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Sonntag, 5. September 2010

251 Erinnerungsfetzen

Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte
(Deutschland 2008)

Regie:  Michael Althen, Hans Helmut Prinzler

“Geschichte” - ein diffuser Begriff, der  in unserer schnelllebigen Zeit oft nur wenig mit dem pedantischen Aufarbeiten eines Ereignisses aus der Vergangenheit oder einer in die Gegenwart hineinreichenden Entwicklung, wie wir es von der Schule her kennen, zu tun hat. So mag es denn auch nicht erstaunen, dass eine Dokumentation, die über hundert Jahre deutsches Kino in 106 Filmminuten verpackt, als “eine Geschichte” bezeichnet wird. Was aber hat uns diese “Geschichte” zu bieten?

In erster Linie sind es einmal Erinnerungsfetzen aus sage und schreibe 251 Filmen, die einander gelegentlich vielsagend gegenübergestellt  (Leni Riefenstahl, die derart viel Zeit hinter der Kamera verbrachte, dass sie von allem nichts merken wollte, dem Schauspieler Joachim Gottschalk, der sich zusammen mit seiner jüdischen Frau 1941 für den Freitod entschied), manchmal aber auch zu Motivblöcken zusammengefügt werden, die den Eindruck erwecken, man wolle dem “deutschen Wesen”, das es natürlich nicht gibt, auf die Spur kommen (die Blicke der Männer, deren “teutonische Andersartigkeit” lediglich der Schminktechnik zuzuschreiben ist, das Rauchen, Küssen, Telefonieren etc. im deutschen Film, das sich kaum von dem in Filmen anderer Länder unterscheiden dürfte). Und oft stehen diese Fetzen auch wenig begründet nebeneinander.

Spannend wird es, wenn einzelne Themenbereiche oder geschichtliche Epochen dann doch anhand von Filmausschnitten näher beleuchtet werden: die Zeit des Nationalsozialismus mit ihrem Repertoire, das von musikalischer Unterhaltung über Veit Harlans Rührstücke - er liess seine Frau Kristina Söderbaum bekanntlich auf alle erdenklichen Weisen sterben - bis hin zu den schändlichen Propagandastreifen reichte, für deren schlimmsten, “Jud Süss”, 1940, auch Harlan als Regisseur verantwortlich war; die Geschichte der Berliner Mauer von ihrem Bau bis zum Fall und der diesen Fall verschlafenden Mutter in “Good Bye, Lenin” (2003) - oder die “Geschichte” eines Deutschlands auf der Strasse. - Leider wird wenig über den Film der DDR gesagt; man beschränkt sich neben einer etwas eingehenderen Besprechung von “Solo Sunny” (1980) vor allem auf von der Parteileitung verbotene Werke - während zumindest ich auch gerne Ausschnitte aus jenen Ablenkungsmusicals gesehen hätte, die offenbar als eine Art Pendant zu den Heintje- oder Roy Black-Glücklichmachern des Westens zu betrachten sein dürften.

Diesen Erinnerungsfetzen werden zehn Filmschaffende zugesellt, die sich kurz über einen ihrer Lieblingsfilme - auf oft sehr persönliche Art - äussern dürfen. Hier stört die höchst unterschiedliche Qualität der Besprechungen ein wenig: Man dürstet regelrecht nach einer neuen Sichtung von Helmut Käutners “Unter den Brücken” (1944), wenn man Christian Petzolds Analyse einer einzigen Szene aus diesem “Desertionsfilm” (das Wegblasen einer in die Stirn fallenden Locke) gesehen hat; wird von Hanns Zischler an die zutiefst beeindruckende Kälte in Alexander Kluges “Abschied von gestern” (1966), einem frühen “Neuen Deutschen Film”, erinnert - oder gar von Dominik Graf auf ein geradezu vergessenes Werk aufmerksam gemacht: Klaus Lemkes “Rocker” (1971), dessen lange zurückliegende Ausstrahlung im Fernsehen mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen stand. - Wenig ergiebig, gelegentlich lediglich selbstgefällig hingegen etwa  Tom Tykwers Bemerkungen zu Murnaus “Nosferatu” (1921) oder die von Doris Dörrie, die über “Alice in den Städten” (1974) einen neuen Blick auf Deutschland gefunden haben will. Auch das wohl grösste deutsche Filmereignis der Nachkriegszeit, Edgar Reitz’ “Heimat” (1984), dem man sich gerne wieder einmal in Form eines “Kino-Marathons” aussetzen würde, wird nicht seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt. --- Geradezu peinlich: die immer wieder eingeschobenen Assoziationszwänge, denen die Filmschaffenden unterworfen wurden - und über deren Sinn der Zuschauer im Dunkeln gelassen wird.

“Auge in Auge” macht deutlich, dass es nicht DIE Geschichte des deutschen Films ist, sondern lediglich “eine” von vielen möglichen. Nun, meine ist es nicht. So mühsam das Zusammensuchen von Filmausschnitten gewesen sein mag, es kam doch in erster Linie ein Ratespiel (aus welchem Film stammt dieser Ausschnitt doch gleich?) dabei heraus, im besten Fall eine kleine Aufforderung, sich gewisse - oft beliebig herausgepickte - Streifen doch mal wieder anzusehen. - Mir wäre jedoch eine pedantisch aufgearbeitete Geschichte des deutschen Films - möge sie auch 251 Stunden in Anspruch nehmen! - lieber; oder etwa eine Dokumentation, die sich auf spannende Weise (eine Epoche erhellend) eines einzigen Streifens annimmt. - Wem es ähnlich erging wie mir, sei etwa “Das Leben geht weiter” (2002), die äusserst beeindruckend aufgearbeitete Geschichte des letzten nationalsozialistischen Propagandafilms, der nie ins Kino kam und heute als verschollen gilt, ans Herz gelegt.