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Dienstag, 20. Juni 2017

Alles in Butter?!

CHEMIE UND LIEBE
Deutschland – Sowjetische Besatzungszone 1948
Regie: Arthur Maria Rabenalt
Darsteller: Hans Nielsen (Dr. Alland), Tilly Lauenstein (Martina Höller), Ralph Lothar (Da Costa), Gisela Deege (Aimée), Gerd Frickhöffer (Dr. Brose) Arno Paulsen (Konzernchef Miller), Arno Ebert (Konzernchef Vandenhoff), Ann Höling (Georgia Spaldi), Alfred Braun (der Erzähler)


Wer bekommt hier sein Fett weg?

„Träumen Sie?“
„Zuweilen.“
„Erotisch?“
„Chemisch!“
„Merkwürdige Form von Libidostauung.“
(aus einer Analyse-Sitzung zwischen der Psychoanalytikerin Spaldi und Dr. Alland – in ihrer Praxis)

Aus Gras Butter machen? 1968 wäre das bei vielen Leuten wahrscheinlich nicht so auf Anklang gestoßen, aber zwanzig Jahre zuvor, kurz nach dem Weltkrieg, in Zeiten von Knappheit, war das eine feine Idee...

...und für den überaus talentierten, aber etwas weltfremden Chemiker Dr. Alland auch keine totale Fantasievorstellung. Ohne Kuh als „Vermittlerin“ bearbeitet man das Gras mit synthetischen Verdauungsenzymen und... na ja, die feinen chemischen Details lassen wir mal aus. Um die kümmert sich Dr. Alland, und zwar mit so viel Konzentration, dass er auf seiner Arbeitsstelle in bürokratischen Angelegenheiten nachlässig wird und deshalb auch bald gefeuert wird. Seine treue Assistentin Martina Höller nimmt mit ihm den Hut. Leider lässt es sich in der heimischen Garage nicht so gut an einer weltbewegenden Erfindung arbeiten. Auf die reinen „Brotaufträge“ (zum Beispiel Mottenkugeln herstellen), die Martina für ihn ranholt, hat Dr. Allend bald keine Lust mehr. Deshalb geht die Chemikerassistentin schließlich bei dem windigen Geschäftsmann Da Costa hausieren. Der lacht der jungen Frau zunächst ins Gesicht – und hört gleich wieder auf: nicht, dass ihn die Erfindung und ihre potentiellen humanistischen Annehmlichkeiten an sich interessieren, aber er wittert intuitiv ein ganz großes Geschäft. Deshalb geht Da Casto also wiederum beim Chef des Zellulose-Konzerns Miller hausieren. Und weil doppelt gemoppelt bessert hält, schaut er auch gleich beim Chef des Nitro-Konzerns Vandenhoff vorbei. In kürzester Zeit entspinnt Da Costa ein enges Geflecht aus Tauschversprechungen zwischen Anteilen verschiedener Rohstoff-Monopole, die die beiden Konzerne innehaben und angekündigten Kaufoptionen auf die Gras-Butter-Erfindung. Am dringendsten ist aber erst einmal: Dr. Alland muss ordentlich arbeiten können. Deshalb finanziert ihm Da Costa ohne jegliche Vorbedingungen ein schönes Labor – vorbezahlt mit dem Geld, das er den beiden Konzernchefs aus den Rippen geleiert hat. Neben Martina bekommt Alland ganz viele weitere Assistenten: Chemiker aus Millers und Vandenhoffs Konzernen, die ein gutes Auge auf die Entwicklung der Erfindung haben und ggf. davon berichten können.

dramatis personae
Oben links: Martina Höller und Dr. Alland / Oben links: Aimée und Da Costa
Unten links: Vandenhoff und Miller / Unten rechts: Dr. Brose und Georgia Spaldi

Mit einem schönen Labor hofft Da Costa natürlich, den Chemiker-Erfinder günstig für einen möglichen Verkauf seiner Erfindung zu stimmen. Aber davon wollen Dr. Alland, seine rigoröse Arbeitsethik und seine moralischen Skrupel gar nichts wissen: schließlich sei die Erfindung noch nicht so weit, und eine unfertige Erfindung zu verkaufen kommt gar nicht in Frage – da wäre er doch ein Betrüger! Da Costa, bei dem man sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen kann, wenn er sich selbst mit einem süßlichen Lächeln als „ehrlichen Makler“ bezeichnet (der zitierte Otto von Bismarck gilt nicht umsonst bis heute als Musterbeispiel idealistischer und von unverbrüchlicher Moral geleiteter Politik), schaut zuerst dumm aus der Wäsche. Ihm kommt gleich die Idee, den Chemiker mit dessen Laster unter Druck setzen – doch Zigaretten, Alkohol, gutes Essen und Frauengeschichten sind beim Workaholic Dr. Alland leider Fehlanzeige. Vor lauter Arbeit merkt Alland ja auch die ganze Zeit überhaupt nicht, wie seine eigene Assistentin Martina ihn anhimmelt und heimlich in ihn verliebt ist.

Nun denn: beide Konzerne sind eifrig daran interessiert, die kommende Gras-Butter von ihrem Erfinder zu kaufen, zu erpressen, zu klauen, zu was auch immer... Bei Millers Zellulose-Konzern setzt man deshalb, auf Anraten Da Costas, auf die „Eva“-Strategie: die junge Tänzerin Aimée wird damit beauftragt, Dr. Alland „zufällig“ bei einem Ball kennenzulernen und zu verführen (und ihm dann einzuflüstern, die Verkaufsoption an den Zellulose-Konzern zu geben). Beim Nitro-Konzern Vandenhoffs setzt man auf ein etwas anderes Mittel: die Marquise Spaldi, Vandenhoffs Tochter, ihres Zeichens Psychoanalytikerin, soll Dr. Alland in Sitzungen analysieren, um seine psychologischen Schwachpunkte herauszufinden und ihn damit dann besser in Richtung Verkaufsoption manipulieren zu können...

Alles in Butter also? Mitnichten. Aimée verliebt sich nicht nur zum Spiel, sondern wahrhaftig in den etwas steifen, aber doch eigentlich charmanten Dr. Alland. Die Marquise Spaldi entdeckt zwar für Dr. Alland keine großen Gefühle, findet aber sichtlich sexuelles Interesse an dem Mann. Währenddessen haben Da Costa, Miller und Vandenhoff im Hintergrund in einer anderen Sache alle Hände voll: als herauskommt, dass die Butter wesentlich besser auf Nordland-Moos gedeiht, wird in dessen Herkunftsland, also Nordland, ein Putsch provoziert mit dem Ziel, die Wirtschaft des Landes ganz auf Moos umzustellen und sich dabei die Ernte unter den Nagel zu reissen. Und Martina Höller, die fleißige und in ihren Chef schwer verliebte Assistentin, hat alle Hände damit zu tun, Dr. Alland bei der Arbeit zu helfen, ihn zugleich vor seinen (wie sie rasch herausfindet) nicht ganz uneigennützigen Gönnern zu schützen und nebenbei noch mit viel Fingerspitzengefühl, aber mit schwieriger Konkurrenz von zwei anderen Frauen dessen Herz zu erobern...


Lang‘ianische Ton-Bild-Montage im Dienste der Screwball-Komödie

„Opium ist aber sehr ungesund.“
„Ja, auf die Dauer macht es impotent...
[Zwischenschnitt auf das entsetzte Gesicht von Dr. Alland]
...aber mich regt der Genuss in höchstem Maße an.“
(aus einer Analyse-Sitzung zwischen der Psychoanalytikerin Spaldi und Dr. Alland – in seiner Wohnung)

CHEMIE UND LIEBE wird bisweilen als der erste Science-Fiction-Film der DEFA oder gar als erster ostdeutscher Sci-Fi-Film bezeichnet. Aus einer sehr technischen Sicht ist das nicht vollkommen falsch, aber so richtig überzeugend ist diese Behauptung nicht. Im Gegensatz zu den Trümmerfilmen der späten 1940er Jahre spielt er nicht im zeitgenössischen Nachkriegsdeutschland, sondern in einem imaginären, unbenannten Land – allerdings ganz ohne futuristische Mätzchen. Die Erfindung selbst, das Verwandeln von Gras in Butter, dient tatsächlich nur dazu, um die Ereignisse anzustoßen: ab und zu redet ein Chemiker über Prozesse, die für Laien schwer verständlich sind und beugt sich über ein Reagenzglas. Der Durchbruch der Erfindung wird „gezeigt“, in dem einige Männer und Frauen in weißen Kitteln sich in einem Labor ein paar Brotscheiben mit Butter bestreichen und diese essen. Kurz: Sci-Fi-Schauwerte gibt es in CHEMIE UND LIEBE eigentlich nicht.
Nein, CHEMIE UND LIEBE ist eher eine Industriespionage-Komödie und teilweise eine Screwball-Komödie – und möglicherweise tatsächlich der erste Film dieses Genres, den die DEFA herausgebracht hat. Doch auch das ist nicht ganz so einfach. CHEMIE UND LIEBE wird von einem namenlosen Erzähler eingeführt, der erklärt, dass er von der DEFA gebeten wurde, einige Worte zum Film zu sagen. Er erklärt kurz den Titel des Films, definiert Chemie als  „Lehre von der Verwandlung der Stoffe“ und Liebe als „Lehre von der Verwandlung des Herzens“. Mit einer Karte verortet er das namenlose Land geografisch (zu sehen ist eine imaginäre, nicht besonders aussagekräftige Karte – nachdem der Vorführer aus Versehen zwei falsche Karten, eine des amerikanischen, eine des afrikanischen Kontinents gezeigt hat). Dann erklärt er, dass er sich höchstpersönlich ab und zu in den Film einschleichen wird. Im weiteren Verlauf wird der Erzähler Off-Kommentare geben, sich auch in neutraler Umgebung selbst einspielen und die Handlung kurz kommentieren – aber auch gleichermaßen als aktive Figur eingreifen und teils als deux ex machina wirken. Als Aimée und Dr. Alland sich langsam näher kommen und zusammen zu einem Club fahren wollen, fingiert der Erzähler als Taxifahrer getarnt eine Autopanne – wobei das Auto zufällig vor Aimées Wohnung stehen bleibt. Als sich in Allands Wohnung ein Techtelmechtel zwischen ihm und der Marquise Spaldi ankündigt, klingelt der Erzähler als Telefonreparateur gekleidet an der Tür, um die erotisch aufgeladene Stimmung ein bisschen zu stören. Der Erzähler geht aber noch weiter: er greift auch inszenatorisch in den Film ein. Gleich zu Beginn fährt eine Kamera in Richtung eines Laborfensters: der Erzähler befiehlt gebieterisch, das Fenster zu öffnen – es öffnet sich das Fenster, so dass die Kamera durch das Fenster gleiten kann, um den regen Trubel im Chemielabor festzuhalten. Der Erzähler spricht nicht nur „unbeteiligte“ Kommentare, sondern redet aus dem Off teilweise die Figuren an: wenn die Kamera an einem langen Labortisch entlang flitzt, stellt seine Off-Stimme die arbeitenden Chemiker mit Namen, Titel und Konzernzugehörigkeit vor und diese verbeugen sich dann oder nicken kurz in die Kamera. Schließlich, als Da Costa der Assistentin Martina zunächst ins Gesicht lacht, stoppt er sogar gar den ganzen Film mit der „Pausentaste“ und lässt das Bild zum Freeze-Frame erstarren.

Der Erzähler...
als Erzähler, Vandenhoffs Mitarbeiter, Taxifahrer, Kellner
Von der ersten Sekunde an wird klar gestellt, dass es hier keinen „unsichtbar“ und nahtlos erzählten Film geben wird und das zieht sich auch konsequent durch. Das ist keineswegs nur auf die aktiv eingreifende Erzählerfigur beschränkt: CHEMIE UND LIEBE strotzt vor erstaunlichen, mitreissenden und tollen Regieeinfällen. Wenn ich „Pausentaste“ oben in Anführungszeichen setze, soll nicht nur die Metapher kenntlich gemacht werden: „Pause“ ist nicht etwas, was einem bei diesem temporeichen, extrem dichten und dabei oft entfesselten Film in den Sinn käme.
Die inszenatorischen Mittel des Films, die ihn heute, fast 70 Jahre später, so frisch aussehen lassen, stammen teilweise aus der Stummfilmära. Mehrfachbelichtungen waren 1948 im Prinzip schon ein ganz „alter“ Hut, werden aber sehr beeindruckend eingesetzt. Während der Sitzung des Miller-Konzerns, bei der die „Eva“-Strategie von den äußerst wichtig und sehr respektabel aussehenden Herren besprochen wird, blickt die Kamera kurz in die heimlichen Gedanken ebendieser Herren. Diese schauen ein Gegenstand in ihrer Nähe an, und sehen – teilweise in besagten Doppelbelichtungen, teilweise mit großen Requisiten in Überblendungen – ihre „persönliche“ Eva. Der eine Herr sieht auf dem Telefon statt des Hörers eine nackte Frau, die sich räkelt. Das ist natürlich filmhistorisch extrem interessant, denn hier ist deutlich mehr nackte Haut zu sehen als drei Jahre später im skandalumwitterten DIE SÜNDERIN (der gleichwohl auch wegen seiner Thematik skandalisierte). Es folgt die Vision eines Herren, der auf einem Federkiel ein junges Schulmädchen sitzen sieht. Dieser Moment ist nun wahrhaft verstörend – ohne jegliche Zweifel sehen wir hier eine pädophile Fantasie. Es folgt ein Vorstandsmitglied, der ein Lineal etwas durchbiegt und dabei von einer Domina träumt, die wiederum eine Reitgerte durchbiegt.
Nacktheit, Pädophilie, Sadomasochismus und das alles so explizit visualisiert – das ist für 1948 beachtlich viel. Öffnete das politische Interregnum und Provisorium in Deutschland zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik im Westen bzw. der DDR im Osten, zwischen Nazi-Zensur und FSK/BPJM/Amtsgericht-Zensur bzw. staatssozialistischer Zensur für kurze Zeit Raum für Freiheiten, der 1949 mit der doppelten Staatsgründung und der bürokratischen Etablierung dauerhafter Zensurinstitutionen wieder verloren ging? Auf der Sitzung, der Vandenhoff vorsteht, haben die Vorstandsmitglieder jedenfalls auch eine rege Fantasie und träumen von Balletttänzerinnen auf ihrer Zigarrenspitze, exotischen, fast barbusigen Schönheiten auf dem Deckel einer Ziervase oder von erotischen Eroberungen im Inneren einer Wasserkaraffe.



Einige Teilnehmer der Vorstandssitzung schweifen mit den Gedanken ab...
... und haben mehr oder minder explizite, mehr oder minder verstörende Fantasien

Die ganzen erotischen Fantasien der gesetzten Herren spielen sich ab, während der jeweilige Konzernchef darüber spricht, wie man den Erfinder Dr. Alland mit einer Frau ködern oder ihn zumindest analysieren kann. Ton und Bild „weichen“ hier erheblich ab. Der Ton bringt die Haupthandlung voran, das Bild erzählt eine andere Geschichte. CHEMIE UND LIEBE enthält viele solcher Momente. Die Bild-Montage in Kombination und Wechselwirkung mit der Ton-Montage ist vielleicht das zentrale Element, das den Film heute so frisch und modern wirken lässt.
Revolutionär innovativ war er dabei nicht. Ich denke, vieles lässt sich relativ direkt auf den Film zurückführen, der die Ton- und Bild-Montage revolutionierte: Fritz Langs M. Arthur Maria Rabenalt hat sich offenbar sehr genau die parallele Sitzung der Polizisten und Gangster in Langs Klassiker (der es damals in Deutschland allerdings noch nicht war) angeschaut: Sitzungräume mit großen Tischen voller rauchender Männer, umgeben von einer dicken Luft, die vor lauter Zigaretten- und Zigarrenrauch geradezu zum Schneiden ist. CHEMIE UND LIEBE zeigt beide Sitzungen nacheinander und verschränkt sie nicht so kunstvoll zusammen wie in M, doch den Schnitt kennt man aus M: der Sprecher beginnt einen Satz, und nach einem Schnitt beendet ihn der Sprecher in der anderen Szenerie.
CHEMIE UND LIEBE ist ein extrem dialogreicher Film. „Ver-“ bzw. „zerlabert“ ist er in keinem Moment, weil es nur wenige einfache Schuss-Gegenschuss-Dialoge gibt. Oft laufen die Dialoge einer Szene einfach mit den gleichen Personen aber in einer anderen Umgebung einfach weiter – etwa, wenn sich Dr. Alland und der Chemiker Dr. Brose miteinander über chemische Probleme im Labor unterhalten und das Gespräch nahtlos weitergeht, während wir uns nun in einem schicken Club bei einem Empfang befinden. Abrupte Schnitte beenden eine Szene und ihr Dialog, und in der nächsten Szene dient ein Stichwort aus dem vorangehenden, um das ganze (teils ironisch) weiterzuspinnen. Wenn eine neue Szene beginnt, hören wir meist jemanden sprechen. Das erste Bild ist möglicherweise eine Nahaufnahme auf eine Person (nicht unbedingt der/die Sprecher/in) oder einen Gegenstand – die Kamera schwenkt dann, oder fährt durch den Raum und etabliert dann, wer sich wo befindet. Es gibt auch nur wenige Abblenden und Aufblenden – fast nur harte Schnitte oder Wischblenden. Die Szenenfolge: Second-Unit-Aufnahmen eines Gebäudes, eine Person, die eine Tür öffnet und einen Raum betritt und dann fängt die Szene erst richtig an – was man aus anderen Filmen kennt, gibt in hier praktisch nicht. Hier läuft das alles wesentlich flotter. CHEMIE UND LIEBE hat die Dichte eines 130-Minuten-Films – läuft aber nur knapp über 90 Minuten. Türen, die auf und zu gehen, das gibt es nur in einer großen „Verfolgungsjagd“, als Martina, Aimée und die Spaldi durch das ganze Gebäude, in dem sich das Gras-Butter-Labor befindet, nach Dr. Alland suchen und sich dieser verstecken muss.

Kameraperspektiven, die in einem zeitgenössischen film noir nicht deplatziert wirken würden
Die Kamera jedenfalls ruht sich ebenso wenig wie die Figuren aus. Dynamisch eilt und fliegt sie durch lange Räume, durchbricht manchmal gar Wände (was ein wenig an Max Ophüls erinnert). Wenn sie ruht, dann oft für kunstvoll arrangierte Tableaus. Sehr denkwürdig ist eine Montage von feiernden Upper-Class-Gästen bei einer der vielen Feierlichkeiten des Films: Nebenfiguren werden gezeigt, wie sie über den Putsch in Nordland tuscheln, über ihre jüngsten erotischen Eroberungen, über die Gefahr von Beaus, die alten Damen das Geld aus der Handtasche verführen wollen – lauter Tableaus, stark gekippt fotografiert. Drei Köpfe, die man aus der Untersicht durch ein transparentes Gläsertablett sieht – dieses Bild könnte fast schon aus einem zeitgenössischen film noir mit dem Kameramann John Alton sein.

Langs Einfluss ist auch in einzelnen Bildkomposition zu sehen:
oben: CHEMIE UND LIEBE / M
unten: CHEMIE UND LIEBE / DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE

Zwei kleine Details noch – eins betrifft die Verbindung zu Fritz Lang. Gegen Ende wird Dr. Alland die Vollendung seiner Erfindung vor einem breiten Publikum vorführen und hier gibt es einmal ausnahmsweise tatsächlich eine Expositions-Totale, die den Universitätshörsaal zeigt. Ein Bild, das – wenn auch spiegelverkehrt – praktisch genauso 15 Jahre vorher in DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE zu sehen war.

Sehr mysteriös ist die Szene, in der Da Costa zum ersten Mal bei Vandenhoff hausieren geht. Diesen besucht er nicht in einem Büro, sondern in eines der Museen, die ein von seinem Konzern aus Prestigegründen finanziertes Institut unterhält – offensichtlich ein Paläontologisches Museum. Die beiden Männer unterhalten sich vor einem Dinosaurier-Skelett. Auf eine gewisse Weise ist das konsequent: weder Miller noch Vandenhoff werden arbeitend in ihrem Büro eingeführt, sondern in ihrer Freizeit (Miller angelt gerade, als Da Costa ihn aufsucht) oder zumindest bei einer Nebenbeschäftigung (die Kontrolle der Arbeit des finanzierten Instituts). Trotzdem zieht das doch einige Aufmerksamkeit auf sich: zwei Männer vor einem Dinosaurier. War das ein kleiner Wink an Howard Hawks‘ BRINGING UP BABY? Die Saurierart ist nur verwandt und nicht genau die gleiche (Diplodocus Carnegiei in CHEMIE UND LIEBE, ein Brontosaurus in BRINGING UP BABY). Hawks' große Screwball-Komödie kam erst 1966 in Deutschland ins Kino. Und Deutschland ist der Ort, an dem sich die zentralen Beteiligten von CHEMIE UND LIEBE auch nach 1938 befanden...


„Ich hab Schnaps gebraut.“
„Dafür sollen Chemiker ja berühmt sein.“
„Wollen Sie mal kosten?“
„Uuuh.“
(informelles Gespräch in einem Laborhinterzimmer zwischen Dr. Brose und Psychoanalytikerin Spaldi)

Bei dem, was jetzt kommt, wäre ein Schnaps vorher tatsächlich nicht verkehrt...


Arthur Maria Rabenalt: Avantgardist, „unpolitischer Unterhaltungsregisseur“, Altherren-Pornograf

Als Arthur Maria Lothar Konrad Heinrich Rabenalt wurde der Regisseur dieses kleinen Wunderwerks 1905 in Wien geboren (im deutschen Wikipedia-Artikel gibt es noch ein „Friedrich“ am Ende der Vornamenliste). Rabenalt war von Haus aus ein Mann des Theaters. In den späten 1920er Jahren bildete er mit dem Bühnenbildner Wilhelm Reinking und der Tänzerin und Choreografin Claire Eckstein ein Theatertrio, das an vielen deutschen Bühnen durch die Experimentierfreudigkeit seiner Theater- und Operninszenierungen für Aufsehen sorgte. Das Trio feierte Publikumserfolge, wurde aber von den Nazis heftig als „kulturbolschewistisch“ attackiert. Nachdem diese 1933 an die Macht gelangten, durften Rabenalt, Reinking und Eckstein vorerst nicht mehr an deutschen Bühnen arbeiten. Glaubt man dem deutschen Wikipedia-Eintrag, so war Rabenalt bereits vor 1933 im Filmgeschäft tätig. Erwähnt wird eine Beteiligung an der Erstellung einer englischen Synchronfassung von – Fritz Langs M.

Wer schon vor der Herrschaft der Nazis verbal von ihnen attackiert wurde, weil er als künstlerischer Avantgardist galt und dann 1933 von ihnen einen Berufsverbot erteilt bekam, wäre eigentlich durchaus ein Kandidat für die Emigration gewesen. Rabenalt entschied sich dafür, in Deutschland zu bleiben und es weiter zu versuchen. 1934 kamen Rabenalts vier erste Filme heraus – einige davon hatte er bereits vor der Machtübernahme der Nazis angefangen zu planen. Der erste veröffentlichte Film, PAPPI, wird von Stefanie Mathilde Frank in ihrem Buch Arthur Maria Rabenalts Filme 1934 bis 1945 – eine dramaturgische Analyse als Film mit einem hohen Tempo beschrieben, mit einer fein abgestimmten Bild- und Ton-Montage und raffinierten visuellen Gags. In WAS BIN ICH OHNE DICH werden wohl die Bewohner eines Hauses mit Chopins Trauermarsch im Hintergrund vorgestellt – der Marsch geht dabei allmählich über in das fröhliche Titelschlagerlied. Rabenalts dritter Film, EINE SIEBZEHNJÄHRIGE (immer noch 1934) bekam Probleme mit der Zensur – und dann auch sein vierter Film EIN HUND, EIN KIND, EIN VAGABUND: dieser wurde wenige Wochen nach der Premiere aus dem Verkehr gezogen. Der Film wurde von 87 auf 77 Minuten geschnitten – und nach einer Neuprüfung in der geschnittenen Fassung trotzdem verboten, wegen „Verletzung des künstlerischen Empfindens“, wegen „alberner Dialoge“ und weil es ein „unkünstlerisches, seichtes und geschmackloses Machwerk“ sei (hier die Verbotsbegründung – der Film wurde in einem Rutsch mit DIE LIEBE SIEGT von Georg Zoch verboten, und zwar auf persönliche Intervention von Goebbels). Nach weiterem Schneiden (mittlerweile waren 68 Minuten von ursprünglich 87 übrig) wurde der Film wieder einige Monate später unter dem Titel VIELLEICHT WAR‘S NUR EIN TRAUM zugelassen. 

Demoralisiert von den Problemen mit der Zensur ging Rabenalt für die nächsten paar Jahre dann doch ins Ausland. In italienisch-deutscher Koproduktion entstand 1936 DIE LIEBE DES MAHARADSCHA, mit dem Rabenalt ein Pionierwerk des Indienfilm-Trends schuf (erfolgreicher wurden Richard Eichbergs und Thea von Harbous DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL von 1938 – zwei Jahrzehnte später kehrte Fritz Lang mit seinen eigenen Filmen gleichen Namens nach Deutschland zurück.). Zwei Filme drehte Rabenalt noch in Österreich, bevor er 1938 doch wieder nach Deutschland zurückkehrte und mit dem Zirkusfilm MÄNNER MÜSSEN SO SEIN (1939) einen großen Erfolg feierte. Es war der Film, mit dem er nun endlich richtig Fuß in der deutschen Filmindustrie fasste.

Von 1939 bis 1945 drehte Rabenalt über ein Dutzend Filme. Mehrere von ihnen sind ganz offen nationalsozialistisch. Der Filmhistoriker Hans Schmid zögert nicht, sie unumwunden als „widerliche Propagandafilme“ und „infam“ zu bezeichnen.
Darunter fällt FLUCHT INS DUNKEL, der noch kurz vor dem Angriff auf Polen in die Kinos kam. Wenn man die Inhaltsangabe von FLUCHT INS DUNKEL liest (hier auf der Seite der Murnau-Stiftung), nachdem man CHEMIE UND LIEBE kennt, fällt auf: es geht um einen Chemiker und seine bahnbrechende Erfindung (nämlich eine Aluminiumlegierung mit der Festigkeit von Stahl). In dem Film ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! von 1940 geht es – drei Mal darf der Leser raten – um die bahnbrechende Erfindung einer Legierung für einen superleichten, geschmeidigen und reißfesten Draht. Drehbücher mit Chemikern und bahnbrechenden Erfindungen hatten es Rabenalt offenbar angetan. Zur genaueren Bewertung der zwei Filme aus der Nazi-Ära würde ich nun das Wort Hans Schmid überlassen (bzw. ihn etwas ausführlicher paraphrasieren). In einer äußerst ambitionierten Reihe von Artikeln mit dem Titel „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ hat er sich mit nationalsozialistischen Filmen befasst, die er in seiner für ihn üblichen Art äußerst detail- und kenntnisreich sowie mit vielen Ausführungen zum film- und politik-/gesellschaftshistorischen Kontext analysiert.
Hier der Link zu dem Text, in dem er über Rabenalts FLUCHT INS DUNKEL (1939) und ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! schreibt. Zu FLUCHT INS DUNKEL hat Schmid überhaupt nichts Gutes zu sagen – zeigt aber auf, wie bis ins kleinste Detail die Machterlangung der Nazis als Defensivschlag gegen die als korrupt dargestellte Weimarer Republik gerechtfertigt wird. Bei ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! findet Schmid die Ansätze zu einem echten Genrefilm interessant – also Spuren eines Spionagefilms, in dem die Bösen tatsächlich verführerische, faszinierende Figuren sind. Wohlgemerkt: Ansätze. Er weist daraufhin, dass wohl in keinem Nazi-Film so viele Hitler-Büsten im Hintergrund zu sehen sind – ein Massenmörder, der damit mit rein filmischen Mitteln zum Schutzheiligen gemacht wird: „Trotz vieler Feinde ist man gut aufgehoben in einer Welt, über die der Führer wacht.“ Überhaupt seien Büsten und Bilder von Nazi-Größen im Hintergrund (zu sehen ist auch Himmler) sehr geschickt inszeniert. Trotzdem bleibt das Schlussurteil, dass ihm angesichts der Legitimierung der Nazi-Terrorherrschaft nur übel werden kann.
Schmids Text zu ...REITET FÜR DEUTSCHLAND (1941) flankieren Ausführungen zu den späten Jahren Rabenalts: um einen späten Skandal bei Rabenalts Ernennung zum Ehrenprofessor der Universität Bayreuth Ende der 1980er Jahre und um seine schriftstellerische Tätigkeit als Autor pornografischer Romane, in denen Rabenalt sexistischen und rassistischen Vergewaltigungs- und Unterwerfungsfantasien in Altherrenmanier frönte. ...REITET FÜR DEUTSCHLAND ist der Film, den Rabenalt nach dem Zweiten Weltkrieg am entschlossensten als „unpolitischen Unterhaltungsfilm“ verteidigte. Würde ich den Film nach dem Gelesenen in zwei Sätzen zusammenfassen, läse sich das wohl so: ein wackerer deutscher Soldat verliebt sich während des Ersten Weltkriegs in ein reinrassiges Pferd, verunglückt damit schwer, bleibt gelähmt zurück, während böse Polen ihm das Tier klauen. Mit gelähmten Gliedern ist er nichts mehr wert, deshalb wird er sich mit eisernem Willen wieder selbst gesunden, um erstens sein geliebtes Pferd wieder zu finden, zweitens es zuzureiten und damit bei einem internationalen Wettbewerb für die Ehre Deutschlands zu gewinnen, und drittens das Herz einer Stute ähm... Frau zu gewinnen, die als echt-deutsche Frau genau weiß, wann sie in Anwesenheit des Mannes die Klappe zu halten hat und die in der Wertschätzungsskala des wackeren Veteranen und zünftigen Reiters ganz offensichtlich nicht über dem Pferd steht. Die leicht zoophil angehauchte Liebesgeschichte zwischen einem Mann, der seine „Glieder“ wieder zum Funktionieren bringen möchte, einem Rassenpferd und einem ur-deutschen Mädel wird von Reinrassigkeits- und teutonischen Überlegenheitsfantasien getrieben und von infamem Sexismus, antisemitischen Darstellungen und einem ekelhaften Neuaufguss der Dolchstoßlegende flankiert. Mit anderen Worten: ein „unpolitischer Unterhaltungsfilm“ – der deshalb in den 1980er Jahren auch ab 6 freigegeben auf Video in der Serie „Die großen Ufa-Klassiker“ erhältlich war (also in dem Jahrzehnt, als die große „Gewaltvideo“-Hysterie herrschte, die sich allerdings nicht auf „harmlose Unterhaltungsfilme“ wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND stürzte).
Nun: Hans Schmids Ausführungen zu ...REITET FÜR DEUTSCHLAND habe ich jetzt etwas ausführlicher paraphrasiert. Aber das ist selbstverständlich kein vollwertiger Ersatz für die Lektüre des kompletten, sehr langen Artikels.

So... nun müsste aber endlich Schluss sein mit den „unpolitischen Unterhaltungsfilmen“ Rabenalts im Dritten Reich. Ist es aber nicht. Schmid bespricht in seiner Reihe „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ noch FRONTTHEATER von 1942. Hier verrät eine junge Frau ihren Ehemann, dem sie versprochen hatte, ihren Beruf als Theaterschauspielerin an den Nagel zu hängen, um voll und ganz nur Ehefrau zu sein, als sie eine Vertretungsstelle in einer Theatertruppe für Truppenbetreuung im Ausland/in besetzten Gebieten annimmt, während der Ehemann irgendwo an der Westfront stationiert ist. Der Konflikt geht dann doch glimpflich aus, als klar wird, dass sie diese Stelle nur bis zum Endsieg besetzen wird. Zwischendurch werden ein paar schmissige Schlager gesungen und leicht frivole Tänze geboten, damit die wackeren deutschen Soldaten mit Schwung Deutschlands Sicherheit am Ärmelkanal bzw. auf der Akropolis verteidigen können, indem sie am Tag nach den schönen Aufführungen ein paar Untermenschen niedermetzeln gehen. Trotz eines Gastuftritts der Verkörperung „unpolitischer Unterhaltung“ im Dritten Reich (also Heinz Rühmanns) galt FRONTTHEATER nach dem Weltkrieg doch nicht als ganz so „unpolitisch“ wie etwa ...REITET FÜR DEUTSCHLAND und wird heute von der Murnau-Stiftung als „Vorbehaltsfilm“ behandelt. Wo Schmid bei ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! die Ansätze zu Genre und Pulp bemerkenswert fand und bei ...REITET FÜR DEUTSCHLAND die Manipulation antisemitischer Ressentiments als besonders perfide und im perversen, menschenverachtenden Selbstverständnis des Films als inszenatorisch gelungen sieht (es gibt zu Beginn jüdische Karikaturen – später werden bösartige Figuren weniger karikaturhaft und wesentlich geerdeter inszeniert, aber audiovisuell doch deutlich so gezeigt, dass der Zuschauer sich an die Karikaturen erinnert), da sieht er in FRONTTHEATER nichts bemerkenswertes, nur das mechanische Abspulen eines völlig lahmen Drehbuchs, in dem lauter Sachen passieren, weil sie im Drehbuch stehen: „Rabenalt [ist] ein zu mittelmäßiger Regisseur, um Schwächen des Drehbuchs durch die Inszenierung auszugleichen“, so Schmid. Der oberste Chef der deutschen Filmindustrie im Dritten Reich verlieh FRONTTHEATER zwar die Einstufung „staatspolitisch und volkstümlich wertvoll“, mochte ihn aber auch nicht, bezeichnete ihn als „schlecht gemacht“ und den Grundkonflikt zwischen den Ehegatten als „an den Haaren herbeigezogen“. Goebbels‘ persönliches, harsches Tagebucheintrag diente Rabenalt später in der Bundesrepublik dann auch als einer von vielen Belegen dafür, dass er eigentlich ein Subversiver und Rebell innerhalb der Filmindustrie des Dritten Reichs gewesen sei.

Von den 16 abendfüllenden Filmen, die Arthur Maria Rabenalt, der „unpolitische Unterhaltungsregisseur“, zwischen 1939 und 1945 drehte, befinden sich also mindestens vier ganz offen nationalsozialistische Machwerke. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Rabenalt entsprechend auch einen Berufsverbot von alliierter Seite für den Bereich Film und wendete sich zunächst dem Theater und dem Kabarett zu (Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich noch gerade „entnazifiziert“ wurden, konnten offenbar recht problemlos einfach den Kunstzweig wechseln). Der Berufsverbot für die Filmindustrie hielt nicht besonders lange an, und CHEMIE UND LIEBE wurde 1948 Rabenalts erster Film nach dem Krieg. Für die DEFA drehte Rabenalt noch 1949 DAS MÄDCHEN MARTINA. Danach wurde er zu einem äußerst produktivsten Regisseur in der Bundesrepublik. Bis 1968 drehte er ununterbrochen jährlich mehrere Filme (1953 gar fünf Stück), ab 1961 vor allem für das Fernsehen. Sein Hauptwirkungsgebiet war der Musik- und der Schlagerfilm. Das ist natürlich der Bereich, den man sich für einen ehemaligen Opernregisseur gut vorstellen kann. Es ist irgendwie auch genau das, was der illusionslose Cinephile so in etwa von einem ehemaligen Nazi-Regisseur erwartete: im Dritten Reich „unpolitische Unterhaltungsfilme“ gedreht, in der Ära des Wirtschaftswunders und von Papas Kino das Publikum mit Musikschnulzen beglückt – während rückkehrende Emigranten wie Fritz Lang und Robert Siodmak als „Vaterlandsverräter“ beschimpft wurden (Fritz Lang zahlt bis heute damit: seine US-amerikanischen Filme, von denen einige richtungsweisend für den film noir waren, werden in Deutschland bis heute stiefmütterlich behandelt – als wäre er 1933 ganz verschwunden).
Nun, ganz so einfach ist das ganze nicht. Ein revisionistischer Blick auf das bundesdeutsche Kino der 1950er Jahre (kürzlich zu finden bei mehreren Festival-Retrospektiven oder auch bei den Eskalierenden Träumern) zeigt, dass da durchaus viel Abgründiges, Irrsinniges, zumindest aber Interessantes lauerte – gerade auch in populären „Schnulzen“. Bei Rabenalt speziell ist da (für die 1940er Jahre) CHEMIE UND LIEBE. Und es gibt ALRAUNE von 1952, diesen erotischen Horrorfilm mit Hildegard Knef als monströse femme fatale und Erich von Stroheim als mad scientist. Hans Schmid erwähnt in einem anderen Artikel (wie alles von Schmid sehr lesenswert, diesmal zur Zensurkultur in Deutschland) diesen Film als einen der wenigen genuinen Horrorfilm der Adenauer-Zeit, bezeichnet ihn aber auch als „singulär“ in Rabenalts Werk.

Mit CHEMIE UND LIEBE wären wir meiner Meinung nach schon bei zwei „singulären“ Werken Rabenalts. ALRAUNE habe ich noch nicht gesehen. Gesichtet habe ich allerdings zwei Mal AM ABEND NACH DER OPER: ein sogenannter Überläuferfilm, 1944 gedreht, aber erst 1945 nach Ende des Dritten Reichs aufgeführt. Erzählt wird in einer langen Rückblende die Geschichte eines Mannes, der seine Frau aus Eifersucht ermordet hat, nach mehreren Jahren Gefängnis wieder freikommt, und sich bei einer Weltreise (die er mit dem Ziel unternimmt, sich erst einmal in der Heimat vergessen zu lassen) in eine neue Frau verliebt. Er heiratet sie und möchte unter allen Umständen verhindern, dass sie von seiner Vergangenheit erfährt. Unglücklicherweise geraten verräterische Papiere in die Hände eines Mannes, der eine Chance wittert und den ehemaligen Mörder erpresst, ihm eine Stelle in dessen Unternehmen abpresst und schließlich sogar mit seiner neuen Frau anbandelt. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Wenn Rabenalt 1933 ins Ausland, schließlich sogar in die USA emigriert wäre, hätte er diesen Stoff Anfang der 1940er Jahre vielleicht als waschechten film noir gedreht. Das Resultat ist nun ein reines period-Melodrama und tatsächlich zwiespältig: AM ABEND NACH DER OPER hat nach einem fulminanten und extrem filmischen Start oft längere Durchhänger, sein Tempo ist eher schleppend, die Verrenkungen mancher Charaktere sind völlig unwahrscheinlich und knistern vor lauter Drehbuchrascheln. Ohne Goebbels zitieren zu wollen, aber das zentrale McGuffin des Films ist an den Haaren herbeigezogen: warum vernichtet der Protagonist seine verräterischen Entlassungspapiere nicht einfach gleich?
Der Film endet damit, dass die Ehefrau schließlich zu ihrem Mann steht, obwohl er früher mal ein Mörder war. Ein Mann mit Dreck am Stecken, der von gemeinen Leuten („Nestbeschmutzer“? „Vaterlandsverräter“?) mit seiner Vergangenheit unter Druck gesetzt wird – aber das ganze geht dann doch glimpflich für ihn aus, weil seine Nächsten überhaupt kein Problem mit diesem uralten Hut haben... Das liest sich rückblickend fast so, als hätte hier jemand die Nazi-Geschichtspolitik der frühen Bundesrepublik vorausgesehen.
Nichtsdestotrotz: immer wieder bricht ein enormer Stilwillen aus AM ABEND NACH DER OPER heraus. Einzelne Tableaus sind durch ihre expressive Ausleuchtung unvergesslich. In einer Szene in einem frivolen Club, wo der Protagonist seine neue Ehefrau hinführt und wo die beiden den Erpresser treffen, spielt die Kamera mit Spiegeln, einer verspiegelten Tischoberfläche und filmt sogar durch facettierte Glasperlen, die am Tischleuchter hängen. Gegen Ende wird die ein Teil der Anfangsszene komplett wiederholt – diesmal aber komplett im Point-of-View des Protagonisten.

Rabenalts AM ABEND NACH DER OPER
Trotz einiger Schwächen immer wieder visuell sehr spannend
CHEMIE UND LIEBE war 2014 eine meiner liebsten Neusichtungen. Damals bezeichnete ich Rabenalt als „biografisch problematisch“ und zugleich als „begnadeter Formalist“. Ersteres war, wie ich jetzt feststellen muss, eine Untertreibung. Dass er einmal ein avantgardistischer, „kulturbolschewistischer“ Theater- und Opernregisseur war, haben die Nazis wohlwollend vergessen, als er Filme wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND drehte. Dass er Filme wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND drehte, wurde nach dem Weltkrieg auch schnell wieder umgedeutet und das Werk in die Kategorie „Ist nicht Harlans JUD SÜß und daher nur harmlose Unterhaltung“ eingeordnet. Nebst theoretischen Schriften über Musiktheater und Oper, pornografischen Romanen sowie Abhandlungen über die Geschichte des Pornofilms oder des erotischen Theaters in der Frühen Neuzeit (die Hans Schmid als Pornografie im Deckmantel des Sachbuchs bezeichnet) schrieb Rabenalt auch ein Buch über das Wirken Goebbels in der Filmindustrie und ein Buch mit dem Titel Film im Zwielicht: über den unpolitischen Film des Dritten Reiches und die Begrenzung des totalitären Anspruchs. In diesen Büchern stilisierte er sich selbst zum getarnten Subversiven innerhalb der Nazi-Filmindustrie. Das könnte zwar daraufhin deuten, dass es doch einige Leute gab, die ihm in der Bundesrepublik Vorwürfe machten. Der Dokumentarfilmer und Autor Erwin Leiser erwähnte in seinem Buch „Deutschland erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reiches auch Rabenalt an prominenter Stelle – das war allerdings 1968, zehn Jahre nach der Erstauflage von Rabenalts Film im Zwielicht. Im Gegensatz zu rückkehrenden Emigranten wie Lang und Siodmak oder zu Außenseitern wie etwa Peter Pewas hatte aber Rabenalt keine größeren Probleme, in der Bundesrepublik Filme zu drehen und eine gute Karriere zu machen.
Was den „begnadeten Formalisten“ betrifft: vielleicht war die Begeisterung zu stürmisch, besonders nach nur zwei Filmen. Dennoch – CHEMIE UND LIEBE sowie AM ABEND NACH DER OPER verbindet personell ausschließlich Rabenalt selbst, so dass ich davon ausgehe, dass in seiner Filmografie wohl das eine oder andere stecken könnte, das sich zu entdecken lohnt. Bei Hans Schmid, der sehr gerne vergessene oder unterschätzte Regisseure in langen, detailreichen Texten würdigt (von Cornel Wilde bis Sergio Martino, von Jess Franco bis Jean Rollin), wird es einen neuen Blick auf Rabenalts Werk, etwa seinen Filmen aus den 1950er Jahren, wohl nicht geben: dafür ist er wohl erst einmal zu angeekelt von Rabenalts Nazi-Filmen und seinen mit Vergewaltigungsfantasien gefüllten Romanen.


Wenn Jud Süß auf Sissi trifft

Zweifelsohne hat bei CHEMIE UND LIEBE der Kameramann keinen geringen Einfluss auf das Gelingen des Films gehabt. Dessen Biografie in der IMDb liest sich sehr knackig: er drehte in den 1920er Jahren großartige Stummfilme, in den 1930er Jahren Revuefilme, in den 1940er Jahren Nazipropagandafilme, in den 1950er Jahren antifaschistische Filme in Ostdeutschland und in den 1960er Jahren Unterhaltungsfilme in Westdeutschland; er sei ein brillanter und innovativer Kameramann gewesen und ein beängstigendes Beispiel für einen perfekten Techniker, dem das Ziel seiner Arbeit egal ist. Die Rede ist von Bruno Mondi, dessen berüchtigste Arbeit Veit Harlans JUD SÜß und beliebteste die SISSI-Trilogie von Ernst Marischka. Mondi begann bereits „groß“: als 18-Jähriger war er Kameraassistent bei Fritz Langs DER MÜDE TOD engagiert. Später prägten drei Zusammenarbeiten Mondis Filmografie als Kameramann. Für den Regisseur Richard Eichberg fotografierte er zwischen 1925 und 1933 insgesamt 18 Filme – mehrheitlich Genrefilme vieler Couleurs (Komödien, Krimis, Melodramen). Gemeinsam erlebten Eichberg und Mondi den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. Zwischen 1935 und 1945 wurde Mondi zum Stammkameramann Veit Harlans und fotografierte 12 seiner Filme. Darunter befindet sich JUD SÜß (1940). Technisch erwähnenswert ist, dass Harlan und Mondi zusammen zu den Pionieren des Farbfilms in Deutschland wurden: DIE GOLDENE STADT von 1942 gehört zu den ersten deutschen Farbfilmen. OPFERGANG (1944) wurde kürzlich restauriert auf DVD und blu-ray veröffentlicht und in diesem Zuge vor allem in Hinsicht auf seine Farbnutzung positiv besprochen – als morbider Kitsch, der wohl immer wieder in surrealen Irrsinn abdriftet, oder, wie Sebastian vom Kinotagebuch schreibt, in „delirierenden Camp“. In der Nutzung von Farbe sei Harlans und Mondis OPFERGANG ein Vorgänger von Argentos SUSPIRIA, wie man hier in einer sehr ausführlichen Besprechung lesen kann.
Nach einer kurzen Pause bei Kriegsende arbeitete Mondi gleich 1946 wieder weiter, und zwar bei der DEFA. Dort fotografierte er sechs Filme, darunter CHEMIE UND LIEBE, Wolfgang Staudtes ROTATION sowie den Märchenfilm DAS KALTE HERZ – letzterer war erste ostdeutsche Farbfilm. Mit Rabenalt arbeitete Mondi noch bei zwei weiteren Filmen: beim Krimi 0 UHR 15, ZIMMER 9 (1950) und bei der Musikkomödie LIEBE IST JA NUR EIN MÄRCHEN (1955). In den 1950er Jahren war Mondi wie bereits erwähnt Kameramann bei der SISSI-Trilogie. Sieben weitere Filme fotografierte er für Ernst Marischka.

Der Kollaboration mit den Nationalsozialisten völlig unverdächtig ist der berühmte Filmtheoretiker Balázs Béla, weil er erstens Kommunist, und zweitens jüdischer Herkunft war (und intellektuelle Filmkritiker wie ihn mochten die Nazis auch nicht). Allerdings wird sein Name im Zusammenhang mit CHEMIE UND LIEBE eher fallengelassen, als dass man ihn mit dem Projekt wirklich direkt assoziieren könnte. Das Drehbuch des Films wurde „nach einer Idee von Béla Balázs von Marion Keller und Frank Clifford verfasst“ – so kündigt der Erzähler zu Beginn von CHEMIE UND LIEBE den Film an. Manchmal liest man, dass der Film auf einen „Entwurf“, manchmal, dass er auf ein Theaterstück Balázs‘ basiert. Auf die Schnelle habe ich keine Hinweise dafür gefunden, dass der Ungar aktiv am Film beteiligt war.
Über die Autorin Marion Keller an sich finde ich kaum Informationen. Sie inszenierte einen Dokumentarkurzfilm über sowjetische Musiker in Berlin (MUSIKALISCHER BESUCH, 1946), verfasste das Drehbuch für Kurz Maetzigs Kurzdokumentarfilm BERLIN IM AUFBAU (ebenfalls 1946) und später das für CHEMIE UND LIEBE. In der IMDb kommt der nächste Eintrag knapp ein halbes Jahrhundert später: als Dialogautorin für den malisch-französisch-deutschen Film TAAFÉ FANGA („Die Herrschaft der Röcke“) von 1997. In diesem Film finden die Frauen eines Dorfes in Mali eine Zaubermaske, mit der sie einen Gender-Switch einleiten – in dem Ort werden die Frauen zu Männern, die Männer zu Frauen. Marion Keller, die nun Marion von Keller hieß, starb 1998 in Deutschland.
Der zweite Autor, Frank Clifford, ist schon weniger ein unbeschriebenes Blatt. Der gebürtige Hans Heinrich Tillgner arbeitete in den 1920er Jahren als Kinoleiter sowie als Filmproduzent in Berlin, Wien, Paris und sogar in den USA (wo er sich sein Pseudonym zulegte). Unter den namhaften Filmen, die er im Ausland produzierte, befanden sich À NOUS LA LIBERTÉ von René Clair (1931) und Julien Duviviers ALLÔ BERLIN? ICI PARIS! (1932). Clifford blieb nach der Machterlangung der Nazis in Deutschland und produzierte noch einige Filme – zwischen 1937 und 1948 herrschte bei ihm allerdings Funkstille in Sachen Film. Rabenalt kannte Clifford in seiner Eigenschaft als Produzent bereits aus den 1930er Jahren: dessen PAPPI und WAS BIN ICH OHNE DICH (beide 1934) hatte er produziert. Als Autor und Produzent wirkte Clifford nach CHEMIE UND LIEBE noch bei einigen weiteren Rabenalt-Filmen mit.

Hans Nielsen, der Darsteller des Dr. Alland, war vom Ende der 1930er Jahre bis zu seinem frühen Leukämie-Tod 1965 ein vielgesehener Schauspieler (143 Schauspiel-Credits bei IMDb) im deutschen Kino – offenbar meistens als Nebendarsteller, so bei mehreren Edgar-Wallace- und Bryan-Edgar-Wallace-Filmen Anfang der 1960er Jahre. Nebenbei war Nielsen auch ein vielbeschäftigter Synchronsprecher, der so diverse Darsteller wie David Niven, Orson Welles, Victor Sjöström, Fred Astaire, Cary Grant und Gary Cooper synchronisierte. Als etwas steifer Dr. Alland macht Nielsen eine ganz gute Figur, aber irgendwie liegt es natürlich in der Natur der Charaktere, dass Ralph Lothar als der umtriebige Da Costa im Grunde der heimliche Hauptdarsteller des Films ist: das Gesicht von CHEMIE UND LIEBE, das ist der süßlich-schmierig lächelnde und dabei doch stets elegante und charismatische Da Costa, der allen anderen meist die Show stiehlt. Ralph Lothar kam ursprünglich vom Theater, in dem er sowohl als Darsteller wie auch als Regisseur arbeitete. In den 1940er und 1950er Jahren spielte er in einigen Filmen mit – Ende der 1950er Jahre wechselte er auf den Regiestuhl und inszenierte gleichermaßen Kinofilme, Fernsehfilme und TV-Serien-Episoden. Das weibliche Pendant Lothars in CHEMIE UND LIEBE ist Ann Höling, die Darstellerin der Marquise Spaldi, die im Laufe des Films zunehmend mehr Raum mit ihrem Charisma einnimmt. Wie Lothar kam auch Höling vom Theater und blieb auch eher dort. CHEMIE UND LIEBE war ihre erste von nur zwei Dutzend Filmrollen bis 1993. Zwischen 1957 und 1966 gehörte sie zum Ensemble des Stadttheaters Basel und war in dieser Zeit gar nicht in Kino und Fernsehen zu sehen. Die vielleicht undankbarste Rolle, weil die Figur immer etwas zurückhaltend ist, hatte Tilly Lauenstein als Assistentin Martina Höller. Auch Lauenstein kam vom Theater zum Film, war ab den 1960er Jahren zunehmend auch im Fernsehen zu sehen und arbeitete als Synchronsprecherin (unter anderem von Katherine Hepburn, Ingrid Bergman, Barbara Stanwyck, Marlene Dietrich, Jeanne Moreau). Ende der 1960er Jahre nahm sie einige Rollen in Exploitationfilmen. So spielte sie die lesbische „Gräfin“, Teilhaberin eines Zwangsprostitutionsrings in Ernst Hofbauers SCHWARZER MARKT DER LIEBE (1966). Zu sehen war sie auch in Alfred Vohrers Erotikkomödie DAS GELBE HAUS AM PINNASBERG als Ehefrau des Inhabers eines Bordells für Frauen sowie in Cy Endfields und Roger Cormans DE SADE.

Die schillerndste Biografie (gleich vorab: nicht immer im positiven Sinne) unter den Darstellern von CHEMIE UND LIEBE hatte aber zweifelsohne Alfred Braun, der den allwissenden und aktiv intervenierenden Erzähler spielt. 1888 in Berlin geboren, begann Braun als Schüler von Max Reinhardt beim Theater und wirkte bereits in den 1910er Jahren bei einigen Filmen mit. In den 1920er Jahren wurde er in einem anderen Medium nicht nur berühmt, sondern gar zum Pionier, nämlich beim Rundfunk. Als Radiosprecher und -regisseur des Senders Funk-Stunde Berlin (der erste Hörfunksender in Deutschland) machte sich Braun einen Namen und seine Rundfunkbeiträge wurden legendär – ganz besonders seine Live-Reportagen zum Begräbnis Gustav Stresemanns und zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Thomas Mann. Letztere soll er, live vor Ort, offenbar nicht gesprochen, sondern geflüstert haben, um die Feierlichkeit nicht zu stören. Bei einer Umfrage in Berlin Ende der 1920er Jahre wurde Braun – nach Reichspräsident Hindenburg – zum erfolgreichsten Deutschen gewählt. Braun wurde von nationalkonservativen und nationalsozialistischen Kreisen stark angefeindet, weil er Ende der 1920er Jahre der SPD beigetreten war und auch an kirchlichen Feiertagen sendete. Nach der Machterlangung der Nazis wurde der deutsche Rundfunk „gesäubert“ und Braun zusammen mit anderen prominenten Hörfunkpionieren als Vertreter der Weimarer „Systemmedien“ verhaftet und in das Konzentrationslager Oranienburg verschleppt. Nach sechs Wochen kam er, auf Intervention des Schweizerischen Theaterdirektors Ferdinand Rieser, wieder frei – unter der Bedingung, Deutschland zu verlassen. In der Schweiz war er am Stadttheater Basel als Schauspieler und Regisseur tätig. In dieser Zeit fallen seine Bestrebungen, die Nazis bzw. insbesondere das Propagandaministerium dazu zu bewegen, ihm wieder eine Rückkehr nach Deutschland und zum Rundfunk zu ermöglichen, was zunächst erfolglos war. Nach einer Station in Ankara, wo er als Theaterdozent arbeitete, kehrte Braun offenbar illegal nach Deutschland zurück – oder möglicherweise bereits mit der Fürsprache des deutschen Botschafters in Ankara (Franz von Papen, ehemaliger Reichskanzler, dann Vizekanzler unter Hitler). Braun kam nur kurz zum Radio zurück, um über den Angriff auf Polen zu berichten. Veit Harlan und Emil Jannings setzten sich dafür ein, den Rundfunkpionier von seinem Lieblingsmedium zum Film zu transferieren. So begann Brauns Zusammenarbeit mit Harlan. Bei JUD SÜß arbeitete der ehemalige Rundfunkpionier als Regieassistent. Für DIE GOLDENE STADT, IMMENSEE – EIN DEUTSCHES VOLKSLIED, OPFERGANG und KOLBERG schrieb er am Drehbuch mit. Als das dem früheren Rundfunkpionier später vorgeworfen wurde, sagte Veit Harlan aus, dass Braun den Inhalt der Filme nicht bestimmt habe (ob um Braun zu verteidigen oder aus Stolz auf die Autorenschaft der eigenen Filme, ist unklar). Wie stark seine Beteiligung an dubiosen Filmen des Dritten Reichs auch war – sicher ist, dass Braun sich aktiv beim Naziregime angebiedert hatte und offenbar relativ bequem leben konnte, mit einer gutbürgerlichen, schicken Wohnung in Berlin und einer eigenen Wohnung in Gschwend (Ostwürttemberg). Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde Braun nicht erst großartig „entnazifiziert“, sondern konnte gleich bei Radio Stuttgart arbeiten. Schließlich kehrte er 1947 nach Berlin zurück, zum sowjetisch geführten Berliner Rundfunk, wo man dafür bürgte, dass er schon immer ein „aufrechter Antifaschist“ gewesen sei. In diese Zeit fällt sein Auftritt in CHEMIE UND LIEBE. 1950 beendete Braun seine Arbeit beim Rundfunk in Ost-Berlin. Nach einigen Filmengagements als Schauspieler und auch als Regisseur (für sein AUGEN DER LIEBE stand ihm Veit Harlan als Drehbuchautor zur Seite) wurde Braun schließlich der erste Intendant des Senders Freies Berlin – was er bis 1957 blieb. Die Wahl war offenbar nicht unumstritten und einige Medien erinnerten an Brauns opportunistisches Verhalten im Dritten Reich (und – wog das vielleicht schwerer? – in der frühen DDR). Mitte der 1960er Jahre erkrankte Braun und erblindete, aber er produzierte und sprach trotzdem noch regelmäßig Beiträge für den Sender Freies Berlin. 1978 starb Braun 89-jährig in seiner Heimatstadt.

Noch ein kurzer Nachtrag zum Schluss, rasch hineingefügt: Emil Hasler, der Produktionsdesigner von CHEMIE UND LIEBE, hatte einige berühmte Filme in seinem CV. Darunter eine Stelle als Assistent-Produktionsdesigner bei DER BLAUE ENGEL, geteilte Credits für Pabsts TAGEBUCH EINER VERLORENEN – und (ebenfalls geteilt) Credits bei Langs FRAU IM MOND, M und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Meine Vermutung, dass CHEMIE UND LIEBE den späten deutschen Filmen Langs stark verpflichtet ist oder es zumindest eine relativ direkte Verbindung gibt, bestätigt sich.

Dem charismatischen Da Costa (Ralph Lothar) gehört der letzte Auftritt

CHEMIE UND LIEBE ist Teil einer DVD-Box mit dem sperrigen Titel Kontinuitäten und Brüche. Zwischen UFA und DEFA 1942 - 1948. 6 Filme. 3 Regisseure. Vertreten sind Wolfgang Staudte mit DER MANN, DEM MAN DEN NAMEN STAHL (1945), DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) sowie DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES HERRN FRIDOLIN B. (1948) – dann Gerhard Lamprecht mit DIESEL (1942) und IRGENDWO IN BERLIN (1946), sowie Rabenalt mit AM ABEND NACH DER OPER (1945) und CHEMIE UND LIEBE. Das sind also eigentlich sieben Filme, und nicht sechs, wie der Titel suggeriert. Die Box ist zu moderaten Preisen erhältlich – die beiden Rabenalt-Filme sind, im Gegensatz etwa zu DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, nicht einzeln erhältlich. CHEMIE UND LIEBE ist jedenfalls in guter Ton- und Bildqualität zu sehen – da gibt es nichts zu mäkeln. Sollte CHEMIE UND LIEBE eines Tages doch einmal auf Einzel-DVD herauskommen, wird es höchstwahrscheinlich eine fürchterlich ramschige Edition sein, weil er als DEFA-Film rechtlich voll und ganz in den unfähigen Händen von Icestorm liegen dürfte.

Freitag, 18. November 2016

CŒUR FIDÈLE: Jean Epstein, der Impressionismus und die entsittlichende Wirkung

CŒUR FIDÈLE
Frankreich 1923
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Gina Manès (Marie), Léon Mathot (Jean), Edmond van Daële (Petit Paul), Marie Epstein (Nachbarin), Claude Benedict (Hochon), Mme. Maufroy (Mme. Hochon), Madeleine Erickson (Hure)

Marie; rechts oben Jean; Petit Paul; rechts unten die Hochons mit Marie
Die Filmhistoriker sind gespalten über die Frage, ob es im französischen Film der 1920er Jahre die Bewegung des "Impressionismus" (die natürlich nicht mit der gleichnamigen Richtung in der Malerei verwechselt werden darf) gegeben hat. Während die einen, etwa David Bordwell und Kristin Thompson, mit meiner Meinung nach guten Gründen die Realität dieser Bewegung oder Stilrichtung bejahen und Regisseure wie Abel Gance, Marcel L'Herbier, Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff dazu zählen, streiten einige andere die Existenz einer geschlossenen Bewegung rundweg ab. Die Charakteristika, die die Befürworter des Impressionismus anführen, treffen geradezu exemplarisch auf CŒUR FIDÈLE zu, und so wird auch Jean Epstein zu den Hauptvertretern des Impressionismus gezählt - wenn es ihn denn gab (was ich im Folgenden aber voraussetze). Wie diese Charakteristika denn nun aussahen, darüber unten mehr. Zunächst zur Handlung.

Hafenkneipe mit Tiefenschärfe; Petit Paul betritt die Szene
Die junge Marie wurde als Findelkind von Monsieur und Madame Hochon in Marseille aufgezogen. Doch die beiden sind lieblose Rabeneltern. Marie muss als Bedienung in der schäbigen Hafenkneipe der Hochons schuften, eigene Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Und es kommt noch schlimmer: Sie soll mit dem Ganoven Petit Paul verkuppelt werden, mit dem die Hochons durch irgendwelche krummen Geschäfte verbunden sind. Doch Marie liebt den stillen Hafenarbeiter Jean. Als der in der Kneipe vorstellig wird, um seine Ansprüche auf Marie anzumelden, wird er aber von den Hochons und Petit Paul nur abgebügelt. Und Petit Paul verschwindet daraufhin mit Marie, der keine Wahl gelassen wird, in eine Kleinstadt im Hinterland von Marseille. (Gedreht wurde die Kleinstadt-Sequenz in Manosque, aber der Name der Stadt wird im Film nicht genannt und spielt keine Rolle.) Dort ist gerade ein Rummelplatz in Betrieb, den Petit Paul mit der jetzt völlig apathischen Marie besucht. Jean hat mittlerweile von Maries Verschwinden Wind bekommen und ist Petit Paul auf der Spur. Tatsächlich findet er ihn bald, und mitten auf der Straße der Kleinstadt kommt es zu einem wilden Kampf der beiden Kontrahenten. Petit Paul zückt ein Messer, doch statt Jean trifft er einen Polizisten, der die beiden trennen wollte. Während Petit Paul daraufhin das Weite sucht, wird Jean verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Marie, die wie gelähmt den Kampf verfolgt hat und für Jean aussagen will, wird von der Polizei nur abgewimmelt.

Am Hafen von Marseille
Jeans Verurteilung ungefähr in der Mitte des Films bildet eine Zäsur. Es geht dann ein Jahr später mit Jeans Freilassung weiter, und die zweite Hälfte des Films spielt wieder in Marseille. Jean arbeitet jetzt als Kohlenschaufler im Hafen, und nebenbei sucht er nach Marie. Zunächst ohne Erfolg, doch dann läuft er ihr zufällig über den Weg. Und zu seinem Schreck muss er erfahren, dass Marie mit Petit Paul zusammenlebt und ein Baby von ihm hat. Doch Petit Paul hat sich nicht zum Besseren gewendet - ganz im Gegenteil. Er trinkt regelmäßig, und wenn er betrunken ist, schikaniert und tyrannisiert er Marie, die obendrein kaum Geld für sich und das Baby hat, weil Petit Paul alles versäuft oder verzockt. Jean besucht jetzt regelmäßig Marie in ihrer Wohnung, wenn Petit Paul auf Sauftour ist. Unterstützt wird das Liebespaar von einer freundlichen jungen Nachbarin mit verkrüppeltem Fuß (gespielt von Epsteins Schwester Marie, die auch am Drehbuch mitschrieb). Doch eine geschwätzige Hafenhure, die bei Jean abgeblitzt ist, hinterträgt Petit Paul das Treiben in seiner Abwesenheit. So macht er sich zu ungewohnt früher Stunde auf zu seiner Wohnung, ertappt Jean und Marie, und es kommt zum Showdown - diesmal hat er kein Messer, sondern eine Pistole dabei. Aber anders als beim ersten Kampf bleibt Petit Paul auf der Strecke, und Jean und Marie sehen einer gemeinsamen Zukunft ohne Angst vor dem Strolch entgegen.

Jean macht schwere Zeiten durch
Es ist keine freundliche Welt, die Jean Epstein uns zeigt. So wie ungefähr das erste Viertel von CŒUR FIDÈLE, spielt auch Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (verfilmt 1931-36 als MARIUS, FANNY und CÉSAR) in einer Hafenspelunke in Marseille und ihrer näheren Umgebung (in einer der deutschen Zensurentscheidungen, auf die ich unten eingehe, als "Apachenviertel einer französischen Hafenstadt" bezeichnet). Doch von der Atmosphäre gegenseitiger Sympathie und Respekts, die diesen Mikrokosmos der "kleinen Leute" bei Pagnol prägt, findet sich in CŒUR FIDÈLE fast nichts (einziger Lichtblick ist die empathische, selbst vom Leben gebeutelte Nachbarin von Marie). Eher fühlt man sich, um einen weiteren Vergleich mit dem Film der 30er Jahre zu bemühen, an das triste Le Havre von Carnés LE QUAI DES BRUMES erinnert. Überhaupt wirkt manches schon wie eine Vorwegnahme des Poetischen Realismus, der 15 Jahre später seinen Höhepunkt erreichen sollte. Was die Handlung betrifft, so hatte sich Epstein selbst Zurückhaltung und Schlichtheit auferlegt - er wollte ein auf seine Grundmuster reduziertes Melodram erzählen. Das ist - auch nach Auffassung seiner Zeitgenossen - gelungen. "Seine Handlung ist banal", schrieb René Clair im Februar 1924 (seinen ersten Film hatte er da schon abgedreht, aber noch nicht veröffentlicht), "eine Art von BROKEN BLOSSOMS, durch französische Augen gesehen." Doch das sei nicht wichtig, beeilt er sich hinzuzufügen: "Das Thema eines Films ist nicht wichtiger als das Thema einer Symphonie. [...] Monsieur Jean Epstein, der Regisseur von CŒUR FIDÈLE, ist offensichtlich mit der Frage des Rhythmus befasst. [...] Ich fordere diese Leser nochmals auf, sich CŒUR FIDÈLE und seinen Karneval [gemeint ist der Rummelplatz] anzusehen, eine schöne Szene von visueller Berauschung, ein emotionaler Tanz in der Dimension des Raums, in der das Antlitz der Dionysischen Poesie wiedergeboren wird."

Rummelplatz
In der Tat bildet die Sequenz auf dem Rummelplatz den Höhepunkt des Films, gerade weil der Plot hier mehr oder weniger pausiert (denn Jean ist noch auf der Suche nach Marie und Petit Paul). Karussell, Kettenkarussell und Schiffschaukeln werden mit Hilfe von ungewöhnlichen Kamerapositionen, mehrfacher Bildüberlagerung, rasantem Schnitt und gezielter Bewegungsunschärfe zu einem sehr dynamischen und modern wirkenden Gebilde aus Bewegung und Geschwindigkeit verwoben. Aber auch sonst bildet die Kameraarbeit den zentralen Bestandteil von CŒUR FIDÈLE, ebenso wie im Impressionismus insgesamt. Fast alle Szenen des Films sind mit sehr großer Tiefenschärfe gefilmt (was damals nichts Besonderes war - als deep focus cinematography mit Filmen wie DIE SPIELREGEL und CITIZEN KANE wieder in Mode kam, war das eigentlich schon ein alter Hut). Die hohe Tiefenschärfe ermöglicht es Epstein und seinen drei Kameramännern, gezielt partielle Unschärfe (nicht nur Bewegungsunschärfe) als Stilmittel einzusetzen. Es gibt auch ausgiebig Doppel- und Dreifachbelichtungen. Viele Szenenübergänge sind nicht als normale Schnitte, sondern als Überblendungen realisiert, auch andere weiche Übergänge wie Iris- und Wischblenden kommen zum Einsatz. Fast alle diese kameratechnischen Mittel dienen dazu, innere Zustände der Protagonisten zu visualisieren - Gedanken, Träume, Visionen, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen. Auch das ein allgemeines Charakteristikum der impressionistischen Filme. Verzerrende Spiegel oder Linsen dienen dazu, Petit Pauls subjektiven Blick im betrunkenen Zustand zu vermitteln (und in Epsteins FINIS TERRAE von 1929 den Blick eines an Blutvergiftung mit hohem Fieber Erkrankten). In anderen impressionistischen Filmen kommt auch Zeitlupe zum Einsatz. Die Betonung des Innenlebens korrespondiert mit einer hohen Zahl von Großaufnahmen in CŒUR FIDÈLE.

Kettenkarussell: Die Kamera fixiert Petit Paul und Marie, während der Hintergrund verschwimmt
Was den rasanten Schnitt betrifft, so hatte Abel Gance in seinem viereinhalbstündigen Eisenbahnepos LA ROUE neue Maßstäbe gesetzt. Zwar war das durchschnitliche Schnitttempo nicht übermaßig hoch, doch gab es wahre Ausbrüche, in denen das Tempo rasant anzog. Beispielsweise eine Sequenz, in der die Einstellungen nacheinander 11, 14, 7, 6, 5 und 6 Frames lang sind (die Zahlen entstammen dem profunden Film History. An Introduction von Bordwell & Thompson). Bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 oder 20 Bildern pro Sekunde, wie damals meist üblich, dauern die kürzesten dieser Einstellungen nur ungefähr eine Viertelsekunde. In einer Szene, in der ein Protagonist über einem Abgrund hängt und gleich in den Tod stürzen wird, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei - und jeder dieser Erinnerungsfetzen besteht aus nur einem einzigen Frame! Das war unerhört und ging über alles hinaus, was frühere Meister der Montage wie D.W. Griffith veranstaltet hatten. LA ROUE wurde denn auch neben Griffith zum wichtigsten Einfluss der sowjetischen Montage-Schule (und auch BORDERLINE mit seiner clatter montage wurde davon beeinflusst). Doch während die sowjetischen Meister um Eisenstein mit ihrer "intellektuellen Montage" Erkenntnisse über die äußere Welt vermitteln wollten, ging es Gance und seinen französischen Kollegen wiederum um das Innenleben der Protagonisten. CŒUR FIDÈLE war nun nach LA ROUE der zweite Film des Impressionismus, der sich der ultraschnellen Montage befleißigte. Zwar treibt es Epstein nicht ganz so wild wie Gance, aber in der Rummelplatzsequenz sind etliche Einstellungen auch gerade mal zwei Frames lang, und früher im Film gibt es in der Hafenkneipe auch schon einen wenn auch etwas gemäßigteren Ausbruch so eines Schnittgewitters. Nach diesen beiden Wegbereitern beinhalteten zwar nicht alle, aber doch recht viele weitere impressionistische Filme sehr dynamisch geschnittene Sequenzen, siehe etwa den ganz erstaunlichen Anfang von Kirsanoffs MÉNILMONTANT.

Der erste Kampf um Marie
Die Impressionisten bevorzugten einen zurückgenommenen, naturalistischen Schauspielstil, und der findet sich auch in CŒUR FIDÈLE. Nur Léon Mathot, der Darsteller von Jean, zeigt gelegentlich leichte Anflüge von Overacting, es hält sich aber immer in Grenzen. Dennoch scheint mir Mathot im Trio der Hauptdarsteller der Schwächste zu sein. Er wird allerdings auch ein bisschen vom Drehbuch benachteiligt. Petit Paul ist ein Widerling, aber auch ein dynamischer Charakter, und solange er nicht betrunken ist, strahlt er sogar ein gewisses Charisma aus. Im Vergleich zu ihm ist Jean fast ein Phlegmatiker, auch wenn er zweimal (in der Mitte und am Ende des Films) aus sich herausgeht. Trotzdem - 15 Jahre später hätte vielleicht Jean Gabin diese Rolle gespielt, und der hätte wesentlich mehr daraus machen können. Mathot (1885 [verschiedene Quellen nennen fälschlich 1886]-1968) war aber zu seiner Zeit ein populärer Darsteller, z.B. spielte er den Grafen von Monte Cristo in einem Serial von 1917/18. Später wechselte er ins Regiefach. - Edmond van Daële (1884-1960) alias Petit Paul war trotz seines holländisch klingenden Namens Franzose - eigentlich hieß er Edmond Jean Adolphe Minckwitz. Er spielte noch in zwei weiteren Filmen von Epstein, und in Gances NAPOLÉON gab er den Robespierre. Auch mit weiteren namhaften Regisseuren wie Maurice Tourneur und mehrfach Julien Duvivier und Marcel L'Herbier hat van Daële zusammengearbeitet. In der deutsch-französischen Coproduktion CAGLIOSTRO von Richard Oswald spielte er Ludwig XVI. - Gina Manès (1893-1989) schließlich kam in ihrer 50-jährigen Filmkarriere von 1916 bis 1966 auf rund 90 Filme. In NAPOLÉON spielte sie Kaiserin Joséphine de Beauharnais. In den späten 20er Jahren machte sie einige Abstecher in den deutschen Stummfilm, u.a. THÉRÈSE RAQUIN aka DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN! von Jacques Feyder, DIE TODESSCHLEIFE von Arthur Robison und DIE HEILIGE UND IHR NARR von und mit William Dieterle. Im Tonfilm wurden ihre Rollen kleiner, aber sie blieb im Geschäft. Unter ihren Auftritten waren etliche Filme von namhaften Exilanten wie DIVINE (Max Ophüls), MAYERLING (Anatole Litvak) und MOLLENARD (Robert Siodmak). 1955 hatte sie einen Auftritt im letzten Film von Preston Sturges, dessen Karriere da eigentlich schon längst vorbei war.

Jean schippt Kohlen und denkt dabei an Marie
Der 1897 in Warschau als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter geborene Jean Epstein war nicht nur Regisseur, sondern neben dem jung verstorbenen Louis Delluc auch der wichtigste Theoretiker der Impressionisten. Etliche Schriften der beiden drehten sich um den etwas schwammigen Begriff photogénie. Mit seiner wilden Künstlertolle, die auch Grafiker und Bildhauer inspiriert hat, war Epstein in den 20er Jahren eine markante Erscheinung. In seinen Filmen ging er mehrfach neue Wege. Im Gegensatz zu den Verfechtern des cinéma pur hielten die Vertreter des Impressionismus am narrativen Kino fest, aber mit seinem Kurzfilm LA GLACE À TROIS FACES entfernte er sich weiter von klassischen Erzählmustern als die meisten seiner Kollegen. Epsteins heute bekanntester Film (zumindest bei uns) ist wohl LA CHUTE DE LA MAISON USHER, entstanden im selben Jahr wie die Version von Watson & Webber dieses Werks von E.A. Poe. Mit USHER hat sich Epstein dem Surrealismus angenähert, und manche Szenen erinnern an den vier Jahre später entstandenen VAMPYR von C.T. Dreyer. Regieassistent und Mitautor des Drehbuchs war Luis Buñuel, doch Buñuel und Epstein zerstritten sich, und ihre Wege trennten sich schnell. Aber Buñuel hatte dabei soviel über das Filmhandwerk gelernt, dass er daraufhin mit Salvador Dalí zu seiner ersten Großtat UN CHIEN ANDALOU schreiten konnte.

Klatschweiber in Marseille
Epstein dagegen trieb das Konzept von USHER nicht weiter auf die Spitze, sondern machte eine radikale Kehrtwende. In seinem nächsten Film FINIS TERRAE verzichtet er bis auf die schon erwähnte Szene mit dem verzerrten Blick eines Fieberkranken komplett auf die gewohnten Kameratricks. Vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein proto-neorealistisches Drama, in der hintersten Bretagne (finis terrae = "Ende der Welt") mit einheimischen Laiendarstellern gedreht. Danach drehte Epstein noch mehrfach in der Bretagne. Seit den 30er Jahren konnte er nur mehr wenige Spielfilme realisieren, aber er drehte noch eine Reihe von Kurzfilmen, viele davon dokumentarisch. - Heute ist von den Impressionisten wahrscheinlich Abel Gance am bekanntesten, der nach den Großwerken J'ACCUSE! (keine Zola-Verfilmung, sondern eine Anklage des Ersten Weltkriegs) und LA ROUE mit dem Übergroßwerk NAPOLÉON noch eins draufsetzte. Aber die anderen Impressionisten, auch Epstein, sind außerhalb Frankreichs weniger bekannt, weil ihre Filme im Ausland wenig Erfolg hatten, und weil sie in den 30er Jahren von den Vertretern des Poetischen Realismus an Popularität weit übertroffen wurden. Aber CŒUR FIDÈLE kann man durchaus zu den Klassikern des französischen Kinos zählen.

Eine gesprächige Dame aus dem Hafenviertel
Weniger glorios verlief die Karriere von CŒUR FIDÈLE in Deutschland: Da wurde der Film nämlich verboten.

Entsittlichende Wirkung


Im November 1918 wurde mit dem Ende des Kaiserreichs auch die Zensur in Deutschland abgeschafft - jedenfalls auf dem Papier. Untergeordnete Behörden wie Polizeidirektionen konnten nach wie vor Filme verbieten (und taten es auch), aber einheitliche landesweite Verbote gab es nun nicht mehr, und das eröffnete einladende Schlupflöcher für "Sittenfilme" und "Aufklärungsfilme". Tatsächlich war die Zeit von Ende 1918 bis Mitte 1920 und nicht etwa die 60er und 70er Jahre die erste Blütezeit dieses Genres in Deutschland. Manche dieser Filme wollten tatsächlich aufklären oder eine progressive Sexualmoral (und eine entsprechende Gesetzgebung) propagieren (am bekanntesten wohl Richard Oswalds Homosexuellendrama ANDERS ALS DIE ANDERN), während die meisten eher spekulativ waren. So oder so - diese Filme waren natürlich den Konservativen in Gesellschaft und Politik (und auch dem einen oder anderen linken Kulturpessimisten) ein Dorn im Auge, und der Ruf nach einer speziellen Filmzensur wurde laut. So wurde auf Betreiben der Mitte-Rechts-Parteien von der Verfassunggebenden Nationalversammlung die Möglichkeit eines Zensurgesetzes in der Weimarer Verfassung verankert, und dieses Gesetz wurde dann als Reichslichtspielgesetz im Mai 1920 verabschiedet. Neben der Verbannung der "Schund- und Schmutzfilme" wurde damit auch eine politische Filmzensur etabliert, die im Verlauf der 20er Jahre immer rechtslastiger wurde.

Während Petit Paul keinen klaren Blick mehr hat, kümmert sich Marie um ihr Baby
Artikel 118 der Weimarer Verfassung (Fassung vom August 1919):
Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

§ 1 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz (Fassung vom Mai 1920):
Die Zulassung eines Bildstreifens erfolgt auf Antrag. Sie ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, daß die Vorführung eines Bildstreifens geeignet ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden. Die Zulassung darf wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher nicht versagt werden. Die Zulassung darf nicht versagt werden aus Gründen, die außerhalb des Inhalts der Bildstreifen liegen.

§ 3 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz:
Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist.

Die Nachbarin von Marie und Petit Paul
Nun musste also jeder Film (deutsche ebenso wie importierte ausländische) vor der Veröffentlichung einer der beiden in München und Berlin ansässigen Filmprüfstellen zur Genehmigung vorgelegt werden, als Revisionsinstanz gab es die Oberprüfstelle in Berlin. Diese Prüfstellen waren dem Reichsinnenministerium zugeordnet, und das Ministerium bestimmte auch über die personelle Besetzung. Die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle waren endgültig, der Gerichtsweg war nicht vorgesehen. Ein nicht zugelassener Film konnte jedoch gekürzt oder sonstwie verändert erneut zur Prüfung vorgelegt werden.

Der Schurke und seine Spießgesellen
Wenn die verschiedentlich zu findende Angabe stimmt, dass die Originallänge von CŒUR FIDÈLE 1990 Meter beträgt, dann war die für Deutschland bestimmte Fassung bereits stark gekürzt, denn deren Länge betrug zunächst 1577 Meter. Die fehlenden 413 Meter entsprechen bei der für den Film laut Booklet der Blu-ray vermutlich vorgesehenen Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde einer Dauer von etwas mehr als 20 Minuten. Diese Fassung von CŒUR FIDÈLE wurde nun unter dem vorgesehenen Titel HERZENSTREUE von einem Berliner Verleih am 7. März 1925 der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt und daraufhin auf Antrag eines der Beisitzer mit der Begründung "Exemplarischer Schundfilm, und daher seelisch verrohend" verboten. Gegen diese Entscheidung der Kammer legte der Vorsitzende Beschwerde ein (wie es wörtlich im Protokoll heißt), sowohl aus formalen wie auch aus inhaltlichen Gründen. Formal, weil der Begriff "Schundfilm" im Reichslichtspielgesetz nicht erwähnt war und deshalb kein gültiger Ablehnungsgrund sein konnte. Inhaltlich, weil die seelisch verrohende Wirkung nicht gegeben sei, u.a. weil "... das gute Prinzip am Ende siegt und das elende Leben Petit Pauls endet". Allerdings hielt der Vorsitzende, ein Regierungsrat Goetz, Schnitte für angebracht, "... besonders im letzten Akt jene Scenen, die das blutüberströmte Gesicht Petit Pauls zeigen".

Das hat dem Regierungsrat Goetz nicht gefallen
Am 12. März beriet die Film-Oberprüfstelle über die Beschwerde, wies diese jedoch ab. Zwar wurde dem formalen Teil stattgegeben: "Nach geltendem Recht bildet die Schundfilmeigenschaft eines Bildstreifens keinen Verbotsgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Mai 1920. Zu diesem Teil ist die Beschwerde begründet." Inhaltlich schloss man sich der Vorinstanz aber an, was folgendermaßen zusammengefasst (und jetzt formal korrekt formuliert) wurde: "Der Bildstreifen ist in hohem Masse [sic] geeignet, entsittlichend zu wirken. Das hat wohl auch die Prüfstelle zum Ausdruck bringen wollen, als sie ihn für geeignet erklärte, "seelisch verrohend" zu wirken." Und das wird dann noch ausführlich begründet. Folgende Formulierung ließ dem Verleih wenig Hoffnung: "Diese Wirkung geht von dem g e s a m t e n Bildstreifen [Hervorhebung im Protokoll der Sitzung], nicht nur von einzelnen Bildfolgen aus, von denen Teile der Kampfscenen, insbesondere das Ende Petit Pauls geeignet sind, verrohend zu wirken, sodass ein Teilverbot nach § 1 Abs. 3 [also eine Freigabe mit Schnittauflagen] nicht in Frage kommt."

Unschärfe - kein handwerklicher Fehler, sondern ein Stilmittel

Die im Beschauer schlummernden rohen Instinkte


Trotzdem machte der Verleih tapfer einen zweiten Versuch, kürzte CŒUR FIDÈLE um weitere 23 Meter (was bei einer Abspielgeschwindigkeit von 18 fps einer Dauer von 1:07 min entspricht) und legte ihn am 15. April erneut der Filmprüfstelle Berlin vor. Zwei der vier Beisitzer waren schon beim ersten Durchgang dabei gewesen (was anscheinend ungewöhnlich war, denn sie wurden vom Vorsitzenden ausdrücklich befragt, ob sie nicht befangen seien), die anderen beiden und der Vorsitzende der Kammer waren neu. Doch auch die gekürzte Fassung fiel durch und wurde verboten: "Der Gesamteindruck ist so verrohend, dass durch die Beseitigung einzelner roher Handlungen in der Wirkung nichts wesentliches geändert wird. Aus diesem Grunde sind die inzwischen vorgenommenen Kürzungen belanglos, wie auch weitere Ausschnitte die verrohende Wirkung nicht aufheben können, weil diese hervorgerufen wird durch den Gesamtinhalt der Handlung, durch die sich, wie ein roter Faden, die nackte brutale Gewalt hindurchzieht. [...] Es besteht die Gefahr, dass im Beschauer schlummernde rohe Instinkte ausgelöst werden, die andererseits durch die Geschehnisse keinerlei Dämpfung finden. [...] so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das allgemeine sittliche Niveau durch das Zeigen des Martyriums, das eine wehrlose Frau durch das brutale Verhalten eines gewissenlosen Mannes erleidet, herabgemindert und gesenkt wird."


Der bei der Sitzung anwesende Vertreter des Verleihs legte wiederum Beschwerde ein, so dass es am 22. April 1925 vor der Oberprüfstelle zur vierten und letzten Verhandlung über CŒUR FIDÈLE kam. Die Besetzung war identisch mit der vom 12. März (ob das üblich war, ist mir nicht bekannt). Und neuerlich wurde die Beschwerde abgeschmettert: "Das Verbot des Bildstreifens durch die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 12. März 1925 tat [sic] auf den Verbotsgrund der entsittlichenden Wirkung gegründet, die die Oberprüfstelle darin gesehen hat, dass der Gesamtinhalt des Bildstreifens derart herabziehend und auf das Gefühl des Beschauers abstumpfend wirke, dass von seiner Vorführung eine Verschlechterung des sittlichen Fühlens und Denkens zu besorgen sei. An dieser Feststellung wird durch die von dem Beschwerdeführer vor der Widervorlage [sic] des Bildstreifens gemachten wenigen Ausschnitte nicht [sic] geändert."

Überblendung
Während gemäß der zum Reichslichtspielgesetz erlassenen Gebührenordnung die erste Verbotsentscheidung samt Berufung gebührenfrei erfolgte, trug nach der zweiten Runde der Antragsteller (also der Verleih) die Kosten. Und damit war dann die Karriere von CŒUR FIDÈLE bzw. HERZENSTREUE in Deutschland beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Lexikon des internationalen Films kennt CŒUR FIDÈLE nicht, er lief also anscheinend auch nie in der Bundesrepublik und der DDR. Auf der Website des Österreichischen Filmmuseums in Wien wird CŒUR FIDÈLE als TREUES HERZ erwähnt. Ich weiß aber nicht, wann er diesen Titel verpasst bekam, und ob er zeitnah zu seiner Entstehung in Österreich lief.

Noch eine Überblendung
Die so ausgiebig bemühte "verrohende" und "entsittlichende" Wirkung eines Films war eine Universalkeule des Reichslichtspielgesetzes. Das Schöne daran (aus Sicht der Zensoren) war, dass man diese Wirkung gar nicht schlüssig nachweisen, sondern nur vermuten bzw. behaupten musste (darin der "sozialethischen Desorientierung" nicht unähnlich, vor der die heutige Bundesprüfstelle und weitere Gremien seit den 50er Jahren die gefährdungsgeneigte Jugend schützen zu müssen glauben). Das war auch so gewollt. Leiter der Oberprüfstelle war seit 1924 ein Oberregierungsrat Dr. Ernst Seeger, der auch die beiden Berufungsverhandlungen HERZENSTREUE betreffend als Vorsitzender leitete. Dr. Seeger war auch an der Abfassung des Reichslichtspielgesetzes beteiligt, und in einem 1923 von ihm verfassten Kommentar zum Gesetz kann man lesen: "Der Inhalt des Bildstreifens ist nur insoweit Gegenstand der Prüfung, als von ihm aus Schlüsse auf die mutmaßliche Wirkung bei der Vorführung auf den Beschauer zu ziehen sind" (Hervorhebung von mir). 1933 konnte Dr. Seeger, inzwischen zum Ministerialrat befördert, seine Laufbahn nahtlos im Propagandaministerium fortsetzen - "Die Lücke, die sein Tod im Reichspropagandaministerium gerissen hat, wird schwer auszufüllen sein", hieß es in einem Nachruf im Film-Kurier vom 18. August 1937. - Aus heutiger Sicht ist das Verbot von CŒUR FIDÈLE natürlich ein schlechter Witz, aber damals war das ein ganz normaler Vorgang, und meist ging sowas sang- und klanglos über die Bühne. Öffentlich ausgetragene Zensurskandale wie bei DIE FREUDLOSE GASSE, PANZERKREUZER POTEMKIN oder KUHLE WAMPE blieben die Ausnahme. - Wer sich die erbauliche Lektüre der famosen Filmprüfer gönnen will, findet hier die Sitzungsprotokolle verlinkt.

Links Dreifachbelichtung, rechts ein natürlicher Schleier im Bild
CŒUR FIDÈLE ist in England bei Masters of Cinema als Blu-ray/DVD-Combo mit ausgezeichneter Bildqualität erschienen. Eine französische DVD gibt es auch. Und für die, die mehr von Epstein sehen wollen, gibt es ebenfalls in Frankreich drei DVD-Boxen: "Jean Epstein - Première Vague" mit vier Filmen auf zwei DVDs, "Jean Epstein - Poème Bretons" mit seinen sieben bretonischen Filmen auf drei DVDs sowie (zu einem sehr gehobenen Preis) den "Coffret Jean Epstein" mit 14 Filmen auf acht Scheiben sowie einem beigelegten Buch.

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