff, den sie 2000 auch als Roman veröffentlichte (ich habe aber vage Hinweise gefunden, dass der Roman unveröffentlicht schon vor dem Film existierte). Das Drehbuch schrieb Filipović unter Mitarbeit von Michael Mansfeld. Dieser Autor und Journalist, eigentlich hieß er Eckart Heinze, war in den 50er Jahren bekannt geworden, als er in Artikelserien die problemlose Fortsetzung von Nazi-Karrieren in der Bundesrepublik anprangerte, vor allem im Auswärtigen Amt. Die so treffende Zeichnung von Dr. Berger und von Walden ist wohl hauptsächlich sein Verdienst.
... und im Hotel
Der im Sommer und Herbst 1965 gedrehte Film lief im März 1966 unter seinem serbokroatischen Titel GORKE TRAVE in Jugoslawien an. In Deutschland hat es über ein Jahr länger gedauert: Premiere war im Juni 1967 bei den Berliner Filmfestspielen, die Kinoauswertung begann im darauffolgenden Juli. In zwei TV-Dokus über Artur Brauner, die kürzlich aus Anlass seines 100. Geburtstags zu sehen waren, wird gar behauptet, ZEUGIN AUS DER HÖLLE hätte gar keinen Verleih gefunden, aber das ist zum Glück etwas übertrieben. Schon 1966 erhielt ZEUGIN AUS DER HÖLLE das Prädikat wertvoll. Schön, könnte man denken, allerdings liest sich die Jury-Begründung mehr wie ein Verriss als wie ein Lob. "Vieles Bedenkliche ist allerdings geblieben", heißt es da, "und der Vorwurf, dass man sich filmtechnisch, dramaturgisch und auch in der Ausstattung nicht die bei einem solchen Stoff nochmehr als bei einem anderen notwendige Mühe gegeben hat, besteht nach wie vor." Außerdem geht daraus hervor, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE unter seinem Arbeitstitel BITTERE KRÄUTER zuvor bereits der Filmbewertungsstelle vorgelegt wurde - und durchgefallen ist. Erst unter seinem neuen Titel und nach offenbar größeren Änderungen hat er es im zweiten Anlauf geschafft. (Der Arbeitstitel bezieht sich auf "ungesäuertes (oder ungesalzenes) Brot und bittere Kräuter", die Juden beim Pessachfest essen sollen, was sich wiederum von zwei Stellen im Alten Testament bzw. den entsprechenden Büchern der Thora ableitet.) Leider habe ich keinerlei Informationen darüber gefunden, worin diese Änderungen bestanden, aber kleinere Sprünge in der Handlung und die Tatsache, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE nur 83 Minuten dauert, können unter diesen Umständen nicht verwundern. Wenn man Artur Brauners Gepflogenheiten kennt, dann weiß man, dass der Regisseur bei solchen nachträglichen Eingriffen nicht gefragt wurde. Allerdings war da ja auch noch der jugoslawische Coproduzent. Theoretisch könnte es also sein, dass der Film in Jugoslawien in seiner ursprünglichen Form gezeigt wurde. Dafür könnte sprechen, dass er in Jugoslawien über ein Jahr früher erschien, und dass in der serbischen Wikipedia eine Laufzeit von 87 Minuten angegeben wird. Mehr Informationen darüber liegen mir nicht vor, und Angaben über die Laufzeit sind ja oft unzuverlässig - es bleibt also vage. Möglicherweise hängt auch die Unklarheit bei zwei Namen mit dieser Frage zusammen. Den Fall von Frau Ritter/von Keller habe ich oben schon angesprochen, und Bianchi hat in ZEUGIN AUS DER HÖLLE den Vornamen Nino, aber in den üblichen Quellen und überhaupt in allen Texten zum Film, die ich gelesen habe, heißt er Carlos (oder manchmal Charlos). Falls "Frau von Keller" und "Carlos Bianchi" die Namen in BITTERE KRÄUTER waren und dann für ZEUGIN AUS DER HÖLLE noch kurzfristig geändert wurden, könnte die erstere Umbenennung möglicherweise mit dem Herrn Rupprecht von Keller zusammenhängen. Dieser Jurist und Diplomat konnte seine im Dritten Reich begonnene Karriere nahtlos in der Bundesrepublik fortsetzen. Als ZEUGIN AUS DER HÖLLE gedreht wurde, war er einer der deutschen Delegierten bei der UNO-Niederlassung in Genf. Falls sich die deutschen Namen im Film nicht Frida Filipović, sondern Michael Mansfeld ausgedacht hatte, hätte das sogar ein gezielter Seitenhieb von ihm sein können, der dann von Brauner entschärft wurde - aber das ist jetzt eine sehr vage Spekulation von mir.

Dr. Berger gibt ein Interview
Auch mit seinen ambitionierten Filmen wollte Artur Brauner Geld verdienen, und das spiegelt sich in der Starbesetzung von ZEUGIN AUS DER HÖLLE. Heinz Drache mal nicht auf der Spur des Hexers oder Zinkers, sondern eines ganz anderen Schurken - doch er macht seine Sache ausgezeichnet als ebenso korrekter wie engagierter Staatsanwalt, der in erster Linie daran denkt, wie er Dr. Berger hinter Gitter bringen kann, und erst in zweiter Linie, wie es Lea dabei geht - ohne das aber ganz aus den Augen zu verlieren. Auch der französische Star Daniel Gélin ist als Bora Petrović bestens besetzt, und Werner Peters und Alice Treff sind in ihren Rollen ganz in ihrem Element. Wahrhaft grandios aber ist Irene Papas, die höchste Schauspielkunst mit internationalem Ruhm kombinierte, den sie spätestens seit ALEXIS SORBAS genoss. Mit ihrer Besetzung ist Brauner und seinen jugoslawischen Partnern ein echter Coup gelungen. Ich will hier nicht in Lobhudelei auf Brauner verfallen. Es gibt viel, was man gegen ihn vorbringen kann, und Hans Schmid hat das in einem seiner gewohnt profunden Artikel in Telepolis ausführlich getan. Aber für einen Film wie ZEUGIN AUS DER HÖLLE muss man Atze Brauner dankbar sein.

Lea hat Albträume
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist 2013 in Deutschland auf DVD erschienen. Leider ohne die geringsten Spuren von Bonusmaterial - da hätte man mehr daraus machen können.

Dienstag, 2. Juli 2013

Bittere Rache und vertauschte Kinder, oder: Montags immer Ravioli

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE (DAS LEBEN IST EIN LANGER, RUHIGER FLUß)
Frankreich 1988
Regie: Étienne Chatiliez
Darsteller: André Wilms (Jean Le Quesnoy), Hélène Vincent (Marielle Le Quesnoy), Catherine Hiegel (Josette), Daniel Gélin (Docteur Mavial), Benoît Magimel (Maurice „Momo“ Groseille-Le Quesnoy), Valérie Lalande (Bernadette Le Quesnoy-Groseille), Patrick Bouchitey (Père Auberger), Catherine Jacob (Marie-Thérèse)




Es ist Heiligabend, und die Krankenschwester Josette freut sich darauf, den Abend mit ihrem Liebhaber, dem Gynäkologen Mavial, zu verbringen – so wie er es ihr versprochen hat. Doch daraus wird nichts, denn im letzten Moment beschließt der Arzt, den Feiertag doch zu seiner Ehefrau nach Hause zu gehen. Josette tobt! Schon wieder ist sie versetzt worden und steht nach dem Weggang Mavials wie bestellt und nicht abgeholt da. Und dann schreien die beiden kleinen Kinder, die Mavial gerade entbunden hat, sich gleichzeitig auch noch die Lunge aus dem Hals. Impulsiv beschließt die völlig entnervte Krankenschwester, die Identität der beiden Neugeborenen zu tauschen, um ihrem griesgrämigen Liebhaber und überhaupt auch der ganzen Welt eins auszuwischen: das Mädchen der Unterschichtsfamilie Groseille wird fortan bei den gutbürgerlich-reichen Le Quesnoy leben, während deren Junge in der Sozialwohnung aufwachsen wird. Und nur Josette weiß es.

Docteur Mavial und Josette
Zwölf Jahre später sind sie und der Doktor Mavial immer noch ein Paar, doch Mavial lebt immer noch mit seiner Frau, die nun mittlerweile auch erkrankt ist. Josette behandelt er wie stets äußerst verächtlich, wenn er sie nicht zwischen zwei Gläsern Weißwein und der nächsten Entbindung ins Sprechzimmer zerrt, um sich mit ihr zu vergnügen. Als Madame Mavial verscheidet, sieht die Krankenschwester ihre Chance und lädt ihren langjährigen Liebhaber dazu ein, endlich mit ihr zusammen zu ziehen, doch der Arzt lehnt ab. Da gehen Josette definitiv die Pferde durch: sie verfasst ein paar böse Briefe, in denen sie die „Umtausch-Aktion“ von vor zwölf Jahren enthüllt und schickt sie an die Familie Le Quesnoy, an die Familie Groseille, an Mavial (und, wie anzunehmen ist, auch an den örtlichen Ärzteverband).

Die Karriere des ehemals respektierten Arztes ist zerschmettert. Doch Étienne Chatiliez‘ schwarze Komödie überlässt dann die beiden zerstrittenen Liebhaber ihren Problemen und folgt den Auswirkungen der Enthüllung auf die beiden völlig unterschiedlichen Familien. Die Le Quesnoy sind eine überaus wohlhabende, großbürgerliche Familie wie aus dem Bilderbuch (bei der Sichtung könnte man auch denken: wie aus der Hölle). Vater Le Quesnoy ist der Direktor der städtischen EDF, Mutter Le Quesnoy ist Hausfrau und kümmert sich um die fünf Kinder und die Organisation des Haushaltes (das heisst, sie kommandiert die Haushälterin herum). Alles ist streng durchorganisiert: die Kinder waschen sich natürlich vor dem Essen die Hände und Montags gibt es immer Ravioli. Am Essenstisch wird das nächste Kanu-Ferienlager der Kinder mit Vorfreude, die vielleicht jüdische Herkunft des Verlobten einer Familienfreundin mit skeptischer Sorge und die schwierige Situation der sozial Benachteiligten mit salbungsvoller Selbstgerechtigkeit diskutiert. Das Milieu ist konservativ-katholisch: begeistert nehmen die Le Quesnoy am kirchlichen Gemeinde-Leben teil, regelmäßiger außerschulischer Religionsunterricht für die Kinder und Engagement bei kitschigen Kinderchor-Aufführungen inklusive. Der Stock, den alle Le Quesnoy offenbar Tag und Nacht im Arsch tragen, ist gewissermaßen de rigeur!

oben: die Le Quesnoy; unten: die Groseille
Die Groseille hingegen wohnen in einem Sozialbau und zapfen ihren Strom illegal ab. Vater Groseille ist ein Kriegsinvalide, der den ganzen Tag Karten spielt, über die Araber schimpft und stolz darauf ist, wie er ihnen während des Algerienkriegs eingeheizt hat. Mutter Groseille guckt vor allem Fernsehen und kümmert sich darum, in welchem Blond-Ton sie heute ihre Haare färben wird. Den einen Sohn sieht man erst später im Film, weil er wegen Diebstahl im Gefängnis sitzt und der jüngste ist offenbar geistig etwas zurückgeblieben. Die älteste Tochter teilt Beschäftigungsarten der Mutter. Um den Lebensunterhalt der Familie kümmern sich die beiden mittleren Söhne, (besonders aber Maurice, der vertauschte Le Quesnoy), in dem sie alten Damen Handtaschen klauen oder sonstige kleine Betrügereien organisieren.

Auf die Nachricht, die ihnen die frustrierte Josette schickt, reagieren beide Familien ebenfalls sehr unterschiedlich. Nachdem die erste Nervenkrise (und die Brechreiz-Anfälle) Marielles überwunden sind, beschließen die Le Quesnoy-Eltern, den „verlorenen Sohn“ Maurice unter jeglichem Preis wieder in seine recht- und standesmäßige Umgebung „zurückzuholen“. Über den Preis haben sich die Groseille ihrerseits schon Gedanken gemacht, und besonders der „verlorene“ Maurice regt dazu an, die Le Quesnoy ordentlich auszunehmen. Nachdem einige Bündel Geldscheine übergeben worden ist, einigen sich Jean Le Quesnoy und die Groseille-Eltern darauf, dass Maurice zu seiner biologischen Familie übersiedelt, Bernadette jedoch erst einmal eine Weile bei den Le Quesnoy bleibt, um die junge Teenagerin zu schonen – angesichts dessen, dass sie erste Anzeichen pubertärer Bockigkeit und Rebellion zeigt, ist das vorerst keine schlechte Idee.

Maurice verrät Bernadette ein Geheimnis.
Ihr vergeht daraufhin der Appetit auf Suppe.
Maurice passt sich an die neue Situation sehr schnell an, zumal ihm das nunmehr sehr viel bequemere Leben verständlicherweise gut behagt. Die großbürgerlichen Umgangsformen seiner „neuen“ Familie nimmt er rasch an, wenngleich nur äußerlich: emotionale Bindungen baut er keine auf, denn diese gehören seiner „alten“ Familie, den Groseille. Auch das Tafelsilber der Le Quesnoy eignet sich Maurice nach und nach an, um es in seinem alten Viertel zu Bargeld zu verwerten. Seine „neuen“ Geschwister wurden von den Eltern nicht über die wahren Hintergründe informiert: ihnen sagen sie, dass sie Maurice aus christlich-wohltätigen Motiven adoptiert haben. Als jedoch Bernadette ihrem „neuen“ Bruder gegenüber sehr „klassenbewusst“ mitteilt, dass sie arme Leute hasst und verabscheut, weiht er sie in das Geheimnis ein. Es kommt zur Krise: in einer sehr denkwürdigen Szene verschüttet Bernadette beim Familien-Mittagsmahl ihre grüne Suppe auf das weiße Tischtuch, verstößt mit aller verbaler Gewalt ihre Eltern, ihre bisherige Familie und ihre „richtige“ Familie, sperrt sich in ihrem Zimmer ein und reißt schließlich sogar aus.

Der wunderschöne Schein der Le Quesnoy-Familie bricht immer mehr zusammen. Sohnemann Paul bandelt mit der grell-vulgären Groseille-Tochter Roselyne an und will sich ein Motorrad kaufen. Logisch, dass es für ihn und die anderen Le Quesnoy-Söhne nur noch wenige Schritte hin zu Baden an illegalen Stränden, Bier-Trinken, Rauchen und schließlich Klebstoff-Schnüffeln ist. Das alles ist dann auch für Marielle Le Quesnoy zu viel, die nach und nach eine erhöhte Neigung zu Alkoholkonsum und erratischem Verhalten an den Tag legt.

Der Debütfilm des früheren Werbespot-Filmers Étienne Chatiliez zeichnet sich, wie auch seine späteren zynischen Komödien, durch ein hervorragendes Schauspieler-Ensemble aus, das bis in die letzte kleine Nebenrolle perfekt besetzt ist. Mehr als alles andere ist LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ein Schauspieler-Film, dessen zahlreiche Humor-Pointen eben vor allem dank der tollen Darsteller gelingen. Wo soll man hier nur anfangen? Bei den Kindern? Die Hauptrolle des Films hat zweifelsohne Benoît Magimel als Maurice. Als 12-Jähriger wurde er über eine Anzeige in der Tageszeitung „Libération“ auf die Rolle des „Momo“ aufmerksam. Dass er damals nur ein Laie war, ist fast unglaublich: die verschiedenen „Masken“ (von Zynismus bis Engelsgesicht), die seine Rolle jeweils in unterschiedlichen Umgebungen fordert, meistert er scheinbar mühelos. Magimel ist mittlerweile ein etablierter Schauspieler (er hat u. a. mit Michael Haneke, Jean Becker und mehrmals mit Claude Chabrol gedreht), ganz im Gegensatz zur nicht weniger überzeugenden Valérie Lalande: die angepisst-rebellische Bernadette blieb ihre einzige Filmrolle. Das selbe gilt auch für Guillaume Hacquebart, der die Wandlung des Paul Le Quesnoy vom musterhaften Ältesten zum Möchtegerne-Motorrad-Rebell solide darstellt. Claire Prévost, die ihm als nuttig-trashige Groseille-Tochter Roselyne im Film den Kopf verdreht, spielt seitdem eher gelegentlich in TV-Produktionen mit. 

Bei den Erwachsenen ist Daniel Gélin derjenige, zu dem man hier an dieser Stelle wohl am wenigsten sagen muss. Besonders denkwürdig ist der Moment, nach dem er den Rachebrief seiner Geliebten gelesen hat: der sonst immer so gefasste Arzt kommt vor lauter Erstaunen kaum noch klar, und stammelt völlig ungläubig und empört wiederholt „la salope“ (diese Schlampe) vor sich hin. Catherine Hiegel, die zwar einige Filme gedreht hat, ist in Frankreich vor allen Dingen als renommierte Theater-Schauspielerin der Comédie-Française bekannt. Auch André Wilms, der den Vater Le Quesnoy mit überaus passender Trockenheit darstellt, ist vor allen Dingen ein Theaterschauspieler, hat aber auch immer wieder mit Aki Kaurismäki (u. a. LE HAVRE) zusammengearbeitet und später auch in Chatiliez‘ TATIE DANIELLE und TANGUY gespielt.

Zunächst streng und resolut, später etwas aufgelöst:
Die wunderbare Hélène Vincent als Marielle Le Quesnoy.
Ohne Zweifel die schwierigste, weil zutiefst undankbarste Rolle, spielt Hélène Vincent als Marielle Le Quesnoy: katholisch-verklemmte, scheinheilige Spießigkeit auf zwei Beinen, die nach und nach immer mehr die Fassung verliert und als groteskes Alkohol-Wrack endet. Grandioser Mut zur Hässlichkeit! Zwischendurch erinnert ihre Stimme ein wenig an den Klang von Kreide auf einer Schultafel, was hier sehr adäquat erscheint. Der „César“ für die beste weibliche Nebenrolle im Jahr 1989 war mehr als verdient!

Sehr bemerkenswert ist auch Patrick Bouchitey als hyperaktiv-engagierter und überaus schleimiger katholischer Priester Auberger. Seine Sternstunde hat er bei der Kinderchor-Aufführung, als er das Lied „Jésus reviens“ (Jesus komm zurück) anstimmt. Dass LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE in Frankreich als Kultfilm gefeiert wird, ist sicherlich in erheblichen Teilen dieser Szene zu verdanken, die zwar dramaturgisch relativ sinnfrei ist, jedoch die Atmosphäre bissiger Satire gegen katholisch-konservative Spießer-Kultur auf die Spitze treibt.

Dieser unglaubliche Moment ist hier zu sehen. Damit auch Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, ihn mit Genuss anschauen können, ist hier der Text (von Étienne Chatiliez und Co-Drehbuchautorin Florence Quentin) mit eigener Übersetzung:

Quand il reviendra il fera grand jour
Pour fêter celui qui inventa l‘amour
Au fond d‘une étable, il naquit de Marie
Personne n‘avait voulu de lui
(Wenn er zurückkommt wird es taghell sein
Um jenen zu feiern, der die Liebe erfand
In der Tiefe eines Stalls wurde er von Maria geboren
Niemand hatte ihn haben wollen)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien
(Jesus komm zurück, Jesus komm zurück
Jesus komm zurück zu den Deinigen
Zeig uns von oben am Kreuz den Weg
Du, der ihn so gut kennt)

Toute sa vie, il prêchait le bonheur, la paix
La bonté et la justice étaient sa loi
Quand il reviendra, il nous pardonnera
Comme il l‘avait fait pour Judas
(Sein ganzes Leben lang predigte er das Glück, den Frieden
Die Güte und die Gerechtigkeit waren sein Gesetz
Wenn er zurückkommt, wird er uns verzeihen
Wie er das für Judas getan hatte)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien

Dans une grande clarté il apparaîtra
Comme il le fit pour Marie de Magdala
Le monde entier laissera éclater sa joie
En chantant: Jésus est là
(In einem großen Licht wird er erscheinen
Wie er es für Maria von Magdala getan hat
Die ganze Welt wird wird vor Freude platzen
In dem sie singt: Jesus ist hier)

Jésus reviens, Jé-ésus reviens
Jésus reviens parmi les tiens
Du haut de la croix indique-nous le chemin
Toi qui le connais si bien

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE war 1988 mit knapp über vier Millionen Eintritten der vierterfolgreichste Film, der in diesem Jahr in den französischen Kinos lief. Der überwältigende Erfolg ermunterte die Macher dazu, eine Single des Liedes (mit einer zusätzlichen Strophe!) herauszugeben (hier ein Link mit Abbildung des Covers und einer Hörprobe).

Wittert den Duft von Ravioli: Père Auberger
Im Hintergrund: Paul Le Quesnoy
Ebenso für den Kultstatus des Films dürfte eine kleine Phrase des Films sein, die die satirische Darstellung provinzieller Spießbürgerlichkeit am wohl treffendsten zusammenfasst: als der Priester Auberger die Familie Le Quesnoy eines Abends kurz besucht, merkt er beiläufig an, dass es im Haus gut rieche und Marielle Le Quesnoy sagt daraufhin „C‘est lundi, c‘est ravioli“ (sinngemäß: „Es ist Montag, es gibt Ravioli“). Der Spruch erfährt im weiteren Verlauf des Films zwei kleine Variationen. Als Marielle Le Quesnoy ihren Zusammenbruch erleidet und nicht mehr kochen kann, werden (es ist wohl Montags) Fertig-Dosenravioli gereicht: die Kinder sind sich daraufhin uneinig, ob diese besser als Muttis Ravioli schmecken. Wenig später erwischt Jean Le Quesnoy seine Söhne, die Groseille-Söhne und einige von deren Freunden dabei, wie sie Klebstoff in der Garage schnüffeln und fragt zornig, was das denn sein solle. High und kichernd antwortet ihm sein ältester Sohn Paul mit... „C‘est lundi, c‘est ravioli“. Der Spruch ist dermaßen kultig geworden, dass sogar damit bedruckte T-Shirts verkauft wurden (siehe hier: der Status ausverkauft deutet auf den Erfolg dieses Produkts hin)!

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ein witziger Film ist und bleibt sicher nicht grundlos als satirisch-bissige Komödie in Erinnerung, die mit einem herrlich bösen Humor glänzt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich Chatiliez‘ Debüt allerdings auch als sehr düster, pessimistisch und zynisch. Stellenweise sind auch blanker Nihilismus und Misanthropie spürbar: ein trostloses Bild der Menschheit durchzieht den Film. So interessant, skurril und witzig die meisten Figuren sind, so sind sie auch durch die Bank antipathisch und zutiefst korrupt – sieht man von den allerjüngsten der Kinder ab, die sowieso eine periphere Rolle spielen. Egoismus, Geldgier, Rassismus, Scheinheiligkeit, Intoleranz und moralische Korruption prägen die Groseille genauso wie die Le Quesnoy. Alle beide treten mit Vergnügen jeweils nach unten, in Richtung der jeweils Schwächeren: die Le Quesnoy in den eigenen vier Wänden gegen die Groseille, die Groseille gegen den arabischen Lebensmittelhändler um die Ecke. Davon sind auch die Teenager nicht ausgenommen. Die Frage, inwiefern Umwelt oder die genetischen Prädispositionen prägender auf den Menschen wirken, wird hier absolut eindeutig beantwortet: egoistisch, dumm und moralisch korrupt sind alle Menschen – kleine Variationen in der Form (aber nicht im Inhalt) ergeben sich aus den sozialen Umständen. Alle Figuren in LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE bleiben (fast unmenschliche) Typen und jede weitere Facette, die wir über sie lernen, ist meistens eher abstoßend. Die Radikalität in den Charakterzeichnungen ist für ein Mainstream-Film bemerkenswert: mutigerweise wird der Zynismus bis zum bitteren Ende durchexerziert. In seinen späteren Filmen ist Chatiliez sicherlich nicht zum verständnisvollen Humanisten geworden, milderte jedoch die Erbarmungslosigkeit seiner satirischen Vision etwas ab.

Süße Rache mit einem Schuss Cognac
Vielleicht höchstens bei den beiden Hauptfiguren der Rahmenhandlung, der Krankenschwester Josette und dem Gynäkologen Mavial, findet sich etwas wirklich Menschliches – bedingungslose und reine Liebe, die freilich beide ins Verderben stürzt. Zweifelsohne liebt Mavial seine Ehefrau, und seine tiefe Trauer nach ihrem Tod ist sicherlich nicht gespielt. Trotz dieses sympathischen Charakterzugs ist er aber nicht nur ein gefühlskalter Alkoholiker, sondern missbraucht auch völlig schamlos seine Liebhaberin (die, wie wir dann herausfinden, sogar einmal von ihm schwanger geworden ist und zur Abtreibung genötigt wurde). Josettes bedingungslose Liebe zu Mavial ist in diesem Licht etwas unverständlich, wenngleich um so bemerkenswerter. So irrational ihre Liebe, um so heftiger ist dann auch ihre Rache, die die Haupthandlung des Films überhaupt erst einleitet. Die letzte Minute des Films, nachdem die Konflikte der Groseille und Le Quesnoy vorerst durch die Sommerferien aufgeschoben werden, kehrt wieder zur Rahmenhandlung zurück und fasst den zynischen Humor und das trostlose Weltbild des Films zusammen: zufrieden kann Josette mit Cognac und aufgedrehtem Radio in einem schönen Strandhäuschen feiern – sie hat nun beides bekommen, ihre Rache und ihren Liebhaber!

LA VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE ist in französischen, britischen und deutschen DVD-Editionen verfügbar.