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Freitag, 10. Mai 2013

Eine Landpartie fällt ins Wasser ... und taucht wieder auf

PARTIE DE CAMPAGNE (EINE LANDPARTIE)
Frankreich 1936/46
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Sylvia Bataille (Henriette), Georges Darnoux (als Georges Saint-Saens, Henri), Jane Marken (als Jeanne Marken, Madame Dufour), Gabriello (Monsieur Dufour), Jacques-Bernard Brunius (als Jacques Borel, Rodolphe), Paul Temps (Anatole), Gabrielle Fontan (Großmutter), Jean Renoir (Père Poulain), Marguerite Renoir (Kellnerin)

"Mit PARTIE DE CAMPAGNE (Sommer 1936) beginnt die vielleicht ›Renoirst'sche Periode‹. Der Film ist wie ein Bild seines Vaters und aller anderen Impressionisten zusammen." (Jacques-Bernard Brunius: En marge du cinéma français, Paris 1954)

Ankunft
Es beginnt mit zwei Texteinblendungen, unter denen das träge dahinfließende Wasser eines Flusses zu sehen ist. Die erste klärt über die Entstehungsgeschichte des Films auf: Jean Renoir konnte den Film nicht beenden, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in seiner Abwesenheit fertiggestellt, und um die Verständlichkeit zu gewährleisten, wurden zwei Zwischentitel hinzugefügt. Der erste davon folgt unmittelbar darauf: An einem Sonntag im Sommer 1860 macht Monsieur Dufour, ein Eisenwarenhändler aus Paris, mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seiner Tochter und mit Anatole, der sein Gehilfe, designierter Nachfolger und zukünftiger Schwiegersohn ist, mit einem vom Milchmann geliehenen Pferdewagen einen Ausflug aufs Land, um die Natur zu entdecken und zu genießen. - Die Handlung beginnt mit der vormittäglichen Ankunft der Dufours am Landgasthaus des bodenständigen Père Poulain am Ufer der Seine. Schon die ersten Dialoge und das Aussteigen aus der Kutsche bringen uns die Familie Dufour näher: Sie wirken sympathisch, ihr Umgang miteinander ist respekt- und liebevoll. Monsieur Dufour ist ein großer dicker Mann, während der schlanke Anatole linkisch und etwas beschränkt wirkt - zusammen erinnern sie etwas an Laurel & Hardy, Anatole allein auch an einen jungen Karl Valentin. Madame Dufour, um die 40, ist auch schon vollschlank, aber recht proper, und die ca. 18-jährige Tochter Henriette ist hübsch. Der schwerhörigen Großmutter nimmt niemand übel, dass man ihr alles zwei- oder dreimal sagen muss, bis sie es versteht. Gemeinsam beschließt man, das bei Père Poulain bestellte Mittagessen als Picknick auf der Wiese hinter dem Gasthaus einzunehmen, wo es auch Schaukeln für die Gäste gibt.

Père Poulain und die Kellnerin; Henri (links), die Kellnerin und Rodolphe
In der Gaststube des Wirtshauses sitzen bereits zwei andere Gäste: Henri und Rodolphe, zwei sportliche junge Männer aus der Gegend, die mit ihren Ruderbooten einen ihrer regelmäßigen Ausflüge machen. In ihrer legeren Sportkleidung bilden sie einen augenfälligen Kontrast zu den bis oben hin zugeknöpften, gutbürgerlichen Dufours in ihrem Sonntagsstaat. Als sie die neuen Gäste ankommen hören, sind sie wenig begeistert. Sie mokieren sich auf arrogante Art über die Großstädter, die sich "wie die Mikroben" breitmachen und jetzt ihre Ruhe stören werden. Aber als sie von der Kellnerin hören, dass sich auch Damen in der Gesellschaft befinden, werden sie neugierig und öffnen die bisher geschlossenen Fensterläden, um sich die Fremden anzusehen. Das Ergebnis ist eine fast schon spektakuläre Einstellung: Renoir arbeitet wie so oft mit deep focus, und das Gastzimmer wird zur Nebensache. Durch das offene Fenster, das jetzt wie ein Bilderrahmen wirkt, flutet das Licht herein und zeigt die Dufours auf der Wiese, wobei Madame und Henriette auf den Schaukeln sitzen bzw. stehen. Die auf ihrer Schaukel stehende Henriette erinnert dabei an ein Gemälde von Renoirs Vater, La Balançoire von 1876. Der Anblick der beiden schaukelnden Damen fasziniert Rodolphe, und er überredet den zögernden Henri, die Ankunft der Pariser ins Positive zu wenden, indem man die beiden verführt. Unterdessen beschäftigen sich die Dufours, nach Geschlechtern getrennt, mit dem, was sie in der "Natur" sehen. Für Monsieur Dufour und Anatole ist es ein Abenteuerspielplatz, den sie in Form von Angeln erkunden wollen. Dufour erzählt vom Hecht, dem "Süßwasserhai", der einen Finger bis auf den Knochen durchbeissen könne, und Anatole hört gebannt zu, als ginge es um Großwildjagd in Afrika. Mutter und Tochter dagegen sitzen unter einem Kirschbaum, beobachten das Krabbeln auf der Wiese und geben sich einer sentimentalen Naturschwärmerei hin. Die fast erwachsene Henriette spürt eine vage, unbestimmte Sehnsucht in sich, die sie auf die Natur projiziert, und sie fragt ihre Mutter, ob sie das in ihrer Jugend auch kannte. Diese weiß, dass die Schmetterlinge im Bauch ihrer Tochter auch andere Ursachen haben, und sie erwidert, dass sie dieses Gefühl immer noch kennt, aber durch ihre Vernunft im Zaum hält.

Schaukeln (l.o. La Balançoire von Pierre-Auguste Renoir)
Nach dem Mittagessen schlägt die Stunde für Henri und Rodolphe. Mutter und Tochter Dufour möchten etwas unternehmen, aber die Männer haben etwas zu sehr dem Essen und dem Wein zugesprochen und sind entsprechend träge. Zuerst machen sie ein Schläfchen, dann wollen sie angeln. Da lassen sich die beiden Damen gern zu einer Ruderpartie einladen, und Dufour gibt auch gern seine Zustimmung, als er von Rodolphe die Angelruten erhält, die er selbst nicht dabei hat. Eigentlich wollte der extrovertierte Rodolphe Henriette "übernehmen" und die Mutter dem verschlosseneren und etwas zynischen Henri überlassen, aber der ist zunehmend von Henriette fasziniert und schnappt sie sich selbst, was Rodolphe sportlich gelassen hinnimmt. So fahren also Henri und Henriette sowie Rodolphe und Madame Dufour mit ihren Booten auf der Seine, um getrennt einsame Uferabschnitte anzusteuern. Während Rodolphe auf einer Lichtung wie ein bocksfüßiger Pan mit Madame herumschäkert, um dann mit ihr hinter einem Busch zu verschwinden, bringt Henri seine ausersehene Beute auf eine kleine Insel. Von der idyllischen Stimmung und vom Gesang einer Nachtigall ist Henriette in eine so sentimentale Stimmung versetzt, dass ihr die Tränen kommen. In diesem Zustand gelingt es Henri mühelos, sie zu verführen. Danach sieht man ihr Gesicht in einer extremen Großaufnahme, und wieder stehen ihr Tränen im Gesicht, aber jetzt vielleicht auch aus anderen Gründen. Ihr kommt wohl die Erkenntnis, dass sich dieser Augenblick nicht festhalten lässt, und dass ihr bald eine vermutlich langjährige und sicher monotone Ehe mit dem unbedarften Langweiler Anatole bevorsteht. Ein Unwetter, das sich schon angekündigt hatte, beendet den Ausflug. Im strömenden Regen wird zurückgerudert, und zugleich schwemmt der Regen symbolisch die Ereignisse des Nachmittags weg, ertränkt sie in bleierner Schwermut. Der zweite Zwischentitel leitet zum Epilog über: "Jahre vergingen, mit Sonntagen so trist wie Montage. Anatole heiratete Henriette, und eines Sonntags ...". Henri rudert wieder einmal zu "seiner" Insel, da läuft er dort Henriette in die Arme. Anatole liegt im Gras und schläft. Henriettes Gesicht ist erwachsener, die naive Schwärmerei ist daraus verschwunden. Henri sagt, dass er oft hierher kommt, weil es seine glücklichsten Erinnerungen zurückbringt, wobei er sentimental wie ein Dackel dreinblickt, und Henriette erwidert, dass sie sich jede Nacht daran erinnert. Da erwacht Anatole und ruft nach Henriette. Wortlos trennen sich Henri und Henriette, die wieder Tränen in den Augen hat. Sie rudert mit ihrem Mann davon, Henri bleibt zurück und steckt sich eine Zigarette an. Die letzten Bilder gehören dem Fluss.

Der "Süßwasserhai" wird beobachtet
PARTIE DE CAMPAGNE ist mit 40 Minuten der kürzeste Film von Renoir in den 30er Jahren. Eigentlich hätte er etwas länger ausfallen sollen, so um die 50 Minuten, dafür waren die zwei Zwischentitel nicht vorgesehen. Dass es anders kam, lag am Wetter. Es hätte für die Beteiligten ein Wohlfühlfilm werden sollen. Vorgesehen waren acht Drehtage vor Ort in der Landschaft, danach noch zwei Drehtage im Studio in Paris. Da es an der Seine im weiten Umkreis von Paris keine unberührten Uferabschnitte mehr gab, wurde in der Nähe des Walds von Fontainebleau am Loing und an der Essonne gedreht, zwei Nebenflüssen der Seine. Das Gasthaus von Père Poulain gehörte in Wirklichkeit einem Förster, dessen Frau mit Renoir befreundet war, und die Equipe war in einem nahe gelegenen Hotel untergebracht. Renoir kannte die Gegend seit seiner Kindheit gut, denn sein Vater hatte hier oft gemalt, und sein erster eigener Film LA FILLE DE L'EAU wurde ganz in der Nähe gedreht. Renoir beschäftigte bei seinen Filmen in den 30er Jahren oft Freunde und Familienmitglieder, und bei PARTIE DE CAMPAGNE war das mehr denn je der Fall. Sein Neffe Claude führte, wie mehrfach in diesem Jahrzehnt, die Kamera, und seine Lebensgefährtin Marguerite Renoir (eigenlich Marguerite Houllé, denn sie waren nicht verheiratet) war nicht nur wie üblich seine Cutterin, sondern sie spielte auch die Kellnerin - keine große Rolle, aber immerhin mit einigen Dialogen. Renoirs damals 14-jähriger Sohn Alain spielte einen fischenden Jungen, ebenfalls mit etwas Text, und er war gleichzeitig Clapper Boy. Dazu kamen einige von Renoirs Freunden, die schon öfters mit ihm gearbeitet hatten. Jacques-Bernard Brunius war schon als Darsteller, Regieassistent und in weiteren Funktionen an Renoir-Filmen beteiligt, Georges Darnoux (eigentlich ein Comte Georges d'Arnoux oder D'Arnoux) ebenfalls schon als Statist und Regieassistent (nebenbei war er auch Autorennfahrer). Renoir beschäftigte neben den offiziellen, in den Credits genannten ein oder zwei Regieassistenten oft noch weitere - hier waren es insgesamt gleich sechs. An erster Stelle gelistet war Jacques Becker, der diese Position in den 30er Jahren am häufigsten inne hatte, an zweiter Stelle Henri Cartier-Bresson, der auch schon Renoir-Erfahrung bei LA VIE EST À NOUS gesammelt hatte, und ungenannt blieben Brunius, Luchino Visconti (der schon bei TONI als Praktikant dabei war), Claude Heymann (der immerhin schon ein Drehbuch zusammen mit Renoir geschrieben hatte), und als Renoir-Neuling Yves Allégret, wie Becker und Visconti später selbst ein Regisseur von Rang. Die meisten der Freunde und Familienmitglieder arbeiteten für wenig oder gar keinen Lohn und wurden dafür am zu erwartenden Gewinn beteiligt, was sich hier aber nicht auszahlte. Becker, Cartier-Bresson, Sylvia Batailles erster Mann, der Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille, sowie Pierre Lestringuez, der als Darsteller und Drehbuchautor an Renoirs ersten Stummfilmen beteiligt war, haben auch einen Cameo-Auftritt als drei Priester-Seminaristen und der beaufsichtigende Pfarrer, der einen davon zurechtweist, als er zu auffällig der schaukelnden Henriette zusieht. Renoir war der Meinung, dass seine Assistenten solche Kurzauftritte absolvieren sollten, um zu wissen, wie es sich anfühlt, vor statt hinter der Kamera zu stehen.

Mutter und Tochter unterhalten sich über das Leben der Raupen und der Menschen
Die Arbeit begann im Juni 1936, und laut Drehbuch spielten alle Szenen bei schönem Wetter. Aber dummerweise war der Sommer 1936 im Norden Frankreichs der verregnetste seit Menschengedenken. Es konnte nur sehr sporadisch in den kurzen Schönwetterphasen gedreht werden, ansonsten saß man herum und wartete, und es verging Woche um Woche. Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, wie sich das auf die Stimmung auswirkte. Laut Sylvia Bataille stellte sich bald der Lagerkoller ein, und alle gingen sich auf die Nerven. Renoir dagegen behauptete später, dass alle außer Bataille guter Dinge waren. Die Wahrheit wird wohl irgendwo dazwischen liegen. Auf jeden Fall war das knappe Budget bald aufgebraucht, und je länger sich die Sache hinzog, desto klarer wurde, dass es keinen finanziellen Gewinn geben würde. Renoir glänzte mehrfach durch längere Abwesenheit, weil er (je nach Bericht) entweder zunehmend das Interesse verlor oder in Paris weiteres Geld auftreiben wollte, während er den Mitwirkenden Anwesenheitspflicht auferlegte, damit bei schönem Wetter unverzüglich gedreht werden konnte. So sollen auch einige Szenen von Becker und Heymann statt von Renoir inszeniert worden sein. Wie immer die Stimmung nun war, dem Film sieht man nichts Negatives davon an. Das Ensemblespiel der Akteure wirkt immer entspannt und natürlich, und gerade Sylvia Bataille liefert eine vorzügliche Leistung. Produzent Pierre Braunberger bewies so viel Geduld, wie man sich nur wünschen konnte, aber schließlich erklärte Renoir selbst das Projekt für beendet, weil sein nächster Film LES BAS-FONDS (mit einem anderen Produzenten) keinen Aufschub mehr duldete. Es fehlten keine wirklich wichtigen Szenen vom Land, aber die Drehtage im Studio fielen ersatzlos weg. Sie hätten zwei Szenen erbringen sollen. Zunächst die Familie Dufour, wie sie sich in Paris den Wagen leiht und dann aufbricht. Und dann eine weitere Szene in Paris, die einige Wochen nach dem Hauptteil spielt: Henri taucht im Eisenwarengeschäft auf, erkundigt sich nach Henriette und erfährt von Madame Dufour, dass ihre Tochter jetzt mit Anatole verheiratet ist. Enttäuscht macht Henri kehrt, nachdem sich Madame noch nach dem Befinden von Rodolphe erkundigt hat.

Beim Picknick und nach dem Picknick
Braunberger unternahm Versuche, die Situation zu retten. Er ließ zunächst von Marguerite Renoir einen Rohschnitt anfertigen, der ungefähr die Länge des jetzigen Films hatte, aber so erschien der Film nicht veröffentlichungsfähig. Braunberger hatte dann die Idee, einen kompletten Spielfilm daraus zu machen, und er ließ Pierre Prévert ein Drehbuch dafür schreiben. Das hätte knapp die Hälfte des bereits gedrehten Materials integriert und einige Charaktere stark verändert. Renoir hielt überhaupt nichts davon und lehnte jede Mitarbeit ab. Daraufhin bot Braunberger den Stoff anderen Regisseuren an, darunter Douglas Sirk, der gerade von Deutschland über Frankreich in die USA emigrierte, aber keiner hatte Lust. Braunberger ließ noch ein weiteres Drehbuch schreiben, aber Renoir hatte endgültig das Interesse verloren, und der Film schien jetzt endgültig gescheitert. 1940 emigrierte Renoir in die USA, und Braunberger, der Jude war, musste untertauchen. Doch nach dem Krieg nahm er seine Pläne wieder auf. Das geschnittene Positiv war von den Nazis zerstört worden, aber ein ungeschnittenes Negativ hatte überlebt. Marguerite Renoir, unterstützt von ihrer Schwester Marinette Cadix, die ebenfalls Cutterin war, schnitt den Film erneut, wobei sie sich am Drehbuch und an ihrer Erinnerung an die erste Fassung orientierte. Laut Braunberger war die zweite Fassung dann sogar besser als die erste. Renoir, der noch in Hollywood unter Vertrag stand, beteiligte sich nicht daran, und er war von Braunbergers Aktivitäten überhaupt nicht begeistert. Er fürchtete, dass die Veröffentlichung dieses unvollendeten Films seinem Ruf eher schaden als nützen würde, aber Braunberger ließ sich nicht beirren. Die Idee, die beiden fehlenden Szenen durch Zwischentitel zu ersetzen, war für jemanden, der wie Braunberger seine Produzentenlaufbahn noch im Stummfilm begonnen hatte, eigentlich naheliegend (er hatte auch schon einige von Renoirs ersten Filmen produziert). Eine weitere gute und ebenfalls naheliegende Idee Braunbergers war es, die Musik von Joseph Kosma schreiben zu lassen, der zu MONSIEUR LANGE ein Lied beigesteuert und dann von LA GRANDE ILLUSION bis LA RÈGLE DU JEU vier Renoir-Filme hintereinander vertont hatte. Kosmas ausdrucksstarke, aber unaufdringliche Musik fügt sich perfekt in den Rhythmus des Films ein, der mit Dialogen und Geräuschen, aber ohne Musik, noch immer keinen veröffentlichungsreifen Eindruck gemacht hatte. Sylvia Bataille formulierte das später so: "Nach dem Krieg, als uns Braunberger den geschnittenen Film ohne Musik zeigte, glaubte keiner, dass es möglich war, das zu veröffentlichen. [...] Aber ehrlich, als Kosma seinen wunderbaren Score hinzugefügt hatte, war der Film mit einem Schlag fertig, fehlerlos - eine echte Überraschung!" Als PARTIE DE CAMPAGNE dann 1946 in den Pariser Kinos anlief, war er ein voller Erfolg bei Kritik und Publikum, und Renoir war auch zufrieden, und er beglückwünschte Braunberger. Die Kritik lobte neben Renoir und Braunberger (für sein Beharrungsvermögen) vor allem Sylvia Bataille, doch deren Karriere, die trotz ihres Talents nie so recht abgehoben hatte, war da ironischerweise kurz vor ihrem Ende. 1946 drehte sie mit Marcel Carnés LES PORTES DE LA NUIT ihren vorletzten Spielfilm, dann folgte noch ein Kurzfilm und 1950 ein letzter Spielfilm. Danach betätigte sie sich als Mitarbeiterin ihres zweiten Mannes, des Psychoanalytikers und Philosophen Jacques Lacan.

Ruderpartie mit impressionistischer Uferstimmung
PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Verfilmung der (fast) gleichnamigen Erzählung Une partie de campagne von Guy de Maupassant (der trotz völlig unterschiedlicher künstlerischer Temperamente mit Pierre-Auguste Renoir befreundet war), die 1881 in der Sammlung La Maison Tellier erschien (eine etwas altertümlich angestaubte Übersetzung kann man hier lesen). Renoir hielt sich eng an die Handlung, dagegen änderte er den Ton der Erzählung gründlich. Während Maupassant seine Protagonisten mit der kühlen Distanziertheit eines Insektenforschers beschreibt, mit gelegentlichen Anflügen von Spott und Zynismus, ist der Film von vorn bis hinten von Renoirs warmherzigem Humanismus erfüllt. Dieser durchzieht fast alle seine Filme, aber selten in einer solchen Reinkultur wie hier. Und wo Maupassant die Charaktere nur sehr skizzenhaft schildert, erfüllt sie Renoir mit Leben und Charakter, durch Details im Dialog, im Schauspiel, in der Ausstattung, immer möglichst fern von vorgefertigten Klischees. Auch das zieht sich durch Renoirs Werk, aber im direkten Vergleich mit Maupassant sieht man es wie in einem Brennglas. Ebenso wichtig wie das bittersüße (fast) Nichts an Handlung ist das Drumherum, die Atmosphäre. Abgesehen von den kurzen Szenen mit Henri und Rodolphe in der Gaststube ist PARTIE DE CAMPAGNE ein kompletter Freiluftfilm, und mit Claude Renoirs Aufnahmen von der Schaukel, vom Garten mit dem Kirschbaum, vom flirrenden Licht auf dem Wasser, mit der am Ufer entlanggleitenden Kamera in den Ruderbooten ist er ein Pendant zur impressionistischen Freiluftmalerei. Renoir hat gelegentlich betont, dass er von den Bildern seines Vaters vor allem den Sinn für eine gute Bildkomposition gelernt habe. Den besaß er zweifellos, aber aus den Renoir-Filmen im Allgemeinen lässt sich dieser Einfluss kaum herauslesen, wenn man es nicht schon weiß. Doch bei PARTIE DE CAMPAGNE (und beim Spätwerk LE DÉJEUNER SUR L'HERBE von 1959) ist der Einfluss der impressionistischen Malerei direkt greifbar. PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Ode an den Fluss, an die Natur, an das Leben. Es ist doch noch ein Wohlfühlfilm geworden, im besten Sinn des Wortes.

Eine Nachtigall leistet Henri Schützenhilfe
PARTIE DE CAMPAGNE ist in England auf einer DVD des British Film Institute mit (nicht ausblendbaren) Untertiteln und mit einem Audiokommentar erschienen. Es gibt auch eine französische Ausgabe auf zwei DVDs, die aber derzeit nur stark überteuert zu haben ist. - Der rumänisch-französische Fotograf und Kameramann Eli Lotar war als Standfotograf beim Dreh dabei. Seine Bilder vom Set sind in einem Buch erhältlich.

Donnerstag, 11. April 2013

Die Volksfront, acht Regisseure und ein Oberregisseur

LA VIE EST À NOUS (DAS LEBEN GEHÖRT UNS)
Frankreich 1936
Regie: Jacques Becker, Jacques-Bernard Brunius, Henri Cartier-Bresson, Jean-Paul Le Chanois, Maurice Lime, Marc Maurette, Jean Renoir, Pierre Unik, André Zwoboda (oder Zwobada, wie er eigentlich hieß)
Gesamtleitung: Jean Renoir
Darsteller in Spielszenen: Jean Dasté, Jacques-Bernard Brunius, Charles Blavette, Max Dalban, Georges Spanelly, Eddy Debray, Gaston Modot, Julien Bertheau, Nadia Sibirskaïa u.a.
als sie selbst: Marcel Cachin, Jacques Duclos, Maurice Thorez, Paul Vaillant-Couturier u.a.

Wie schon im Artikel über LE CRIME DE MONSIEUR LANGE geschrieben, war Jean Renoir in den 30er Jahren politisch ziemlich weit links. Während MONSIEUR LANGE in erster Linie ein überzeugendes Drama und nur nebenbei ein politisches Lehrstück ist, handelt es sich bei LA VIE EST À NOUS um einen Propagandafilm. Um genau zu sein: Es ist ein Wahlkampffilm von gut einer Stunde Länge, der geschickt Spielszenen und dokumentarische Aufnahmen kombiniert. Er wurde für die im Mai 1936 anstehende Wahl zur Nationalversammlung gedreht; Auftraggeberin des Films war die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF). Bei der Wahl 1936 trat erstmals (und einmalig) eine linke Volksfront (Front populaire) an, ein Bündnis der drei großen Linksparteien der Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten. Die Partei der Sozialisten trug damals den etwas komplizierten Namen Section française de l'Internationale ouvrière (SFIO, dt.: Französische Sektion der Arbeiter-Internationale). Erst 1969 ging daraus die heutige Sozialistische Partei hervor, die Partei von Mitterrand und Hollande. Die Partei der Radikalsozialisten mit dem ebenso komplizierten Namen Parti républicain, radical et radical-socialiste oder kurz Parti radical war, anders als es der Name vermuten lässt, innerhalb der Koalition am wenigsten links. Es handelte sich um eine gemäßigt linke Partei, die vor allem Angestellte, Selbständige und sonstige Kleinbürger vertrat. Sie hatte zuvor schon sowohl mit den Sozialisten als auch mit Mitte- und Rechtsparteien koaliert und mehrfach den Premierminister gestellt. Von den drei Parteien neigte Renoir 1935/36 den Kommunisten zu. Weniger aus ideologischen Gründen - er war zwar links, aber kein Marxist -, sondern weil er der Überzeugung war, dass die PCF in Frankreich (und international die Sowjetunion) am entschiedensten dem Faschismus entgegentrat - und damit hatte er wohl Recht. Renoir war im Januar 1933 in Berlin und erlebte die Machtergreifung der Nazis mit, und deutsche Freunde wie Carl Koch, Lotte Reiniger und Bert Brecht informierten ihn über die weitere Entwicklung. Er wusste, um was es ging.

Schulkinder fragen sich, wo Frankreichs Reichtum abbleibt
Dass sich erstmals die PCF mit anderen Linksparteien zum Front populaire zusammenschloss, hatte innen- wie außenpolitische Gründe. Als Anfang der 30er Jahre die Weltwirtschaftskrise auch Frankreich ereilte und außerdem Skandale wie die Stavisky-Affäre das Land erschütterten, bekamen rechtsradikale Gruppierungen, von denen einige schon seit den 20er Jahren existierten, aber vorerst bedeutungslos blieben, neuen Aufschwung. Vor allem die paramilitärische Organisation Croix-de-Feu unter ihrem Führer Colonel de La Rocque war besorgniserregend. Die "Feuerkreuzler" unterhielten uniformierte Kampftruppen, die an die SA erinnerten, und veranstalteten regelmäßig martialische Umzüge. De La Rocques genaue Pläne blieben im Dunkeln, aber nicht wenige befürchteten, dass er einen faschistischen Umsturz plante. Die Zahl seiner Anhänger ist umstritten. Für 1936 werden Zahlen von bis zu 2 Millionen genannt. Auch wenn es weniger gewesen sein sollten, dürften es auf jeden Fall einige Hunderttausend gewesen sein. Daneben gab es weitere Gruppierungen und Milizen, von denen sich einige offen als faschistisch bezeichneten. Die Ereignisse kulminierten am 6. Februar 1934. Die rechtsradikalen Gruppen gingen in Paris auf die Straße, es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen, und ein Teil der Demonstranten versuchte, zum Parlamentsgebäude vorzudringen, um es zu stürmen. Die Polizei machte von der Schusswaffe Gebrauch, um das zu verhindern, und am Ende gab es 17 Tote und über 2300 Verletzte. Am nächsten Tag trat die Linksregierung aus Sozialisten und Radikalen zurück und wurde durch eine Mitte-Rechts-Regierung ersetzt. Auch wenn die Ereignisse vom 6. Februar vermutlich kein koordinierter Umsturzversuch waren (ausgerechnet Croix-de-Feu nahm zwar auch teil, hielt sich aber auffallend zurück), musste es damals vielen Beobachtern so erscheinen, und Gegenmaßnahmen schienen dringend nötig. Am 9. und am 12. Februar kam es zu großen Gegendemonstrationen und einem Generalstreik, zu denen die Kommunisten und die Sozialisten getrennt aufgerufen hatten, die sich dann aber zu gemeinsamen Veranstaltungen entwickelten. Eine Volksfront der linken Kräfte schien ebenso greifbar wie notwendig.

Ein Vorstandsvorsitzender (Jacques-Bernard Brunius)
Dazu kam für die Kommunisten Rückenwind aus Moskau. Bis 1934 hatten die KPdSU und von ihr abhängige Kommunistische Parteien in Europa Sozialdemokraten und andere nichtkommunistische Linke als "Sozialfaschisten" verunglimpft und oft sogar als Hauptgegner betrachtet. Aber diese Politik war grandios gescheitert. Nicht nur in Deutschland und Italien gab es faschistische Diktaturen, sondern auch in Portugal, Österreich und in diversen ost- und südosteuropäischen Ländern. Die Zersplitterung der linken und liberalen Bewegungen hatte den Aufstieg des Faschismus zwar nicht verursacht, aber erheblich erleichtert. So kam es ab 1934 zur Kehrtwende, und den in der Kommunistischen Internationale organisierten Parteien wurden Bündnisse mit Sozialdemokraten und sogar bürgerlich-liberalen Parteien anempfohlen. Offizielle Doktrin der Komintern wurde das erst 1935 unter ihrem Vordenker, dem stalintreuen Bulgaren Georgi Dimitrow. "Jetzt haben die arbeitenden Massen nicht länger die Wahl zwischen bürgerlicher Demokratie und Diktatur des Proletariats, sondern nur noch zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus." (Dimitrow). So wurde also im Sommer 1934 ein loses Bündnis zwischen Kommunisten und Sozialisten geschlossen, das ein Jahr darauf unter Einbeziehung der Radikalsozialisten konkreter gefasst wurde, und für die Wahl im Mai 1936, für die Siegchancen prognostiziert wurden, wurde im Januar des Jahres ein gemeinsames Wahlprogramm ausgearbeitet. Zu dieser Zeit entstand die Idee zu LA VIE EST À NOUS.

Match Cut: Reiche Müßiggänger beim Rumballern und Faschisten bei echten Schießübungen
Jacques Duclos, ein führender PCF-Funktionär, hatte den Einfall, einen Wahlkampffilm in Auftrag zu geben, und angeblich war es der Schriftsteller Louis Aragon, der Renoir dafür vorschlug. Auf jeden Fall war Renoir eine naheliegende Wahl. Durch LE CRIME DE MONSIEUR LANGE und etliche Zeitschriftenartikel hatte er sich als ein Sprachrohr der Linken im französischen Film etabliert, und seine fachliche Meisterschaft war unbestritten. Renoir nahm gerne an, hatte aber sogleich die Idee, das Kollektivprinzip, das schon bei MONSIEUR LANGE zum Tragen kam, noch weiter auszubauen: Nicht er selbst, sondern seine etwas jüngeren Mitarbeiter und Techniker sollten jeweils bei kleinen Teilen des Films Regie führen, und er würde nur als Produzent die Gesamtleitung übernehmen. Aufgrund der etwas chaotischen, unter Zeitdruck stehenden Produktion hat dann aber auch Renoir selbst einen Teil gedreht. Wer genau was inszeniert hat, wurde nicht bekanntgegeben - es sollte ja eben eine Kollektivarbeit sein. Entsprechend schwer tat sich die Nachwelt mit der Zuordnung, und verschiedene Autoren von Renoir-Büchern haben unterschiedliche Angaben dazu gemacht. Es ist auch nicht ganz klar, ob alle oben genannten Regisseure diese Bezeichnung überhaupt verdienen. Mal wird Maurice Lime weggelassen, mal Marc Maurette, und im kleinen, aber feinen Büchlein "Jean Renoir und die Dreissiger" gelten überhaupt nur Renoir, Becker, Le Chanois und Zwoboda als Regisseure, und die anderen fünf als Regieassistenten. Der Titel dieses Artikels ist also mit etwas Vorsicht zu genießen. Ebenso ist nicht ganz klar, ob Paul Vaillant-Couturier, ein weiterer PCF-Funktionär, am Drehbuch mitschrieb oder nicht. Aber auch wenn das der Fall gewesen sein sollte, genossen Renoir und seine Mitstreiter volle künstlerische Freiheit, wie Jean-Paul Le Chanois anlässlich der Wiederaufführung des Films 1969 betonte: "Wir hatten einige Unterhaltungen mit Jacques Duclos, der uns die Position der Partei in der Volksfront und im Wahlkampf erläuterte. Aber niemand zwang uns irgendwelche Richtlinien auf." Bei der Gelegenheit äußerte sich Le Chanois auch sehr eindeutig zu der Frage, ob man LA VIE EST À NOUS aufgrund des Modus seiner Entstehung überhaupt als Renoir-Film bezeichnen kann: "Mein Gefühl zu dieser Frage ist sehr klar; es war wirklich Renoir, der den Film machte."

Croix-de-Feu
Alle Beteiligten arbeiteten umsonst, und einige mussten nebenbei andere Jobs ausüben, was teilweise für den Zeitdruck verantwortlich war. Natürlich gab es Kosten für Filmmaterial, Entwicklungslabor etc. - insgesamt kostete LA VIE EST À NOUS etwa ein Zehntel dessen, was bei einem französischen Film dieser Länge üblich war. Das Geld wurde bei Wahlkampfveranstaltungen der PCF eingeworben. Die Anhänger der Kommunisten waren üblicherweise nicht gut betucht, aber Kleinvieh macht auch Mist. Le Chanois erinnerte sich 1969, dass einmal ein ganzer Kartoffelsack voller Kleingeld angeliefert wurde, das er und Zwoboda dann einen ganzen Tag lang zählten und sortierten. Die Dreharbeiten fanden im Februar und März 1936 statt und wurden vom Wahlsieg einer linken Volksfront in Spanien im Februar ideell beflügelt. Nachdem die Aufnahmen im Kasten waren, verließ Renoir das Team, um sich mit seinem nächsten Film PARTIE DE CAMPAGNE zu befassen. Die Endfertigung überwachten Jacques-Bernard Brunius und Renoirs regelmäßige Cutterin und damalige Lebensgefährtin Marguerite Renoir (eigentlich Marguerite Houllé, sie waren nicht miteinander verheiratet). Renoir selbst bekam den fertigen Film 1936 überhaupt nicht zu Gesicht. Es wurde gelegentlich behauptet, dass LA VIE EST À NOUS von der Zensur verboten wurde. Aber Le Chanois bestritt, dass er überhaupt der Zensur vorgelegt wurde, weil eine kommerzielle Verwertung überhaupt nicht vorgesehen war, und weil ohnehin keine Chancen auf eine Freigabe bestanden. Wie dem auch sein mag, jedenfalls lief der Film nicht in den französischen Kinos, aber wie vorgesehen bei Wahlkampfveranstaltungen, wofür eine Freigabe der Zensur nicht notwendig war.

Februar 1934: Aufruf zum Generalstreik
LA VIE EST À NOUS lässt sich grob in drei Teile gliedern. Am Anfang referiert eine Stimme aus dem Off über Frankreich: Über seine landschaftlichen Schönheiten, seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse, seine Industrie. Dazu passende dokumentarische Bilder, dynamisch montiert, illustrieren die Worte. Nach einiger Zeit bekommt die Stimme ein Gesicht: Ein Lehrer (Jean Dasté) hält den Vortrag vor seiner Schulklasse. Er fährt fort, nennt statistische Zahlen, betont mehrfach die Spitzenstellung Frankreichs auf diversen Gebieten. Nach Ausführungen zu Architektur und Kunst landet er schließlich bei Paris, der "meistgeliebten Stadt der Welt", einer Hauptstadt des Geistes ebenso wie einer Hauptstadt der Luxusgüter. Dann entlässt er die Schüler. Wozu diese Glorifizierung? Damit der Kontrast umso größer ausfällt, wenn sich die Schüler auf dem Heimweg fragen, wo denn der ganze Reichtum bleibt. Wieso sind sie und ihre Eltern so arm, wenn Frankreich ein so reiches Land ist? Die Antwort folgt auf dem Fuß: Es liegt an der ungleichen Verteilung, daran, dass die führenden "200 Familien" der Großkapitalisten die Gewinne einstreichen - so skandiert es eine Kommunistin, und ein Chorus repetiert die Sentenz mehrfach. Eine Spielszene konkretisiert das unverzüglich: Ein Vorstandsvorsitzender (J.B. Brunius) erläutert im Konferenzzimmer seinen Direktoren, wie man durch künstliche Verknappung von Lebensmitteln und anderen Gütern die Preise und damit die Gewinne hochtreibt, und unter Krokodilstränen verkündet er vertraut klingende Parolen, dass man den Gürtel leider enger schnallen müsse. Dazwischen geschnitten ist eine Sequenz, in der derselbe Vorstandsvorsitzende im Spielcasino ungerührt 2 Mio. Francs verzockt - so wird deutlich gemacht, wer den Gürtel enger schnallen muss und wer nicht. Zurück im Konferenzraum, kündigt er Lohnkürzungen an, und die versammelten Direktoren pflichten ihm einhellig bei. Danach sieht man einige Damen und Herren der Oberschicht, wie sie zum Vergnügen in einem Park mit Pistolen auf Pappkameraden schießen, die Arbeiter symbolisieren. Das geht durch einen Match Cut in Aufnahmen von Croix-de-Feu-Leuten über, die paramilitärische Schießübungen veranstalten. So wird eine recht eindeutige Verbindungslinie Großkapitalismus -> Faschismus gezogen.

Februar 1934: Massendemonstrationen gegen rechte Umtriebe
Die nächsten Minuten behandeln die nationale und internationale faschistische Gefahr. Es gibt Aufnahmen von einem großen Aufmarsch des Croix-de-Feu, mit Colonel de La Rocque an der Spitze, der verhöhnt wird, indem dazu Julius Fučíks Marsch "Einzug der Gladiatoren" ertönt, besser bekannt als "Zirkusmarsch". Auch Hitler wird veräppelt: Man sieht ihn bei einer Rede, hört dazu aber das Bellen eines Hundes. Doch es wird schnell wieder ernst: Aufeinanderfolgende Bilder von Mussolini, von Bombenangriffen im italienischen Kolonialkrieg in Äthiopien und von toten Soldaten evozieren sehr deutlich die Assoziationskette Faschismus - Krieg - Tod. Ebenfalls zu sehen sind Dokumentaraufnahmen von den Unruhen am 6. Februar 1934 und von den eindrucksvollen Gegendemonstrationen am 9. und 12. Februar, sowie dazwischengeschnitten Titelblätter der kommunistischen Parteizeitung L'Humanité, die zu diesen Demonstrationen aufrief. Danach wird die Solidarität mit der Sowjetunion beschworen, und es sind vier kurze Filmschnipsel mit Lenin, Stalin, Dimitrow und dem PCF-Veteranen André Marty zu sehen. Nach diesem kurzen Zwischenspiel war es das weitgehend mit dem Thema Sowjetunion - die PCF schlug zu dieser Zeit durchaus gemäßigt nationale Töne an, statt das Mantra des Internationalismus zu predigen (und im Film kommt die Marseillaise ebenso prominent vor wie die Internationale).

Marcel Cachin; ein Fabrikarbeiter (Charles Blavette); ein Auktionator wird düpiert
(links Gaston Modot, rechts Eddy Debray); der Ingenieur und seine Geliebte
(Julien Bertheau und Nadia Sibirskaïa)
Eine sehr kurze Spielszene leitet zum zweiten Hauptteil des Films über: Drei Croix-de-Feu-Mitglieder überfallen einen Verkäufer der L'Humanité und wollen ihn verprügeln. Doch umstehende Passanten eilen sofort herbei und schlagen die Angreifer in die Flucht - ein Lob auf Solidarität und Zivilcourage. Vom einfachen Zeitungsausträger wechselt die Handlung ins Büro von Marcel Cachin, der 40 Jahre lang Herausgeber der L'Humanité war. 1936 war er schon ein älterer Herr mit väterlichem Erscheinungsbild, wovon der Film geschickt Gebrauch macht. Aus einem Berg (fiktiver) Leserbriefe an ihn fischt (der echte) Cachin drei heraus und liest sie, und ihr Inhalt wird in drei längeren Spielhandlungen ausgebreitet, jeweils umrahmt von Cachin an seinem Schreibtisch. Die drei Sequenzen führen den Wert der Solidarität weiter aus, und sie präsentieren die PCF als Hort dieser Solidarität. Zugleich repräsentieren sie die drei Säulen der Anhängerschaft der Partei: Arbeiter, Bauern, und "Intelligenz".
In einer Fabrik wurde der Akkordlohn gesenkt und ein Vorarbeiter (Max Dalban) installiert, der nichts tut, als die anderen mit seiner Uhr zu überwachen. Als ein älterer Arbeiter die Vorgaben nicht mehr erfüllen kann, wird er gefeuert. Den nun aufwallenden Protest lenkt ein PCF-Mitglied unter den Arbeitern (Charles Blavette) in geordnete Bahnen, organisiert einen Streik, und der Fabrikbesitzer (G. Spanelly) wird gezwungen, alle Maßnahmen rückgängig zu machen.

Eine Familie von Kleinbauern kann ihre Schulden nicht bezahlen, und die Zwangsversteigerung des ganzen Anwesens steht bevor. Doch der Neffe (Gaston Modot), wiederum ein PCF-Mitglied, sorgt mit seinen Parteifreunden mit sanftem Druck dafür, dass kein Interessent ein ernsthaftes Gebot abgeben kann. Er selbst "ersteigert" alles zu einem Spottpreis, zusammen wenig mehr als 100 Francs. Die Schulden sind getilgt, und die Familie bekommt ihr Hab und Gut zurück.

Ein arbeitsloser junger Elektroingenieur (Julien Bertheau) will seiner Freundin (Nadia Sibirskaïa) nicht auf der Tasche liegen und macht sich auf die zermürbende Arbeitssuche. Er nimmt sogar einen Job als Autowäscher an, fliegt aber gleich wieder raus. Vor Hunger und Verzweiflung dem Zusammenbruch nah, wird er von zwei PCF-Genossen aufgelesen und ins nächste Parteilokal gebracht. Dort wird er mit einer warmen Mahlzeit, mit schönem Chorgesang (der Chorale Populaire de Paris probt gerade Arbeiterlieder) und mit ideellem Zuspruch wieder aufgerichtet. Und er bekommt auch gleich etwas Sinnvolles zu tun, nämlich einen großen Scheinwerfer zu reparieren und zu bedienen, der bei einem Parteikongress zum Einsatz kommt.
Dieser vom Filmteam inszenierte Kongress mit echten PCF-Spitzenfunktionären bildet den ersten Teil des letzten Hauptabschnitts von LA VIE EST À NOUS. Unter dem zuhörenden Parteivolk befinden sich auch die Hauptprotagonisten der drei Episoden aus dem vorigen Abschnitt. Die schon erwähnten Marcel Cachin, Jacques Duclos und Paul Vaillant-Couturier sowie PCF-Generalsekretär Maurice Thorez und drei weitere Funktionäre werden jeweils mit kurzen Rede-Ausschnitten gezeigt, wobei jeder ein anderes Thema anspricht. Diese Passage dauert sechs Minuten, also für jeden im Schnitt weniger als eine Minute. So wird ein breites Spektrum abgedeckt, ohne dass der Zuschauer mit nicht enden wollenden Reden (wie etwa in TRIUMPH DES WILLENS) gequält wird. Es fällt der moderate Ton dieser Reden auf. Schon in der Fabrik-Episode standen ordentliche Arbeitsbedingungen auf dem Programm, aber keine gesellschaftlichen Umstürze, keine Enteignung der Kapitalisten, und Gewalt wird ausdrücklich als kontraproduktiv abgelehnt. In den Reden verhält es sich ähnlich. Zwar beschwört Thorez noch einmal verbal Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber abgesehen vom zeitgebundenen Aspekt des Kampfes gegen den Faschismus ist es eigentlich kein kommunistisches, sondern ein sozialdemokratisches Programm, das hier präsentiert wird (natürlich kein Programm im Geist der Agenda 2010, sondern eher eines im Geist des Godesberger Programms). Hier zeigen sich sehr deutlich die Kompromisse, die vom Front populaire erzwungen wurden: Weder die neuen Koalitionspartner (insbesondere die Radikale Partei, die in dieser Hinsicht heikler war als die Sozialisten) noch potentielle Wähler aus dem bürgerlich-liberalen Lager durften verschreckt werden. Der Film endet schließlich in einem (ebenfalls inszenierten) Aufmarsch der Massen, die die Internationale singen, und wiederum erkennt man die Gesichter von Blavette, Modot, Bertheau, Sibirskaïa und weiteren Protagonisten der Spielszenen in der Menge (sowie an prominenter Stelle Vladimir Sokoloff, der zuvor im Film nicht in Erscheinung trat), und ganz am Ende gibt es nochmal eine kurze Montage-Sequenz, die an diejenige vom Anfang des Films erinnert. - Wie wirkt LA VIE EST À NOUS nun heute? Das hängt natürlich auch vom politischen Standpunkt des Betrachters ab. Während Renoir sonst Klischees und Stereotypen zu vermeiden trachtete, gibt es hier jede Menge davon. Und die unhinterfragte Heilsgewissheit in den Armen der Kommunistischen Partei kann schon zwiespältige Gefühle auslösen. Aber man kann auch von einem Wahlkampffilm schlecht verlangen, dass er seine eigenen Behauptungen in Frage stellt. Und trotz einer gewissen Ungeschliffenheit, die der schnellen und billigen Produktion geschuldet ist, zeigt LA VIE EST À NOUS nicht nur den politischen Enthusiasmus, sondern auch die künstlerische Imaginationskraft seiner Macher. Er ist ein Propagandafilm, aber sicher einer der interessantesten der 30er Jahre.

Maurice Thorez (das linke Portrait zeigt Georgi Dimitrow)
Und wie ging es nach dem Film in Frankreich weiter? Der Front populaire gewann tatsächlich die Wahlen im Mai. Die Sozialisten und die Radikalen bildeten die Regierung, die von den Kommunisten gestützt wurde, ohne sich mit Ministern daran zu beteiligen. Die Sozialisten waren die stärkste Partei, und deren Vorsitzender Léon Blum wurde Premierminister. Einige kleinere linke Gruppierungen innerhalb und außerhalb des Parlaments unterstützten die Regierung ebenfalls. Man ging mit viel Schwung an die Arbeit: Es wurde erstmals ein Anspruch auf bezahlten Urlaub und die 40-Stunden-Woche eingeführt, das Recht, kollektive Tarifverträge abzuschließen, und es wurde für Lohnerhöhungen gesorgt. Aber die materiellen Verbesserungen für die Arbeitnehmer wurden bald wieder von der Inflation aufgefressen, der Elan der Regierung verpuffte, und ideologische Differenzen traten zutage, vor allem zwischen den Kommunisten und den Radikalen. Zum größten Sargnagel für die Volksfront wurde der Spanische Bürgerkrieg. Auf Betreiben der Radikalen und Teilen der Sozialisten erklärte sich Frankreich für neutral, statt, wie von vielen erhofft, die Republikaner zu unterstützen. Im Juni 1937, nach einem Jahr im Amt, trat Blum zurück, und damit war die Volksfront mehr oder weniger gescheitert, und unter ihren Anhängern machte sich allgemeine Desillusionierung breit. Formal bestand die Koalition weiter, mit zwei Ministerpräsidenten von der Radikalen Partei, und dazwischen noch einmal für einen Monat Léon Blum, aber als Ende 1938 ein Teil der Sozialgesetze zurückgenommen wurde, um die Inflation einzudämmen, war die Volksfront endgültig am Ende. Spätestens seit dem Hitler-Stalin-Pakt, der viele bisherige Anhänger der Kommunisten (auch Renoir) entsetzte, war auch eine Neuauflage dauerhaft ausgeschlossen. Ganz umsonst war das gescheiterte Experiment aber nicht. Es blieb die Tatsache, dass die ideelle Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum in Frankreich deutlich verringert wurde, und noch ein politisches Ziel wurde erreicht: Gleich zu Beginn wurden die paramilitärischen faschistoiden Gruppierungen verboten. Colonel de La Rocque hatte offenbar damit gerechnet, denn er gründete unmittelbar darauf eine neue Partei, aber die gab sich gemäßigter als die Vorgänger-Organisation und respektierte die parlamentarischen Spielregeln. Einen ernsthaften Umsturzversuch gab es nicht, und Frankreich blieb bis zur Besetzung 1940 eine Demokratie mit bürgerlichen Freiheitsrechten.

Choreographierter Massenaufmarsch am Schluss (l.o. Vladimir Sokoloff)
LA VIE EST À NOUS wurde für den Wahlkampf gedreht, und nach der Wahl wurde er eingemottet. Der Film verschwand so gründlich in der Versenkung, dass er mehr oder weniger verschollen war. Doch 1969 tauchte er wieder auf, und dann lief er erstmals auch in den französischen Kinos. 1973 wurde eine Kopie nach Los Angeles geschickt, und Renoir, der in Beverly Hills wohnte, sah zum ersten Mal den fertigen Film. "Ich war sehr froh, diesen Film endlich zu sehen", sagte er später. "Es freute mich, die Gesichter von so vielen alten Freunden zu sehen, von denen jetzt viele tot sind. Und er zeigte mir wieder die Gesichter der französischen Arbeiter. Er ist technisch nicht sehr geschliffen, das ist offensichtlich. Aber für einen Film, der von 20 Leuten in einem solchen Durcheinander gemacht wurde, ist er vielleicht nicht schlecht. Und vielleicht ist so etwas heute interessanter als damals. Wir können die technischen Fehler bei einem alten Film akzeptieren - er ist jetzt zu einem Dokument geworden." - LA VIE EST À NOUS ist in Frankreich auf DVD erhältlich. Englische Untertitel gibt es in den Weiten des Internet zum Download.

Montag, 25. Februar 2013

Das Arbeiterkollektiv und der gerechte Mord

LE CRIME DE MONSIEUR LANGE (DAS VERBRECHEN DES HERRN LANGE)
Frankreich 1935
Regie: Jean Renoir
Darsteller: René Lefèvre (Amédée Lange), Florelle (Valentine), Jules Berry (Batala), Sylvia Bataille (Edith), Nadia Sibirskaïa (Estelle), Maurice Baquet (Charles), Marcel Lévesque (M. Beznard, Concierge), Henri Guisol (Meunier jr.)

Valentine beginnt ihre Erzählung
Mitte der 30er Jahre war Jean Renoir politisch weit nach links gerückt, und LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war der erste Film, in dem das seinen Ausdruck fand. Während etwa noch in TONI die Arbeitsbedingungen im Steinbruch und die allgemeinere Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln keine Rolle spielten, stand letzteres Thema im Mittelpunkt des Interesses von LE CRIME DE MONSIEUR LANGE. Doch mit seiner glänzenden Charakterisierungskunst und der weit fortgeschrittenen Beherrschung der kinematographischen Technik lieferte Renoir kein dröges Thesenstück, sondern ein lebendiges Drama, das Versatzstücke verschiedener Genres geschickt und unterhaltsam kombiniert. - Im äußersten Norden Frankreichs braust ein Wagen bis kurz vor die belgische Grenze, setzt ein junges Paar ab und verschwindet wieder. In einem Gasthof, der sich etwas hochtrabend Hotel de la Frontière nennt, nehmen die beiden ein Zimmer, was in der Gaststube eine erregte Diskussion auslöst: Man hat gerade auf einem Steckbrief das Gesicht des Mannes gesehen - er wird wegen Mordes gesucht. Der Sohn des Wirts drängt dazu, die Polizei zu verständigen, nicht nur wegen der Bürgerpflicht, sondern vor allem wegen der ausgesetzten Belohnung. Andere raten dazu, sich nicht einzumischen, oder zumindest erst einmal abzuwarten, bis man mehr weiß. Während der gesuchte Monsieur Lange erschöpft ins Bett sinkt und eindöst, geht seine Begleiterin Valentine zurück in den Schankraum, und sie erkennt sofort, worum sich die schlagartig verstummte Unterhaltung drehte. Unumwunden gibt sie zu, dass Lange den Mord begangen hat, und dann beginnt sie zu erzählen, wie es zu der Tat kam.

Lange klärt Valentine über Arizona auf (wo er nie war)
Rückblende: Ungefähr ein Jahr zuvor in Paris. Amédée Lange ist ein äußerst begeisterungsfähiger, aber vorerst erfolgloser Verfasser von Wildwestgeschichten um den Helden "Arizona Jim", die er in seiner Freizeit schreibt, indem er sich die Nächte um die Ohren schlägt. Tagsüber ist er Angestellter von Monsieur Batala, der einen Groschenheft-Verlag besitzt, statt Langes Westerngeschichten jedoch lieber eine Krimi-Reihe druckt. Batala ist ein übler Patron, der jedermann ausnutzt und manipuliert. Er bezahlt seine Angestellten schlecht, er haut seine Geschäftspartner und Werbekunden übers Ohr, er betatscht jede hübsche Frau, die in seine Nähe gerät. Auch sonst sind seine Hände ständig in Bewegung und dienen neben seinen Redeschwällen der Kontrolle und Manipulation seiner Mitmenschen. Von allen Charakteren in Renoir-Filmen ist Batala einer der negativsten. Es lässt sich aber auch nicht abstreiten, dass er Charme und Charisma besitzt, dass er eine gewisse Faszination ausübt. Mit einer nur leichten Akzentverschiebung hätte man aus ihm auch einen Hallodri, einen sympathischen Antihelden machen können - so aber ist er ein Stinkstiefel, ein Schmarotzer in jeder Beziehung.

Batala zieht einen Kunden über den Tisch
Batalas Verlagsräume mit der dazu gehörigen Druckerei liegen an einem kleinen Innenhof, ebenso wie eine Wäscherei, die Valentine gehört, Langes kleine Wohnung sowie weitere Wohnungen. Valentine, die früher einmal Batalas Geliebte war, aber jetzt gründlich von ihm kuriert ist, hat ein Auge auf Lange geworfen, aber der ist etwas schüchtern und unsicher im Umgang mit Frauen, und er sträubt sich. Im Erdgeschoß neben der Wäscherei residiert der Concierge Monsieur Beznard, ein reaktionärer alter Griesgram, der ständig von seiner Militärzeit im Indochinakrieg schwärmt. Sein Sohn Charles liebt Estelle, eine von Valentines vier Büglerinnen, aber die Liebe liegt vorerst auf Eis, denn Charles liegt mit einem gebrochenen Bein zuhause, und seine Mutter verhindert Estelles Zugang zu ihm mit Hilfe falscher Behauptungen (und ihrer Körperfülle). Charles' Zimmer ist ein dunkles Loch, denn sein einziges Fenster zum Hof wird durch eine große Plakatwand verstellt, die Batalas Krimi-Reihe bewirbt. Der Innenhof und die angrenzenden Räumlichkeiten werden von Renoir als ein dicht bevölkerter Mikrokosmos inszeniert, der von der äußerst beweglichen Kamera geradezu aktiv erforscht wird.

Estelle und Valentine
Trotz seiner Machenschaften gehen Batalas Geschäfte schlecht, und er hat überall Schulden. Einen Abgesandten seines Hauptgläubigers Meunier kann er bestechen, aber schon steht der nächste auf der Matte, der sich beschwert, dass seine "Ranimax-Pillen" nicht wie vereinbart in Batalas Heften beworben werden. Um den Mann abzuwimmeln, hat Batala eine Eingebung: Er präsentiert ihm den verdutzten Lange als einen genialen Autor, den neuen Victor Hugo, und "Arizona Jim" als die kommende literarische Sensation und somit als idealen Werbeträger. Verwirrt vor Freude darüber, dass "Arizona Jim" jetzt endlich gedruckt wird, lässt sich Lange über den Tisch ziehen, und er tritt unwissentlich alle Rechte daran an Batala ab. Um seinen Erfolg abzusichern, schickt Batala seine Sekretärin und derzeitige Geliebte Edith zu dem Ranimax-Mann mit dem eindeutigen Auftrag, mit ihm zu schlafen, und Edith, die einzige weit und breit, die Batala mag, lässt sich darauf ein. Kaum ist sie gegangen, bedrängt und verführt er Estelle. Der Ranimax-Coup bringt nur einen kurzen Aufschub, denn jetzt möchte ein Inspektor von der Polizei Batala sprechen, und der findet, dass es Zeit ist, vorübergehend unterzutauchen. Er packt hastig seine Koffer und fährt mit der Eisenbahn aufs Land. Doch da bringt das Radio die Nachricht, dass es zu einem Zugunglück mit vielen Toten kam, und Batala ist unter den Opfern, während etliche Überlebende unter Schock den Unglücksort verließen, ohne ihre Identität registrieren zu lassen.

Lange lässt sich von einer Straßenhure abschleppen
Die Belegschaft fasst sich ein Herz: Statt sich neue Arbeitsstellen zu suchen, gründen sie eine Kooperative, um den Verlag und die Druckerei in Eigenregie weiterzuführen. Da trifft es sich gut, dass der vermeintliche Polizeiinspektor in Wirklichkeit Batalas Cousin und einziger Verwandter ist, der aus Gründen, die er nur dunkel andeutet, aus dem Polizeidienst geflogen ist. Er ist weder in der Lage noch willens, als Erbe den neuen Chef zu spielen, und er lässt die Kooperative gewähren, wenn er nur selbst einen Job bekommt. Schwieriger gestalten sich die Verhandlungen mit den Gläubigern, die die Firma liquidieren wollen, um ihre Forderungen zu bedienen. Den Ausschlag gibt Monsieur Meunier jr., der Sohn des Hauptgläubigers, der seinen erkrankten Vater vertritt. Der junge Meunier ist auf seine Art ein ebenso enthusiastischer Mann wie Lange, und er lässt sich von der Begeisterung für die Kooperative mitreissen, ohne genau zu wissen, was eine Kooperative überhaupt ist. Lange und seine Kollegen reissen jetzt Batalas Plakatwand im Hof nieder - ein ebenso pragmatisch-nützlicher (für Charles, der jetzt endlich Tageslicht und frische Luft hat) wie symbolischer Akt. Das führt auch indirekt dazu, dass Charles und Estelle endlich zueinander finden. Auch Valentine schafft es jetzt, den sichtlich selbstbewusster gewordenen Lange zu erobern. Und selbst der bisher so unleidliche Beznard schließt seinen Frieden mit der Kooperative und wird ein Teil der Gemeinschaft. Im Lauf der nächsten Wochen und Monate führt die Kooperative durch die gemeinsame Anstrengung den Verlag zum Erfolg, und "Arizona Jim" ist der neue Renner, der reissenden Absatz findet, während Batalas alte Krimi-Reihe eingestellt wird.

Batala und Edith
Auf dem Höhepunkt des Erfolgs hat Meunier eine Idee: Er will einen Film mit Arizona Jim produzieren, und aus diesem Anlass wird eine feucht-fröhliche Feier organisiert. Unterdessen taucht Batala in der Soutane eines Priesters in Paris auf. Er hatte sich im Zug mit einem Priester unterhalten, der dann offenbar unter den Opfern war, so dass er seine Kleider entwenden und ihm seine eigenen Papiere unterschieben konnte. An einem Zeitschriftenkiosk benutzt er seine Verkleidung, um ein kostenloses Exemplar von "Arizona Jim" zu ergaunern, und er "leiht" sich noch Geld, das er natürlich nie zurückzahlen wird - er ist also noch derselbe Schmarotzer wie eh und je. Während sich auf dem Fest der angeheiterte Beznard als Stimmungskanone entpuppt, geht Lange kurz ins Büro, um eine Idee für den Film aufzuschreiben, und überascht dabei Batala, immer noch als Priester verkleidet. Der schockierte Lange will Batala mit etwas Geld dazu bringen, wieder zu verschwinden, doch dieser macht unmissverständlich klar, dass er alles will: Mit dem von der Kooperative erwirtschafteten Geld wird er seine Schulden bezahlen und wieder die Herrschaft im Betrieb antreten. Über Lange und die Kooperative macht er sich nur in zynischer Weise lustig. Im Gehen sagt er noch spöttisch, wenn Lange das verhindern wolle, müsse er ihn schon umbringen. Im Hof begegnet er Valentine, und er kann nicht anders, als sie anzubaggern. Das verschafft dem zunächst völlig konsternierten Lange die nötige Zeit. Nachdem er aus seiner Lethargie erwacht ist, geht er mit der Pistole aus Batalas Schreibtisch hinterher und schießt ihn auf dem Hof ohne große Worte nieder. Während der sterbende Batala im Priestergewand ironischerweise nach einem Priester verlangt, kommt als nächstes Meunier hinzu. Er rät Lange, sofort zu verschwinden, und bietet seine Hilfe an. Es ist Meunier, der Lange und Valentine am nächsten Tag an der Grenze absetzt.

Batala "leiht" sich Geld von Beznard, bevor er untertaucht
Damit ist Valentines Bericht beendet, und die Dörfler im Gasthaus, die als eine Art inoffizielle Geschworenenjury zugehört haben, müssen nicht lange beraten: Sie liefern Lange, der die Erzählung seiner Geschichte komplett verschlafen hat, nicht der Polizei aus, sondern sie geleiten ihn und Valentine zur Grenze, wo sie am Strand entlang in die Freiheit waten. - "Dieser Film basiert auf der Idee, dass jeder Mensch, der sich einen Platz in der Gesellschaft erobert hat, und der sich dieser Position würdig erweist, das Recht hat, diesen Platz zu behalten und ihn gegen jeden zu verteidigen, der ihn ihm wegnehmen will, auch wenn dieser Dieb seine Aktionen auf Gesetze gründet." (aus der Präambel der ersten Drehbuchfassung, abgedruckt in André Bazins Renoir-Buch). Angesichts der Tatsache, dass LE CRIME DE MONSIEUR LANGE vor Leben überquillt und auch der Humor nicht zu kurz kommt, könnte man fast übersehen, dass es sich nebenbei auch um ein Lehrstück im Brechtschen Sinne handelt. Die Verbindung zu Brecht ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Renoir und Brecht waren befreundet, und sie trafen sich in den 30er Jahren regelmäßig, wenn Brecht aus seinem Exil in Dänemark nach Paris fuhr, auch 1935, während LE CRIME DE MONSIEUR LANGE vorbereitet wurde. Man kann den Mikrokosmos des Films als Modell für die französische Gesellschaft insgesamt sehen. Damit liegt MONSIEUR LANGE auf einer Linie mit den Vorstellungen der linken Front populaire, deren Anhänger Renoir war (ich werde in der Besprechung von LA VIE EST À NOUS auf die Front populaire zurückkommen, deshalb hier nicht mehr dazu).

Valentine macht Fortschritte bei Lange
Die erste Drehbuchfassung schrieben Renoir und Jean Castanier (in den Credits Castanyer geschrieben), nach einer Idee von Castanier. Castanier war ein mit Renoir befreundeter spanischer Maler, der, wie Renoir scherzhaft schrieb, zu faul zum Malen war, und er war auch Set-Designer bei BOUDU, CHOTARD ET CIE (1932) und MONSIEUR LANGE. Das Stück hieß ursprünglich Sur la cour ("Auf" oder "Über dem Hof"), was die Tatsache widerspiegelt, dass der Innenhof den Brennpunkt des Geschehens bildet. Abgesehen von den Szenen an der Grenze, die den Film einrahmen, verlassen die Protagonisten und damit die Kamera den Hof und die angrenzenden Räume nur selten. Errichtet wurden die Kulissen in einem Studio in Billancourt bei Paris, die Szenen an der Grenze wurden in der Normandie gedreht. Weil Renoir und Castanier fanden, dass am Drehbuch noch irgendwas fehlte, wurde Jacques Prévert hinzugezogen, der die endgültige Fassung schrieb. Wobei "endgültig" wie so oft bei Renoir bedeutete, dass auch während der Dreharbeiten, bei denen auch Prévert anwesend war, noch geändert und improvisiert wurde. Hier sogar in besonderem Ausmaß, denn LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war passend zum Thema des Films auch eine Kollektivarbeit. Das galt in gewissem Ausmaß ohnehin für die meisten von Renoirs Filmen der 20er und 30er Jahre, bei denen Renoir beständig die Meinung seiner Mitarbeiter einholte und oft Änderungsvorschläge berücksichtigte, so dass die Mitarbeiter zu Recht das Gefühl haben konnten, dass es auch ihr Film sei.

Durchblicke (hier aus dem Hof in Valentines Wäscherei)
Das Besondere bei LE CRIME DE MONSIEUR LANGE war, dass sehr viele der Mitwirkenden von der linksradikalen Agitprop-Theatergruppe Groupe Octobre stammten: Castanier; Jacques und sein Bruder Pierre Prévert, der ebenso wie Castanier inoffizieller Regieassistent war (der offizielle Regieassistent war Georges D'Arnoux, wie schon bei TONI); der Komponist Joseph Kosma, der zu einem Text von Jacques Prévert ein Lied für Florelle schrieb (der Rest der Filmmusik ist von Jean Wiener); insbesondere aber eine ganze Reihe der Schauspieler: Florelle (eigentlich Odette Rousseau), Sylvia Bataille (die nacheinander mit Georges Bataille und Jacques Lacan verheiratet war), Maurice Baquet, Jacques-Bernard Brunius (der mit Renoir gut befreundet war und in einigen seiner Filme in verschiedenen Positionen mitwirkte, hier spielt er den Ranimax-Kunden), Sylvain Itkine (als Batalas Cousin), Jean Dasté (ein Graphiker im Verlag), und etliche weitere Nebendarsteller. Mitglieder der Groupe Octobre hatten zuvor schon in anderen Filmen mitgewirkt, etwa in der Taschendieb-Szene in L'ATALANTE, aber jetzt traten sie so massiv auf, dass manche Kritiker in MONSIEUR LANGE mehr einen Groupe Octobre-Film als einen Renoir-Film sehen wollten. Nicht zur Groupe Octobre gehörte dagegen Jules Berry, der die schauspielerische Hauptattraktion von MONSIEUR LANGE bildet. Mit seinem exaltierten Spiel beherrscht er jede Szene, in der er auftritt, und mit improvisiertem Text (mit voller Billigung Renoirs) - was je nach Quelle seiner Unlust, vorgefertigte Texte zu sprechen, oder seinem schlechten Gedächtnis für Texte zugeschrieben wird - bereicherte er die Figur Batala um Facetten, die nicht im Drehbuch standen. Ursprünglich war er ein Boulevard-Schauspieler, aber nachdem er sich vom Theater mehr auf den Film verlegt hatte, spielte er noch öfters Schurkenrollen, beispielsweise in Marcel Carnés LE JOUR SE LÈVE als Gegenspieler von Jean Gabin.

Im Hof wird ein Titelbild für "Arizona Jim" aufgenommen
Die zweite Hauptattraktion ist, wie schon angedeutet, die Kamera, die hier beweglicher ist als je zuvor bei Renoir (unter anderem deshalb ist es eben doch ein Renoir-Film und kein Groupe Octobre-Film). Es gibt natürlich auch statische Einstellungen, die dann oft genutzt werden, um die Protagonisten in der Tiefe des Raumes zu bewegen, wie man es schon in früheren Renoir-Filmen sah. Besonders der langgestreckte Verlags- und Druckereiraum im ersten Stock, der durch eine Wendeltreppe mit dem Erdgeschoß verbunden ist, wird dafür geschickt genutzt, und es gibt immer wieder gerahmte Aus- und Durchblicke, etwa aus der Wäscherei oder Charles' Zimmer durch Fenster hindurch auf den Hof hinaus. Aber auffälliger sind die teilweise sehr langen und sorgfältig komponierten Kamerafahrten und -schwenks. Auch solche gab es bereits in früheren Renoir-Filmen, aber nicht so spektakulär, und insbesondere wurde die dritte Dimension (der Verlag im ersten Stock, die anderen relevanten Örtlichkeiten am Erdboden) nicht so effektiv einbezogen. Vielgepriesener Höhepunkt ist die Mordszene: Batala steht nächtens in einer Ecke des Hofs und beschwatzt Valentine. Die Kamera zeigt die beiden in Großaufnahme, fährt dann schräg an der dunklen Wand hoch und zeigt durch ein Fenster in Batalas Büro Lange, der seine Lethargie abschüttelt und sich nach links in Bewegung setzt, durch den langen Verlagsraum. Die Kamera folgt dem Weg, wobei man Lange durch drei oder vier weitere Fenster sieht, dann ein Schwenk nach unten in den offenen Hauseingang, durch den hindurch man Lange die Treppe herunterkommen sieht. In der Horizontalen war das bisher ein Schwenk um ungefähr 90° nach links. Als Lange im Hauseingang steht, ein Schnitt, die Kamera ist jetzt näher an ihm dran. Er setzt seinen Weg fort, aus Sicht des Zuschauers nach rechts, direkt auf Batala zu. Konventionell wäre es gewesen, wenn ihm die Kamera folgt, also wieder ein Schwenk nach rechts. Doch Renoir macht genau das Gegenteil: Die Kamera schwenkt seelenruhig nach links, über den hier leeren Hof hinweg, um nach einer Dreivierteldrehung wieder am Ausgangspunkt der ganzen Sequenz anzukommen, nämlich bei Batala. Doch jetzt steht Lange direkt vor ihm und drückt ab. Durch den Schnitt handelt es sich technisch nicht um einen 360°-Schwenk, doch im Endeffekt läuft es darauf hinaus.

Ein falscher Priester taucht auf
Zum Unterhaltungswert von LE CRIME DE MONSIEUR LANGE trägt auch bei, dass Renoir immer wieder ironische Distanz herstellt. Das beginnt schon ganz am Anfang, als Meuniers Auto zur Grenze braust und kurz eine Musik unterlegt ist, die klingt wie in einem Western, wenn die Kavallerie zur Rettung vor den Indianern heranreitet. Überhaupt werden ständig implizite Parallelen zwischen der Filmhandlung und der Handlung von Langes Westerngeschichten, zwischen Lange selbst und Arizona Jim hergestellt. - LE CRIME DE MONSIEUR LANGE ist in Frankreich und Spanien auf DVD (ohne bzw. mit spanischen Untertiteln) sowie mit (nicht ausblendbaren) engl. Untertiteln auf einer DVD-R in den USA erschienen.

Freitag, 18. Januar 2013

TONI - Proto-Neorealismus und gedämpfte Tragödie

TONI
Frankreich 1934
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Charles Blavette (Toni), Celia Montalván (Josefa), Jenny Hélia (Marie), Max Dalban (Albert), Édouard Delmont (Fernand), Andrex (Gabi), Michel Kovachevitch (Sebastian)

Ankunft in Martigues
Wenn man nach stilistischen Vorläufern des Neorealismus sucht, dann wird man u.a. im Frankreich der 30er Jahre fündig. Schon 1929 drehte etwa Jean Epstein FINIS TERRAE, der unter den Bewohnern abgelegener bretonischer Inseln spielt und auch komplett dort mit einheimischen Laiendarstellern produziert wurde. Auch einige Filme von Marcel Pagnol wie JOFROI (1933) und ANGÈLE (1934) entstanden außerhalb des Studios in Dörfern der Provence, mit meist wenig bekannten Schauspielern, die durch Laiendarsteller verstärkt wurden. Und auch Renoirs TONI wird in diesem Zusammenhang öfters genannt - nicht nur wegen einer Personalie: Luchino Visconti war bei den Dreharbeiten Praktikant (bei PARTIE DE CAMPAGNE und LES BAS-FONDS war er dann einer der Regieassistenten, ebenso wie bei TOSCA, den Renoir 1940 in Angriff nahm, dann aber abgab, um in die USA zu emigrieren).

Herbergssuche
Über ein Eisenbahn-Viadukt fährt ein Zug in den Bahnhof von Martigues ein, eine Kleinstadt zwischen Marseilles und der Rhône-Mündung. Sie liegt am Étang de Berre, einer großen Salzwasser-Lagune, die über einen schmalen natürlichen Kanal mit dem Mittelmeer verbunden ist. Dem Zug entsteigt eine Schar von Südländern - Italiener, Spanier, Portugiesen -, die sich in Südfrankreich Arbeit und damit ein besseres Leben als in der Heimat erhoffen. Zwei Polizisten greifen einen heraus, kontrollieren seine Papiere, lassen ihn wieder gehen. Damit wurde wie zufällig der Held der Geschichte ausgewählt: Es ist der Italiener Antonio Canova, genannt Toni. Die Kamera folgt den Arbeitssuchenden auf ihrem Weg vom Bahnhof in die Stadt, hält dann inne, bis sie aus dem Bild sind, und schwenkt auf den Viadukt. Dann sehen wir wieder Toni, wie er in der Pension der Französin Marie ein Zimmer nimmt. Ein Zwischentitel - der einzige im Film - verkündet das Ende des Prologs, und die Handlung springt einige Monate in die Zukunft.

Fernand und Marie
Wie die anderen Bewohner von Maries Pension, darunter sein Freund Fernand, arbeitet Toni im Steinbruch von Martigues. Toni und Marie sind jetzt ein Paar, aber es kriselt bereits. Tonis Zuneigung zu Marie ist erkaltet, während sie ihn eifersüchtig liebt und ihn verdächtigt, anderen Frauen nachzustellen - nicht ganz ohne Grund. Denn er hat ein Auge auf die Spanierin Josefa geworfen, die bei ihrem Onkel Sebastian, einem Weinbauern, nicht weit von Maries Pension wohnt. Als er ihr eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit begegnet und mit ihr flirtet, gerät eine Wespe unter ihr Kleid und sticht sie in den Nacken. Toni zieht nicht nur den Stachel heraus, sondern saugt auch gleich das Gift heraus, was nahtlos in eine Umarmung übergeht. Solchermaßen ermutigt, macht sich Toni ernsthaft Hoffnungen, und er sondiert schon mal bei Sebastian, ob er Josefa heiraten kann. Doch es kommt anders, weil ihm Albert, der Vorarbeiter des Steinbruchs, dazwischenfunkt. Der arrogante, aber letztlich schwache und unsichere Nordfranzose Albert ist unter den Südfranzosen und den Immigranten ein Fremdkörper und Außenseiter. Als er Josefa am selben Tag ihrer Begegnung mit Toni nachstellt, schläft sie mit ihm, obwohl er ihr nur begrenzt sympathisch ist, und Toni, der sie überrascht, kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, Albert an Ort und Stelle umzubringen. Aber Albert schafft nun vollendete Tatsachen, indem er mit Sebastian seine Hochzeit mit Josefa arrangiert. Marie überredet den resignierten Toni, sie zu heiraten, und um Geld zu sparen, wird eine Doppelhochzeit ausgerichtet, die von einem Teil der Beteiligten bereits ziemlich freudlos absolviert wird.

Nachwirkungen eines Wespenstichs
Zwei Jahre später. Josefa und Albert haben ein Kind bekommen, aber sie streiten dauernd, und Albert geht fremd. Die Ehe von Toni und Marie ist ebenfalls nicht glücklich. Er kann Josefa nicht vergessen, und Marie spürt das. Sebastian ist inzwischen todkrank, und weil er Albert nicht mag und ihm nicht traut, macht er Toni zum Paten seines Enkels und nimmt ihm das Versprechen ab, auf Josefa aufzupassen, was Albert und Marie gleichermaßen aufbringt. Als Sebastian stirbt, will Marie Toni nicht zur Beerdigung gehen lassen, aus Angst, dass er wieder mit Josefa anbandelt. Weil er dennoch geht und es deshalb zu einem heftigen Streit kommt, droht Marie, sich umzubringen, was Toni ignoriert. Daraufhin rudert Marie auf den Étang de Berre hinaus, um sich zu ertränken. Als Toni gemeinsam mit Fernand dann doch nach ihr sucht, wird sie gerade von Fischern, die sie lebend aus dem Wasser zogen, ans Ufer gebracht, doch sie trennt sich jetzt an Ort und Stelle von Toni. Fernand, der schon lange in Marie verliebt ist, ohne etwas zu unternehmen, solange sie mit Toni zusammen war, kümmert sich jetzt um sie. Toni dagegen zieht in eine Hütte zu korsischen Köhlern auf einen Hügel, von dem aus er Sebastians Anwesen beobachten kann. Er hofft, Josefa von Albert loseisen und mit ihr irgendwohin verschwinden zu können.

Im Steinbruch
Albert hat unterdessen nach Sebastians Tod dessen kleines Weingut heruntergewirtschaftet, er ist so gut wie pleite und hat überall Schulden. Mit Josefas Cousin Gabi streitet er sich um dessen Anteil an Sebastians Erbe. Josefa hält es mit Albert nicht mehr aus, und sie plant mit Gabi, das restliche vorhandene Bargeld Albert im Schlaf abzunehmen und dann zusammen mit dem Kind zu verschwinden. Doch sie wird von Albert beim versuchten Diebstahl ertappt, und er verprügelt sie mit seinem Gürtel. Da erschießt sie Albert mit seinem Revolver, den er achtlos herumliegen ließ. Gabi hat inzwischen Toni in den Plan eingeweiht und ihm nebenbei eröffnet, dass er und Josefa nicht nur Cousin und Cousine, sondern seit zwei Jahren ein Liebespaar sind. Doch als Toni und Gabi bei Josefa und Alberts Leiche eintreffen, ist es mit Gabis Liebe schnell vorbei. Er nimmt nur das Geld an sich, von dem er glaubt, dass es ihm zusteht, und macht sich aus dem Staub. Er überlässt es Toni, Josefa mit der neuen Situation vertraut zu machen. Diese ist verzweifelt, weil sie Angst hat, ins Gefängnis zu kommen und von ihrem Kind getrennt zu werden, aber Toni macht den Vorschlag, die Leiche mitsamt dem Revolver im Wald zu deponieren, so dass es aussieht, als hätte sich Albert wegen seiner Schulden erschossen. Doch just, als Toni Alberts Körper ablädt, wird er von einem Gendarmen ertappt. Um Josefa zu schützen, nimmt Toni den Mord auf sich, dann überrumpelt er den Gendarmen und ergreift die Flucht. Als er den Viadukt überqueren will, wird er von einem dort aufgestellten Wachposten erschossen. Es ist ein sinnloser Tod - Josefa hat sich inzwischen gestellt und ein Geständnis abgelegt, damit Toni nicht wegen ihr ins Gefängnis muss. In dem Moment, als Toni stirbt, fährt direkt daneben wieder ein Zug nach Martigues ein, drei Jahre nach Tonis Ankunft. Wieder steigen Arbeitssuchende aus dem Süden aus, wieder folgt ihnen die Kamera, hält dann inne und schwenkt auf den Viadukt.

Albert macht sich an Josefa heran
Natürlich macht Renoir damit den zyklischen Charakter der Geschichte deutlich - Toni ist nur einer unter vielen, die Bedeutung seiner Geschichte relativiert sich durch den Lauf der Zeit (in THE RIVER wird Renoir 1951 diesen Gedanken aufgreifen und noch expliziter ausformulieren). Das ist nicht der einzige, sondern nur der letzte Kunstgriff, um der Geschichte eine gewisse Beiläufigkeit zu verleihen, um jede Melodramatik und Sentimentalität herauszunehmen. Es beginnt schon mit dem Innehalten der Kamera in der Anfangssequenz, als sich Renoir plötzlich mehr für die Landschaft als für die Protagonisten zu interessieren scheint. Immer wieder gibt es solche Schwenks weg von den Personen, oder sie werden so von der Kamera umkreist, dass sie zeitweise von Bäumen oder Büschen verdeckt werden, oder sie werden gleich in der Halbtotalen gezeigt, eingebettet in die provenzalische Landschaft. Deren Schönheiten - Felder im gleißenden Sonnenlicht, knorrige Wälder auf den Hügeln um Martigues - kommen dabei auch gelegentlich ins Bild, aber nicht, weil sie so schön, sondern weil sie eben da sind. Für die Protagonisten sind sie nicht wichtiger als etwa der Steinbruch, in dem sie einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Und es scheint auch nicht immer die Sonne, sondern es darf auch mal regnen. Aber nicht nur in die Landschaft sind die Charaktere eingebunden, sondern auch in ihren sozialen Kontext. Dazu dienen viele kleine Dialoge, die nichts zur Handlung beitragen, die auch kein Smalltalk sind, sondern das, was man eben zueinander sagt, wenn man tagtäglich miteinander zu tun hat.

Katzenjammer bei Toni und ein Beinahe-Mord
Neben flüssigen, aber unaufdringlichen Kamerabewegungen ist es auch hier wieder das Drehen mit großer Tiefenschärfe, mit dem Renoir seine Absichten umsetzt. Aber anders als etwa in BOUDU oder LA RÈGLE DU JEU werden in TONI keine komplexen Innenräume ins Bild gesetzt. Innenaufnahmen gibt es nur in den kleinen und architektonisch schlichten Häusern von Marie und Sebastian. Vielmehr entfaltet die deep focus cinematography hier ihre Wirkung im Freien. Besonders spektakulär etwa, wenn Toni und Fernand am oberen Rand eines Abhangs im Steinbruch sitzen und tief unter ihnen andere Arbeiter herumwuseln. Ein weiteres typisches Stilmittel, das Renoir auch hier verwandte, sind lange Einstellungen. In seiner Autobiographie "Mein Leben und meine Filme" (1974, dt. 1975) schrieb er dazu: "Außerdem war ich immer bemüht und bin es heute noch, die Zerstückelung der Aufnahmen zu verhindern und durch lange Einstellungen dem Schauspieler die Möglichkeit zu geben, seine Interpretation des Dialogs langsam selbst aufzubauen."

Eine Beziehung in der Krise
Renoir drehte TONI in einer Phase der Neuorientierung, die er später in einem Rückblick einmal eine "Krise von zugespitztem Realismus" nannte (und der er auch "anti-realistische Krisen" gegenüberstellte). Sein vorheriger Film MADAME BOVARY war eine artifizielle und werkgetreue Verfilmung von Flauberts Roman, produziert von einem der etablierten Pariser Studios. Er dauerte eigentlich dreieinhalb Stunden, aber in dieser Form mochte ihn das Publikum nicht sehen, und auf Druck der Verleiher kürzte ihn das Studio auf zwei Stunden. Wie nicht anders zu erwarten, floppte die verhunzte Fassung erst recht, und Renoir war in jeder Hinsicht frustriert. Bei seinem nächsten Film wollte er sich nicht nur von den traditionellen Studios befreien, sondern auch stilistisch neu orientieren. Den passenden Stoff dazu hatte er schon seit Jahren in der Schublade.

Beinahe-Selbstmord
TONI beruht lose auf einem echten Mordfall, der sich in den frühen 20er Jahren in Martigues im Milieu südeuropäischer Immigranten zutrug. Jacques Mortier, ein alter Schulfreund von Renoir, war damals Polizeichef von Martigues. Er schrieb ein Dossier über den Fall und überließ es Ende der 20er Jahre Renoir (unter dem Pseudonym Jacques Levert machte Mortier auch einen Roman aus dem Stoff). Renoir war kein Mann für Schnellschüsse. "Ich muss eine Idee erst einmal verdauen, bevor ich etwas damit anfangen kann", schrieb er einmal. So ließ er das Dossier erst einmal ruhen, aber nach dem Debakel mit MADAME BOVARY war die Zeit dafür reif. Das Drehbuch schrieben Renoir und der mit ihm befreundete Carl Einstein, ein deutsch-jüdischer Kunsthistoriker. Einstein hatte bis dahin (und auch danach) nichts mit Filmen zu tun, aber das war für Renoir kein Nachteil. In einem Interview, das Truffaut und Rivette mit ihm führten, sagte er, solche fachfremden Experten auf anderen Gebieten könnten manchmal einen Film bereichern, und er nannte Carl Koch und Carl Einstein als Beispiele aus seinem eigenen Schaffen. Produzent war Pierre Gaut, ebenfalls ein Kunstexperte, der mit Film ansonsten nichts zu tun hatte, und mit Renoir und Einstein befreundet. Weil er das Geld nicht allein aufbringen konnte, wurde Marcel Pagnol, der sein eigenes Studio in Marseilles gegründet hatte, als Co-Produzent an Bord geholt.

Arbeitspause
"TONI ist deshalb eine Geschichte, die in einem gewissen Ausmaß das repräsentiert, was wir heute Neorealismus nennen. Ich fuhr nach Martigues, ich lebte mit den neuen Einwohnern von Martigues, und ich habe eine Kamera mitgebracht. Die Kamera habe ich übrigens meinem Neffen Claude anvertraut. Es war einer seiner ersten größeren Filme. Und das war es. Wir haben es so gedreht, mit Einheimischen, während wir dieselbe Luft atmeten, dasselbe Essen aßen, dasselbe Leben lebten wie diese Arbeiter." So Renoir 1961 in einer Fernsehsendung. Tatsächlich wurde der ganze Film komplett in Martigues gedreht. Die Hauptdarsteller stammten vorwiegend aus kleineren Theatern in Marseilles und Umgebung, einige davon hatten auch schon in den frühen Filmen von Pagnol mitgespielt, so auch Charles Blavette, aber keiner von ihnen war ein Star. Der einzige, der aus Renoirs eingespielter Truppe stammte, war Max Dalban, der beispielsweise in LA NUIT DU CARREFOUR und in BOUDU SAUVÉ DES EAUX kleinere Rollen gespielt hatte. Nebenrollen in TONI wurden mit lokalen Laiendarstellern besetzt. Besonderes Augenmerk richtete Renoir auf die Authentizität der Sprache. Abgesehen von Albert bekommt man südfranzösischen Dialekt und Französisch mit italienischem oder spanischem Akzent zu hören, mit gelegentlichen kurzen Einschüben der jeweiligen Muttersprache. Renoir frönte auch wieder seiner Leidenschaft für Direktton, es wurde nichts nachsynchronisiert. Das gilt auch für die Musik, die vollständig diegetisch, also in die Handlung integriert ist. Es handelt sich um mal hoffnungsvolle, mal wehmütige Volkslieder der Immigranten, mit italienischem oder korsischem Einschlag.

Josefa mit Revolver
Ist TONI nun ein neorealistischer Film? Renoirs Aussagen dazu waren widersprüchlich, neben Zustimmung wie im obigen Zitat betonte er gelegentlich auch die durchaus vorhandenen Gegensätze. Unbestritten ist aber die realistische Grundhaltung des Films. In seiner Autobiographie schrieb Renoir: "In TONI habe ich mir alle Mühe gegeben, nicht dramatisch zu sein. [...] Die Verwendung natürlicher Elemente gestattete mir, einen möglichst wenig transponierten Realismus zu erreichen. [...] Mein Ehrgeiz ging dahin, den Eindruck zu erwecken, ich hätte eine Kamera und ein Mikrophon in meiner Tasche versteckt und nähme auf, was mir gerade unterkäme, ohne jede Rangfolge." Freilich wusste Renoir natürlich, dass es so nicht ging, und er war auch so ehrlich, das zuzugeben. So sagte er denn an anderer Stelle: "Für das Publikum sollte es so aussehen, als hätten wir den Film wie nebenbei gedreht, ohne uns besonders darum zu bemühen, als stände die Kamera wie zufällig herum, ganz leger. Doch in Wirklichkeit muss ein solcher Film minutiös vorbereitet und komponiert werden." Tatsächlich weist TONI neben der zyklischen Klammerung auch eine gewisse innere Symmetrie auf, die noch stärker zur Geltung kommen würde, wenn nicht eine Szene fehlen würde. Beim ersten Zusammentreffen zwischen Toni und Josefa (die Szene mit der Wespe) transportierte Josefa mit einem Handkarren Wäsche zum Waschplatz, und das Gegenstück dazu war eine Szene, in der Toni und Josefa Alberts Leiche auf demselben Karren, von Wäsche verdeckt, in den Wald bringen. Dabei werden sie ein Stück von den korsischen Köhlern begleitet, die, nichts ahnend, ein fröhliches Lied anstimmen. Aber die Szene erschien den Produzenten für das damalige Publikum zu morbid oder zynisch, und Renoir musste sie herausschneiden, woraufhin sie verlorenging, was er später sehr bedauerte. So wurde Renoir also auch in der südfranzösischen Provinz wieder von Schnittauflagen heimgesucht. Trotzdem blieb TONI zeitlebens einer seiner Favoriten in seinem Œuvre.

Flucht und Tod auf dem Gleis
TONI ist mit sehr gutem Bonusmaterial in England bei Masters of Cinema auf DVD erschienen. Leider ist die DVD out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich. In Frankreich gibt es den Film auch auf DVD, wie üblich ohne fremdsprachige Untertitel. Mit engl. Untertiteln bekommt man TONI noch auf einer DVD aus Hongkong, die z.B. auf eBay vertrieben wird.