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Sonntag, 1. November 2020

Bericht vom 6. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)

Was bisher geschah... Hier zum ersten Teil meines Berichts zum Terza Visione 2019

 Samstag 27. Juli 2019


14.00 Uhr


IL PIACERE ("Die Lust")

Regie: Joe D'Amato

Italien 1985

85 Minuten

Deutsche Kinopremiere

Venedig in den 1930er Jahren: Gérard (Gabriele Tinti) trauert seiner verstorbenen Geliebten Leonora (Andrea Guzon) nach. Leonoras Kinder aus einer früheren Beziehung reisen zur Beerdigung an: Während Edmund (Marco Mattioli) – trotz seiner Vorliebe, sich in Stresssituationen die Brust geben zu lassen (notfalls von seiner Schwester) – eine ziemliche Spaßbremse ist, zehrt sich Ursula (auch Andrea Guzon) danach, ihre Unschuld an Gérard zu verlieren und an seiner Seite den Platz ihrer Mutter einzunehmen.


Gérard schwelgt in erotischen Erinnerungen

Ich bin mir noch etwas unschlüssig, ob übermüdet der falsche oder eben gerade der richtige Zustand ist, um IL PIACERE zu sehen. Mehr als dass ich den Film bewußt geschaut habe, scheint sich der Film eher über meine durch einen zu kurzen Schlaf schon gedämpften Sinne gelegt zu haben. Er ist vorbei gerauscht wie ein Traum, mit Bruchstücken, die sehr klar erscheinen – und vielem, was sich in die Vergessenheit verirrt hat. Gabriele Tinti, der schwer melancholisch vor dem Phonographen sitzt und selbstvergessen der Stimme seiner ehemaligen Geliebten zuhört. Flüchtiger Sex in einer Nebengasse während des venezianischen Karnevals. Opiumvernebelter Sex in einem Bordell unter den wachsamen Augen Laura Gemsers. Der Handjob im Kino. Und natürlich der Spazierausritt mit Gérard und Ursula: sie gibt ihrem Pferd ganz sanft die Sporen, dieses trabt etwas schneller – "Galopp" wäre für das Tempo, das Ursulas Pferd jetzt hat, eine völlig lächerliche Übertreibung. Gérard eilt ihr nach und ermahnt sie, dass sie nicht so schnell galoppieren solle, das könne schließlich gefährlich werden... Eine absolut treffende Zusammenfassung für die ästhetische Haltung von IL PIACERE, wahrscheinlich (?) insgesamt für Joe D'Amatos Regiearbeiten, die eher dem kontemplativen als dem Aktionskino zuzuordnen sind.

Arthur Pokorny, (einer) der größte(n) D'Amato-Spezialist(en)? im D-A-CH-Raum, der die italienische Kopie aus seinem Privatarchiv mitgebracht hatte, stimmte das Publikum mit einer der schönsten Einführungen des Terza 2019 auf den Film ein. Am Sonntagabend, nach dem letzten Festivalfilm, erzählte er in lockerer Runde noch etwas weiter von D'Amatos Arbeitsstil und dem Umgang mit seiner Crew, der offenbar genau so tiefenentspannt war wie seine Filme: trotz des hohen Drucks, der auf Filmdrehs mit niedrigen Budgets lastet, war die Atmosphäre an seinen Sets wohl stets freundlich und entspannt, er selbst wohl ein gutgelaunter Mann, der immer einen lustigen Spruch parat hatte. Vielleicht gerade deswegen und weil er – von Haus aus Kameramann – stets seine Filme selbst fotografierte, konnten sie in einem irren Tempo abgedreht werden und dabei (zumindest trifft das auf IL PIACERE zu) wesentlich teurer und edler aussehen als das, was sie gekostet haben.

Kamil Moll, der auch beim Terza war, hat hier im Weird-Magazin über IL PIACERE geschrieben.




16.00 Uhr


I FIDANZATI DELLA MORTE ("Die Verlobten des Todes")

Regie: Romolo Marcellini

Italien 1957

93 Minuten

Der waghalsige Motorradrennfahrer Carlo (Rik Battaglia) trennt sich von seinem bisherigen Hersteller und versucht sein Glück stattdessen beim kleineren Rennstall seines Schwiegervaters Lorenzo (Hans Albers) – und geht dann auch noch fremd, als er – ein verheirateter Mann – eine Affäre mit der schönen Lucia (Sylva Koscina) beginnt. Das macht die Vorbereitung auf das große Rennen schwieriger, besonders als der technische Direktor seines ehemaligen Rennstalls auch mitmischt und mit Lucia anbandeln möchte.


In der Werkstatt des Tüftlers Lorzeno

Motorradrennen und melodramatische Intrigen... was wie eine vielversprechende Mischung klingt, hat mich persönlich eher gelangweilt und wenig bei der Stange gehalten (immer noch diese Müdigkeit!). Es gibt keinen Zweifel daran, dass I FIDANZATI DELLA MORTE toll aussieht und wunderschön fotografiert ist. Mein größtes Problem war wohl der Protagonist, der als kerniger Anpacker, als Individualist mit starkem Willen erscheinen sollte, für mich aber vor allem – mit Verlaub – als selbstgefällige Macho-Arschgeige rüberkam, als Egoist, der sämtliche Frauen um sich (in erster Linie seine Ehefrau und seine Geliebte) verächtlich behandelt und zudem auch noch auf der Rennstrecke im Dienst seines Egoismus andere Leute in Gefahr bringt. Es half nicht, dass Rik Battaglia nur mäßig charismatisch wirkte, während sein Gegenspieler durchaus als italienische Version von Marlon Brando durchgehen könnte.

Die großen "kleinen" Höhepunkte von I FIDANZATI DELLA MORTE waren allerdings die Auftritte Hans Albers', der hier wirklich allem und allen die Show stiehlt und sich mit seinem ganzen Charisma in die Lorenzo-Rolle hineinwirft: ein alter Haudegen, der mit der Begeisterung von gefühlt dreitausend Teenagern an Motoroptimierungen tüftelt – nicht, um das große Geld zu machen (er lässt seine Erfindungen auch nicht patentieren) sondern einfach nur der Schönheit der Sache wegen. Ein echter Idealist... I FIDANZATI DELLA MORTE war nicht mein Film, aber wie gerne hätte ich den passenden abendfüllenden Film zu Albers' Lorenzo gesehen.




Heute war der inoffizielle Doppelgänger-Tag des Terza 2019...


20.00 Uhr


MANIA

Regie: Renato Polselli

Italien 1974

85 Minuten

Deutschlandpremiere

Lisa (Eva Spadaro) war einst mit dem "mad scientist" Brecht (Brad Euston) verheiratet, hatte jedoch auch eine Affäre mit dessen Zwillingsbruder Germano (ebenso Brad Euston). Als die Affäre aufflog, flogen bei einem Unfall auch gleich die halbe Villa und Brecht mit in die Luft. Jahre später kehrt Lisa, von grausigen Visionen und Halluzinationen geplagt, mit ihrem neuesten Liebhaber, dem ehemaligen Assistenten Brechts, in die Villa zurück. Dort erwarten sie nicht nur ein rollstuhlfahrender, im Gesicht verstümmelter und sich sehr erratisch verhaltender Germano sowie die mittlerweile stumme, weil völlig traumatisierte Haushälterin Brechts, sondern offenbar auch Brechts Geist, der beunruhigende Zwischenfälle auslöst...


Lisa und Germano in der "haunted villa"

Nach LA MORTE SCENDE LEGGERA war MANIA beim Terza 2019 ein weiterer toller Beitrag aus der "poverty row" der italienischen Filmindustrie: ein recht unbeschreiblicher Hybrid aus Haunted-House-Gothic-Horror und hysterisch-psychotischem Melodrama. 

Der Titel, MANIA, ist Programm: permanent am Rande des völligen Nervenzusammenbruchs. Es ist ein Film über Personen am Rande des Wahnsinns, die wahnsinnige Dinge machen und ist konsequent in einem wahnsinnigen Stil inszeniert. MANIA ist ein wilder, anarchischer Film, der die Logik der "normalen" Vernunft hinter sich lässt und nur der Logik des Wahnsinns folgt. Er hat die Form eines Gothic-Horror-Films, der seine Hochzeit eher in den 1950er und 1960er Jahren hatte, wirkt aber zugleich sehr viel moderner, fast schon postmodern. Lisa landet an einer Stelle des Films plötzlich aus dem Nichts in ein Netz und wird von Aalen, die scheinbar auch aus dem Nichts kommen, angegriffen. Das schien mir den berüchtigten Spinnenangriff aus L'ALDILÀ vorwegzunehmen: es gibt keine Erklärung für das Grauen, sondern nur das Grauen (also zumindest in dem Moment selbst: wie auch in LA MORTE SCENDE LEGGERA entpuppt sich in MANIA alles als geschickte Inszenierung, während in L'ALDILÀ alles Zeichen einer wahrhaftigen höllischen Apokalypse war).

MANIA ist einerseits merkwürdig somnambul, wirkt tatsächlich oft wie ein sehr, sehr langsamer Alptraum, manchmal scheint es, als würde sich das ganze Treiben in dem besessenen Haus unter Wasser sich abspielen, leicht verlangsamt und wie durch einen Schleier beobachtet... Andererseits hat der Film aber auch ein geradezu irrsinniges Tempo, weil fast jede neue Szene eine völlige Überraschung ist: man weiß nie, was als nächstes passieren wird. MANIA löst auf sehr grundlegende Art eines der großen Versprechen des Kinos ein: alles ist möglich, alles ist machbar!

MANIA ist billig, schäbig, holprig – und trotzdem von A bis Z völlig konzise. Er verlangt vom Zuschauer wahrhaftig sehr viel "suspension of disbelief", weil er sich kaum für konzise Spezialeffekte interessiert. Mehr als wie ein "fertiger" Film wirkt MANIA über weite Strecken eher wie eine grobe, unfertige Skizze. Ein bisschen ist es wie in der bildenden Kunst: eine grobe Skizze enthält nicht die feinen Qualitäten eines fertigen, filigranen Gemäldes – ist dafür aber oft viel unmittelbarer, direkter, zugespitzter, mit einer roheren Energie aufgeladen. Jede Geste, jeder Ausdruck extrem stilisiert: ist Polselli ein "primitiver Expressionist"? Primitiv im analytischen Sinne gemeint: MANIA ist dem ursprünglichen, "rohen" Expressionismus wahrscheinlich viel näher als teurere Horror-Gothic-Produktionen der Zeit, die der Popart näher stehen. Der indirekte Vergleich zur Stummfilmära bedeutet nicht, dass der Film stumm wäre: es wird sehr viel, sehr laut und sehr exaltiert geschrieen, gekreischt und geheult.

Ein Teil des Publikums im krachend vollen Saal (die vollste Vorstellung des ganzen Terza 2019, soweit ich mich erinnere) machte sich leider lustig über das exaltiert-manische Spiel der Darsteller, über das schäbig-expressionistische Dekor, über defizitäre Spezialeffekte, über die totale Hingabe an die Logik oder besser gesagt die Anarchie des Alptraums. Schade, denn für mich gehörte MANIA zu den Höhepunkten des Terza Visione 2019 und war bei weitem der beste Film am Samstag.




22.30 Uhr


JOCKS

Regie: Riccardo Sesani

Italien 1984

104 Minuten

Deutschlandpremiere

Ein trampender amerikanischer DJ und ein italienischer Truckfahrer tun sich (nach einem ordentlichen Faustkampf) zusammen, um in einer kleinen Provinzstadt die größte Disco-Party aller Zeiten zu organisieren. Zwischendurch gibt es weitere Faustkämpfe, ein Techtelmechtel mit der jungen Verwandten einer Geldgeberin – und am Schluss kommt eine futuristische Variante von Verdis "Aida" heraus.

Liebevolle Buddies im zum Liebesnest umgebauten Truck

Nachdem beim Terza Visione 2018 DANCE MUSIC den Freitagabend in eine ausgelassene Party verwandelt hatte, erwartete ich (und vielleicht so manch ein anderer Besucher) wohl etwas ähnliches von JOCKS, dem diesjährigen programmierten Tanzfilm. Für mich entwickelte sich der Film nach einem tollen ersten Drittel leider zu einer Enttäuschung. Als Tanzfilm, also als Film mit choreografierten Nummern, hatte JOCKS (von den letzten 20 Minuten abgesehen – dazu gleich mehr) nur wenig zu bieten. Vielmehr wirkte er im ersten Drittel eher wie eine Buddy-Komödie, bei der die Interaktion zwischen den beiden Helden etwa zur Hälfte aus Prügeleien bestand – also heißt: dass sie sich gegenseitig prügelten. Eine toxische Liebesbeziehung, wenn man so will, denn die homoerotischen Funken zwischen den beiden war fast mehr als unterschwellig. Die extrem exaltierten Umgangsformen des DJ rundeten den Eindruck ab: sein Verhalten würde in vielen anderen Filmen dieser Zeit (pessimistisch könnte man sagen: bis in die Mitte der 2000er Jahre) als homosexuelle "Codierung" durchgehen und zugleich auch der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Das Großartige ist, dass zumindest letzteres in JOCKS nicht passiert: der DJ ist ohne Wenn und Aber der Sympathieträger. "Lieber Zuschauer, hier ist unser Held, er ist ein bisschen exzentrisch und schrill, aber liebe ihn bitte so, wie er ist." – scheint der Film zu sagen. Ohne "Agenda" (eigentlich ein furchtbares Wort), sondern aus einer fröhlichen "Naivität" heraus.

Ich kann mich nicht wirklich gut an das zweite Drittel erinnern... nur, dass es für mich langweiliger wurde: eine große Anzahl an sehr zähen Expositionsdialogen, wenn ich mich recht erinnere? Und der Versuch, die Eintracht der beiden Helden durch die Einführung eines weiblichen "love interest" zu durchbrechen, weil es sich ja nun irgendwie doch gehört, dass es da einen weiblichen "love interest" geben muss...

Und schließlich das letzte Drittel, als dann die große Show, auf die die beiden unermüdlich hingearbeitet haben (nämlich die größte Discoparty aller Zeiten zu schmeißen), endlich gezeigt wird: statt Disco ein bizarr-futuristisches Glitzer-Happening mit einem Raumschiff, das sich langsam vom Bühnenboden erhebt, vielen merkwürdigen Alien-Kostümen, das ganze teilweise in Ruckel-Zeitlupe gefilmt, unterlegt von einer verfremdeten Elektro-Interpretation von Verdis "Aida". Wenn ich das gerade selbst lese, klingt das absolut super, aber ich erinnere mich, wie ich mich damals im Kinosessel gequält habe und irgendwann nur noch etwas entnervt das Ende des Films herbeigesehnt habe. Andere Zuschauer waren gerade von dem "Showdown" von JOCKS schwer begeistert und verteidigten ihn leidenschaftlich. Irgendwann werde ich den Film wohl noch mal gucken müssen.




Sonntag 28. Juli 2019


13.00 Uhr


QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE ("Vier Mal heute Nacht")

Regie: Mario Bava

Italien/BRD 1971

83 Minuten

Deutschlandpremiere

Der Playboy Gianni (Brett Halsey) spricht im Park Tina (Daniela Giordano) an und verabredet sich mit ihr zu einem Date. Nach einem Diskothekenbesuch gehen die beiden zu ihm nach Hause... und ab da verschwimmen die Ereignisse: hat er sie belästigt und zu vergewaltigen versucht (so Tinas Version der Geschichte)? Ist Tina eine Nymphomanin, die ihn mit ihrem sexuellen Appetit völlig ausgelaugt hat (so in Giannis Erinnerungen)? Ist Gianni eigentlich ein Homosexueller, der mit einem Nachbarn Sex hatte, während Tina von der lesbischen Kumpeline des Nachbarn vergewaltigt wurde – und alle hatten sich vorher in einem Schwulenclub getroffen, wo junge Mädchen sich nackt fotografieren lassen (so das Zeugenaussage der schmierigen, sexbesessenen und voyeuristisch veranlagten Hausmeisters des Wohnkomplexes, der Giannis Wohnung mit einem Fernglas beobachtet hat)? Oder war das ein ganz harmloser und keuscher Abend, bei dem aus Versehen Kleider zerrissen und Kopfverletzungen zugefügt wurden, weil man aufgrund eines vergessenen Schlüssels über das Einfahrtstor klettern musste (so erläutert von einem "allwissenden" Wissenschaftler, der in seinem weißen Kittel so aussieht, als könnte er mit Zahnbürsten Tomaten malträtieren)?


Eine Schaukel mitten in Giannis Wohnung – ein wenig exzentrisch, aber die Flasche J & B sorgt für die nötige Bodenständigkeit

Mario Bava wird in der Regel mit dem Giallo, dem Horrorfilm, dem Fantasyfilm in Verbindung gebracht. Welch eine Überraschung, dass er auch eine "commedia sexy", eine erotische Komödie gedreht hat (ein Fakt, der mir bis zu diesem Terza völlig unbekannt war). Gemäß der tollen Einführung von Katrin Doerksen verstand Bava diesen Film als reine Auftragsarbeit, um Geld für wirkliche Herzensprojekte zu gewinnen – und als eine Ehrenpflicht (seiner Meinung hätte man sich schnell den Ruf eingefangen, homosexuell zu sein, wenn man erotische Filmstoffe ablehnte). QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE wurde 1968 gedreht, aber kam erst 1971 in die Kinos (in Italien sogar nach ECOLOGIA DEL DELITTO aka REAZIONE A CATENA).

Bavas Film wird gemeinhin als die italienische Erotikkomödien-Fassung von Kurosawas RASHOMON angesehen, weil der Film die gleiche Geschichte aus vier unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Doch innerhalb von Bavas Werk könnte man ihn vielleicht als seinen ersten "Versuchsanordnungsfilm" bezeichnen, als erster Teil einer Trilogie, der dann die beiden "Abzähl-Mord-Filme" 5 BAMBOLE PER LA LUNA D'AGOSTO und ECOLOGIA DEL DELITTO aka REAZIONE A CATENA folgten.

Wie viele Bava-Filme ist QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE in erster Linie ein Atmosphärenfilm voller satter, teils psychedelischer Farben. Jede der vier Geschichten hat auch eine eigene Atmosphäre. Tinas Erzählung von ihrer versuchten Vergewaltigung kommt einem fast klassischen Thriller in ihrer latenten, zunehmenden und schließlich eskalierenden Bedrohlichkeit recht nahe. Giannis Version der Geschichte ist lüstern, anzüglich, geil und sexy und kommt dem puristischen Sexfilm (auch wenn QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE insgesamt visuell doch sehr züchtig bleibt) am nächsten. Die völlig ausschweifenden und wahnwitzigen Erinnerungen bzw. Fantasien und Obsessionen des Hausmeisters schließlich lassen QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE in ein groteskes, fast surreales Delirium kippen – und mehr als die konkurrierenden Erzählungen Giannis und Tinas wirkt die Episode wie eine Art losgekoppelter, der Kontrolle entglittener Nebenplot. Die letzte Episode schließlich erdet nach dem ganzen Delirium die ganze Geschichte wieder in etwas, was wie eine vorweggenommene Parodie eines Dr.-Best-Werbespots wirkt... und dann fahren Gianni und Tina glücklich im Morgengrauen in einem schnittigem Cabriolet in Richtung Sonnenaufgang...

Zusammengehalten wird das ganze von einem fantastischen Set-Design, wie man es von Mario Bavas Filmen gewohnt ist. Die Wohnung Giannis, der Schauplatz eines großen Teils des Films, ist ein echtes Pop-Art-Diorama aus quietschbunten Möbeln und bizarren Dekoobjekten. Im Schwulenclub während der Erzählung des Hausmeisters übertrifft sich Bava dann wieder einmal mit einem völlig jenseitigen, futuristischen Dekor und psychedelischen Lichteffekten. Wer wirklich ganz genau hinschaut, wird das leicht Artifizielle eines arrangierten Studios erkennen, aber angesichts des geringen Budgets, mit dem Bava arbeiten musste, ist ihm hier wieder einmal eine Augenweide gelungen.




16.30 Uhr


LA VIOLENZA: QUINTO POTERE ("Gewalt: Die fünfte Macht im Staat")

Regie: Florestano Vancini

Italien 1972

90 Minuten (deutsche Fassung) + 12 Minuten fehlender Epilog der italienischen Originalfassung (digital nachgereicht)

Bei einem Mordprozess sitzen über ein Dutzend Mitglieder zweier verfeindeter Mafia-Clans auf den Anklagebänken. In langen Rückblenden werden die Verbrechen der Gangster und ihre informelle, aber doch starke Macht über die örtliche bäuerliche und kleinstädtische Bevölkerung geschildert. 

LA VIOLENZA: QUINTO POTERE ist weniger ein klassischer "poliziesco" als vielmehr ein Gerichtsfilm mit Politthriller-Grundierung. Er erzählt sehr packend, mit einem manchmal semidokumentarisch wirkenden Stil über die Verflechtung von Mafia, Politik und Gesellschaft in Süditalien. Beide Fallstricke, die ihm potentiell im Weg liegen (als Gerichtsfilm, der zudem die Adaption eines Theaterstücks ist, zu statisch und unfilmisch zu sein – und als engagierter Antimafia-Film zugleich zum einfachen Thesenstück zu erstarren) umschifft der Film mit seiner eleganten Inszenierung und seinem nüchternen, unaufgeregten Ton. Wenn man über das komplett unterschiedliche Setting hinwegsieht erinnert LA VIOLENZA: QUINTO POTERE stilistisch an die späteren Korruptions-Thriller Sidney Lumets.

Der Grundton ist pessimistisch und dabei doch stark geerdet, es entspinnt sich eine Art Mini-Panorama über die Verflechtung von Mafia-Strukturen, wirtschaftlicher Armut und unterentwickelten Staatsstrukturen. Strukturen und Verflechtungen... LA VIOLENZA: QUINTO POTERE handelt in erster Linie tatsächlich davon, und so rückt keine der Figuren wirklich zum Protagonisten heran (zu sehen sind neben Mario Adorf als Gangster-Boss auch Enrico Maria Salerno als Staatsanwalt, Riccardo Cucciolla als gegen die Mafia engagierter Professor, Gastone Moschin als Mafia-Anwalt, Julien Giomar als Polizist und weitere). Ein echter Ensemblefilm ohne dramaturgische Hauptfigur – aber das heißt nicht, dass die Charaktere unwichtig seien, im Gegenteil. Der Film vergisst nie, dass es um Menschen geht: die ermordet, erpresst, ausgeraubt werden, oder dazu gezwungen werden, in diesem System mitzumachen. Ein emotionaler Höhepunkt ist sicherlich der Auftritt des Komikers Ciccio Ingrassia als kinderreicher, armer Mafiahelfer zwischen allen Stühlen: für die Mafiosi eine Spielfigur, deren man sich nach Nutzung entledigen kann, für die Staatsgewalt ein Mafia-Kollaborateur, den man im Gegensatz zu den "großen Fischen" relativ leicht inhaftieren kann. Ingrassia, der im Komiker-Duo Franco & Ciccio immer der weniger exaltierte Part war, bringt eine  wahrhaftige, erhabene und tragische Würde in seine Rolle. Am Ende muss er den Film (off-screen) mit einem Suizid verlassen, dem ihm die Mafia mithilfe einer ins Gefängnis geschmuggelten Klinge "schenkt" bzw. aufdrängt...




20.00 Uhr


SPELL (DOLCE MATTATOIO) ("Spell: Süßes Schlachthaus")

Regie: Alberto Cavallone

Italien 1977

104 Minuten

Deutschlandpremiere

In einem kleinen Dorf in der Nähe Roms, während die Vorbereitungen zu einem großen Fest mit religiöser Prozession anlaufen... ein kommunistischer Künstler in einer Schaffenskrise hat zunehmend Mühe, den Aggressionen und Autoaggressionen seiner psychisch kranken Frau (Jane Avril) Einhalt zu gebieten; der Metzgermeister des Dorfs träumt von sexuellen Abenteuern mit diversen Dorfeinwohnerinnen und befriedigt sich mit aufgespießten Kuhhälften in der Kühlkammer; ein junges Mädchen ist von ihrem eigenen Vater geschwängert worden; eine Frau, die von ihrem Ehemann voller Verachtung behandelt wird, flüchtet in zunehmend delirierende Sexträume; ein junger Fremder kommt in das Dorf und entflammt die Begierden der Bewohnerinnen.


Oben: Jane Avril (bürgerlich Maria Pia Luzi – Stammschauspielerin und Ehefrau Alberto Cavallones) als verrückte Rosanna und Martial Boschero (bei späteren Filmen Cavallones Produzent) als kommunistischer Künstler
Unten: die frustrierte Bäuerin und der schöne, geheimnisvolle Fremde / die Musterfamilie mit Inzestproblemen 

Alberto Cavallone macht dort weiter, wo Giulio Questi aufgehört hat! Wie ARCANA beim Terza 2017 war SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim Terza 2019 der außergewöhnlichste, bizarrste, halluzinatorischste Film des Programms, der Film, der die thematische Rahmung des Festival – italienisches Genrekino – am meisten herausforderte.

Der Prolog setzt den Ton des Films, man könnte sagen, die beiden Pole, zwischen denen er immer wieder schwanken wird. Wir befinden uns auf einem Friedhof, ein Besucher steht vor einem Grab, ein Stückchen betten zwei Arbeiter Gebeine eines geöffneten Grabs um. Dann machen die beiden Arbeiter Mittagspause, pellen sich jeweils ein gekochtes Ei und essen es – das eher weiche Gesicht des jungen und das kantige Gesicht des älteren Arbeiters in einer quasidokumentarischen Nahaufnahme. Dann geht es wieder zum Besucher zurück, der ein Grab betrachtet – sein eigenes Grab, mit einem Medaillon-Portrait seines Gesichts, wie wir nach einem Schnitt sehen. Eine "triviale" Alltagsszene mit einem alptraumartigen Einschub versehen. Neorealismus meets Surrealismus. SPELL (DOLCE MATTATOIO) ist für seine sexuellen, antiklerikalen, skatologischen und antibürgerlichen Provokationen berüchtigt, aber er bettet diese in eine Art semidokumentarisches, quasi-anthropologisches Dorfleben-Portrait mit (neo-)neorealistischen Zügen ein. Neorealismus durch einen surrealen, grotesken, derb-erotischen Fleischwolf gedreht. Christoph, einer der beiden Festivalleiter, schlug in seiner Einführung den Begriff "Anti-Heimatfilm" vor. Neben einer Kalbsgeburt auf einem Bauernhof gibt es auch immer wieder längere Impressionen von Straßenumzügen, Open-Air-Konzerten, Tänzen auf dem Marktplatz, Rummelvergnügungen wie das Klettern an einem eingeseiften Baumstamm und Menschenversammlungen, die erfreut Feuerwerke beobachten. Am Rande dieser Bilder entfesselt Cavallone dann den Wahnsinn, die Exzesse, die Provokationen.

Bei der ersten Sichtung, zumal im Kino, auf einer großen Leinwand, sind es letztere, die vor allem hervorstechen: der sexuell frustrierte Metzgermeister, der mit seiner eigenen Ware Sex hat (und später wurminfizierte Schnitzel zurechtschneidet); die frustrierte Bäuerin, die davon träumt, unter der erhängten Leiche ihres Ehemanns mit dem Dorfpriester Sex zu haben; die nahtlose Montage einer weiblichen Masturbation mit dem Erwürgen eines Hahns; das große Finale mit Exkrementen und Kastration. Machistische Männlichkeitsvorstellungen, die an der Oberfläche anständige Familie, die  heilige katholische Kirche und ihre Vertreter, bürgerliche Moralvorstellungen und nicht zuletzt auch die kommunistische Partei: in SPELL (DOLCE MATTATOIO) jagt Cavallone sie allesamt zum Teufel und haut dabei richtig ordentlich auf die Kacke (das sogar wortwörtlich!). 

Doch gerade bei der zweiten Sichtung (bei mir über ein Jahr nach der Sichtung im Frankfurter Filmmuseum zuhause auf DVD) wirkt sein Film auch gerade in seinen leiseren Tönen noch beeindruckender. Die Erdung in ein semidokumentarisches, quasi-neorealistisches Setting macht die Exzesse an sich noch wilder, aber verhindert eben auch, dass der Film zur maßlosem Freakshow wird. Das kommt auch davon, dass seine Figuren stets Menschen bleiben: der sexuell frustrierte Metzger genauso wie der mürrische, abends stets besoffene Bauer (um jetzt zwei Figuren zu nennen, die oberflächlich alles andere als gut wegkommen). Vielleicht wirkte nur der Priester durchgehend shady, der die Kinder des Dorfes Lotterielose verkaufen lässt und die Topverkäufer mit Heiligenbildchen belohnt (das Bild eines Priesters, der ständig um Kinder herumhängt, war 1977 vielleicht "unschuldiger" als heute?).

Impressionen von den Dorffestlichkeiten

Neorealismus und Surrealismus sind in SPELL (DOLCE MATTATOIO) keine klar getrennten Sphären, und auch Zeit und Raum lässt der Film unterschwellig verwischen: nachdem ich den Film bei der Erstsichtung im Kino als chronologisch erzählt wahrgenommen hatte, schien mir das bei der Zweitsichtung viel ungewisser. Ist das alles ein einziger Tag, der achronologisch in kleinen Impressionen erzählt wird? Oder spielt der Film gar über mehrere Tage, gar Wochen? Wo hört die Realität auf und beginnt die Fantasie?

Die auffälligste Schnittstelle zwischen beiden dürfte der namenlose, fremde junge Mann sein (die Figur erinnert entfernt an den Fremden in Pasolinis TEOREMA), der eines Tages wie aus dem Nichts im Dorf erscheint bzw. konkreter auf dem Friedhof zum ersten Mal zu sehen ist und dann ins Dorfzentrum geht. Während draußen ein Feuerwerk zu sehen ist und ihr Ehemann gerade an einer Collage arbeitet, spielt Rosanna, die verrückte Frau (die auf der Toilette Mittag isst – Buñuel lässt grüßen –, aus der Kloschüssel trinkt, die Haushälterin auch mal K.O. schlägt in der Absicht, deren Brustwarzen mit einer Küchenschere abzuschneiden, sich selbst blutende Stichwunden am Vorderarm zufügt) mit einem kleinen Puppentheater: sie lüftet den Vorhang (rot, mit Hammer und Sichel bedruckt! offenbar ein Fabrikat ihres Ehemanns) und hebt eine kleine Plastikfigur von der Bühne. In diesem Moment werden Bilder des jungen Mannes gezeigt, der durch den Dorfrummel läuft, vor Schießbuden mit ausgehängten Gewinnerpreis-Puppen – so wirkt es, als habe er seinen Auftritt in Rosannas Puppentheater, als hätte sie ihm durch das Lüften des Vorhangs Leben eingehaucht (am Ende nimmt sie es ihm auf besonders drastische Weise wieder weg). Vielleicht einer der großartigsten Momente im Film, geradezu frenetisch montiert mit crashzoom-pulsierenden Bildern, unterlegt von Claudio Tallinos spannungsaufbauendem (und nicht auflösendem) Jazz-Rock-Score.

Die Musik von Claudio Tallino (ein mir bis dahin unbekannter Name, Stammkomponist des mir bislang ebenfalls unbekannten Regisseurs Piero Livi) ist toll und lässt sich mit Jazz-Rock vielleicht notdürftig beschreiben (ein Synthesizer und ein E-Piano, begleitet von Bass und Schlagzeug, wechseln sich als Melodieiinstrument ab). Nachdem Griegs "In der Halle des Bergkönigs" zwei mal in einer originalen Orchesterfassung zum Einsatz kommt, wird der "Showdown" des Films von einer hart schlagzeuglastigen Jazz-Rock-Improvisation des Klassikers unterlegt.

Ein Film voller grotesker, surrealer und derb-erotischer Bilder
Unten: Rosanna öffnet den Vorhang für den geheimnisvollen Fremden

SPELL (DOLCE MATTATOIO) war neben L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH der kontroverseste Film des Festivals, der die Zuschauerschaft am meisten spaltete. Viele "der schlechteste Film dieses Jahr" standen einigen "der beste Film des Festivals" (zu letzteren ich auch gehörte) gegenüber. Letztere schienen eine große Schnittmenge mit den Anhängern von Questis ARCANA vom Terza 2017 zu haben. Es gibt atmosphärische Schnittmengen zwischen beiden Filmen, auch bei vielen Unterschieden, wobei SPELL (DOLCE MATTATOIO) deutlich grotesker und provokanter angelegt ist und zugleich auch (durch die semidokumentarischen Dorfimpressionen) geerdeter wirkt.

Wie Giulio Questi war auch Cavallone eine Art cinéaste maudit des italienischen Kinos, ein Grenzgänger, der vielleicht sogar noch weiter außerhalb des Mainstreams arbeitete. Cavallone begann als Dokumentarfilmer mit dem heute verschollenen Film LA SPORCA GUERRA ("Der dreckige Krieg") über den algerischen Unabhängigkeitskrieg, gedreht vor Ort. LE SALAMANDRE, ein Erotikfilm über eine Dreierbeziehung zwischen einer schwedischen Fotografin, einem schwarzen Model und einem Psychologen, blieb 1969 Cavallones größter kommerzieller Erfolg, trotzdem er hier bereits sein Publikum mit extremen Bildern konfrontierte (u. a. einmontierte Aufnahmen realer Erschießungen)  und einen stark politisierten, antikolonialistischen Subtext hatte. DAL NOSTRO INVIATO A COPENHAGEN handelte 1970 von zwei Vietnamkriegveteranen, von denen einer in das Porno-Business, der andere in die Fänge eines skrupellosen Arztes gelangt. In AFRIKA erzählte Cavallone 1973 von einer schwierigen homosexuellen Liebesgeschichte zweier exilierter Europäer in Äthiopien. MALDOROR, eine Adaption von Lautréamonts Prosadichtung "Les Chants de Maldoror" (ein maßgeblicher Einfluss auf die Surrealisten), stellte Cavallone 1975 fertig: für die wenigen, die ihn sahen, war dies Cavallones großes Meisterwerk. Der fertige Film fand allerdings keinen Verleih (die heftige Gewalt und die extrem antiklerikale Stoßrichtung des Films werden als Hauptgründe dafür genannt – in einer Szene soll wohl ein Priester bei einer Kommunion kleinen Jungen die Zunge herausgeschnitten und ihnen Coca-Cola statt Wein gegeben haben) und und gilt heute als verschollen (abgesehen von Standbildern und Drehbuchauszügen). Nach SPELL (DOLCE MATTATOIO) drehte Cavallone noch BLUE MOVIE um einen sadistischen Fotografen, der Fotomodels kidnappt, foltert und erniedrigt: Roberto Curti nannte diesen Film Cavallones kommerziellen Selbstmord, der Film, der ihn definitiv vom Außenseiter zum Paria machte. Danach inszenierte Cavallone noch einige Hardcore-Filme, deren groteske Elemente sie außerhalb des Porno-Mainstreams stellten, drehte Werbefilme und arbeitete als Assistent für Drehbuch-Revisionen. Kurz vor seinem frühen Tod 1997 wurde er von der italienischen Filmzeitschrift Nocturno, die sich die Erforschung des italienische Genrekinos auf die Fahne geschrieben hat, wieder entdeckt.

Zu den Autoren von Nocturno gehörte auch der Filmhistoriker Roberto Curti, der beim Terza 2018 Riccardo Fredas eigensinnigen ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA und Domenico Modugnos noch eigensinnigeren TUTTO È MUSICA einführte. Curti hat auch viel über Cavallone geschrieben, unter anderem in einem Buch über acht Einzelgänger des italienischen Kinos (zu denen er auch die Terza-Bekannten Giulio Questi und Brunello Rondi rechnete) und in einem Buch über extremes Kino. Hier ist einmal ein etwas längerer und hier ein etwas kürzerer Text Curtis über Cavallone.

Kamil Moll hat im Weird-Magazin über seine Eindrücke von SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim Terza geschrieben, bei Frank Castenholz' Text in der gleichen Reihe gibt es auch eine kurze Einschätzung.




QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO, gewiss nicht Fulcis ruppigster Film, aber keineswegs ein besonders "weicher" Film, wirkte nach SPELL (DOLCE MATTATOIO) wie ein fast "sanfter" Ausklang des Festivals.


22.30 Uhr


QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO ("Das Haus an der Friedhofsmauer")

Regie: Lucio Fulci

Italien 1981

86 Minuten

Norman und Lucy Boyle (Paolo Malco & Catriona MacColl) ziehen mit ihrem Sohn Bob (Giovanni Frezza) in eine neuenglische Villa. Deren Vormieter beging Selbstmord, nachdem er über den ursprünglichen Besitzer der Villa, Dr. Freudstein, geforscht hatte. Mysteriöse Ereignisse und beunruhigende Geräusche aus dem Keller bringen die Familie Boyle zunehmend in Bedrängnis.


Eingesperrt mit dem Monster im Spukkeller – während sein Vater versucht, die Tür mit der Axt aufzubrechen, drückt das Monster Bobs Gesicht gegen ebenjene Tür (THE SHINING grüßt böse): einer der beeindruckenden "Mini-Crashzooms"

Der "konventionellste" Film in Lucio Fulcis sogenannter Höllenpforten-Trilogie hatte mich bei der ersten Sichtung Ende 2017 ganz gut gefallen, wenngleich nicht wirklich überschwänglich begeistert. Jetzt bildete er allerdings einen mehr als würdigen Abschluss des Terza 2019. Auf einer viele Meter breiten Leinwand entfesselte QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO auf 35mm und in seiner vollen Cinemascope-Pracht seine ganze Wucht und Kraft. Gleichwohl er in seinen letzten Jahren teilweise für das Fernsehen drehte: Fulci ist voll ein ganz ein Kino-Regisseur, seine Filme wurden für das Kino gemacht. Man siehe nur die kleinen "Mini-Crashzooms", die er in Terror-Momenten einsetzt, dieses ruckartige, knappe Einzoomen. Auf dem heimischen Bildschirm wirkt das etwas merkwürdig (für manche vielleicht sogar wie ein Patzer). Auf der großen Leinwand hat das die Wucht eines Schlags ins Gesicht.

Die gezeigte Kopie war leider leicht gekürzt (Dagmar Lassanders Todesqualen etwas reduzierend) und hatte einen leichten Farbstich. Statt eines unangenehmen Magentastichs tendierten die Farben eher in Richtung Rostbraun bzw. Sepia, was der Wucht und der herbstlich-kühl-nebeligen Atmosphäre des Films dann doch nicht im Weg stand (ebenso wenig wie der doch mechanische Verschleiß).

Mittwoch, 3. Oktober 2018

Tutto è film: Bericht vom 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)








Samstag, 28. Juli

14.00 Uhr

IL SOLE NELLA PELLE ("Ein Sommer voller Zärtlichkeit")
Regie: Giorgio Stegani
Italien 1971
92 Minuten (Deutsche Fassung)
Die Schülerin und Industriellentochter Lisa (Ornella Muti) liebt den etwas älteren italienisch-französischen Hippie Robert (französisch auszusprechen – gespielt von Alessio Orano). Da dieser das Leben eher locker, gitarrenspielend und singend angeht, wird er von Lisas Vater (Chris Avram) als Gammler angesehen – und Ausländer ist er ja auch noch. Deshalb brechen die beiden jungen Menschen zu einer kleinen Insel auf, um dort ihre Liebe auszuleben, doch der Vater hat ihnen längst die Polizei (unter anderem Luigi Pistilli) an den Hals gehetzt.
Der als großers Liebesfilm angekündigte Film des Terza Visione 2017 (LA SPOSINA) hatte mich damals nicht vollends überzeugt. Stattdessen gab es nun in diesem Jahr IL SOLE NELLA PELLE, und dieser Film war wirklich einer der konsequentesten, bittersüßesten und schönsten Liebesfilme, die man sich denken kann – vollkommen der Liebe seiner beiden Protagonisten ergeben, in jedem Moment, 24 Bilder pro Sekunde.
Die Liebe wird gleich zu Beginn des Films entflammt, als Lisa und Robert aneinander vorbei gehen und sich in die Augen blicken. Zunächst braucht es überhaupt keine Worte dazu. Die Annäherung findet dann in "Polynesien" statt, einem illegalen FKK-Camp außerhalb der Stadt, wo Lisa zusammen mit einigen Mitschülern mitgeht, weil es da eben Nackte zu sehen gibt. Dort findet sich Robert dann auch nackt, eine sanfte Melodie spielend, hinter einem Wasserfall sitzend, der wie ihn wie ein Vorhang verdeckt. Schließlich spaziert er ein Stück mit Lisa, seine Gitarre als natürlichen Lendenschutz vor sich tragend – und lässt sich lieber freiwillig von der Polizei verhaften, als wegzurennen. Mit Lisa ist es anders. Mit ihr würde er bis ans Ende der Welt rennen oder eben in einem Boot zu einer kleinen Insel wenige Kilometer vor der Küste segeln, um dort mit ihr auf ewig ohne Polizei und ohne kapitalistischen Druck zu leben.
Der größte Kontrahent von Lisas und Roberts Liebe ist nicht in erster Linie die Polizei, sondern Lisas Vater: ein Mann, der sich für äußerst progressiv und liberal hält, solange seine Tochter von den ihr gewährten Freiheit gefälligst keinen Gebrauch macht. Vor allem ist er ein Mann, der nicht gemerkt hat, dass seine Tochter größer geworden ist und der sie nach wie vor gerne als "unschuldige" Sechsjährige sieht, die ihre Arme nach ihrem Vater ausstreckt, sobald sie ihn sieht. Konsequenterweise sieht der Vater immer wieder Rückblenden dieser Szenen vor seinen Augen, wenn er seine Tochter mit Robert sieht, durch ihr leeres Zimmer geht oder sie schließlich nach Ende der Hetzjagd wieder zu sich nehmen will (es aber mit Druck tun muss). Er ist gewissermaßen der erste, der sie verdinglicht, indem er sie zu einer Erinnerung degradiert.
Wenn der Vater seine Tochter liebt (also in Form einer sechsjährigen, "unschuldigen" Erinnerung – nicht als real existierenden Menschen), so verabscheut er Robert: ein Freigeist ohne reguläre Tagesbeschäftigung, ein gitarrenspielender Hippie und ein Ausländer. Dass Robert zur Hälfte Italiener ist, zählt für ihn nicht. Als er ihn kennenlernt, taxiert er ihn ganz minutiös mit verwundertem und leicht angeekeltem Blick: eine geradezu obszöne Fleischbeschau; als würde er ein erlegtes, exotisches Tier betrachten.
Davor fliehen sie, Lisa und Robert, mit einem Segelboot Papas und bauen sich auf der Insel eine eigene, kurzlebige Utopie der Liebe auf (sie dauert nicht einen ganzen Sommer, wie der deutsche Titel suggeriert, sondern nur knapp 24 Stunden). Nun... ich hatte kurz nach dem Terza-Visione-Festival das große Vergnügen, den eher zweifelhaften THE BLUE LAGOON aus dem Jahr 1980 in einer 35mm-Vorstellung zu sehen (bei einer "öffentlichen Testsichtung", einer 35mm-Sneak also). Gemeinhin heißt es, das italienische Genrekino würde oft bei amerikanischen Vorbildern abkupfern, aber bei IL SOLE NELLA PELLE und THE BLUE LAGOON ist es offensichtlich anders rum. Hymnische Naturbilder, ein junges Paar, nackt an einem paradiesischen Strand, Rumturteln im Meer mit Unterwasserkamera: das gibt es in beiden Filmen und beide Filme wollen nicht weniger als die ganz großen Gefühle. THE BLUE LAGOON verbockt es kläglich (wenn auch oft auf faszinierende Weise), IL SOLE NELLA PELLE kriegt sie, die großen Gefühle. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Lisa und Robert als glaubwürdige Liebende aus Fleisch und Blut erscheinen, die ihre Liebe vor allem mit Blicken Ausdruck verleihen, und nicht als klotzige Pappkameraden, die eben noch als kleine Kinder fürchterlich nervig waren und sich nun in fürchterlich tumben Sätzen austauschen; daran, dass der italienische Film die Liebe seiner Protagonisten durchaus "unschuldig" filmt, ohne lüsternen Blick (den er ja immer wieder stark verurteilt), während der amerikanische Film niemals ganz den Verdacht zu tilgen vermag, Fantasien nach blutjungen nackten Mädchen befriedigen zu wollen; daran, dass italienische Komponisten, hier im Speziellen Gianni Marchetti, musikalische Halbgötter waren (hier ein Musikausschnitt – begleitet von einigen brutal beschnittenen pan-and-scan-Bildern aus diesem tollen Cinemascope-Film).
Die Utopie, die sie da auf ihrer kleinen Insel aufbauen, ist umhauend. Sie schwimmen ein wenig im Meer. Dann bricht sie ihre Scheu und zieht sich aus, um ihre Bluse auf dem heißen Sand zu trocknen. Und schließlich verschwimmt alles mit der großartigen Musik von Gianni Marchetti zu reinen Gefühlen: exzessiv ausgespielt in Bildern der Liebenden vor der paradiesischen Landschaft im Sonnenuntergang, Bilder, die manche Leute wohl als Kitsch bezeichnen würden, weil sie leider nicht das ganz große Gefühlskino darin sehen und bei diesem Anblick zerschmelzen.
Für kurze Zeit ist IL SOLE NELLA PELLE ein utopischer Film, aber er weiß, dass das nicht ewig dauern kann – ja noch nicht einmal 24 Stunden. Dann werden die Liebenden, die gerade spielerisch über den Strand rennen, von zwei Fischern entdeckt: beide vermuten gleich, dass der Junge das Mädchen wohl vergewaltigen will, aber sonderlich schockieren tut sie diese Annahme nicht, ja es scheint sogar fast ein Wunschgedanke zu sein (eine Dialektik aus Empören und Aufgeilen, die der Mondofilm SVEZIA INFERNO E PARADISO beim Terza Visione letztes Jahr auf viel rohere Weise nicht zeigte, sondern vielmehr gar selbst verkörperte). Wesentlich interessanter für die beiden Fischer ist, dass das verschwundene Segelboot des reichen Industriellen, auf das ein Finderlohn ausgesetzt ist, am Strand bereit zum Mitnehmen anliegt. Dass sie das Boot schließlich mitnehmen und der Küstenwache liefern, löst dann die große Hetzjagd nach den beiden Liebenden aus, die der deutschen Videoveröffentlichung des Films auch den Titel gegeben hat ("Zu Tode gehetzt"). Der Vermutung des Vaters, dass seine Tochter von Robert entführt und nun auf der Insel ununterbrochen vergewaltigt wird, schließt sich die Boulevardpresse nur zu gerne an, und organisiert gleich einen Helikopter, um Bilder davon zu machen. Als die Liebenden schließlich zurückgebracht werden, dürfen natürlich die geifernden "besorgten Bürger" als Zuschauerkolonne hinter der Polizeiabsperrung nicht fehlen. Dass es Lisa eigentlich ganz gut geht, dass sie nicht vergewaltigt worden ist, dass sie Robert so aufrichtig liebt, wie er sie liebt, will niemand sehen. Stattdessen wird sie in der schaurigsten Szene des ganzen Films, die einen wirklich fassungslos zurücklässt, zu einer ärztlichen Untersuchung geschickt: der Arzt schaut Lisa schon genüsslich altherrenschmierig an, während er langsam seinen Gummihandschuh überzieht...
Wenn alles anders gewesen wäre, hätte vielleicht der Kommissar (Luigi Pistilli), der die Suche nach den vermissten Liebenden organisieren muss, Lisas Vater sein können. Er spricht es nicht aus, aber man spürt unterschwellig, dass er für die beiden Liebenden auf der Flucht Mitgefühl hat, und wesentlich weniger Verständnis für Lisas arroganten Vater, der zudem meint, als reicher Industrieboss über die Polizei wie über eine Privatkavallerie verfügen zu können. Da er kein Chef sei, tue er nur das, was ihm sein Chef sagt, meint der Kommissar an einer Stelle etwas verbittert gegenüber dem Industrieboss. Luigi Pistilli (sowieso!) und Chris Avram sind ganz toll, und beide haben markant-charismatische Gesichter, die sich entfernt ähneln: in einem Dialog werden beide Gesichter in Nahaufnahme im Gegenschnitt gezeigt, ja gar parallelisiert, als würden sich die zwei Männer über ihren Status als Vater Lisas streiten. Wer der bessere Vater ist, kann jeder Zuschauer für sich entscheiden.
IL SOLE NELLA PELLE ist knallhart, weil er ganz genau weiß, dass die Liebe der beiden zum Scheitern durch äußere Umstände verurteilt ist. Aber er glaubt auch an die Schönheit ihrer Liebe. Die letzten Bilder überlässt er nicht den lüsternen Journalisten, die während einer verkommenen Fleischbeschau mit Nacktbildern (muss man sich so die Redaktionssitzungen der BILD bei der Auswahl der BILD-Girls vorstellen?) am Rande mitbekommen, dass Robert beim Versuch, zu Lisa zu fliehen, tödlich verunfallt ist. Die letzten Bilder des Films gehören in einer Rückblende den beiden glücklich Liebenden in einem Moment ihrer selbst geschaffenen Utopie.

Der Blog Bahnhofskino hat in einem Podcast zum Festival drei Filmeinführungen aufgezeichnet, hier zu finden (zweiter Podcast). Ab Minute 4:30 ist Carolin Weidners wunderbare und poetische Einführung zu IL SOLE NELLA PELLA zu hören.


16.00 Uhr

ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA ("Vampire gegen Herakles")
Regie: Mario Bava, Franco Prosperi
Italien 1961
91 Minuten
Herakles (Reg Park) bricht mit seinem besten Kumpel Theseus (George Ardisson) in die Unterwelt auf, um dort einen Stein zu finden, der seiner schwer verwirrten Geliebten den Verstand zurückgeben kann.
Für einige Zuschauer gehörte ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA zu den meist erwarteten Filmen des Festivals. Bava, der große Meister der farbenprächtigen Tableaus, die nach 200 Mal mehr Geld aussahen, als sie tatsächlich gekostet haben. Etwas später am Abend (wahrscheinlich nach TUTTO È MUSICA), während des Sonnenuntergangs über der Frankfurter Skyline, witzelten wir in einer kleinen Gruppe darüber, dass Bava diese Skyline wahrscheinlich mit 10.000 Lire und ein bisschen Spucke noch wesentlich schöner in einem Studio hätte nachbauen können.
Nun, so leid es mir tut, aber ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA ist in meiner Erinnerung etwas verblasst, ohne, dass ich ihn wirklich schlecht gefunden hätte. Ich hatte anfänglich große Mühe, reinzufinden, was vielleicht daran lag, dass die Pause nach IL SOLE NELLA PELLE mit kaum 10 Minuten leider viel zu kurz war und mir der Film noch völlig "unverdaut" auf der Seele lag. Irgendwie war ich noch nicht in der passenden Stimmung, um zwei Muskelmännern dabei zuzuschauen, wie sie in der Exposition Dutzendschaften von Pappkameraden weg prügeln. Hinzu kam eine etwas anstrengende Comic-Relief-Figur, die das Duo aus Herakles und Theseus ergänzt (ohne es zum Trio werden zu lassen). Zu sich schien der Film dann anzukommen – oder besser gesagt: ich zum Film, als Herakles und Theseus in der Unterwelt ankamen. Hier entwickelte sich dann eine ziemlich faszinierende Abfolge beeindruckender, jenseitiger Bilder aus einer fremden Welt, mit großer Künstlichkeit und Kunstfertigkeit im Studio kreiert, bevölkert von ätherisch schönen Botinnen des Todes und furchterregenden Monstern. Das Steinmonster war besonders schön, und wenn ich sie nicht im Sekundenschlaf geträumt habe, so gab es Wesen, die ein wenig an Zombies erinnerten (also: an jene Zombies, die sieben Jahre später in NIGHT OF THE LIVING DEAD zu sehen waren, oder zumindest ein Jahr später bei CARNIVAL OF SOUL).
Die Rückkehr von Herakles und Theseus aus der Unterwelt gelingt nur, weil Theseus ein Mädchen aus der Unterwelt mitnimmt, was den Zorn der Götter auf die Menschen leitet. Von da an wird ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA zu einer Art Liebesdrama in der Zwickmühle: ohne das Unterweltmädchen, das Theseus liebt, wäre die Rückkehr von der Reise in die Unterwelt nicht gelungen, die nur dazu diente, Herakles wieder seine Geliebte zu geben – wie kann nun ausgerechnet Herakles seinen Freund Theseus dazu bringen, zum Wohle der Menschheit, die mit zornigen Plagen der Götter überzogen wird, auf seine Liebe zu verzichten? Das ist schon sehr gut eingefädelt, aber da verschwimmt der Film dann auch schon etwas in meinem Gedächtnis: das letzte Drittel ist für mich ziemlich verrauscht, weil mich eine temporäre Müdigkeit in eine Abfolge von Sekundenschläfchen stürzte. Die oft etwas träumerischen Bilder, die Bava so gekonnt zu einem tranceartigen Flow inszeniert, verleiten im Zweifelsfall doch dazu, Morpheus keinen zu großen Widerstand zu leisten. Vom Showdown habe ich nur kursorisch etwas mitbekommen. Nur noch, dass am Ende alles wieder gut wird, weil Theseus seine genauen Erinnerungen an die Geliebte verloren hat, sich dafür aber einfach die Verlobte des Comic-Relief-Sidekicks schnappt, der sich daraufhin sofort im Meer ertränkt – Herakles, Theseus und dessen künftige Frau mit einem glücklichen Lachen zurücklassend.


20.15 Uhr

TUTTO È MUSICA
Regie: Domenico Modugno, Tonino Valerii
Italien 1963
97 Minuten
Alles ist Musik, so erklärt der Schlagersänger Domenico Modugno, der sich selbst spielt (später aber auch andere Figuren), am Anfang des Films. In kleinen Episoden mit melancholischen Trinkern, suizidalen Gentlemen, freiheitsliebenden Pferden, gewieften Touristenführern, adeligen Mördern im Knast und verliebten Kindern wird das dann auch demonstriert.
Was für ein unglaublicher Wahnsinnsfilm! TUTTO È MUSICA erscheint auf dem Papier wie ein Ego-Projekt des berühmten Schlagersängers Domenico Modugno, der mit "Volare" Ende der 1950er Jahre einen internationalen Hit hatte; wie ein Film, der nur dazu dient, Modugnos größte Hits zu bebildern (was er größtenteils tatsächlich auf extrem eigensinnige Weise tut). Modugno wirkte hier gleichermaßen als Regisseur, Autor, Produzent, Komponist, Sänger, Komparse (er tritt auch als er selbst auf) sowie als Darsteller. Vom stromlinienförmigen Projekt der Egobefriedigung könnte der Film allerdings kaum weiter entfernt sein. TUTTO È MUSICA war in seiner Merkwürdigkeit, seinem schieren Wahnsinn und seinem Anspruch, ausschließlich seiner eigenen Logik unterworfen zu sein, vielleicht das Pendant des diesjährigen Terza Visione zu Giulio Questis ARCANA im letzten Jahr. TUTTO È MUSICA ist ein "Musicarello", ein Schlagerfilm, ein Musical, aber in Form eines Episodenfilms vereint er auch Elemente des autobiografischen Essayfilms, des harten Melodramas, des experimentellen Großstadtessays, des frühen Mondofilms, der Fellin'esken Fantasie, des fiktiven Tierfilms, des wüst-grotesken Slapsticks, des Knastfilms, des späten Neorealismus und des Coming-of-Age-Films. Wie Christoph im Programmheft unvergleichlich schön und treffend geschrieben hat: TUTTO È MUSICA erwecke den Eindruck "eine altersgewiefte, als Abschreibungsprojekt realisierte und daher etwas verheimlichte Wahnsinnstat eines amerikanischen Studioregisseurs zu sein, der im europäischen Altersexil begeistert die bisweilen lästigen Vorschriften narrativer Kontinuität die Kellertreppe hinunterpfeffert und in seinen kinematografischen zweiten Frühling aufbricht". Modugnos großer Hit "Volare" wurde zwischen 1958 und heute über 100 Mal in Filmen und Serienepisoden verwendet, doch TUTTO È MUSICA blieb leider Modugnos einziger Film als Autor-Produzent-Regisseur... (Tonino Valerii, der offiziell als Co-Drehbuchautor und Regieassistent genannt wird, wurde von Modugno tatsächlich als Regisseur angeheuert und dürfte für einen großen Teil der Regie verantwortlich zeichnen – Modugno dürfte trotzdem der Haupt-"auteur" des Films sein).
Es beginnt mit einer Autofahrt durch das süditalienische Apulien und durch das Dorf, aus dem Modugno stammt. Bilder eines Dorfes, das staubtrocken in der Sommerhitze daliegt, wunderschön, aber eigentlich nicht im engeren Sinne touristisch attraktiv: wenn man die Autos wegnimmt, hätte man hier auch Szenen eines Italowesterns drehen können. Ein Off-Kommentator (Modugno selbst?) präsentiert uns mit einem starken Dialekt und anfang in einem merkwürdigen Sprechgesang den Ort als Geburtsort Modugnos vorstellt, der als kleiner Junge schon gerne sang und Akkordeon spielte, damit dann aber irgendwann den Dorfbewohnern auch etwas auf die Nerven ging, so dass er eben sein Glück in Rom versuchte (hier der Vorspann des Films) So geht es auch nach Rom, wo Modugno (als er selbst) uns in einem Tonstudio empfängt, kurz die Tür zum Aufnahmeraum aufmacht, wo gerade "Volare" gespielt wird und dann erklärt, dass nicht nur das hier, sondern dass im Grunde alles Musik sei: Straßengeräusche, Lärm im Büro und in der Fabrik. Danach gibt es ein wenig von dieser Musik zu sehen und hören, weil sich der Film dann auf die Straßen und in die Fabriken und Werkstätten Roms begibt. Geräuschvolle Alltagsimpressionen werden in einer rhythmisch-musikalischen Montage aneinander gereiht. Hier ist ein Ausschnitt davon zu sehen, aber tatsächlich dauert das ganze mehrere Minuten, und ist damit viel "zu lange" für etwas, was man in einem "normalen" Schlagerfilm erwarten würde: wer einen Modugno-Hit nach dem anderen haben wollte, der kriegt hier erst mal etwas, was man wohl als eine Art römische Musique-concrète-Stadtsinfonie bezeichnen könnte, die Dziga Vertovs ČELOVEK S KINOAPPARATOM wesentlich näher steht als einem Popmusik-Clip.
Da das mehrere Minuten geht und eine ziemlich große Tour ist, durch die uns der Stadtführer Domenico führt, ist er danach auch etwas müde, legt sich auf eine Bank, schläft ein – und träumt von seinem eigenen Hit "Volare". Der Text des Lieds dient dabei als wörtliches Drehbuch für den Traum: blaue Farbe fließt über die Leinwand, Herbstlaub und Ballons fliegen durch die Luft, und dann erhebt sich Domenico in die Lüfte und beginnt zu fliegen! Ganz hoch, in den Himmel, bis er schließlich im Weltall ist und die Erdkugel von weitem sieht. Dann kommt er auf die Erde zurück und beginnt, durch Rom zu fliegen, die Arme freudig ausgestreckt wie ein Hohepriester der guten Laune. Wenn der Film vorher schon interessant war, dann war dies spätestens der Moment, bei dem ich mich vollkommen verliebt habe. Wer einen Eindruck davon haben möchte (auf der großen Leinwand sieht das noch mal wuchtiger aus), kann diesen Ausschnitt hier sehen. 1963 erhob sich ein anderer Leinwand-Held in einem anderen, auch etwas experimentellen italienischen Film in die Lüfte, nämlich der Protagonist von OTTO E MEZZO, als er zu Filmbeginn einem lästigen Stau entkommen möchte. Fellinis Film hatte seine Premiere sechs Monate vor Modugnos, es wäre also durchaus im Rahmen des Möglichen, dass die Idee bei Fellini entliehen wurde, und dann auf ganz eigensinnige Weise umgesetzt wurde. Zu weiteren Fellini-Querbezügen gleich mehr.


Nach dem Fliegen kehren wir wieder auf den Boden zurück, und zwar zu einer Straßenwahrsagerin und ihrem Begleittrompeter, die nach einem Streit mit einem Kunden von der Polizei weggejagt werden. Deshalb tun die beiden, die offenbar nicht nur Geschäfts-, sondern auch Ehepartner sind, das nahe liegendste: sie fahren an den Strand und machen ein Picknick. Die Tischmanieren, die sie dabei an den Tag legen, sind ein wenig besser als die von Jed in LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST (das ist auch schwer zu unterbieten), aber fein ist etwas anderes: da wird hemmungslos reingebissen, gekleckert, Ölsardinen werden mit den Fingern aus der Dose geholt und öltriefend in den Mund gesteckt. Dazu läuft (aus dem tragbaren Radio der beiden) ein Lied von Modugno, in dem hemmungslos schmalzig die Liebe zweier wesentlich jüngerer Personen und deren wunderbare körperliche Vorzüge (schöne Augen, schöne Lippen etc.) besungen wird. Ein Kontrastprogramm der Superlative, der natürlich zum Lachen anregt, aber zumindest für mich war es ein zärtliches Lachen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die beiden etwas älteren Liebenden bloß gestellt werden sollten, sondern der Kontrast zwischen idealisierter Liebe und Alltagsliebe: die Wahrsagerin und der Trompeter haben sich lieb, sind schon lange zusammen und brauchen sich nicht mehr voreinander zu genieren. Das ist irgendwie auch rührend. Beim darauffolgenden Verdauungsschläfchen wird allerdings deutlich, dass in den Träumen des Trompeters für idealisierte Erotik immer noch Platz ist: schöne Strandnixen tauchen plötzlich vor seinen Augen auf und halten am Strand eine verführerische Tanz-Show ab. Da kommt plötzlich ein junger, athletischer Mann auf und nimmt dem Trompeter die Strandschönheiten weg – aber Moment: nein! Ein Jumpcut reicht, um den jungen Mann durch ihn selbst zu ersetzen – doch dann wacht er auf. Aus lauter Wut, dass es nur ein Traum war, isst er seine Trompete auf (sic!). Bei dieser Episode von TUTTO È MUSICA kam mir intuitiv der Begriff "fellinesk" in den Sinn, doch Fellinis erster wirklich "fellinisker" Film war OTTO E MEZZO aus dem gleichen Jahr. Modugno und seine Co-Autoren konnten also zu dem Zeitpunkt noch nicht besonders viele "fellineske" Filme gesehen haben. Das bekräftigt aber nur weiter, wie eigensinnig und unglaublich TUTTO È MUSICA ist.
Wer denkt, dass TUTTO È MUSICA jetzt allgemein zur fellinesken Komödie wird, hat sich gründlich geirrt. Jetzt geht es nämlich in eine Taverne, wo eine bereits stark betrunkene Männerrunde sexistische Witze zum Besten gibt, die man, je nach Neigung, für nur mäßig witzig oder aber völlig widerwärtig halten kann. Domenico Modugno (wie wir gleich sehen werden: als eigene Figur, nicht als er selbst) sitzt dabei und sieht betrübt aus. Gehen ihm die anderen auf die Nerven? Vielleicht. Die Runde löst sich auf, und Modugnos Trinkerfigur beginnt durch die nächtlichen Gassen Roms zu torkeln und stimmt dabei ein zünftiges Trinkerlied an. Das Lied verwandelt sich nach und nach in ein Liebeslied – bis wir schließlich merken, dass der Trinker hier eine Tote besingt, nämlich seine kürzlich verstorbene Geliebte. Kenner von Modugnos Liedgut (also wahrscheinlich tatsächlich viele zeitgenössische Zuschauer in Italien) werden das wahrscheinlich frühzeitig erkannt haben, aber für die meisten Terza-Visione-Besucher dürfte das ein echter Schock gewesen sein. Der traurige Trinker torkelt weg, und dann erscheint ein eleganter Mann im Frack (wieder Modugno), der ebenfalls durch das nächtliche Rom spazieren geht, im Off von dem Lied "Vecchio frac" begleitet, und sich schließlich (off-screen) in den Tiber stürzt. Sein Hut und sein Frack treiben in der aufgehenden Sonne auf dem Fluss... Nach dem emotionalen Zusammenbruch in der Trinkerepisode schien das wie eine logische Fortführung.
Wer erwartet, dass es jetzt wieder fröhlicher werden müsste, hatte Recht, aber nur für sehr kurze Zeit. In der nächsten Episode ist ein weißes Pferd die Hauptfigur. Es lebt bei einer Pferderennbahn, aber es ist kein Rennpferd, sondern "nur" ein Arbeitstier zum Transportieren von Gerätschaften. Das passt dem Pferd keinesfalls und deshalb bricht er eines Morgens aus, um sich mit einem echten Rennpferd einen Wettkampf zu liefern. Wer das für banal hält, hat den Film natürlich nicht gesehen: wieder in Verbindung mit einem Lied von Modugno inszeniert TUTTO È MUSICA dieses Wettrennen als ganz großes Moment der Befreiung, als Emanzipation eines "Underdogs" (eines "Underhorses" sozusagen) von seiner festgelegten Rolle. Doch das dauert nicht lange, denn als ihm Hürden aufgestellt werden, um ihn zu stoppen, verletzt sich das Tier. Der Besitzer will ihn, sehr schweren Herzens, an einen Schlachthof verkaufen, doch ein Käufer schaltet sich dazwischen, bietet einen (scheinbar) extrem guten Preis an und verspricht, das Pferd nicht schlachten zu lassen. Stattdessen führt er nach dem Kauf das Pferd weg – und verkauft es kurz darauf für das Doppelte des Preises. Der scheinbar gutmütige Pferdeliebhaber war also "nur" ein Geschäftsmann, und man könnte das Tier durchaus als kapitalistisch Ausgebeuteten, als Wesen, das schamlos verdinglicht wird. Was darauf folgt, lässt einen dann allerdings bereuen, dass das Pferd nicht "rasch" zum Schlachthof geführt wurde. Denn der neue Käufer bringt es zu einer Mine, und dort dient unser unglücklicher Held als "blindes Minenpferd": mit zugebundenen Augen muss es tagaus, tagein schwere Lasten durch die Bergschächte ziehen, während Modugno das ganze mit einer herzzerreissenden Ballade begleitet. Nach Jahren Arbeit ist das Pferd, wie wir von Modugnos Gesang erfahren, komplett erblindet, und auch ansonsten gesundheitlich komplett ruiniert. Blind und hinkend kann es draußen einen letzten Galopp auf dem Feld machen, bevor es von einem Minenarbeiter mit einem Kopfschuss getötet wird.
Herzzerreissender wurde es beim diesjährigen Terza Visione höchstens noch am nächsten Tag beim "lacrima movie" L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA. Die Pferde-Episode von TUTTO È MUSICA ist tatsächlich ein knallhartes Melodrama und nimmt keine Gefangenen. Bemerkenswert erscheint mir, dass während der ganzen Episode, soweit ich mich erinnern kann, kein einziges Mal ein menschliches Gesicht zu sehen war: wir sehen immer nur die Beine, oder Rückenansichten, oder verdunkelte Gesichter in der Mine. Dadurch wird natürlich die Identifikation mit dem Pferd gesteigert, die Hilflosigkeit seiner Situation, in der er von feindlichen Figuren umgeben ist, noch verstärkt. Wird hier die Mechanik von Kapitalismus vielleicht noch verdeutlicht: das Opfer ist ein Individuum, der Täter ist ein (gesichtsloses) System?
Die nachfolgende Episode "verdoppelt" auf gewisse Weise die Pferde-Episode. Sie fängt an als etwas, das wie später Neorealismus aussieht, etwas, das aus Viscontis LA TERRA TREMA und Rossellinis STROMBOLI bekannt ist: in einer etwas archaischen Küstengegend brechen einige Fischer zu ihrem Tageswerk auf. Das ist auch ganz in der neorealistischen Tradition semidokumentarisch gefilmt, ganz offensichtlich handelt es sich nicht um Schauspieler, sondern um echte Fischer. Und es sind echte Apulier. Die 35mm-Kopie des Films aus der Cineteca Nazionale hatte keine festen Untertitel, es mussten welche extra für das Festival angefertigt werden. Trotz der Unterstützung durch italienische Muttersprachler das meiste von dem, was die Fischer auf ihrem Boot einander zuschrieen, nicht übersetzt werden – eine Nutzung von Dialekt, neorealistischer als die Neorealisten. Im Unterschied zu den neorealistischen Fischerszenen kommen hier keine Netze, sondern Harpunen zum Einsatz: das Ziel ist der Schwertfisch. Auf dem Meer wechselt der Film seine Perspektive. Modugnos begleitendes Lied handelt von zwei verliebten Schwertfischen, deren Liebe gewaltsam auseinandergerissen wird, als einer der beiden von Fischern getötet wird, worauf der andere sich umbringt, indem es sich an den Strand spülen lässt. Während Modugno singt, jagen also die Fischer den Schwertfisch und erlegen es. Nachdem sie wieder ans Ufer zurückgekehrt sind, geht das Lied zu Ende und der andere Schwertfisch wird angespült. Während man bei der Pferde-Episode am Ende deutlich sehen konnte, dass das eben erschossene Pferd atmete, also lebte (was der emotionalen Wirkung freilich keinen Abbruch tat), wird hier tatsächlich on screen ein Tier getötet, über ein Jahrzehnt, bevor das in italienischen Kannibalenfilmen zu sehen war. Das ist höchst unerfreulich und unangenehm anzusehen. Es gilt aber gewissermaßen die Regel: je größer und individueller das Tier, umso unangenehmer ist eine Jagd anzusehen (100 kleinere Fische im Netz bei Visconti oder Rossellini waren natürlich auch getötete Tiere). Innerhalb der Filmwelt von TUTTO È MUSICA ist die Episode genau so angelegt wie die Geschichte mit dem Pferd: mit dem Lied Modugnos reflektiert der Film ganz genau, was hier eigentlich passiert und stellt sich emotional auf die Seite des gejagten Fisches (wobei hier die Fischer trotzdem nicht als Bösewichte dargestellt werden, sondern eben als einfache Arbeiter, die ihre Arbeit tun). Einige Zuschauer sahen in dieser Episode einen frühen Mondo-Film innerhalb des Films, aber da ich mich mit diesem Genre so gut wie gar nicht auskenne (abgesehen von meiner Begegnung mit SVEZIA INFERNO E PARADISO letztes Jahr), kann ich dazu nichts weiter sagen.
Um fischähnliche Wesen geht es am Rande in der nächsten Episode, die einige Zuschauer sehr gefürchtet haben, weil hier das berühmt-berüchtigte Komikerduo Franco & Ciccio auftrat. Die ersten Bilder scheinen harmlos. Wir befinden uns wieder an einer Küste. Ciccio erwacht in seinem Zelt, steht auf, und beginnt sich auf einem Camping-Gaskocher ein Ei zu braten. Ein Hund fängt an zu bellen. Schnitt auf eine naheliegende Hundehütte. Aus der Hütte kommt nicht ein Hund gekrochen, sondern Franco – angekettet mit Hundehalsband, bellt er weiter und benimmt sich wie ein Hund. Ciccio schreit ihn an und plötzlich wird deutlich, dass Franco nicht etwa ein Hund im Menschenkörper ist, sondern Ciccios Sklave. Nach avantgardistischen Städtemontagen, einem musikalischen Menschenflug durch Rom, verzweifelten Selbstmorden, surrealistischen Situationen, brutal getöteten Pferden und Fischen sollte es natürlich nicht mehr überraschen, in diesem Film, der eigentlich ein populärer Schlagerfilm von 1963 sein "soll", auch noch ein sadomasochistisches Szenario zu sehen – zumal zwischen zwei Männern (oder nicht ganz? Aber dazu gleich mehr!). Sklavenähnlich angekettete und unterworfene Menschen im italienischen Kino dürften viele mit Pasolinis SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA in Verbindung setzen (natürlich ist der Kontext dort ein komplett anderer): das war allerdings 12 Jahre später und von einem Filmemacher inszeniert, der nicht als populärer Schlagersänger, sondern als furchtloser intellektueller Provokateur bekannt war.
Jedenfalls: in vielen Auftritten agierten Franco und Ciccio als gleichberechtigte Figuren, hier ist klar, welcher der beiden der dominante ist. Ab und zu lässt Ciccio seinen Sklaven Franco auch von der Kette, zum Beispiel, wenn es darum geht, alten Schrott als seltene etruskische Antiquitäten an deutsche Touristen zu verkaufen. Das sind natürlich Wanderer: sie singen ein fetziges Lied, das in Deutschland 25 Jahre früher bestimmt gut zum Ambiente gepasst hätte, marschieren stolzen Schrittes, wie sie es 22 Jahre vorher getan hätten, und der Anführer der Gruppe ist ganz in Schwarz gekleidet und erinnert nicht von ungefähr an Mitglieder einer gewissen deutschen paramilitärischen Organisation der Vergangenheit. Trotzdem: ein ideales Opfer für die Händel von Ciccio und Franco. Franco, dessen Figur in diesem Auftritt mit besonders wenig Intelligenz ausgestattet ist, stellt sich bei einem Geschäft mit einem deutschen Touristen ziemlich blöd an und verliert dabei einen Teil des Haushaltsgelds der beiden. Währenddessen erklärt der Anführer der deutschen Gruppe seinen Wanderern die Geschichte einer Sirene, die Männer durch ihren Gesang dazu bringt, sich die Küstenklippen runterzustürzen. Ciccio stellt sich dazu, korrigiert einige Details, und versucht dann erfolglos, dem Mann eine "antike etrsukische Vase" zu verkaufen, was ihm nicht gelingt. Nächtens wird der deutsche Touristenführer von einer Sirenenstimme geweckt, er geht zum Strand und erblickt dort eine Sirene – doch im letzten Moment hält ihn Ciccio zurück mit der Warnung, dass es nur eine Illusion sei. Der Deutsche ist erschüttert, will die Sirene unbedingt wieder sehen, und zwar um jeden Preis. Das wiederum passt Ciccio ganz gut in den Kram, der 50.000 Lire, davon einen Vorschuss von 20.000 verlangt ("Warum diese 20.000?" – "Das ist eine Vorschrift!" – "Ah, gut."). Nach Konsultation einer Wahrsagerin kann es wieder los gehen. Nachts ruft die Sirene, aber als der Deutsche zu ihr rudert, erblickt er... Franco, der als Sirene gekleidet ist. Der Deutsche ist empört, nimmt aber Franco trotzdem mit, um ihn zur Polizei zu bringen – so sagt er zumindest. Schnitt. Später, am helllichten Tag (wie viel später, ist unklar), sammelt Ciccio Muscheln am Strand, als er Sirenenstimmen hinter einer Düne hört. Dort angekommen, erblickt er Franco, wieder als Sirene, der im Gegensatz zu vorher mit einer echten Frauenstimme singt, und neben ihm (oder ihr?) liegen drei kleine Sirenenkinder im Sand. Was als hartes Sadomaso-Beziehungsdrama anfing, hat sich durch ein bisschen Slapstick durchgearbeitet und endet schließlich, mit einem überraschenden kleinen Gender-Switch, im Bereich der Fantasy – oder des völlig Absurden, je nach dem, wie man es sehen möchte. Was hat das eigentlich noch mit dem Rest des Films zu tun? Na ja, Domenico hat es doch am Anfang des Films schon erklärt: tutto è musica! Der entfesselte Wahnsinn von TUTTO È MUSICA sollte hier tatsächlich seinen Gipfelpunkt finden. Hier gibt es die Episode in drei Teilen (erster, zweiter, dritter) zu sehen, ohne Untertitel, aber auch ohne sie "versteht" man bestimmt da eine oder andere.


Mehrmals wurde bei Einführungen dazu ermutigt, das italienische (Genre)kino durchaus auch als sehr engmaschige und komplizierte Geschichte personeller Verflechtungen zu sehen. TUTTO È MUSICA war tatsächlich nicht die erste Zusammenarbeit zwischen Franco & Ciccio und Domenico Modugno. Der Schlagersänger spielte auch in anderen Filmen der Zeit als Darsteller mit und traf auf Franco Franchi und Ciccio Ingrassia schon 1960 in der Komödie APPUNTAMENTO A ISCHIA von Mario Mattoli (einer der ersten Kino-Auftritte der beiden Komiker), später in L'ONORATA SOCIETÀ von Riccardo Pazzaglia und in Vittorio De Sicas All-Star-Film IL GIUDIZIO UNIVERSALE (womit retrospektiv wieder eine personelle Querverbindung zum Neorealismus da wäre), bevor er sie als Autor und Regisseur in seinem eigenen Film begrüsste. 1968 trafen Franco, Ciccio und Domenico wieder aufeinander im Episodenfilm CAPRICCIO ALL'ITALIANA, in der Episode "Che cosa sono le nuvole?", die von Pier Paolo Pasolini geschrieben und inszeniert wurde.
Aber zurück zu TUTTO È MUSICA. Die folgende Episode demonstriert nicht nur, was für ein toller Schauspieler Domenico Modugno eigentlich war, sondern hat auch eine formelle Besonderheit: alle Darsteller sprechen in einem apulischen Dialekt (das wohl zur Sprachfamilie des Neapolitanischen gehört). Ich verstehe ein wenig Italienisch, vorausgesetzt, es wird deutlich artikuliert und "hochitalienisch" ausgesprochen, aber was in der Knastepisode von TUTTO È MUSICA gesprochen wird, hätte ich kontextlos nicht als "Italienisch" erkannt, und ich habe die Vermutung, dass norditalienische Kinozuschauer, zum Beispiel in Mailand, einige Mühe gehabt haben dürften, diese Episode zu verstehen. Das ist keine Nebenfigur, die für eine Minute mal mit süditalienischem Einschlag spricht (wie der eine Portier in Bavas LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO), sondern eine komplette Episode. Möglicherweise eine spezielle "Insider-Episode" für eine spezifische Sprachgruppe der Zuschauerschaft? Diese Episode war für die Erstellung der Untertitel wohl jedenfalls wieder eine große Herausforderung, die dann relativ lückenlos gemeistert wurde.
Jedenfalls die Knastepisode: in einem apulischen Gefängnis im 19. Jahrhundert treffen sich zwei Männer, die sich bereits "draußen" kannten. Ich weiß nicht mehr im Detail, wie die einzelnen Schritte eskalieren, aber schlussendlich bringt der eine den anderen um, weil dieser der Liebhaber seiner Frau war – oder so ähnlich. Großes Kino ist hier vor allem, dass beide Männer von Domenico Modugno gespielt werden und vermutlich wäre ich nicht der einzige im Saal gewesen, dem das vielleicht entgangen wäre, wenn das in der Einführung nicht explizit erwähnt worden wäre. Sicher, Schminke, Licht und die Tatsache, dass beide Männer selten gemeinsam im Bild zu sehen sind... aber trotzdem. Davon abgesehen ist die Episode wunderschön und sehr atmosphärisch fotografiert, in einer relativ geräumigen, aber doch zappendusteren Gefängniszelle. Eine kurze, schnelle und sehr intensive Rachegeschichte, die schließlich mit vergossenem Blut endet.
In der letzten Episode wird es schließlich noch mal sehr gefühlvoll. Wir befinden uns auf einem abgelegenen Landgut, die britische Touristen (Papa, Mama und ein kleiner Sohn) als Urlaubshaus genutzt haben. Jetzt wird noch der letzte Tee im Garten getrunken, und die beiden Erwachsenen nehmen von dem Hausmeister des Guts Abschied. Den kleinen, etwa zehnjährigen Sohn, interessiert das nicht, denn er will die etwa gleichalterige junge Tochter des Hausmeisters wieder sehen – nur noch ein letztes Mal. Und so reisst er aus, sucht das junge Mädchen, das er auch im Haus findet. Es dürfte in diesem Moment bereits angefangen haben zu regnen, und beide rennen zu einer geschützten Stelle im Park, wo sie sich küssen, sich ihre Liebe gestehen und er ihr verspricht, dass er eines Tages zurückkehren wird. Schließlich muss er zu seinen Eltern zurück, steigt in das Auto, das losfährt. Das junge Mädchen rennt im strömenden Regen hinterher, während er durch das Rückfenster winkt. Es ist herrlich, es ist fast zu viel des Guten. Ein guter künstlicher Regen (und der hier ist künstlich) ist immer extrem fotogen. Verliebte Leute, die durch den Regen rennen, sind natürlich noch fotogener. Wenn noch Modugno im Hintergrund lautstark "Piove" anstimmt, und es auch noch um Kinder geht, dessen trauriges Schicksal es ist, noch nicht über ihr eigenes Leben bestimmen zu dürfen, dann fügt sich das zu ganz großen Gefühlen zusammen. Nach einer wilden, aufrüttelnden, schockierenden, urkomischen, deprimierenden, brettharten, absurden und euphorischen Kino-Achterbahn der Gefühle entlässt TUTTO È MUSICA die Zuschauer nun mit einer bittersüßen Note in die Nacht...

Knapp eine Stunde Pause bis zum nächsten Film – gerade genug, um das alles ein klein bisschen verdauen zu können.

Wer die Einführung zu dem Film von Christoph Draxtra und Roberto Curti hören möchte, kann das wieder in dem Podcast zum Festival vom Bahnhofskino machen, zu hören ab Minute 10:50 (das dauert etwa eine Viertelstunde).


23.00 Uhr

LIBERI ARMATI PERICOLOSI ("Bewaffnet und gefährlich")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1976
97 Minuten
Die junge Lea (Eleonora Giorgi) warnt den Kommissar (Tomás Milián), dass ihr Freund Luis (Max Delys), Joe (Benjamin Lev) und Mario aka "der Blonde" (Stefano Patrizi) einen Überfall auf eine Tankstelle planen. Dort hinterlassen die drei jungen Männer ein Blutbad. In einer ständig fortschreitenden Eskalationsschraube zieht die Bande in Mailand, den Vorstädten und dem umgebenden Land eine Blutspur.


Junge Menschen auf der Flucht, verfolgt von einem eigentlich verständnisvollen Polizisten, der leider nichts anderes tun kann, als seine Arbeit zu erledigen: das gab es heute auch in IL SOLE NELLA PELLE und insofern schloss LIBERI ARMATI PERICOLOSI für diesen Tag einen Kreis. Doch statt zärtlicher Liebe gab es blinde Zerstörungswut und entfesselte Mordlust.
LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist ein tieftrauriger, deprimierender, fatalistischer und bedrückender Film geworden, ein echter Herunterzieher (das Titellied, das während des Films leitmotivisch in instrumentalen Varianten wiederholt wird, trägt viel zur Melancholie bei – eine Version hier). Der Juvenile Delinquent wurde in den 1950er Jahren, etwa mit James Dean, zum glamourösen Sexsymbol, doch gab es bei aller Rebellion auch immer den Notausgang einer Rückkehr in die Gesellschaft (siehe gerade das Ende von REBEL WITHOUT A CAUSE). 20 Jahre, eine gescheiterte 68er-Bewegung und (in Europa) ein Dutzend terroristischer Anschläge später ist von dem Glamour nicht mehr viel übrig geblieben, kein Notausgang mehr, nur Zerstörungswut und Gewalt in einer unaufhaltsamen Eskalationslogik.
Das Trio aus Mario, Joe und Luis, alle Söhne gutbürgerlicher, wohlhabender Familien, hat eine sehr klare Rollenverteilung, die sich im Laufe des Films nicht wirklich ändert. Joe ist sicherlich der lauteste und aufbrausendste der drei: die Lust an Zerstörung und Mord steht ihm geradezu ins Gesicht geschrieben, er hat sichtlich große Freude daran, in der Gegend herum zu ballern und ständig hat er einen dummen Spruch auf den Lippen und vergleicht das Trio und ihre Situationen mit diversen Filmen (von PER UN PUGNO DI DOLLARI bis THE GREAT ESCAPE). Doch schnell wird deutlich, dass er die Psyche eines nicht besonders gut entwickelten Fünfjährigen hat und sich überhaupt wie ein großes Kind benimmt. Der äußerlich meist ruhige, fast etwas melancholische Professorensohn Mario mit seinem fast schon engelhaften Gesicht ist der eigentliche Urheber der Eskalation, der zentrale Gewalttäter der Bande: er erschießt zunächst kaltblütig den Tankwart und läutet damit die Eskalation der ganzen Geschichte ein. Im weiteren Verlauf des Films wird er ein über ein halbes Dutzend weiterer Menschen, manchmal in Gefechten, oft aber auch völlig ohne Not kaltblütig ermorden. Joe redet ständig erregt davon, Leute zu erschießen – Mario schweigt und schießt, sichtlich ohne Freude, ohne einen Kick davon zu bekommen. Das ist vielleicht sogar noch erschreckender als wenn er offensichtlich sadistisch wäre: es ist für ihn so banal wie freudlos, und genau so werden seine Morde inszeniert.
Luis ist der passive Dritte im Bunde. Bis zum Ende tötet er niemanden, sondern bleibt, meist hinter dem Autolenkrad, schweigender Zeuge von Marios und Joes Massakern. Doch ohne ihn würde nichts gehen. Mehr als Joes Dauerfeuer an Sprüchen ist es Luis' Passivität, die Mario ermöglicht, immer weiter zu machen. Nach dem Überfall auf die Tankstelle will Mario eine Bank überfallen (wo er dann einen weiteren Menschen tötet), und kurz vorher bietet er Luis an, aus der Sache auszusteigen und einfach wegzufahren. Als Mario und Joe nach dem mörderischen Banküberfall zurückkehren, sitzt Luis immer noch hinter dem Lenkrad und fährt sie dann auch willig weg.
Der Fluchtfahrer ist ja spätestens seit den 1970er Jahren zu einem eigenen Sub-Typus des Actionhelden geworden: Walter Hill hat ihm in THE DRIVER einen eigenen Film gegeben (später Nicolas Winding Refn in DRIVE), mit THE TRANSPORTER hat er gar ein eigenes Franchise bekommen. Eine fast mythologisch überhöhte Figur, die gleichzeitig "innen" und "draußen" ist, involviert in Verbrechen ohne daran direkt teilzunehmen, ein Outlaw mit eigenem Ehrencodex, gewißermaßen ein mit Sünden beladener Engel (zumindest scheinbar ein Wesen aus dem Jenseits). Luis in LIBERI ARMATI PERICOLOSI kann extrem gut Auto fahren und ist daher der ideale Fluchtfahrer. In einer wilden Verfolgungsjagd mit zwei Polizeiautos (dem einzigen etwas leichteren Moment im ganzen Film) geht er voll und ganz in seinem Element auf – und genau in diesem Moment erhält er von Mario einen bewundernden, anerkennenden Blick, der besagt "Bravo. Du gehörst zu uns!". Luis' Freundin, Lea, die an dieser Stelle mit im Auto sitzt, dürfte dieser Blick nicht entgangen sein.
LIBERI ARMATI PERICOLOSI beginnt damit, dass Lea das Trio an den Polizeikommissar (Tomás Milián) verrät, ihm den Plan des Überfalls auf die Tankstelle darlegt – ihm aber gleichwohl zusteckt, dass die Bande nur zwei Spielzeugpistolen aus Plastik hat (ob sie lügt oder nicht, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen). Weniger als um Mario und Joe geht es ihr natürlich darum, Luis zu "retten". In der zweiten Hälfte des Films wird Lea von der Bande auf Drängen Marios mehr oder weniger entführt. Zunächst versucht sie noch Luis "auf den richtigen Weg" zurück zu bringen, scheitert aber daran. LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist auch deshalb so deprimierend, weil er am Rande auch ein Film über eine junge Liebe ist, die ob der unvereinbaren Charaktere der Liebenden zerbricht. Nach einem besonders bestialischen Mord Marios verfällt sie in schreiende Hysterie, während Luis ungerührt bereits zum nächsten Auto läuft, um es zu startklar zu machen. Als Mario einen fliehenden Autobesitzer in den Rücken schießen will, hält sie ihn davon ab, während Luis passiv zuschaut. Nur als Mario Lea befiehlt, sich auszuziehen und sich als Ablenkungsmanöver unter den Blicken eines Polizeihubschraubers auf offenem Feld küssend und fummelnd auf sie legt, zeigt Luis echte Betroffenheit. Er wollte sie aus der ganzen Sache raushalten. Um ihre "Unschuld" macht er sich mehr Sorgen als um die Menschen, die Mario tötet. Hier löst sie sich auch langsam von ihm und macht dann später auch mit ihm "Schluss": Er sei der kränkste der drei.
Zu keinem Moment gibt es eine schlüssige Erklärung dafür, warum die drei jungen Männer auf Mordtour gehen, und zweifellos gehört das zu den Stärken des Films (und dürfte dafür sorgen, dass er in Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten nicht vom Index runterkommt – aber in letzter Zeit geschehen ja Wunder). Die Gewalt bricht motivationslos und "überfordernd" auf den Zuschauer ein. Klar, da ist natürlich das männerbündische Element, das Eskalationen fördert, aber als alleinige Erklärung reicht das nicht aus. An einer Stelle sagt ein befreundeter junger Mann zu Mario, dass diejenigen, die keinen hoch bekommen, gerne Befehle geben und tatsächlich scheint Marios Frustration darüber, dass Luis eine nette, schöne Freundin (und eben Bettgenossin) wie Lea hat, und er offenbar nicht, geradezu greifbar zu sein. Aber auch das kann keine alleinige Erklärung sein. In einer relativ langen Dialogszene hält der Kommissar den versammelten Eltern der drei Gewalttäter eine Art "Moralpredigt", in denen er ihnen vorwirft, nicht genug mit ihren Kindern geredet bzw. ihnen nicht zugehört zu haben. Geld verdienen – oder sich um die Kinder kümmern: da könne man nicht beides tun, antwortet einer der Väter und wirft dem Kommissar gleich noch vor, weltfremd zu sein. Wer so denkt, sollte wahrscheinlich wirklich besser nicht mit Kindern reden (oder überhaupt welche haben). Insofern hat der Kommissar da sowohl recht wie auch unrecht. Mehr als eine "Moralpredigt" bricht in diesem Moment vielleicht die Frustration des Kommissars heraus, dass er nur Symptome gegebenenfalls mit Gewalt beseitigen kann. Fast wünscht man sich, dass der Kommissar seinen Beruf in einer besseren Welt ausüben könnte, oder vielleicht besser Sozialarbeiter geworden wäre. (Diese Szene trägt meiner Meinung nach deutlich die Handschrift des Drehbuchautors Fernando Di Leo: in seinem selbstgeschriebenen MILANO CALIBRO 9 gibt es einen ähnlichen Schlagaustausch über die Ursachen von Verbrechen zwischen dem quasifaschistischen Law-and-Order-Kommissar Frank Wolff und seinem Untergebenen Luigi Pistilli, der soziale Ungleichheit, kapitalistische Ausbeutung und Rassismus als Ursachen von Verbrechen ansieht).
Miliáns Rolle als Kommissar ist sehr bodenständig. Er war gerade in einer Phase, in der er gerne mit Perücken, wilden Hüten, Verkleidungen in extravaganten Rollen spielte und musste von Regisseur Romolo Guerrieri mit viel schmeichelnden Worten zur Rolle des namenlosen Kommissars überzeugt werden. Milián gab es bei diesem Terza Visione auch in einer sehr extremen Rolle (in LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST) zu sehen, aber in LIBERI ARMATI PERICOLOSI kann man ihn ebenfalls nur bewundern. So unscheinbar seine Rolle auch sein mag: es ist bemerkenswert, wie viel Melancholie und Fassungslosigkeit Milián nur mit seinen Augen ausdrücken kann...
Ganz und gar nicht unscheinbar ist Stefano Patrizi als Mario "il biondo". Ohne ihn könnte ich mir diesen Film gar nicht vorstellen. Mit seinem engelhaften Äußeren, das zwischen den brutalen Gewaltausbrüchen immer Ruhe, sanfte Melancholie und sogar etwas Trauriges ausstrahlt, reißt er den ganzen Film an sich. Manchmal scheint es so klar auf der Hand zu liegen, dass er in einer anderen Welt ein netter Mensch sein könnte. Die eliminatorische Zerstörungswut, die immer wieder eruptiv aus ihm ausbricht, bleibt bis zum Ende sein Geheimnis. Am Ende richten sich die zwei übrig gebliebenen Verbrecher selbst, und der Polizist kann nur noch fassungslos und traurig vor sich hin blicken.


Der Film wurde sehr fachkundig und gewitzt von Christoph Huber eingeführt. Zu hören wieder im Podcast von Bahnhofskino, ab Minute 26:20.


Sonntag, 29. Juli

13.00 Uhr

LE MASSAGGIATRICI ("Mit Damenbedienung")
Regie: Lucio Fulci
Italien / Frankreich 1962
85 Minuten (Deutsche Fassung)
Die Mailänder Bauherren Parodi (Ernesto Calindri) und Manzini (Luigi Pavese) fahren nach Rom, um dort den Auftrag zum Bau eines Wohnheims zum Schutze der Jugend zu ergattern, der von einer christdemokratischen Sittenwächter-Organisation ausgeschrieben wird. Mit deren Präsidenten Paolini (Louis Seigner) und Sekretär Bellini (Philippe Noiret) werden Betragshöhen und "Prozente" verhandelt. Zur Zerstreuung wollen Parodi und Paolini gleichermaßen "Masseurinnen" besuchen. Die in Parodis Hotelzimmer verirrte "Masseurin" Marisa (Sylva Koscina) wird von Bellini entdeckt und muss fortan die "Ehefrau" des Bauherren spielen, die zufällig Haupteigentümerin des Bauunternehmens ist. Sittenwächter Paolini ahnt gar nicht, dass Parodis äußerst hübsche "Ehefrau" die "Masseurin" ist, die er die ganze Zeit erfolglos zu erreichen versucht. Richtig würzig wird die ganze Situation, als Parodis echte Ehefrau spontan in Rom auftaucht...


Lucio Fulci ist fast schon der heilige Schutzpatron des Terza-Visione-Festivals: mit jeweils einem Film war er bislang als einziger Regisseur bei allen fünf Ausgaben immer vertreten. Trotzdem war LE MASSAGGIATRICI für viele Zuschauer die vielleicht größte und schönste Überraschung beim diesjährigen Terza Visione. Udo Rotenberg vom Filmblog "L'amore in città" erklärte auf gewisse Weise in seiner Einführung vorab, woran das wohl lag: der Western LE COLT CANTARONO LA MORTE E FU... IL TEMPO DI MASSACRO ("Django – Sein Gesangbuch war der Colt") von 1966 gilt im cinephilen Bewusstsein gemeinhin als "erster" "echter" Fulci-Film – war aber tatsächlich schon sein 17. Film als Regisseur. Die Filme, die er vorher gedreht hatte, waren größtenteils Komödien, die in der Tradition der populären italienischen Filmkomödie der 1950er Jahre standen (über diese sprach Udo sehr kenntnisreich und ausführlich), eng verbunden unter anderem mit dem Namen Totò. Der vielen als "Godfather of Gore" geläufige Filmemacher begann seine Kinokarriere in den 1950er Jahren als Autor und Regieassistent bei mehreren Komödien mit Totò. In seinem ersten abendfüllenden Film als Regisseur, I LADRI von 1959, spielte der berühmte Komiker auch die Hauptrolle. Bis zu seinem sogenannten "ersten" Film 1966 drehte Fulci weitere Komödien sowie Schlagerfilme, mit unter anderem Adriano Celentano sowie oft dem berüchtigten Komiker-Duo Franco & Ciccio in den Hauptrollen. Mit der Frühphase von Fulcis Regiewerk könnte man einen kompletten viertätigen Ableger des Terza Visione gut füllen.
LE MASSAGGIATRICI ist Fulcis sechster Film. Ein früher Film, vielleicht nur eine "Fingerübung" oder nur "routiniertes Handwerk", das möglicherweise nur als filmhistorischer Einblick interessant ist – so oder ähnlich haben einige von uns vielleicht gedacht und die Erwartungen nicht zu hoch veranschlagt. Denkst du! Zu sehen war eine wunderbare, herrlich witzige, teils erstaunlich gewagte Komödie mit einem perfektem Timing, viel Tempo, großartigen Einfällen und liebenswürdigen Charakteren, von A bis Z mit großem Schwung inszeniert. Ein kleines Meisterwerk. "Ein Trivialfilm-Juwel" in der Tat, wie es das Programmheft ankündigte.
Am Rande des Trottoirs auf und ab zu gehen... das war gestern! Die modernen "Masseurinnen" gabeln lieber ihre Kunden mit einem eigenen Auto auf, so zum Beispiel Milena (Valeria Fabrizzi) und Iris (Cristina Gaioni – die uns bei diesem Festival schon als Marietta in NELLA CITTÀ L'INFERNO begegnete). Durch Iris' große Naivität wird ihnen allerdings das Auto von zwei Kunden geklaut, und deshalb kaufen sich die zwei mit Marisa (Sylva Koscina) lieber eine Wohnung und betreiben dort ihr Studio für "Massagen und ästhetische Therapien".
LE MASSAGGIATRICI ist ein Film, der die Synonyme, die benutzt werden, um Unschönes oder gesellschaftlich Verstoßenes zu kaschieren, bis zum Extremen ausspielt – bis die Lachmuskeln krachen! Das eine denken – und nach dem anderen greifen. Das eine "A" nennen – und dabei B meinen. Alles ist Verwechslung in diesem Film, und jede Verwechslung führt gnadenlos zu großen Lachsalven und der nächsten verwechslungsanfälligen Situation. Das fängt mit Parodis Termin bei den "Masseurinnen" an: die Adresse, zu der er gefahren ist, ist richtig. Doch leider hat er sich auf der Etage in der Tür geirrt und landet bei einer... Masseurin, die ihren Ehemann, einen etwas weltfremden, Klassiker-zitierenden Linguistik-Professor (wunderbar: Nino Taranto) die Türe öffnen lässt. Parodi, der von diesem männlichen Empfang ganz verwundert ist, lässt sich auch von den weiteren Ausführungen des Professors nicht wirklich beruhigen: ja, spezielle Massagen, da sei der Herr richtig; nein, er sei nicht der Portier, sondern der Ehemann; ja, seine Frau arbeite mit seiner vollsten Zustimmung, er habe sie sogar ermutigt, und wenn er eine Tochter hätte, würde er ihr zu dem gleichen Beruf ermuntern; sei ja eine tolle Arbeit: zuhause, nicht zu ermüdend, ganz gutes Geld. Der Kunde, der vor Parodi da war, erscheint schließlich gehbereit, und der Bauunternehmer macht große Augen, als er einen Bischof erblickt, der gerade die oberen Knöpfe seiner Soutane zuknöpft. Das Behandlungszimmer selbst erstaunt Parodi noch mehr, mit diesem äußerst medizinisch aussehenden Bild eines menschlichen Körpers an der Wand und der schmalen, brettharten Liege, auf der die Behandlung stattfinden soll. Off-screen, während der Professor einen Nachhilfeschüler verabschiedet, kommt es schließlich zum großen Eklat zwischen Parodi und der Masseurin, aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen von "Massage"/Massage. Parodi wird hochkant aus der Wohnung geworfen, und nach einem regen Gespräch zwischen den beiden Ehepartnern geht der Professor schließlich zur anderen Seite des Gangs rüber, um den "Masseurinnen", die das Massage-Geschäft seiner Frau in Verruf bringen, ordentlich mal die Meinung zu geigen. Der geneigte Zuschauer, der sich in dem Moment immer noch vor lauter Lachen den Bauch halten muss, könnte vielleicht verpassen, wie gut LE MASSAGGIATRICI nicht nur geschrieben, sondern auch inszeniert ist. Ein Kommen und Gehen von handelnden Personen, die der nächsten die Klinke in die Hand geben: viele Szenen des Films sind so aufgebaut und fügen sich so oft fast nahtlos in einen stetigen Fluss. Präzise wie ein Uhrwerk, dabei aber ganz und gar nicht mechanisch. Mit einem flotten Tempo, dabei aber nie hektisch.


Der Professor geht also rüber und wird von der liebreizenden Iris empfangen – so liebreizend (sprich: leicht bekleidet), dass er ganz rasch seinen strengen Ton verliert. Für geschäftliche Verhandlungen sei der Advokat zuständig, so Iris, und schickt den Professor in den Salon. Von Akademiker zu Akademiker... da könne man bestimmt vernünftig verhandeln. Doch da steht der Professor nun vor der liebreizenden und sehr leicht bekleideten Milena, die von ihren Kolleginnen "der Advokat" genannt wird, weil sie Jura studiert hat. Dass eine studierte Frau mit Abschluss in einer als männlich geltenden Domäne bessere Karriereaussichten hat, wenn sie als "Masseurin" arbeitet, sagt viel über das Frauenbild der Gesellschaft aus, in der das so ist (der Film bleibt aber auch hier sehr implizit). Tatsächlich kann Milena ihr Studium auch gut als "Masseurin" anwenden, denn als der Professor ihr etwas vage androht, die Autoritäten zu rufen, kann sie ihm genau um die Ohren hauen, nach welchen Paragrafen und Absätzen welcher Gesetze ihre Tätigkeit eben nicht illegal ist (später wird sie einen Polizisten, der ohne Durchsuchungsbefehl das "Massage-Studio" betreten hat, ebenso gnadenlos zusammenfalten). Ende der Diskussion – und es klingelt sowieso (Sittenwächter Paolini steht an der Tür, um sein "Massagetermin" mit Milena wahrzunehmen, die zu diesem Zeitpunkt im Hotelzimmer aber gerade mit Parodis Ehefrau verwechselt wird). Da Milena den Gast empfangen muss, gibt sie Iris die Instruktion, sich in der Zwischenzeit um den Professor zu kümmern. Doch oh weh... da kommt es wieder zu einem Missverständnis! Iris, die sich gut um den Kunden kümmern möchte, schenkt ihm erst mal ein paar Gläser Cognac zur Entspannung ein, und als Milena wieder auftaucht, ist der Professor schon ganz blau – und nun aber tatsächlich in der Laune, sich eine "Massage" geben zu lassen. Doch das macht 30.000 Lire, Barzahlung, keine Ratenzahlung möglich! Da geht der Professor nun torkelnd fort, um seiner Frau, der Masseurin, mitzuteilen, wie unverschämt teuer doch so eine "Massage" sei...


Jetzt, wo ich das so ausführlich geschrieben habe, bewundere ich noch mehr, wie unglaublich gut LE MASSAGGIATRICI geschrieben, gespielt und inszeniert ist. Das eine führt natürlich zum nächsten, alles gleitet leicht vor sich hin, und das ganze ist von herzlichen Lachern gesäumt. Natürlich arbeitet der Film im Grunde auf relativ simple und geradlinige Weise seine Set-Pieces ab: Prolog – kurz in den Hotelzimmern der beiden Bauherren – längere Szene in den beiden Appartements – kurz im Hotel – die Verhandlungen der zwei Bauunternehmer, der "Ehefrau" und der zwei Sittenwächter in deren Büros mit erfolgreichem Vertragsabschluss – anschließend das "überkreuzte" Mittagessen, bei dem Bellini, Parodi und seine "Ehefrau"/Marisa/"Bellinis Ehefrau" sowie Manzini und "seine Ehefrau"/"Parodis Schwester"/Parodis Ehefrau in einem Restaurant essen und beide Gruppen nach einigen Ausweichmanövern Parodis doch zur großen Peinlichkeit des letzteren zusammentreffen – dann wieder im "Massage"-Studio – dann die Manöver, um die Leiche des leider im Kleiderschrank des "Massagezimmers" an Herzinsuffizienz dahingeschiedenen Präsidenten Paolini an zwei Nachtwächtern vorbei wieder an seinen Schreibtisch zu bugsieren...
Vier Drehbuchautoren waren gemäß Credits an LE MASSAGGIATRICI beteiligt. Oreste Biancoli schrieb schon seit den 1930er Jahren Drehbücher für Genrefilme: Melodramen, Komödien, Abenteuerfilme, Peplums. Seine berühmtesten Credits beinhalten eine Beteiligung als Autor an De Sicas LADRI DI BICICLETTE und an Julien Duviviers DON CAMILLO. Italo De Tuddo schrieb in den 1950er Jahren ebenfalls für das populäre Kino und verfasste unter anderem Drehbücher für mehrere Totò-Komödien (bei einer in Zusammenarbeit mit Fulci). Antoinette Pellevant hat gemäß IMDb nur fünf Credits als Autorin. Vittorio Metz ist hingegen wieder berühmter: ein vielseitiger Komödienautor für Theater, Varieté, Fernsehen und Kino, der oft für Alberto Sordi und Totò geschrieben hat. Bei letzterem kreuzten sich schon Mitte der 1950er Jahre die Wege mit Fulci. LE MASSAGGIATRICI war die erste von fünf Regiearbeiten Fulcis, an deren Drehbuch Metz mitschrieb (die IMDb hat ihn bei LE MASSAGGIATRICI allerdings falsch, nämlich als "Vittorio De Tuddo" gelistet, was viele weitere Quellen irrigerweise kopieren – worauf Udo bei einem Gespräch vor dem Film hinwies, sonst hätte ich wohl hier irgendetwas von einem unbekannten "Vittorio De Tuddo" geschrieben, obwohl sein Name in den Credits klar zu lesen ist). Man könnte vielleicht sagen, dass Vittorio Metz für den frühen Fulci der enge Drehbuchmitarbeiter war, der Dardano Sacchetti für seine mittelspäte Phase (1977-1984) war.
Auch die Darsteller sind durch die Bank weg alle großartig. Ernesto Calindri als Parodi, der am Anfang selbstsicher die Zeitung aufschlägt, um die "Börsenberichte" zu lesen (also: die "Massage"-Anzeigen) und später von einer peinlichen Situation zur nächsten vorsichtig, meist mit entglittenen Gesichtszügen lavieren muss. Der große französische Schauspieler Louis Seigner hat eine wunderbare Rolle als doppelzüngiger Moralapostel und sorgt dafür, dass man dem Cipriano Paolini trotz seiner Schwächen doch irgendwie sympathisch gewogen bleibt – Sylva Koscina als Marisa ist nun tatsächlich zum Dahinschmelzen und sorgt immer wieder für Lacher, wie sie sich vor Paolini, Parodi und Bellini ganz und gar nicht wie eine steife Unternehmergattin benimmt, sondern im Restaurant gutgelaunt einfach mal jeden Gang mit extraviel Mayonnaise bestellt. Philippe Noiret (hier noch bevor er richtig berühmt wurde) hielt LE MASSAGGIATRICI für den schlimmsten Film seiner Karriere und beweist, dass man Künstler ihre Werke meistens nicht selbst beurteilen lassen sollte: er ist natürlich ganz großartig als öliger, sich leicht unterwürfig gebender Sekretär, ein waschechter Heuchler (mit päpstlichem Dispens für den mageren Freitag und zugleich der ungezügelten Lust, sich von Marisa zusätzliche "Prozente" in Form einer "Massage" auszahlen zu lassen), mit kleinen tick-artigen Augenzwinkern, wenn er irritiert ist – und der schließlich als ganz geschickter Logistiker mit großer Autorität aufblüht, als es darum geht, die Leiche seines Chefs durch die halbe Stadt zu kutschieren und in sein Büro zurückzubringen. Nino Taranto als exzentrischer Professor habe ich schon erwähnt. Und nicht zuletzt noch die ultimative Salzprise in dieser schmackhaften Suppe: der Gastauftritt von Franco Franchi und Ciccio Ingrassia, die gemeinsam über ein Dutzend Filme Fulcis mit ihrer Präsenz veredelten (langsam aber sicher werde ich zu einem echten Fan der beiden).


LE MASSAGGIATRICI wird Kenner von Fulcis Filmen ab 1969 mit seinem herzlichen, lockeren, lebensbejahenden Ton überraschen: man verlässt den Kinosaal danach wie nach einer schönen Massage oder "Massage" – entspannt, gutgelaunt, fröhlich, mit einem optimistischen Blick auf die Welt und vielen schönen, angenehmen Gedanken. Sicherlich ist der Film auch ein bisschen frivol, ein bisschen gewagt und auch leicht satirisch im Unterton. Da gibt es diesen Moment, als der Präsident Paolini bei der Verhandlung mit Manzini, Parodi und deren "Ehefrau" riesige Augen im Angesicht ihrer schönen Beine macht, danach sehr penetrant darauf drängt, mit ihr als Haupteigentümerin im Privaten zu verhandeln, sie in Zweisamkeit stürmisch hofiert – aber da er abgesehen von einem kleinen Küsschen nicht wirklich zu seinem Ziel kommt, ruft er danach in einem lustvoll angeregten Zustand den "Massagesalon" an, um sich nach dem Verbleib von Marisa zu erkundigen und sofort einen Termin mit ihr klar zu machen. Das ist schon "dezent", aber doch für aufmerksame Zuschauer sehr eindeutig inszeniert. Natürlich gibt es satirische Untertöne gegen selbsternannte moralische Würdenträger, die von sich behaupten, dass sie immer nur an die Jugend denken – und das tatsächlich auf eine andere Weise tun, als sie es sagen. Selbstverständlich geht es, um jetzt ausnahmsweise in einem Satz Klartext zu sprechen, um Prostitution, um den verklemmten und heuchlerischen Umgang damit, um Korruption bei Bauprojekten, um illegale Parteispenden und um die unerträgliche Heuchelei selbsternannter Moralapostel. Aber das drängt sich keineswegs vordergründig auf, noch wird es gar an irgendeiner Stelle gar didaktisch. Diese Elemente schwingen mit und können "mitgenommen" werden. In erster Linie ist und bleibt LE MASSAGGIATRICI eine milde und leichtfüßige Komödie, die gegenüber den einzelnen Figuren recht versöhnlich bleibt und auch keine umfassende Systemkritik formuliert. Der Ton erinnerte mich etwas an LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA von Camillo Mastrocinque (für den Fulci auch einmal als Autor arbeitete) und der dieses Jahr beim Hofbauer-Kongress lief. (Fulcis spätere erotische Komödie bzw. schwarze Politsatire NONOSTANTE LE APPARENZE... E PURCHÈ LA NAZIONE NON LO SAPPIA... ALL'ONOREVOLE PIACCIONO LE DONNE von 1972, allen Slapstick-Einlagen zum Trotz, ist völlig anders im Ton, wird im letzten Drittel gar so grausig, dass einem fassungslos die Kinnlade herunterklappt und endet mit einer niederschmetternd bitteren, fatalistischen Note. Fulcis Erotikkomödie LA PRETORA von 1976 mit Edwige Fenech in einer Doppelrolle ist weniger hart als ALL'ONOREVOLE PIACCIONO LE DONNE, aber dennoch auch sehr fatalistisch in der Darstellung niederträchtiger Intrigen und mit einem zutiefst deprimierenden unhappy happy ending ausgestattet. Beide sind schon ganz andere Kaliber.)
Ich habe letztes Jahr angefangen, Lucio Fulci überhaupt richtig zu entdecken. LE MASSAGGIATRICI hat mir und wahrscheinlich vielen anderen Zuschauern beim Festival nun noch mal eine vollkommen neue Seite seines Schaffens offenbart und meine Bewunderung für den leider oft als Zombie- und Splatter-Opa belächelten Filmemacher noch mal gesteigert. Es gibt noch sehr viel zu entdecken!


16.15 Uhr

IL TERRORE DEI MARI ("Die Abenteuer der Totenkpfpiraten")
Regie: Domenico Paolella
Italien / Frankreich 1961
102 Minuten (Deutsche Fassung)
Venezuela im 17. Jahrhundert: französische Siedler werden auf Kommando des intriganten Polizeichefs massakriert. Zwei überlebende Brüder schwören Rache und werden Piraten.
In seiner einführenden Videobotschaft erklärte der Filmwissenschaftler Dario Stefanoni, dass IL TERRORE DEI MARI zu einer Reihe von Piratenfilmen gehörte, die "unabhängig" von den großen römischen Studios produziert wurden, nachdem der kleine Produzent Fortunato Misiano (?) Dino de Laurentis ein großes Schiff abgekauft hatte und es unter großen Mühen von Rom zum Garda-See hatte transportieren lassen. Auf dem immergleichen Schiff wurde dann am immergleichen Küstenstreifen des Garda-Sees eine ganze Serie von Piratenfilmen gedreht.
Ein bisschen enttäuschend war es dann schon, dass die Einführung Stefanonis das wahrscheinlich spannendste in diesem Filmblock bleiben sollte. So "unabhängig" IL TERRORE DEI MARI auch produziert wurde, so sehr fühlte er sich ein bisschen nach beliebiger Dutzendware an. Der Film ist größtenteils in meinem Gedächtnis verblasst und ich habe nur die vage Erinnerung, mich gepflegt gelangweilt zu haben. Interessant fand ich die Tatsache, dass der Hauptdarsteller, der ältere Bruder, der Held des Films, von einem Schauspieler gespielt wurde, der wie Ende 40 aussah. Tatsächlich war der Amerikaner Don Megowan zur Premiere des Films gerade mal 38 Jahre alt, aber trotzdem sprühte er nicht einen Hauch von Charisma oder Charme aus, den diese Rolle eigentlich hätte verlangen müssen (ich denke hier zum Beispiel an Brett Halsey als Cellini in IL MAGNIFICO AVVENTURIERO letztes Jahr).
Der Darsteller des jüngeren Bruders hätte wohl besser in diese Rolle gepasst: seine Figur drohte während des Films, zum Verräter zu werden. Mir schien das merkwürdig forciert – und dann doch relativ inkonsequent, weil das, wenn ich mich richtig erinnere, dann für eine gute Zeit wieder völlig ignoriert wurde. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht mehr, ob der kleine Bruder den großen Bruder wirklich verrät oder doch nicht, weil mir das dann doch nicht interessant genug erschien. Stattdessen wurde wahnsinnig viel expositorischer Aufwand betrieben, um ein paar Komparsen dazu zu bringen, sich an einem Strand etwas zu kabbeln – was wiederum eher behäbig aussah.
Ich möchte aber jetzt nicht groß rumnörgeln und einfach nur bei dem Bild bleiben, den ich im Gedächtnis behalten habe. Beim Endkampf zwischen dem älteren Bruder und (ich glaube) dem Polizeichef geraten die beiden Kämpfer außerhalb des Sichtfelds, werden von einer Reihe Fässer oder etwas ähnlichem verdeckt. Die Kamera verharrt dann still, während wir den Kampf nur noch erahnen können. Plötzlich schießt die Hand des Unterlegenen in einem Sterbekrampf hoch und sinkt dann langsam wieder nieder...

Abendessen. Voller Verwunderung musste ich feststellen, dass es in Frankfurter Gaststätten offenbar ganz normal sein kann, kein Bier auf der Karte zu haben – sondern nur Apfelwein...


20.00 Uhr

L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ("Der letzte Schnee des Frühlings")
Regie: Raimondo Del Balzo
Italien 1973
94 Minuten
Der Witwer Roberto (Bekim Fehmiu) ist als Anwalt äußerst erfolgreich, scheitert aber als alleinerziehender Vater kläglich: er holt seinen Sohn Luca (Renato Cestiè) nur zu den Ferien aus dem Internat, hat selbst dann keine Zeit für ihn und verschweigt ihm seine Beziehung mit Veronica (Agostina Belli). Ein Urlaub am Meer zu dritt schafft keine Abhilfe – und ein späterer, zweisamer Vater-Sohn-Skiurlaub wird jäh unterbrochen, als bei Luca nach einem Zusammenbruch Leukämie diagnostiziert wird.



Auf wenige Filme war ich dieses Jahr so gespannt wie auf L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA, denn von dem Melodrama-Subgenre des "lacrima movie" hatte ich noch nie zuvor gehört. Sogenannte Tränenfilme – im Programmheft und in der Einführung auch umschrieben mit Begriffen wie "hartes Melodrama", "sentimentales Rührstück" und gar "childploitation" – waren im Italien der 1970er so erfolgreich, dass man rückblickend geradezu von Blockbustern sprechen könnte. Wie Christoph in einer Einführung erklärte, wurden die "lacrima movies" in Italien als Familienevents behandelt und offenbar gingen tatsächlich zahllose Eltern zusammen mit ihren Kindern in Nachmittagsvorstellungen, um Filme zu schauen, in denen Kinder oder Teenager qualvoll an Krankheiten sterben.* Die bleiernen Jahre Italiens wurden hier nicht mit Rasiermessern zerschlitzt, mit Maschinenpistolen niedergemäht, mit Colts weggeballert, von Kannibalen gefressen, von üppigen Busen zerquetscht oder von vier Fäusten K.O. geschlagen, sondern mit reinigenden Tränen weggespült. Die Tränenfilme brachten allerdings nicht nur italienische Zuschauer zum Weinen, denn einige von ihnen gehörten zu den erfolgreichsten Exportschlagern der italienischen Filmindustrie und übten ihre sentimentalen Anschläge auch auf deutsche, britische, peruanische, brasilianische, argentinische, japanische und polnische Tränendrüsen aus. 
Ich selbst hätte spontan geraten, dass die "lacrima movies" die italienische Reaktion auf LOVE STORY waren, aber natürlich blickte das italienische Kino in den 1970er Jahren bereits auf eine lange Tradition des Melodramas zurück. Christoph nannte eindeutig Luigi Comencinis INCOMPRESO von 1966 als Vorbild. Mit dem enormen Erfolg von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA wurden die Tränenfilme zu einem eigenen Subgenre. Raimondo Del Balzo drehte in seiner relativ überschaubaren Filmografie noch weitere "lacrima movies" (und zwischendurch einen Rape-and-Revenge-Film), sein LE PRIME FOGLIE D'AUTUNNO von 1988 gilt gemäß dem italienischen Wikipedia-Eintrag als einer der letzten Filme dieses Subgenres. Hier schloß sich sozusagen auch ein Kreis vom letzten Schnee des Frühlings zu den ersten Blättern des Herbsts.
Del Balzo stemmte das Subgenre allerdings keineswegs alleine, im Gegenteil: viele wesentlich bekanntere Regisseure haben auch einen "lacrima movie" in ihrer Filmografie. Ruggero Deodato zum Beispiel hat L'ULTIMO SAPORE DELL'ARIA gedreht, in dem ein ausgerissener Teenager für eine Schwimmer-Meisterschaft trainiert, aber von einem Gehirntumor heimgesucht wird (ein übrigens sehr sehenswerter Film, auch wenn ich ihn leider gekürzt, im falschen Bildformat, in scheußlicher Bildqualität und einer nicht gerade stilsicheren englischen Synchronisation gesehen habe). Sergio Martino drehte 1974 LA BELLISSIMA ESTATE, Luigi Cozzi ließ in seinem DEDICATO A UNA STELLA 1976 auch eine Leukämieerkrankung zuschlagen. Michele Massimo Tarantini, sonst eher auf commedie sexy abonniert, drehte 1978 einen Film mit dem schönen Titel STRINGIMI FORTE PAPÀ (wörtlich "Umarme mich fest, Papa"). Einen "lacrima movie" zu drehen war also nicht viel außergewöhnlicher, als einen Giallo, einen Poliziesco oder eine Erotikkomödie zu drehen. Im Zweifelsfall war der Tränenfilm in Italien und im Ausland sogar erfolgreicher als der Giallo. Heute ist davon fast nichts übrig geblieben. Das Melodrama im Allgemeinen hat es bei Liebhabern von "Genrefilmen" (wie man diese auch definieren mag) eh nicht so leicht, und beim "lacrima movie" kann man sicherlich ohne Bedenken von einem unterschlagenen Subgenre sprechen. CANNIBAL HOLOCAUST und I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE ("Torso") werden wahrscheinlich noch mindestens 50 Special-Editions erleben, bevor jemand L'ULTIMO SAPORE DELL'ARIA und LA BELLISSIMA ESTATE als DVD veröffentlichen wird. Umso besser, dass es das Terza Visione gibt!
Jetzt zum Film, der sich tatsächlich als eine weitere große Überraschung des Festivals entpuppen sollte. Der meisterhaft inszenierte L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA war, kaum zu glauben, Raimondo Del Balzos erster Film als Regisseur. Im Kern handelt er von einer gestörten Sohn-Vater-Beziehung, doch diese ist zunächst überhaupt nicht sichtbar, weil auch der Vater abwesend ist. Im Prolog, der chronologisch nach dem Filmende spielt, sehen wir Roberto um seinen toten Sohn trauern und die Platte auflegen, die ihm Luca geschenkt hat (sein letztes Geschenk), aber danach verschwindet er erst einmal aus dem Film. Luca, der ein Internat besucht, weil sich der Witwer Roberto als viel beschäftigter Anwalt nicht um ihn kümmern kann (bzw. will), wartet zu Beginn der Sommerferien darauf, dass Papa ihn abholt und nach Hause fährt. Stattdessen kommt der Onkel, der Bruder von Lucas verstorbener Mutter. Zuhause angekommen muss Luca auch schon zu Bett gehen, bevor Roberto zurück kommt, und steht am nächsten Morgen auf, wenn Roberto schon wieder auf Arbeit ist. Als Luca zusammen mit seiner besten Freundin Stefanella spontan den Vater im Gerichtsgebäude aufsucht, wimmelt der ihn auch schnell wieder ab. Knapp 25 Minuten Film vergehen, bevor Luca seinen Vater endlich mal für längere Zeit sieht und spricht.
Luca muss viel Zeit alleine verbringen. L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ist voll von Szenen, in denen Renato Cestiè alleine durch das Haus läuft, am Strand spaziert, ein kleines Motorboot fährt oder sich alte 8mm-Familienfilme anschaut, um seine verstorbene Mutter wieder "lebendig" zu sehen. Letzteres ist nicht nur ein sehr schöner Moment, sondern gibt Luca auch ein Rätsel: nachdem die Bilder seiner Mutter durchgelaufen sind, folgen nach einigen Momenten unbelichteten Films Aufnahmen einer anderen Frau. Es handelt sich um die neue Freundin Robertos, Veronica – aber die Beziehung hat er seinem Sohn bislang komplett verschwiegen. Luca und Veronica sind, zunächst ohne es zu wissen, Leidensgenossen: auch Veronica wird von Roberto ständig versetzt, weil es auf Arbeit dann doch noch länger gedauert hat. Er ist ein Workaholic, wahrscheinlich aber auch jemand, der seine Arbeit als Schutzschild vor Emotionen und Verantwortlichkeiten nutzt. Irgendwie kann ich mir Roberto gut als einen der Väter vorstellen, die in LIBERI ARMATI PERICOLOSI vor dem Kommissar sitzen und sich rechtfertigen, dass man eben nur das eine (Arbeit) oder das andere (sich um das Kind kümmern) kann. Und wenn Luca nicht an Leukämie gestorben wäre, hätte er zehn Jahre später vielleicht zu einem Gewalttäter wie Mario oder Joe werden können (auch wenn Perugia nicht Mailand ist).
Die Krankheit Lucas platzt also keineswegs in ein Familienidyll hinein, sondern in eine äußerst komplizierte Beziehungskonstellation. Sie ist deshalb so kompliziert, weil Roberto sie kompliziert macht. Er gibt weder seiner Freundin noch seinem Sohn das Gefühl, für sie da zu sein. Wenige Minuten, bevor er mit Luca zu einem Strandurlaub aufbricht, teilt er ihm lakonisch mit, dass eine Freundin mitfährt. Auf eine gewisse Weise halte ich es für naheliegend, Lucas Krankheit durchaus als Symbol zu sehen, als drastische Zuspitzung und körperliche Manifestation der latenten Konflikte, unter denen er zu leiden hat. Die mangelnde Zuwendung und die falsche Art, mit der ihn sein Vater behandelt, haben ihn krank gemacht. Das "Signal" sieht Roberto erst, als es kein Zurück mehr gibt. In den letzten Minuten des Films spricht Luca einige Sätze aus dem Off, und sagt unter anderem, dass er auf gewisse Weise glücklicher in seiner Erkrankung war als vorher, weil er nun endlich mit seinem Vater zusammen war.
L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ist ziemlich bemerkenswert aufgebaut, weil er in der ersten Stunde keinerlei Attacken auf die Tränendrüsen des Zuschauers ausübt, und an manchen Stellen sogar regelrecht heiter wirkt. Besonders die Momente, die Luca mit seiner besten Freundin Stefanella verbringt, sind außerordentlich vergnügt**. Sie fernsehen zusammen (wobei er sich mit seinem Wunsch in der Wahl des Programms durchsetzen kann – zu hören ist ein Actionfilm mit Autoverfolgung), spazieren durch die Stadt, kaufen sich an einem Automaten Zigaretten (scheitern aber daran, sich Feuer geben zu lassen) oder schauen sich die Nackthefte an, die Stefanella bei ihren Eltern geklaut hat. Zwischendurch erzählt sie ein bisschen aus dem Nähkästchen von den Problemen ihrer Eltern, dass die Mutter regelmäßig Besuch von einem "Onkel" bekommt, aber auch hervorragende Tortelloni mit Ricotta kocht. Überhaupt isst Stefanella für ihr Leben gerne, verputzt zwischendurch auch mal eine ganze Büchse Thunfisch aus Lucas Kühlschrank oder kreiert sehr außergewöhnliche Sandwiches: mit Marmelade, dann Käse (damit es nicht zu süß wird), dann noch mal Marmelade (damit es nicht zu sehr nach Käse schmeckt), das ganze gekrönt mit einem Topping aus Sardellenpaste. Sie ist dann auch die einzige, die normal mit Luca redet, als dieser schon sterbend im Krankenbett liegt. Ungeniert fragt sie ihn, was denn diese Schläuche in seiner Nase seien und teilt ihm mit, dass sein letzter Schulaufsatz gut benotet wurde, aber wahrscheinlich nur aus Mitleid, weil er krank ist. Natürlich hat sie trotzdem sehr genau verstanden, was da passiert: als sie wieder draußen auf dem Krankenhausflur steht, beginnt sie zu weinen.
Toll ist auch das Miteinander zwischen Luca und Veronica. Zunächst ist Luca absolut nicht gut auf sie zu sprechen, weil sie ohne Ankündigung einfach zum Strandurlaub mit seinem Vater mitgenommen wird. Sie wiederum fühlt sich äußerst unwohl, weil sie nicht auf diese Weise mit Luca Bekanntschaft machen wollte. Nach einem Angebot ihrerseits, doch Freunde zu werden, ignoriert Luca sie zunächst und entscheidet sich dann anders. Er legt ihr eine aufgesammelte Muschel als Geschenk in ihre Handtasche: das löst dann auch alle Probleme und im nächsten Bild springen beide quietschvergnügt durch ein strahlendes Sonnenblumenfeld. In knapp weiteren zehn Minuten wird klar, dass Veronica eigentlich ein viel besserer Elternteil ist als Roberto, weil sie Luca zuhört, sich auf ihn einlässt, sich Zeit für ihn nimmt (während Roberto auf einen "wichtigen" Anruf aus dem Büro wartet). Der Junge zeigt ihr im Vertrauen dann auch sein spezielles Versteck, das er an einem fremden Ort immer aufsucht, in diesem Fall ein Tunnelsystem am Strand. Dort findet sie Luca dann auch, als er in einem Anfall von Bockigkeit ausbüchst (nachdem er Veronica und seinen Vater bei einem leidenschaftlichen Kuss beobachtet hat).
In den letzten 20 Minuten brechen schließlich sämtliche Dämme. Einem kleinen Kind dabei zuzusehen, wie es an einer unheilbaren Krankheit regelrecht eingeht und qualvoll stirbt, ist natürlich an sich eine geballte Ladung Emotion. Da können selbst die härtesten Morde, Folterungen oder Vergewaltigungen in Gialli, Polizieschi oder Kannibalenfilmen nicht mithalten. Im Kino habe ich mit den Tränen gekämpft und hatte danach für gut eine halbe Stunde noch einen Kloß im Hals davon behalten. Zuhause, bei der Neusichtung auf DVD, den Film bereits kennend, sind dann wirklich Tränen geflossen. L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA kann man zweifelsohne als perfid manipulativen und auf Überwältigung setzenden Exploitationfilm sehen – aber die "Manipulation" funktioniert eben.
Zum Gelingen von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA trägt nicht zuletzt Renato Cestiè als Luca bei. Natürlich ist da zunächst einfach ein süßer, kleiner, blonder Junge mit großen Augen. Tatsächlich kann Cestiè so gut schauspielern, dass aus einem kitschigen Kulleraugen-Junge ein echter Charakter wird und der Film lässt ihm dann auch genug Platz dafür. Luca guckt eben nicht nur süß oder manchmal traurig rein, sondern reagiert manchmal auch etwas bockig, oder luchst seinem Onkel gewieft Geld ab, indem er ihm eine für Papa gedachte Krawatte "schenkt", oder redet mit Stefanella über die Brüste ihrer Mutter (im Vergleich zu jenen im Nacktheftchen). Zwischendurch geht er an die Hausbar seines Vaters und gönnt sich einen ordentlichen Schluck aus der Wodkaflasche oder kauft sich zusammen mit Stefanella eine Packung Zigaretten. Hinter dem süßen Gesicht ist auch ein Junge, der es "faustdick" hinter den Ohren hat (also relativ gesehen). Ein "normaler" Junge eben, den man als Zuschauer zu lieben lernt, weil der Film ihn aufrichtig liebt und ernst nimmt. 
Und wie so oft im italienischen Film ist es eben auch die Musik. Franco Micalizzi hat den passenden Score komponiert mit einem Stück, das die Emotionen des Films noch mal bündelt und verstärkt (aber auch so schön anzuhören ist – siehe hier). 

* Ein Kommentator auf IMDb schreibt, als Kind mit der Sichtung von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA gar traumatisiert worden zu sein. Nicht uninteressant finde ich den Aspekt, dass zumindest die beiden "lacrima movies", die ich bisher kenne, erwachsene Themen auf erwachsene Weise behandeln: elterliche Vernachlässigung, Heuchelei, Ehebruch, schwer gestörte Familienbeziehungen. Da wurde damals bestimmt manch einer Familiengruppe im Zuschauerraum auf unangenehme Weise der Spiegel vorgehalten.

** Sehr schockierend (ich glaube beim ersten Mal ist mir das vielleicht beim Mitlesen der Untertitel entgangen) ist allerdings Lucas Äußerung gegenüber Stefanella, dass sein Vater ihm eine schöne Krawatte und eine Schallplatte gekauft habe. Wir haben kurz vorher ja schließlich gesehen, dass Luca derjenige ist, der diese Geschenke für seinen Papa kauft. Er kompensiert die mangelnde Zuwendung seines Vaters gleich doppelt: indem er Geschenke kauft und dann erzählt, dass sein Vater ihm Sachen schenkt.


Einen schönen Text zur letzten Szene des Films, die nachts in einem Vergnügungspark spielt, hat Lukas Foerster auf seinem Blog geschrieben.

Del Balzos Film war auf eine gewisse Weise der härteste des diesjährigen Festivals, zumindest aber der emotional intensivste und herausforderndste. So wie ich in Gesprächen kurz darauf mitbekommen habe, war ich nicht der einzige, den der Film ganz schön mitgenommen hat. Die etwas längere Pause zwischen L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA und PROFONDO ROSSO war dann tatsächlich auch vonnöten, um den dicken Kloß im Hals "verdauen" zu können.


22.30 Uhr
PROFONDO ROSSO ("Rosso – Die Farbe des Todes")
Regie: Dario Argento
Italien 1975
126 Minuten
Der Jazzpianist Marc (David Hemmings) untersucht zusammen mit der Journalistin Gianna (Daria Nicolodi) den Mord an seiner Nachbarin und löst durch seine Untersuchungen bald weitere Morde aus.






Dies war nun meine dritte Sichtung von PROFONDO ROSSO und sicherlich die schönste: diesen Film im Kino sehen, auf 35mm, von einer wunderschönen, knackig frisch wirkenden Kopie – das kann ich auf meiner to-do-Liste hiermit abhaken. Auf eine gewisse Weise fand ich den Film dieses Mal wesentlich verwirrender und komplizierter als bei meinen letzten zwei Sichtungen, als hätte ich mich im Angesicht der großen Leinwand nun komplett "verloren", aber vielleicht war das auch auf meine mittlerweile einsetzende Tagesmüdigkeit gekoppelt mit einer allgemeinen Müdigkeit nach vier Tagen Festival zurückzuführen.
Einige Dinge sind mir trotzdem besonders klar deutlich geworden. Mehr als je zuvor habe ich gemerkt, wie großartig die Screwballkomödien-Momente des Films sind. Argento wird ja bisweilen vorgeworfen, ein kalter Formalist zu sein, aber er hat eben auch eine sehr humorvolle, menschliche und verspielte Seite (die ich kürzlich in seinem Vorgängerfilm QUATTRO MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO auch sehr deutlich "entdeckt" habe). 
Das lockere Zusammenspiel zwischen Hemmings und Nicolodi, die ausgedehnten Szenen, in denen sich die beiden witzige Dialoge wie in einer echten Screwballkomödie zuspielen, in denen Marc sich zum Affen macht, als er beim Armdrücken gegen sie verliert, in denen beide nachts in ihrem baufälligen Auto (ach... dieses Auto!) sitzen und darüber reden, welche der Mini-Schnapsflaschen aus ihrer Kollektion sie jetzt vernichten werden... um nichts auf der Welt möchte ich diese Momente missen! Sie sind gleichermaßen das Herz des Films und das Element, das ihm eine Seele gibt. Wenn Gianna gegen Ende des Films von einem Mordverdächtigen schwer verletzt wird, dann passiert das nicht mit der Beiläufigkeit, mit der in Gialli ab und zu Figuren getroffen werden. Das ist ein Moment, bei dem ich am liebsten laut "NEIN!" schreien möchte und das Gefühl bekomme, auch zu sterben, wenn sie stirbt (sie tut es zum Glück nicht). Als Marc – zeitgleich mit den Zuschauern – mitbekommt, dass ihr ein Messer im Bauch steckt, zu ihr eilt, sie festhält und das Gesicht streichelt, ist das stärker als jegliche verbale Liebeserklärung. Der logische "Ableger" von PROFONDO ROSSO wäre kein weiterer Giallo, sondern tatsächlich eine zärtliche, verspielte Liebeskomödie. (Oder vielleicht auch ein melancholischer Buddy-Movie mit Elementen eines Trinker-Melodramas, wenn aus der Beziehung zwischen Marc und Carlo ein eigener Film würde – wenn Marc dann eine weibliche Figur wäre, was er auf gewisse Weise schon ist, dann wäre das wieder ein Liebesfilm, diesmal mit eher tragischem als mit komischem Schwerpunkt).
In einem Filmforum bezeichnete jemand einmal die italienische Langfassung des Films unverständlicherweise als "Laberfassung". In der Export-Version für die USA fehlten über 20 Minuten Film (tatsächlich von Argento selbst geschnitten), darunter viele der eben angesprochenen Szenen mit Hemmings und Nicolodi. Ich habe diese Fassung zwar nicht gesehen, kann mir aber gut vorstellen, dass der Film dadurch wirklich kälter wirkt. Möglicherweise hat gerade das dazu beigetragen, dass Argento vielen als kalter Formalist gilt (selbst INFERNO, der gemeinhin als sein extremster, abstraktester Film gilt, hat viele Spuren eines verspielten, leicht absurden, tiefschwarzen Humors). Dabei beginnt PROFONDO ROSSO mit einem Plädoyer gegen kalten Formalismus, indem zunächst der Vorspann auf eine ziemlich verspielte Weise unterbrochen wird. Dann erklärt Marc einigen Musikern, die gerade eine Jazznummer gespielt haben, dass sie sehr gut, ja sogar zu gut, zu sauber gespielt haben, dass so etwas "dreckiger" rüberkommen sollte.
Mehr als vieles andere hat mich bei dieser Sichtung eine Szene beeindruckt, die mir vorher nicht als "Höhepunkt" aufgefallen war, nämlich Marcs lange Durchsuchung der großen Villa. Hier wird auf gewisse Weise der ganze Film noch mal symbolhaft verdichtet: ein Mann auf der Suche nach dem großen unbekannten Faktor. Besonders die Musik mit ihrer harten Basslinie packt und lässt nicht mehr los... also eigentlich tut sie es doch: sie setzt zwischendurch einfach aus, als Marc auf eine Glasscherbe tritt und setzt wieder ein, als er ein Fenster öffnet. Präzise und doch spielerisch. Abstrakt und doch sehr sinnlich. Eine puzzleartige Montage – und dann doch dieser feine, weiße Staub, der Marcs schwarzes Hemd zunehmend bedeckt; er, der mit einer Glasscherbe das versteckte Mauerbild frei kratzt und sich zwischendurch in den Finger schneidet. Das ganze endet schließlich damit, dass Marc etwas erblickt, aber nicht erkennt. Schaut, aber sieht nicht. Unvollständige Bilder zeigen nur einen kleinen Ausschnitt. Wer ein Bild beschneidet, wird es nicht verstehen können. Als würde PROFONDO ROSSO hier seine eigene Editionsgeschichte voller Schnitte im Inhalt wie auch im Format vorwegnehmen. Nun... an diesem 29. Juli war er in seiner vollen, anbetungswürdigen Pracht zu sehen, zu bewundern, zu genießen!




Ein großes Dankeschön an die Organisatoren des Festivals! Besonders natürlich an Andreas Beilharz und Christoph Draxtra für das großartige Programm. Und an alle Helfer, die es braucht, um eine solch schöne Veranstaltung zu stemmen. Nächstes Jahr wird es bestimmt wieder großartig, ich freue mich schon jetzt!



Persönliches Ranking:

Außer Konkurrenz:
TUTTO È MUSICA
PROFONDO ROSSO

Meisterhaft:
IL SOLE NELLA PELLE
LE MASSAGGIATRICI

Großartig:
DANCE MUSIC
L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA

Herausragend:
NELLA CITTÀ L'INFERNO
LOVEMAKER

Bockig – Eigensinnig – Liebenswert:
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST

Sehr gut:
LIBERI ARMATI PERICOLOSI

Gut:
ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA
SICARIO 77, VIVO O MORTO

Geht so:
IL TERRORE DEI MARI