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Sonntag, 2. Juni 2013

Den Mörder trifft man am Buffet - und nicht nur einen

BUFFET FROID (DEN MÖRDER TRIFFT MAN AM BUFFET)
Frankreich 1979
Regie: Bertrand Blier
Darsteller: Gérard Depardieu (Alphonse Tram), Bernard Blier (Inspektor Morvandiau), Jean Carmet (der Mörder), Geneviève Page (Geneviève), Jean Rougerie (Eugène Léonard), Jean Benguigui (Killer), Denise Gence (Gastgeberin im Schloss), Michel Serrault (Buchhalter), Carole Bouquet (junge Frau)

Trio Infernal
La Défense: Eine seinerzeit moderne, fast futuristische Trabantenstadt im Westen von Paris, bestehend vor allem aus Bürotürmen, und obwohl schon in den 60er Jahren begonnen, Ende der 70er noch nicht fertiggestellt. Hier wohnt Alphonse Tram, ein junger, von ständigen Albträumen geplagter Arbeitsloser, und zwar zusammen mit seiner Frau als einziger Mieter in einem Hochhaus. Der Film beginnt in der Metro-Station von La Défense. Am Bahnsteig sind nur zwei Personen, Alphonse und ein etwas älterer Herr. Alphonse rückt ihm auf die Pelle, zeigt ihm sein Springmesser - nicht, um ihn zu bedrohen, sondern um ein Gespräch zu beginnen, weil er die Einsamkeit und die Isolation in der sterilen Betonwüste schwer erträgt. Der andere Mann, der sich als Buchhalter vorstellt, ist dennoch irritiert, lässt sich nur widerwillig auf ein Gespräch ein. Am Ende der kurzen Unterhaltung ist Alphonses Messer auf wundersame Weise verschwunden. Später begegnet Alphonse dem Buchhalter in einem Gang der Metro wieder - er liegt blutend am Boden, mit einem Messer im Bauch - Alphonses Messer! Mit sehr befremdlicher Distanziertheit beantwortet der Sterbende Alphonses Fragen, als würde er nur mit einem verstauchten Knöchel da liegen. Er kann den Täter nicht beschreiben, weil er nicht darauf geachtet hat. Er bietet Alphonse an, ihm sein Geld zu überlassen, weil er es eh nicht mehr brauchen kann, und er ermahnt ihn, das Messer mitzunehmen, weil ja seine Fingerabdrücke darauf sind, was ihn in Schwierigkeiten bringen könnte. Zuhause in der Wohnung sehen wir Alphonse und seine Frau, wie sie routiniert nebeneinander her leben. Weder am Tisch noch im Bett haben sie sich etwas zu sagen. Als er den Mord erwähnt, erwidert sie nur, er solle bitte das Tischtuch abwischen, weil es gleich etwas zu essen gibt. Doch sie hat eine Neuigkeit: Im Stockwerk darüber ist ein zweiter Mieter eingezogen. Alphonse stattet ihm einen Begrüßungsbesuch ab und wird in die Wohnung gebeten. Monsieur Morvandiau ist ein alter Chefinspektor von der Pariser Kriminalpolizei. Das trifft sich gut, denkt sich Alphonse, und erzählt ihm vom Mord in der Metro. Doch der Inspektor wiegelt nur desinteressiert ab: Jetzt ist schließlich Feierabend, er sitzt gerade beim Essen, und er ist auch gerade erst eingezogen. Höflich, aber bestimmt, wird Alphonse hinauskomplimentiert.

In der Metro
Doch bald klingelt er wieder beim Inspektor: Seine Frau ist verschwunden, und er vermutet, dass ihr etwas zugestoßen ist. Morvandiau telefoniert mit seiner Dienststelle, und tatsächlich - die Vermisste wurde ermordet aufgefunden, was Alphonse jedoch mit Gleichmut zur Kenntnis nimmt. Etwas später erscheint ein unscheinbarer Mann bei Alphonse und bittet um ein Gespräch. Doch erst als er gesteht, dass er der Mörder von Madame Tram ist, wird er hereingebeten und zum Essen eingeladen. Als auch der Inspektor mit einer Flasche Wein aufkreuzt und dem Mörder - dessen Name nie genannt wird - vorgestellt wird, nimmt er dessen Geständnis mit freundlichem Desinteresse zur Kenntnis. Dann klingelt noch ein Mann. Eugène Léonard, wie er sich vorstellt, will gesehen haben, dass Alphonse den Buchhalter erdolchte, doch dieser bestreitet die Tat. Der Inspektor vermutet, dass Eugène auf Erpressung aus ist, doch der wiegelt ab: Er bitte Alphonse nur darum, doch auch für ihn noch jemanden zu erledigen, was ja nicht zuviel verlangt sei. Da können Alphonse, der Mörder und der Inspektor natürlich nicht widersprechen - also abgemacht! Als die drei in der Tiefgarage der angebenen Adresse lauern, stellt sich heraus, dass Eugène Léonard selbst das ausersehene Opfer ist. Alphonse will jetzt einen Rückzieher machen, doch Eugène drängt auf Einhaltung der Abmachung. Bei einem Handgemenge wollen die drei Eugène am Schreien hindern und bringen ihn eher versehentlich tatsächlich um die Ecke. In der Wohnung des Dahingeschiedenen werden sie von dessen Witwe Geneviève erwartet, die von ihrem Gatten schon vorab über die Umstände seines bevorstehenden Todes informiert wurde. Da die drei Herren sie zur Witwe gemacht haben, seien sie jetzt auch für sie verantwortlich, meint sie, und so wird sie in Alphonses Wohnung mitgenommen, wo sie sich häuslich einrichtet und auch gleich in seinem Bett landet. Doch die beiden werden vom Mörder unterbrochen, der sich nachts nicht mehr allein auf die Straße traut, wegen der vielen Verbrecher, die die Gegend unsicher machen.

Ein Messer
So begleitet Alphonse etwas widerwillig den Mörder, der die Gelegenheit nutzt, um sich mit Hilfe einer Sammlung von Dietrichen Zugang zu einer fremden Wohnung zu verschaffen, um wieder einmal eine Frau zu ermorden. Doch er begeht einen peinlichen Fehler, denn er trifft auf einen Mann, und er ermordet nun mal nur Frauen. Der kräftige Kerl im Unterhemd ist ob des unbefugten Eindringens etwas erbost, und erst recht darüber, mit einer Frau verwechselt worden zu sein. Doch Alphonse kann ihn beruhigen, und dann benennt der Mann auch bereitwillig ein geeigneteres (nämlich weibliches und alleinstehendes) Opfer in der Nachbarschaft. Bald nach diesem kleinen Abenteuer wird Geneviève krank und bekommt hohes Fieber. Der von der Notrufzentrale herbeigeschickte Arzt macht, von seinen Trieben übermannt, den Fehler, die drei Männer aus dem Krankenzimmer zu weisen, um mit Geneviève zu schlafen, doch dummerweise wird er von ihnen durch ein Fenster dabei beobachtet. Da ein derartiges ärztliches Fehlverhalten selbstverständlich nicht geduldet werden kann, wird der Herr Doktor mit drei Kugeln zur Ordnung gerufen. Beim Abtransport seiner Leiche in seinem eigenen Wagen trifft ein Funkspruch von der Zentrale ein, den Alphonse und der Inspektor stellvertretend entgegennehmen. Man trägt schließlich eine gewisse Verantwortung und kann einen Kranken nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Die fragliche Adresse entpuppt sich als kleines Schloss, in dem gerade eine Abendveranstaltung mit Kammerkonzert stattfindet. Alphonse und Morvandiau werden von der etwas sinistren Gastgeberin ins Krankenzimmer geleitet, doch dort gibt es gar keinen Kranken. Vielmehr wird der Inspektor ins Bett bugsiert, um die Rolle auszufüllen, mit seinem Tod als vorgesehenem Endpunkt. Alphonse sieht sich das teilnahmslos mit an. Dann werden noch die fünf Musiker des Kammer-Ensembles um das Bett postiert, um eine Privatvorstellung für den Inspektor zu geben. Doch der hat eine panische, fast schon psychopathische Abneigung gegen Musik im Allgemeinen, und gegen Streicher im Besonderen. Da Alphonse immer noch nicht eingreift, bleibt dem Inspektor nichts anderes übrig, als die Herren Musiker mit seiner Dienstwaffe niederzustrecken.

Neuer Nachbar
Wieder im Freien, kommt es wegen Alphonses Untätigkeit zu einem leichten Zerwürfnis zwischen ihm und dem Inspektor (mit anderen Worten, sie bringen sich beinahe gegenseitig um). Erst als die Kollegen des Inspektors eintreffen, beruhigt sich die Situation. Zurück im Hochhaus, müssen die beiden erkennen, dass sie bei ihrem Ausflug im Arztwagen einen Flüchtigkeitsfehler begangen haben: Sie ließen Geneviève und den Mörder unbeaufsichtigt zurück, und so ließ letzterer seinen Neigungen freien Lauf und erdrosselte erstere. Unter den tadelnden Blicken seiner beiden Bekannten bricht eine Verteidigungsrede aus ihm hervor, die (vielleicht bewusst, vielleicht auch nicht) etwas an Peter Lorres verzweifelte Rechtfertigung in Fritz Langs M erinnert, und hier kommt der Film explizit auf den Punkt: In dieser kalten Betonwüste, in leeren Hochhäusern und Straßenschluchten, muss man ja zum Mörder werden, um wenigstens irgendeinen Kontakt zu spüren. Wenn man Bäume, Vogelgezwitscher und frischen Sauerstoff um sich hätte, dann könnte sich das vielleicht ändern, aber so ... Alphonses Unterstellung, er hätte wohl ein überzähliges Chromosom, weist der Mörder dagegen entrüstet zurück.

Szenen einer Ehe
Merkwürdige Bewegungen des Fahrstuhls veranlassen den Inspektor, das ganze Hochhaus von einer Hundertschaft durchsuchen zu lassen, doch ein aufgegriffener Mann entpuppt sich als neuer Mieter. Als er seinen Beruf mit Musiker angibt, lässt ihn der Inspektor umgehend verhaften, und bei der Gelegenheit legt er vor seinen Kollegen und seinen beiden Freunden ein überraschendes Geständnis ab: Seine pathologische Abneigung gegen Streichermusik rührt daher, dass seine verstorbene Frau Geigerin war und ihn mit ihren pausenlosen Übungen von Tonleitern zur Verzweiflung trieb, bis er es nicht mehr aushielt. Die Verblichene ist nicht, wie bisher angenommen, bei einem Unfall im Badezimmer vom Leben zum Tode befördert worden, sondern er griff eines Tages zur Selbsthilfe. Das veranlasst einen der Polizisten zur Bemerkung, der Chef wirke in letzter Zeit etwas überarbeitet und solle mal Urlaub im Grünen machen.

Ein Mörder stellt sich vor
Gesagt, getan. Jetzt - in den letzten 20 Minuten des Films - sieht man zum ersten Mal Tageslicht und Natur. Alphonse, der Inspektor und der Mörder haben sich in eine Blockhütte in wildromantischer Berglandschaft zurückgezogen. Doch die zuvor ausgesprochene Hoffnung des Mörders, in einer solchen Umgebung würde sich die Seelenlage aufhellen, erweist sich als leere Illusion. Es ist kalt, der Ofen in der Hütte funktioniert nicht richtig, und die Abgeschiedenheit zerrt an den Nerven. So liegen die drei griesgrämig und fröstelnd in ihren Liegestühlen und gehen sich gegenseitig auf den Geist. Aber mit dem wenig idyllischen Idyll ist es ohnehin bald vorbei. Ein Fremder taucht auf und erkundigt sich nach einem gewissen Alphonse Tram. Nach dem Grund befragt, gibt er an, er habe den Auftrag, diesen Tram zu liquidieren. Der Killer wird zwar in seine Schranken gewiesen (wie das für ihn ausgeht, kann sich der Leser inzwischen denken), aber damit ist die Gefahr noch nicht vorbei ...

Die trauernde Witwe Geneviève
BUFFET FROID ist eine rabenschwarze, bitterböse und reichlich surreale Groteske. Der Film wird gelegentlich mit Luis Buñuels Spätwerken verglichen, aber im Ton unterscheidet er sich doch etwas von Buñuels meist fröhlich-anarchischen Scherzen. Unter der makabren Oberfläche ist es ein zutiefst pessimistischer, fast schon nihilistischer Film. Am ehesten buñuelesk ist wohl die Episode im Schloss, die so auch gut in DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE oder DAS GESPENST DER FREIHEIT gepasst hätte. Nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell ist BUFFET FROID ein dunkler Film: Die erste gute Stunde lang spielt er komplett bei Nacht, und die Wohnungen von Alphonse und dem Inspektor sind auch eher trüb beleuchtet. Am hellsten ist es noch ganz am Anfang in der Metro, doch es ist ein kaltes, steriles Neonlicht. Aber wie schon erwähnt: Auch das Tageslicht und die teilweise spektakuläre Natur bringen keine Erlösung von der Tristesse.

Im Schloss
Die Darsteller liefern eine vorzügliche Leistung ab. Depardieu, damals noch einer der Jungen Wilden im französischen Film (seine Hauptrolle in Bliers DIE AUSGEBUFFTEN von 1974 hat nicht unwesentlich zu diesem Image beigetragen), irrlichtert zwischen abgestumpft und entweder leicht neurotisch oder schwer psychotisch - denn im Verlauf des Films verdichtet sich der Verdacht, dass vielleicht doch Alphonse selbst den Buchhalter erstochen hat, ohne sich daran zu erinnern. Die Routiniers Bernard Blier (der Vater des Regisseurs) als lakonischer und abgebrühter Inspektor und Jean Carmet als an der Welt und sich selbst verzweifelnder Mörder harmonieren bestens mit ihm, und Nebendarsteller wie Serrault, Benguigui und Geneviève Page setzen mit ihren Kurzauftritten die i-Tüpfelchen. Carole Bouquet, die ganz am Schluss in Erscheinung tritt, bildet eine personelle Verbindung zu Buñuel: Zwei Jahre zuvor hatte sie als eine der beiden Conchita-Darstellerinnen in DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE ihr Spielfilmdebüt. - BUFFET FROID ist u.a. in Frankreich, England und den USA auf DVD erschienen.

Finale in der Natur

Sonntag, 9. September 2012

Die Schuld(en) der Vergangenheit

ÉLISA
Frankreich 1995
Regie: Jean Becker
Darsteller: Vanessa Paradis (Marie), Clotilde Courau (Solange), Sekkou Sall (Ahmed), Gérard Depardieu (Jacques Desmoulin / Jacques Lébovitch / „Lébo“), Philippe Léotard (fumeur de Gitanes), Florence Thomassin (Élisa)

Es beginnt mit der Ermordung eines kleinen Mädchens und einem anschließenden Selbstmord. Eine Wohnung geht in Flammen auf. Zur Weihnachtszeit. Der allein erziehenden Mutter gelingt der Selbstmord, ihre Tochter hat sie jedoch nur in eine Ohnmacht erstickt. Die kleine Marie kommt in ein Waisenheim. Von da an folgt die schiefe Bahn.

Zusammen mit ihrer besten Freundin Solange und dem Straßenjungen Ahmed macht Marie Paris unsicher. Dabei geht es ihr nicht nur darum, sich mit kleinen Diebstählen und Betrügereien über Wasser zu halten. Vielmehr will Marie sich an ihrer Umwelt für ihr Schicksal rächen und ihr die Maske heiler Glückseligkeit entreissen, damit nicht nur „immer dieselben glücklich sind“. Am deutlichsten wird dies, als sie mit ihren Kumpanen eine Hochzeit stört. In einem geklauten Ballkleid getarnt schnappt sie bei kleinen Tratsch-Grüppchen ein bisschen Gossip auf: das Kleid der Braut sei angesichts der ihrer kleinen Brüste unpassend, der Onkel der Braut vögelt gerne mit der Bediensteten fremd u.ä. Lächelnd greift Marie zum Bühnenmikro und gibt die Zitate mit entsprechender Zuordnung der Urheber vom besten.

Wissen! Wissen über ihre Mitmenschen und ihre Angewohnheiten und ihre Gelüste macht Marie scheinbar stark. Die reichen, beleibten und notgeilen Geschäftsmänner, die sie verführt, breiten ihren Beruf, ihre Familie, ihr Leben vor ihr aus. Marie weiß, wie sie ticken. Sie erpresst und demütigt die Eklinge dann, nachdem sie sich als minderjährig outet. Doch gerade über sich selbst, über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit, weiss das vor allem äußerlich harte Mädchen kaum etwas. So begibt sie sich zwischen Kleindiebstählen und Erpressung auf Erinnerungssuche.

Ihr Vater, Jacques Desmoulin, war scheinbar nicht nur Barpianist. Er war auch wegen diverser Delikte, darunter Zuhälterei, vorbestraft. Seine Ehefrau Élisa hat er — unfähig, einen Lebensunterhalt zu verdienen — wohl zur Prostitution gezwungen und sie und die Tochter im kritischen Moment sitzen lassen. Für Marie scheint die Schuld des Vaters an der verzweifelten Lage ihrer Mutter, und letztlich an ihrem Selbstmord, erwiesen. Eine Postkarte mit einem Hafendorf-Motiv und eine darauf notierte Klaviermelodie — die letzte Lebensspur des Jacques Desmoulin — verraten den wahrscheinlichen Aufenthaltsort ihres Erzeugers. Mit einer Pistole ausgerüstet sucht die junge Frau ihn auf, wild entschlossen, sich an ihm zu rächen.

„Élisa“ von Jean Becker — der sich im Schatten seines Vaters Jacques selbst einen Vornamen erarbeiten musste — ist bei genauer Betrachtung eigentlich kein besonders guter Film. Denn eigentlich ist das Drehbuch trotz Realismus-Anspruch hanebüchen, voller Logiklöcher und an den Haaren herbeigezogen. Der aufmerksame Zuschauer merkt auch, dass sich eigentlich ziemlich viele Klischees in den Film eingeschlichen haben. Trotz einiger lustiger Momente gefällt sich „Élisa“ eigentlich zu oft in überemotionalen, melodramatisch-pathetischen Szenen. Bei der mittlerweile fünften oder sechsten Sichtung kann man auch schnell den Überblick darüber verlieren, was an welcher Stelle eigentlich vorhersehbar war. Die Figurenzeichnung gibt sich eigentlich tiefer, als sie tatsächlich ist: Maries individuelle Vergangenheitsbewältigung ist eigentlich nichts anderes als ein dünn aufgetragener, zerstörerischer Vaterkomplex. Und das ganze auch noch auf 110 Minuten ausgedehnt?

On s‘en fout! „Élisa“ ist trotz all dem ein wunderbarer Film, was nicht zuletzt am Charisma der Hauptdarsteller Vanessa Paradis und Gérard Depardieu liegt. Von „Darstellung“ kann hier kaum die Rede sein, da beide — besonders aber Depardieu — jenseits einer solch banalen Kategorie wirken. Vanessa Paradis, in ihrem bürgerlichen Leben vor allem als Sängerin zweitklassiger und charts-stürmender Pop-Ballädchen bekannt, verkörpert auf wunderbare, überzeugende und glaubhafte Weise diese eigenartige Mischung aus abgebrühtem Nihilismus, Verletzlichkeit und street smarts der Marie. Da wir fast den kompletten Film aus ihrer Perspektive der Dinge folgen, stellt sich schnell eine große Empathie für sie ein, auch wenn man die Figur wohl im wahren Leben selbst nicht unbedingt kennen lernen möchte.
Im zweiten Teil kommt Depardieus großer Auftritt als Desmoulin, geborener Jacques Lébovitch: Holocaust-Überlebender, Pianist, Komponist, genialer Künstler, der durch seine absolute Weltentfremdung seine geliebte Frau Élisa — wohlgemerkt unfreiwillig! — ins Verderben gebracht hat. Im Film sehen wir ihn als das, was von ihm an Fragmenten übrig geblieben ist: ein am Boden zerstörter Mann, ein menschliches Wrack, ein cholerischer Alkoholiker, der sich in einem verlassenen Dorf als Fischer verdingt. Seine pianistischen Fähigkeiten verschwendet „Lébo“ bei der Wochenend-Dorfdisco als Begleiter für eine drittklassige Retro-Band, wenn er nicht gerade in der Dorfkneipe eine Schlägerei anzettelt und sich später auf der Straße übergibt. Mit anderen Worten: eine wahrlich ungnädige Rolle, die Depardieu dank seinen 150 Kilo Charisma mit tiefster Menschlichkeit auszufüllen vermag. Wenige Minuten nach seinem ersten Auftritt, den Marie voller Ekel mit beobachtet, beginnt „Lébo“ einen jugendlichen Kneipengänger anzupöbeln. Unter anderem sagt er ihm: „Pour jouer les déséspérés, il faut du talent.“ Eine überaus treffende Meta-Aussage über die Rolle Depardieus im Film.
Élisa, das berühmte Lied Serge Gainsbourgs, wird zwischendurch in impressionistischen Variationen gespielt, bildet jedoch als Original am Anfang und am Schluss einen drastischen, fast schockierenden Kontrapunkt zu den Bildern des Films. Der Widmungsträger selbst, dessen Lebensgeschichte zum Teil inspirierend auf die Figur des „Lébo“ gewirkt hat, hat als Gitanes-rauchender Pianist in der Verkörperung Philippe Léotards einen „Cameo-Auftritt“.

In Deutschland ist „Élisa“ nicht auf DVD erhältlich. Ab und zu wird der Film auf „TV5 Monde“ ausgestrahlt. Wer nicht warten will, kann je nach Grad der Französisch-Kenntnisse auf die französische Fassung (ohne Untertitel) oder auf die britische Fassung (mit englischen Untertiteln) zurückgreifen.