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Donnerstag, 29. September 2011

Ein Künstler in Auflösung: RYAN

RYAN
Kanada 2004
Regie: Chris Landreth
Sprecher: Ryan Larkin, Chris Landreth, Felicity Fanjoy, Derek Lamb


Der Kanadier Ryan Larkin (1943-2007) war vor über 40 Jahren ein Shooting Star, um nicht zu sagen ein Wunderkind, des Animationsfilms. Unter der Ägide des National Film Board of Canada (NFB) schuf er von 1966 bis 1972 vier Kurzfilme, außerdem ein paar kurze Clips, z.B. einen für die kanadische Forstverwaltung, in dem vor Waldbränden gewarnt wird. Norman McLaren, die geniale und über Jahrzehnte produktive Galionsfigur des NFB, nahm ihn unter seine persönlichen Fittiche. Nach der eineinhalbminütigen Talentprobe CITYSCAPES erregte schon sein zweiter Film SYRINX, der in impressionistischer Manier, mit Holzkohle gezeichnet, die griechische Sage von der Nymphe Syrinx interpretiert, Aufsehen. Der nächste Film, WALKING (franz. EN MARCHANT), der den menschlichen Gang zum Thema hat, wurde für einen Oscar nominiert und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, ebenso wie der darauf folgende STREET MUSIQUE, der Figuren in unablässiger surrealer Metamorphose zeigt. Mit WALKING und STREET MUSIQUE beeinflusste Larkin eine ganze Generation junger Animationsfilmer. Doch STREET MUSIQUE war für mehr als 30 Jahre sein letzter Film. Larkin, der schon seit seiner Kindheit psychische Probleme mit sich herumschleppte, wurde in den 70er Jahren alkohol- und kokainsüchtig. Er war nicht mehr zu kreativer Arbeit fähig, und schließlich ging sein Leben ganz in die Binsen - er landete als Bettler auf der Straße. In den letzten Jahren vor RYAN hatte Larkin immerhin einen ständigen Wohnplatz in einem Asyl in Montreal, aber er lebte weiterhin von der staatlichen Wohlfahrt und vom Betteln. Die Kokainsucht hatte er inzwischen überwunden, aber er trank immer noch zuviel.


Vor gut zehn Jahren lernte Chris Landreth, seinerseits ein Shooting Star des (computergenerierten) Animationsfilms, Larkin kennen und befreundete sich mit ihm. Mit Larkins Einverständnis beschloss er, eine animierte Dokumentation über dessen Karriere und Abstieg zu drehen. Akustische Grundlage des 14-minütigen RYAN bilden aufgezeichnete Gespräche zwischen Larkin und Landreth, zu denen Landreth mit seinem Team dann die Bilder schuf. Und was für Bilder! Ausgangspunkt sind realistische 3D-Animationen, die aber bei Chris - im Film werden die Figuren nur beim Vornamen genannt - von farbigen Strähnen und Fasern, die etwas an Arnulf Rainers Übermalungen erinnern, überlagert werden, und die die Brüche und Verletzungen der Person symbolisieren. Noch krasser ist die Darstellung von Ryan. Die jahrelange Sucht hatte ihre Spuren hinterlassen: Zwar sah er noch ganz gut aus, aber die Bewegungen waren fahrig, die Sprechweise oft stockend. Landreth visualisiert Ryans schlechten Zustand durch die Weglassung ganzer Körperteile und findet dabei schrecklich schöne Bilder, die etwas an David Cronenberg, an Salvador Dali und an Gunther von Hagens' "Körperwelten" erinnern. Landreth nennt den sich aus solchen Mitteln ergebenden Stil "Psycho-Realismus".


Die Figuren des Films werden komplettiert durch den langjährigen NFB-Produzenten Derek Lamb und Ryans frühere Lebensgefährtin Felicity, die ihre Sicht auf Ryans Weg beisteuern. Beim Gespräch mit Felicity kommt es zu einem gleichermaßen bewegenden wie befremdlichen Moment: Ryan sagt zu Felicity, dass er sie immer noch liebt, und dass sie hätten Kinder haben sollen. Hätte das seinen Abstieg verhindert? Das weiß natürlich niemand, aber Ryan glaubte es offenbar in diesem Moment. Im nächsten Abschnitt spricht Chris Ryans Alkoholismus an und will ihn überreden, auf den Alkohol zu verzichten, um wieder kreativ tätig werden zu können - was mit einem Wutausbruch Ryans endet. Weil sich Landreth in dieser Szene nachträglich wie ein Prediger vorkam, visualisiert er das mit grandioser Selbstironie, indem er Chris eine als Heiligenschein gestaltete Neonröhre aufsetzt und im passenden Moment anknipst. Der Heiligenschein brennt durch und fällt ab, als Chris auch in Bezug auf sich selbst persönlich wird: Indem er nämlich seine an den Folgen ihres Alkoholismus verstorbene Mutter Barbara (der der Film gewidmet ist) in die Erzählung einbezieht. Den Schluss des Films bildet eine Szene, die Ryan beim Betteln in seinem Viertel in Montreal zeigt.


RYAN gewann den Oscar für den besten animierten Kurzfilm, drei Preise in Cannes und diverse weitere Auszeichnungen. Parallel zur Entstehung des Films und darüber hinaus drehte der Dokumentarist Laurence Green die 52-minütige Doku ALTER EGOS, die das Verhältnis von Landreth und Larkin beleuchtet, weiteren Aufschluss über Larkins Vergangenheit bietet und dabei Aspekte anschneidet, die im kurzen RYAN fehlen mussten. Emotionaler Höhepunkt von ALTER EGOS ist die Szene, in der Larkin zusammen mit Landreth zum ersten Mal RYAN gesehen hat. Er ringt sich ein "I'm not very fond of my skeleton image!" ab und ist ansonsten ziemlich sprachlos - er muss erst verdauen, was er da gesehen hat. (Später soll er sich beschwert haben, dass er von Landreth zu grotesk dargestellt wurde.) Obwohl RYAN fast komplett in ALTER EGOS enthalten ist, ist Greens Film alles andere als ein übliches Making Of. Tatsächlich lässt Green kritische Distanz zu Landreth erkennen: Sowohl im Film selbst als auch in seinem Audiokommentar dazu lässt er durchblicken, dass er das, was Landreth mit Larkin gemacht hat, für eine Art von Ausbeutung hält. Landreth selbst sagt auch in ALTER EGOS, dass er das Projekt als Künstler und nicht als Sozialarbeiter anging. Doch da trifft er sich mit Larkin, für den ebenfalls die Kunst die einzige Motivation für seine Filme war.


Für Ryan Larkin schien es nach RYAN ein Happy End zu geben. Er bekämpfte seinen Alkoholismus, wurde wieder kreativ tätig und begann die Arbeit an einem neuen Film mit dem Titel SPARE CHANGE. Landreth, Green und das durch RYAN erzeugte neue Interesse mögen zu dieser Wende beigetragen haben, aber die wichtigste Motivation bestand in dem Ehepaar Laurie Gordon und Krassy Halatchev, die zusammen das Elektropop-Duo Chiwawa bilden. Tatsächlich begann Larkins Freundschaft und Zusammenarbeit mit Chiwawa schon 2002. Aus Skizzen für ein Albumcover entstand der Plan zu SPARE CHANGE, Larkin übernahm auch andere kleine Aufträge, z.B. gestaltete er Bumpers für MTV Canada, und er hatte wieder ein eigenes Einkommen und ein Bankkonto. Als er wegen schlechten Betragens aus dem Asyl flog, zog er bei Gordon und Halatchev ein. SPARE CHANGE behandelt zunächst selbstironisch Larkins bisherige Existenz als Straßenbettler und bricht von diesem Ausgangspunkt zu einem Trip in den Himmel und die Hölle auf. Der Soundtrack wird von Chiwawa beigesteuert. Larkin war also auf einem guten Weg, doch im Februar 2007 starb er an Krebs. Die einzelnen Szenen von SPARE CHANGE waren schon weitgehend animiert. Der Film wurde von Laurie Gordon als Produzentin und Co-Regisseurin gemäß Larkins Anweisungen fertiggestellt und 2008 herausgebracht.


RYAN ist in den USA auf einer Special Edition DVD erschienen, die auch ALTER EGOS, Larkins SYRINX, WALKING und STREET MUSIQUE sowie THE END und BINGO, die ersten beiden Filme von Landreth, enthält. Alle sieben Filme sind auch mit einem Audiokommentar des jeweiligen Regisseurs versehen.

RYAN:


ALTER EGOS:


Filme von Ryan Larkin:










Die Filme von Ryan Larkin und Chris Landreth und weiteres Material wie Interviews gibt es auch bei YouTube.