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Sonntag, 13. September 2015

Ein (Nicht-)Musical in Rot

HOT BLOOD
USA 1956
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Cornel Wilde (Stephano Torino), Jane Russell (Annie Caldash), Luther Adler (Marco Torino)


Marco Torino ist in großen Sorgen. Er ist der König einer großen Roma-Gemeinde in einer sonnigen US-amerikanischen Stadt (wahrscheinlich Los Angeles) – das ist keine einfache Aufgabe, und sie wird ihm zunehmend schwer fallen, denn er ist lungenkrank und muss sich entweder bald zurückziehen und zur Ruhe setzen oder aber sterben. Seine Krankheit verheimlicht er gegenüber seinen Angehörigen. Deshalb arbeitet er fleißig daran, eine Nachfolge zu finden. Die Wahl fällt auf den jüngeren Bruder Stephano, der jedoch Probleme macht: Stephano hat sich von der traditionellen Roma-Kultur entfernt und möchte am liebsten ein bürgerliches US-Leben führen, mit einer „Gajo“-Freundin und einem Job als Tanzlehrer bei reichen „Gajo“-Familien. Damit der kleine Bruder König der Gemeinde werden kann, muss er nach Marcos Willen heiraten und zwar eine richtige Romni, die ihn auf den richtigen Weg bringt. Die passende Kandidatin ist schnell gefunden: Annie Caldash, die Marco kürzlich aus dem Gefängnis zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder (gespielt von James H. Russell – auch im wahren Leben Jane Russells Bruder) befreit hat, in dem er ihre Kaution bezahlte.

Alle sind mit der geplanten Hochzeit zufrieden, außer Stephano, der sich von seinem Bruder nichts vorschreiben lassen und keine Unbekannte heiraten möchte (auch wenn er ihre üppige Oberweite anerkennend begutachtet hat). Doch Annie offenbart Stephano, dass sie sowieso ganz eigene Pläne hat: sie, ihr Vater und ihr Bruder sind eigentlich Ehebetrüger, die nur Marcos Mitgift kassieren wollen. Kurz, bevor die Ehe ausgesprochen wird, soll Annie ein Malaise vortäuschen und würde dann mit dem Geld abhauen. Ein Plan, der Stephano gefällt: so muss er nicht wirklich heiraten, und wenn sein Bruder eins ausgewischt bekommt, dann freut er sich umso mehr.

Natürlich kommt alles anders, und die Hochzeit läuft nicht so, wie geplant. Das heißt eigentlich: sie läuft tatsächlich so, wie eine Hochzeit üblicherweise läuft. Annie täuscht nämlich kein Unwohlsein vor, sondern lässt die Ehezeremonie tatsächlich vollziehen. Ihr überraschter Vater gerät darüber in Tränenausbrüche (was die Anerkennung aller Anwesenden hervorruft „so viele Emotionen“!). Der vollkommen düpierte und nun frisch vermählte Stephano wird darüber hingegen zur Weißglut getrieben, doch muss er seine Wut während der restlichen Festlichkeiten zügeln. Nur die Peitsche bei dem Braut-und-Bräutigam-Peitschentanz lässt er besonders heftig knallen.

Marco Torino ist krank und sucht einen Nachfolger
Sein Bruder Stephano wird zu einer Ehe überlistet
Als beide sich dann im Schlafgemach befinden, fliegen die Fetzen und werden gar Fenster zu Bruch gebracht, was die Hochzeitsgäste, die vor der Zimmertür kampieren und singen, als großes „Temperament“ deuten. Im Inneren des Zimmers befindet sich das Paar allerdings nicht in stürmischer Umarmung, sondern in einem tiefen Streit. Annie möchte tatsächlich eine ernsthafte Ehe führen. Stephano droht hingegen gleich mit einer Scheidung nach traditioneller Roma-Manier: er wird vor dem Rat der Gemeinde aussagen, dass es „keine Liebe“ gibt – und fertig wäre die Sache. Stephano geht dann zu einem Date mit seiner „Gajo“-Freundin weg. Seine Wut tobt er letztlich damit aus, dass er dem Agenten einer Tanzlehrervermittlung, der ihn wohl aus Rassismus nicht eingestellt hat, eine öffentliche Tanzvorführung gibt und ihn schlussendlich durch ein Schaufenster schmeißt. Die Polizei ist bald zur Stelle, und so verbringt Stephano seine Hochzeitsnacht im Knast.

Marco bezahlt natürlich die Kaution für seinen Bruder, während der Rest der Familie nichtsahnend im Wohnzimmer sitzt und wartet, bis das Ehepaar aufsteht und zum Frühstück rauskommt. Stephano, dem das alles egal ist, benutzt nicht die Schleichwege und so kommt offiziell raus, dass er die Hochzeitsnacht nicht bei seiner Frau verbracht hat. Für Marco ist es nun umso wichtiger, dass Stephano endlich in seiner Ehe ankommt. Er bittet Annie, Stephano um jeden Preis zu ihrem Ehemann zu machen (ergo: zu verführen), damit er ein guter Nachfolger wird und setzt Stephanos Ehefrau sogar in Vertrauen über seinen Gesundheitszustand. Die möchte sowieso ihren Ehemann verführen und mischt ihm auch einen leckeren Wein mit Pfirsichen. Stephano, leicht betrunken, deutet nun Annie gegenüber an, dass er die nächste Nacht ganz gerne mit ihr verbringen würde. Genau in diesem Augenblick platzt Marco, der die letzten paar Minuten an der Tür gelauscht hat, rein. Stephano, der in der Situation (nicht ganz zu Unrecht) ein Arrangement zwischen Marco und Annie hinter seinem Rücken wittert, läuft wutentbrannt weg, um sich mit seiner „Gajo“-Freundin zu treffen und vielleicht sogar mit ihr auf Tanztournee zu gehen. Dass Annie ihm folgt und dann die Freundin sogar in eine Kneipenschlägerei verwickelt, besiegelt endgültig seinen Entschluss, wegzugehen.

So beginnt Stephanos Tanztournee – während derer er immer wieder an Annie denken muss. Deshalb kehrt er rasch zurück, nur um zu entdecken, dass bei einer großen Feier seine Ehefrau recht fröhlich mit seinem Bruder tanzt und die beiden recht doppeldeutige Sachen sagen. Stephano reagiert etwas eifersüchtig – was Annie und Marco tatsächlich eiskalt zusammen kalkuliert haben, um den wütenden Ehemann besser an seine Frau zu binden. Der Abend endet damit, dass Stephano wieder Lust auf seine Ehefrau hätte, doch die will nur schlafen und fühlt sich am nächsten Morgen absolut elend. Das liegt daran, dass sie aus Versehen ein Aphrodisiakum geschluckt hat, das der Opa (nach einem Originalrezept aus Serbien) spontan für Stephano gebraut hatte. An dem fürchterlichen Gebräu wäre zweifelsohne jedem Menschen speiübel geworden, doch natürlich denken jetzt alle, dass Annie schwanger sei. Auch Stephano denkt das, nimmt aber an, dass Marco der Vater des (nichtexistenten) werdenden Kindes sei. So bricht er auf, um seinen Bruder zu verprügeln und verkracht sich dann definitiv mit Annie. Als er jedoch erfährt, dass Marco totkrank ist, wird er wieder weich. Zu spät: beim nächsten Ratstreffen des Clans wird Stephano zum neuen König gewählt und seine erste Amtshandlung besteht darin, vor dem versammelten Rat Annies Scheidungsantrag („There is no love!“) zu bestätigen. Als sich die Versammlung auflöst, spornt Marco seinen Bruder dazu an, wie ein „Gajo“ zu handeln und Annie nachzurennen. Dies tut er, hält um ihre Hand an, beide liegen sich in den Armen und Stephano trägt Annie auf den Schultern ins nächstgelegene Zimmer, um nun die Ehe endlich zu „vollziehen“.

Ende gut, alles gut: Stephano trägt Annie über die Schulter ins nächste freie Zimmer

Nicholas Ray drehte in seiner Karriere noirs, Westerns, Melodramen und auch das eine oder andere Epos, jedoch weder ein Musical, noch eine Screwball-Komödie (auch wenn JOHNNY GUITAR – hier einige Worte von mir zu diesem Film – sich teilweise wie ein Musical mit gesprochenen Worten statt Gesängen und Gewaltausbrüchen statt Tänzen anfühlt). HOT BLOOD ist gewissermaßen das, was in Rays Filmographie einem Musical und einer Screwball-Komödie am nächsten kommt. In die Kinos kam HOT BLOOD zwischen den Meilensteinen REBEL WITHOUT A CAUSE und BIGGER THAN LIFE und gilt heute gemeinhin als kurioses Nebenwerk, wobei dies meist tendentiell eher pejorativ gemeint ist.

Die Franzosen wussten es natürlich als erste bereits besser. Jean-Luc Godard, dem kein Superlativ auf der Welt grandios genug war, um DIE Ikone der späteren nouvelle-vague-Rebellen zu loben, schrieb 1957 in seiner Kritik zu HOT BLOOD mit dem Titel „Rien que le cinema“ (Nichts anderes als das Kino), dass Nicholas Ray der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, das Kino im Falle seines Verschwindens neu zu erfinden. Etwas weniger ekstatisch lobte François Truffaut die Lebendigkeit und Inszenierung des Films.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es gibt viele und gute Gründe dafür, HOT BLOOD dämlich zu finden. So ist das Drehbuch etwa ziemlich klobig und ruckelt an vielen Ecken und Enden. Marcos schwere Krankheit bleibt die meiste Zeit eine reine Behauptung: manchmal hüstelt Luther Adler etwas vor sich hin, aber so etwas wie Fallhöhe wird noch nicht mal im Ansatz entwickelt. Die Konflikte zwischen den beiden Brüdern scheinen die meiste Zeit wie aus der Konservendose zu kommen und eine tragische oder überhaupt ernsthafte Ebene wird da nie erreicht (selbst dann nicht, als Stephano Marco verprügelt). Das aufgepappte Happy-End könnte lächerlich sein, weil er einfach nicht zu den Konflikten passen will, die vorher mit viel Mühe, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft aufgebaut wurden (vielleicht können diese Konflikte deshalb so rasch beiseite gewischt werden, weil sie eh keine Schwere entwickeln konnten). So entwickelt HOT BLOOD eine eigentlich unpassende Balance: die Sachen, die hier passieren, sind zu ernsthaft und tragisch, um den Film wirklich als vollwertige Komödie wahrzunehmen, aber irgendwie auch zu lachhaft, als dass irgend ein Sinn für Tragik entstehen könnte.

Am problematischsten ist aber natürlich das Bild, das in HOT BLOOD von „Zigeunern“ gezeichnet wird: so ein Film würde in dieser Form heute nicht mehr gedreht werden, und darüber sollten wir alle sehr froh sein! HOT BLOOD ist so etwas wie eine audiovisuelle Enzyklopädie aller Zigeuner-Klischees, die man sich so denken kann: der „Zigeuner an sich“ tanzt gern, ist überhaupt sehr musikalisch, trägt bunte Sachen und Bling-Bling-Kram, spricht ständig von Temperament und Emotionen („hot blood“ und so), klaut gerne Sachen, ist fürchterlich abergläubisch, hat es nicht so mit der Moderne, lebt und denkt nur in Familienstrukturen, haut „Gajos“ gerne in die Pfanne etc. Auch kann man den Eindruck nicht loswerden, dass „Zigeuner“ lediglich die Funktion haben, mit ihren Stereotypen das Drehbuch zusammenzuhalten. Es ist ein Drehbuch, dass in einer geschlossenen Gruppe mit strengen, traditionellen Strukturen und Bräuchen (etwa arrangierten Ehen) spielen muss: christlich-traditionalistische Gruppierungen, von denen es in den USA einige gibt, hätten dafür auch herhalten können, aber dann hätte der Film das Hays-Büro wohl definitiv nicht passieren können, und außerdem würden die Figuren dann keine bunten Sachen tragen und tanzen. Das alles hinterlässt schon ein etwas flaues Gefühl im Magen, nicht zuletzt, wenn eine der Nebenfiguren dann fragt, wen man denn beklauen könne, wenn keine „Gajos“ da wären.

Diese Probleme können sicher nicht beiseite gewischt werden wie die intradiegetischen Konflikte am Ende. Doch HOT BLOOD bietet selbst von alleine einige interessante Anmerkungen und Überlegungen zu den Problemen, die er aufwirft. Er baut Klischees auf, die er teilweise wieder zerschlägt. Er schreibt Roma Eigenschaften zu, um dann wenige Augenblicke später andere Eigeschaftszuschreibungen als solche zu entlarven. „No gajos? Who do we steal from?“ fragt also der Opa verwundert, nur um dann von Marco  ein genervtes „Papo, why do you upset me?“ entgegen geschmettert zu bekommen. Immer wieder muss Marco Leute aus seiner Gemeinde mit teils recht teuren Kautionen aus dem Gefängnis befreien: er zahlt dann Hunderte von Dollars an die Polizei für Menschen, die verhaftet worden sind, weil sie (O-Ton Marco) „verdächtigt wurden, Zigeuner zu sein“. Stephano klagt hingegen gegenüber dem Tanzagenten die Ungerechtigkeit an, dass er nicht als privater Tanzlehrer engagiert wird, weil reiche Leute einen „Zigeuner“ nicht in ihrer Villa haben möchten.

Die Welt außerhalb der Roma-Gemeinde in Blau-Grün-Tönen
Es ist bei Ansicht des Films kaum zu glauben, dass HOT BLOOD ursprünglich ein ernsthaftes und ethnografisch minutiöses Drama über das Leben der Roma in den USA sein sollte. Das Drehbuch in der Urfassung stammt von der Journalistin Jean Evans, mit der Nicholas Ray Ende der 1930er Jahre verheiratet war, und die Geschichte war tatsächlich das Ergebnis intensiver ethnografischer Recherchen seitens Evans‘ in US-amerikanischen Roma-Gemeinden. Es wurde dann allerdings von Jesse L. Lasky und Ray komplett umgeschrieben – das eine oder andere tragische Element, das etwas kontextlos im Film herumschwebt, mag wohl auf Evans‘ Originaldrehbuch zurückzuführen sein. Jedenfalls mag HOT BLOOD mag zwar jede Menge Böcke abschießen im Bezug auf die Darstellung von Roma in den USA, andererseits nimmt der Film eine fast hermetische Binnenperspektive ein: es gibt zwar einige wenige Nicht-Roma-Figuren, doch keine, die von Belang wäre. Der Polizist auf der Station, Stephanos Freundin, der Tanzagent und die Kassiererin des Trailerparks, in dem Marco den Wohnwagen für seine letzte Reise stehen hat – das war‘s. Interessanterweise wird die Umgebung dieser Figuren farblich anders codiert als die Umgebung der Roma, nämlich in Blau-Türkis-Tönen: Stephanos Freundin fährt einen türkisfarbenen Wagen, das Wachhäuschen der Trailerpark-Kassiererin ist blau-grün, während die Roma in Rot- und Orange-Tönen und -Variationen (darunter auch das intensive Nicholas-Ray-Rot) eingebunden sind – und in Rot treten bei Nicholas Ray meistens die „Guten“ auf.

HOT BLOOD sieht die Gemeinde der Roma als Gruppe von ethnischen und sozialen Außenseitern, innerhalb derer wiederum gebrochene Individuen leben. Außenseitergruppen und -individuen: klassische Nicholas-Ray-Helden auch in diesem Film. So problematisch der klischierte Blick des Films auf seine Hauptfiguren ist, so intensiv und leidenschaftlich identifiziert er sich auch mit ihnen. Der Film ist auf ihrer Seite und das ohne wenn und aber. Das unterscheidet HOT BLOOD auch merklich von Rays letztem Hollywood-Film, dem absolut unsäglichen 55 DAYS AT PEKING, der einen dezidiert imperialen Blick auf chinesische (und überhaupt ostasiatische) Figuren hat.

Howard Hawks sagte einmal, ein guter Film sei „drei gute Szenen und keine schlechte“. Ob das unmotivierte und angeklebte Happy-End eine schlechte Szene ist, sei dahingestellt (ich finde sie eher unpassend als wirklich schlecht). Auf jeden Fall hat HOT BLOOD mehr als drei gute Szenen. Vielleicht ist er nicht mehr als die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile haben es teils wirklich in sich! Der Film ist voller Szenen, die man von der Grundstruktur her in vielen anderen Filmen der Zeit sehen würde, aber die dennoch auch offbeat sind, die ein Element haben, die sie einzigartig macht.

Die Hochzeitsszene bietet zunächst so etwas wie den komödiantischen Höhepunkt des Films, als während der Vermählungszeremonie Stephano und Annies Vater innerhalb kürzester Zeit merken, dass Annie die Vermählung durchziehen wird. Die Kombination von Cornel Wildes entsetztem Gesichtsausdruck und Jane Russells selbstbewußtem Auftreten bietet nicht nur den vielleicht größten Lacher des Films, sondern verdichtet auch in einem  einzigen Bild nonverbal die komplette Situation.

Peitschentanz in Nicholas-Ray-Rot
Wie die kurz darauf folgende Peitschentanzszene die Wächter des Production Codes passierte, muss wohl ein Rätsel bleiben. Man kann diese Momente getrost als eine Art Sex-Ersatzszene sehen: Russell tanzt lasziv, hebt ihr weißes Brautkleid, enthüllt darunter viel Bein sowie ein ein knalliges Nicholas-Ray-Rot, während Wilde seine lange Peitsche schwingt. Er schlägt ihr die roten Zierblumen und den Schleier vom Kopf, versucht mehrmals, sie mit der Peitsche an sich zu ziehen. Ein Verführungs- und Unterwerfungsspiel, das wütender Sex mit einem Hauch „kinkiness“ kombiniert und – wie viele andere Momente im Film – wie der unfertige oder abstrahierte Entwurf einer Musical-Szene wirkt. (was die Probleme von HOT BLOOD mit dem Production Code Office betrifft, so wird er zumindest bei IMDb als einer von vielen Filmen in der Sektion „features“ der Dokumentation HOLLYWOOD UNCENSORED erwähnt).

Die nächste dieser „unfertigen“ Musical-Szenen ist Stephanos Tanzeinlage vor der Agentur, die ihn abgelehnt hat. Er will dem Agenten demonstrieren, wie gut er tanzen kann. Alle umgebenden Personen klopfen einen Rhythmus, während Stephano herausfordernd zu tanzen beginnt. Das ganze wird größtenteils als Totale gefilmt, damit man das Gesicht des Tänzers nicht sieht – weil Wilde hier gedoubelt wurde. Das gibt der Sequenz auch eine merkwürdige und sehr auffallende Distanz.

Anfang und Schluss der bizarrsten
(Nicht-)Musicalnummer des Films

Der bizarrste Moment im ganzen Film ist zugleich die merkwürdigste Interpretation einer Musical-Szene. Stephano kommt nach der Nacht im Gefängnis zurück. Annie erwartet ihn, fest entschlossen, ihn zu verführen. Sie bereitet gerade einen Wein mit Pfirsichen vor und adressiert Stephano mit einer Mischung aus Rede, Sprechgesang und Gesang. Dieses Spiel mündet in die Musicalnummer „I could learn to love you“, die allerdings nicht live von Russell gesungen wird, sondern als „playback“ gespielt wird: Annie singt das Lied nicht, sondern denkt es nur, sie stellt es sich vor, während Stephano sich im Hintergrund umzieht, sich kurz wäscht, sein Hemd sucht und anzieht. Das ganze endet mit der Linie „Husband, here‘s your wine“, während Annie Stephano ein Glas hinhält. Die Musik stoppt, Stephano guckt wie hypnotisiert auf Annie, die die Schlusslinie des Liedes noch einmal sprechen muss, damit ihr Ehemann reagiert – als wäre er von dieser Musik, die Annie eigentlich nur denkt, hypnotisiert worden.

Diese „extradiegetische Musicalnummer“ gehört schon jetzt zu meinen absoluten Szene-Favoriten des Jahres, und überhaupt von dem mir bisher bekannten Werk Nicholas Rays. Auch nach ihr gibt es viele denkwürdige Szenen. Etwa die wüste Prügelei zwischen Stephanos Ehefrau und seiner „Gajo“-Freundin in der Kneipe. Oder natürlich auch der dramatische Gürtelkampf zwischen Stephano und Marco: die beiden geraten auf dem Trailerpark, in dem Marco seinen „letzten“ Wohnwagen stehen hat, in einen schweren Streit, und Stephano ist bereit, sich mit Marco zu prügeln. Statt sich aber wie vulgäre „Gajos“ zu hauen, machen sie es auf traditionelle „Zigeuner“-Art: Sie hauen sich gegenseitig mit ihren Gürteln. Diese Szene ist auf vielerlei Art bemerkenswert. Erstens natürlich einfach nur aufgrund der ungewöhnlichen Kampfweise: schließlich peitschen sich hier zwei Männer mit Gürteln. Zweitens ist diese späte Szene innerhalb des Films praktisch symmetrisch zur frühen Peitschentanzszene auf der Hochzeit angeordnet und spiegelt sie in gewisser Weise. Während Stephano in der ersten eine Frau auszupeitschen versuchte, auf die er wütend war, weil er sie nicht haben wollte, versucht er in letzterer den Mann auszupeitschen, der ihm diese Frau, die er nun doch begehrt, vermeintlich wegnehmen will. Drittens erinnert diese Kampfszene in ihrer Inszenierung ein wenig an die Kampfszene mit den Springklingenmessern vor dem Planetarium in REBEL WITHOUT A CAUSE. Überhaupt scheint in HOT BLOOD das eine oder andere von Rays berühmten James-Dean-Film übernommen worden zu sein. Auffällig ist etwa, dass die Polizeistation am Anfang HOT BLOOD im Eingangsbereich ebenso einen „Thron“ hat, wie jene in REBEL WITHOUT A CAUSE (in beiden Fällen handelt es sich um einen Sitz für Personen, die sich ihre Schuhe putzen lassen möchten – warum auch immer so etwas im Eingangsbereich einer US-amerikanischen Polizeistation stehen sollte). Auf den „Thron“ setzt sich im früheren Film der vollkommen betrunkene Jim Stark, im späteren Film „thront“ tatsächlich der König der Roma-Gemeinde, während er sich mit einem Polizisten unterhält.

Ein merkwürdiger Thron in REBEL WITHOUT A CAUSE
und in HOT BLOOD
Und natürlich (und da ähnelt HOT BLOOD in Rays Werk nicht nur REBEL WITHOUT A CAUSE) strotzt der Film nur so vor Rot. Mit Ausnahme von vielleicht Michael Powell und Emeric Pressburger (ich kenne allerdings nicht genug ihrer Filme, um da eine sichere Aussage machen zu können) gibt wohl niemanden, der die Farbe Rot so inszeniert wie Nicholas Ray. Kein Mensch im Universum trägt Rot wie die Figuren bei Ray: Viennas leuchtend rote Lippen, ihre Halsschlaufe, ihr Hemd in JOHNNY GUITAR, Jim Starks Jacke, Judys Mantel und Platos Socke in REBEL WITHOUT A CAUSE, Richie Averys Jacke oder einzelne Kleidungsstücke der Schüler in BIGGER THAN LIFE, und eben Stephanos T-Shirts und Schals sowie Annies Blusen, Korsetts und Röcke in HOT BLOOD. 

Ich habe, um ein wenig vergleichen zu können, REBEL WITHOUT A CAUSE gleich nach der zweiten Sichtung von HOT BLOOD zwecks Verfassen dieses Text geschaut. Dabei ist etwas passiert, was ich nicht erwartet hätte: HOT BLOOD ging aus dem (persönlichen) Vergleich als eindeutiger Sieger hervor, während REBEL WITHOUT A CAUSE – Jean-Luc Godard möge mich dafür gerne steinigen – in meiner Wertschätzung mit dieser (dritten) Sichtung erneut ein wenig niedriger rutschte. Die Gründe dafür (unter anderem eine trotz allem sehr traditionelle und auch unangenehme Sichtweise auf Männlichkeit, die ihn fast schon zum sozial konservativen Film macht) würden einen eigenen Text benötigen. HOT BLOOD gefiel mir bei der ersten Sichtung ganz gut und ich fand ihn so bizarr und bemerkenswert, dass er mir einen eigenen ausführlichen Text wert zu sein schien. Bei der zweiten Sichtung nun habe ich ihn wirklich ins Herz geschlossen...

Ein Film voller Rot

...und nach meinem jetzigen Kenntnisstand würde ich ihn in Rays Werk als Mittelteil einer inoffiziellen „Trilogie des Fieberwahns, der knalligen Farben und überlebensgroßen Gesten“ einordnen, chronologisch zwischen JOHNNY GUITAR und PARTY GIRL – Filmen, die im Kern hauptsächlich aus diesen drei Elementen bestehen (wobei die restlichen Zutaten von JOHNNY GUITAR für zwanzig Filme reichen). Die große Klasse von JOHNNY GUITAR mag HOT BLOOD vielleicht nicht haben (aber das können sowieso nur ganz wenige Filme von sich behaupten), und wahrscheinlich scheitert er im Gegensatz zum wohl großartigsten Western aller Zeiten darin, aus dem Fieberwahn, den knalligen Farben und den überlebensgroßen Gesten etwas wahrhaftig Großes zu machen. Diesem Scheitern zuzusehen ist allerdings ein Erlebnis voller Überraschungen, absolut faszinierend und kurzweilig.



HOT BLOOD ist natürlich in französischen und US-amerikanischen, aber auch in italienischen, britischen und spanischen DVD-Editionen verfügbar. Ich selbst kann nur die UK-Fassung bewerten, die in Bild und Ton gut bis sehr gut ist.