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Donnerstag, 19. Januar 2017

Was macht man mit einem Nagelbrett, wenn man kein Fakir ist?

Man macht damit Filme - was sonst? So sahen das jedenfalls Claire Parker und Alexandre Alexeïeff. Sehen wir uns zunächst den ersten und vielleicht bekanntesten Film der beiden an:

UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE (EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE)
Frankreich 1933
Regie: Alexandre Alexeïeff und Claire Parker



Die Musik, die dem Film seinen Titel und sein Thema gab, ist die sinfonische Dichtung "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" von Modest Mussorgski, hier in einer Orchesterbearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow. Es geht in der Musik (und somit auch im Film) um eine Art Hexensabbat auf dem slowenischen Berg Triglav. Es passieren die wildesten Dinge in dieser Nacht, und man sollte als gewöhnlicher Sterblicher besser nicht in der Nähe sein, aber am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei. Damit ist das Stück thematisch mit "Danse macabre" von Camille Saint-Saëns verwandt, das auch mehrere filmische Interpretationen erfuhr. Zu Mussorgski sollten Parker und Alexeïeff noch zweimal zurückkehren.

Alexandre Alexeïeff und Claire Parker 1960 (À PROPOS DE JIVAGO)
Alexandre Alexeïeff (1901-1982), ursprünglich Alexander Alexandrowitsch Alexejew, war ein Russe im französischen Exil. Einige Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Istanbul, wo sein Vater Militärattaché war. Nach dem Besuch einer Kadettenanstalt in Sankt Petersburg emigrierte er 1921 und landete schließlich in Paris - Französisch hatte er auf Betreiben seiner Mutter schon als Kind gelernt. 1923 heiratete Alexeïeff die Schauspielerin und Zeichnerin Alexandra Grinevsky (oder, nach russischer Konvention, Grinevskaya), die uneheliche Tochter eines russischen Würdenträgers, der sie schon als Kind nach Paris abgeschoben hatte. Mit Alexandra hatte Alexeïeff eine Tochter, die Malerin Svetlana Alexeieff-Rockwell (1923-2015) - sie ist die Mutter des Regisseurs Alexandre Rockwell. Während der 20er Jahre betätigte sich Alexeïeff als Bühnenbildner und Kostümdesigner für Theatergrößen wie Louis Jouvet und Georges Pitoëff sowie als Buchillustrator - sein zeichnerisches Talent wurde schon in der Kadettenanstalt gefördert, und er hatte sich zum Graveur weitergebildet. Das Spektrum der von Alexeïeff illustrierten Autoren reichte von Gogol, Puschkin und Dostojewskij über Poe und Cervantes bis Apollinaire, Baudelaire und Malraux. 1931 lernte er die wohlhabende amerikanische Kunststudentin Claire Parker (1906-1981) kennen, die schon ein technisches Studium am Massachusetts Institute of Technology absolviert hatte und nun nach Paris gezogen war. Nach Alexeïeffs Scheidung 1940 oder 1941 (die Quellen sind sich nicht ganz einig) wurde Parker seine zweite Frau. Parker und Alexeïeff waren aber schon bald nach ihrer Bekanntschaft ein Liebespaar, und Alexandra Grinevsky arrangierte sich irgendwie mit der Situation.

Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an Illustrationen zu "Doktor Schiwago" (À PROPOS DE JIVAGO)
Irgendwann Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre verspürte Alexeïeff den Wunsch, die Bilder im Stil seiner Buchillustrationen in Filmen zum Leben zu erwecken. Die feinen Graustufen, Schattierungen und plastischen Wirkungen, die man mit Lithografie, Aquatinta und ähnlichen Techniken hervorrufen konnte, und die Alexeïeff schätzte, waren aber mit der klassischen Zeichentricktechnik der cel animation kaum zu erreichen, und was er keinesfalls machen wollte, waren Filme im Cartoon-Stil. Deshalb ließ er sich etwas anderes einfallen - etwas ganz anderes. Und damit kommen wir zum Nagelbrett (auf Englisch meist pinscreen, gelegentlich auch pinboard genannt, auf Französisch écran d'épingles). Zunächst mit Unterstützung von Alexandra Grinevsky, dann mit Parker, entwickelte Alexeïeff das Verfahren, zeitweise arbeiteten auch alle drei zusammen daran. Die technisch begabte Claire Parker hatte möglicherweise den größten Anteil, jedenfalls lief das 1935 erteilte französische Patent auf ihren Namen. Künstlerisch scheint Alexeïeff der Kopf der Gruppe gewesen zu sein. Bei den fünf eigenständigen Filmen sowie dem Prolog zu Orson Welles' LE PROCÈS, die mit dem Nagelbrett realisiert wurden, arbeiteten Parker und Alexeïeff als Animateure und Regisseure eng zusammen, so dass man sie alle als gemeinsame Werke der beiden bezeichnen muss. Grinevsky war daran nicht mehr beteiligt, aber bei etlichen der Werbefilme, die die Gruppe zum Broterwerb drehte (ohne Nagelbrett, was viel schneller ging), wirkte sie aktiv mit.

Die Hauptrichtungen des Dreiecksmusters werden sichtbar, wenn man das Nagelbrett frontal anstrahlt
(dieses und die nächsten vier Bilder: PIN SCREEN von Norman McLaren)
Wie funktioniert das Ding nun also? Das haben Parker und Alexeïeff selbst am besten erklärt. 1972 hielten sie auf Einladung von Norman McLaren am National Film Board of Canada (NFB) ein Seminar vor den dort tätigen Animationsfilmern, die auch selbst an einem mitgebrachten Nagelbrett unter Aufsicht der beiden Altmeister experimentieren durften (Ryan Larkin war auch mit dabei). McLaren machte daraus einen 40-minütigen Film, der laut Anfangscredits vollständig THE ALEXEIEFF-PARKER PIN SCREEN bzw. L'ÉCRAN D'ÉPINGLES ALEXEIEFF-PARKER heißt, aber meist nur kurz PIN SCREEN genannt wird. Der Film war wohl hauptsächlich als Lehrmaterial für zukünftige Studenten am NFB gedacht, aber heute bildet er auch (neben ihren Filmen natürlich) ein Vermächtnis von Parker und Alexeïeff. Daneben gab es weitere Dokus, z.B. den kurzen und ohne Worte auskommenden À PROPOS DE JIVAGO von 1960 (die beiden hatten damals mit dem Nagelbrett Illustrationen für eine Ausgabe von Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" erstellt), und einen noch kürzeren mit dem Titel TROIS THÈMES, der sie an der Arbeit zu ihrem gleich betitelten letzten Film zeigt. Die Bilder hier sind alle aus diesen Filmen.

Seminar vor kleinem, aber exquisitem Publikum; rechts das "kleine" Modell
mit 240.000 Nägeln und seine beiden Schöpfer
Das Nagelbrett ist eine vertikal stehende Tafel mit einem regelmäßigen Dreiecksmuster von Löchern. Und zwar sehr vielen Löchern - das erste einsatzfähige Exemplar hatte ungefähr eine Million davon. In den Löchern stecken spitze Metallstifte, die länger sind als die Dicke der Tafel. Die Stifte sind beweglich, können also so verschoben werden, dass sie entweder auf der Vorder- oder der Hinterseite der Tafel herausragen, oder eine beliebige Zwischenstellung einnehmen. Eine bestimmte Schmierflüssigkeit sorgt dafür, dass die Nägel weder zu leicht noch zu streng gleiten, so dass man sie nur mit einem gewissen Krafteinsatz verschieben kann. Der Clou ist nun, dass die Vorderseite der Tafel weiß ist, während die Nägel mehr oder weniger schwarz sind. Die Vorderseite der Tafel wird nun von einer starken Lichtquelle von der Seite her beleuchtet. Je nachdem, wie weit die Stifte hervorstehen, werfen sie einen mehr oder weniger langen Schatten. Während ein einzelner Nagel praktisch keinen wahrnehmbaren Effekt hat (er ist quasi ein einzelnes Pixel in einem hoch aufgelösten Bild), ergibt die Summe der Nägel in einem Gebiet der Tafel je nach ihrer Stellung eine beliebig einstellbare Mischung von beleuchteten und beschatteten Stellen auf der Tafel, und damit aus der Entfernung betrachtet (oder mit einer Filmkamera in Einzelbildschaltung aufgenommen) beliebige Grauabstufungen.

Das Prinzip wird am vergrößerten Modell erklärt
Damit das funktioniert, ist es wichtig, dass der Lichteinfall aus der richtigen Richtung erfolgt. Die jeweils benachbarten Löcher bzw. Stifte bilden gleichseitige Dreiecke. Wenn das Licht parallel zu einer der drei, um 60° gegeneinader gedrehten, Dreiecksseiten einfallen würde, dann würden sich "Korridore" ergeben, die nie beschattet werden, egal wie weit die Stifte herausstehen. Die Richtung des Lichteinfalls muss also um einen gewissen Winkel zu den drei "Hauptrichtungen" gedreht sein. Wenn dann die Stifte nur leicht herausstehen, wirft jeder einen isolierten Schatten. Wenn die Stifte weiter herausstehen, vereinigen sich diese einzelnen Schatten zunehmend zu einem zusammenhängenden Gebilde, das bei maximal hervorstehenden Stiften schließlich die ganze Fläche in diesem Bereich der Tafel bedeckt und so für Schwarz sorgt.


Um die Stifte für eine Aufnahme zu positionieren, wurden sie mit Gegenständen aller Art in die richtige Stellung gedrückt, und zwar von beiden Seiten der Tafel, je nach gewünschter Wirkung. Wenn man beispielsweise eine weiße Linie in eine dunkle Fläche "zeichnen" wollte, oder aber umgekehrt, so musste man im einen Fall zuerst alle Nägel dieser Fläche von hinten nach vorne drücken und dann die Nägel an der vorgesehenen Linie wieder von vorne nach hinten drücken - oder im anderen Fall genau spiegelbildlich vorgehen. "Gedrückt" wurde mit allen möglichen Gegenständen, etwa Linealen, Messern und Löffeln, und vielen weiteren Utensilien, die man in einem Haushalt findet, aber auch mit speziellen Anfertigungen von Alexeïeff und Parker. Vor allem kamen Rollen unterschiedlicher Breite und Form zm Einsatz, mit denen man Linien und Streifen beliebiger Breite in die "Matte" aus Nägeln walzen konnte. Wenn diese Rollen keine glatte Rollfläche hatten, sondern ein bestimmtes Muster darin aufwiesen, so konnte man dieses Muster in der Art eines antiken Rollsiegels auf die Nägel übertragen.


Im praktischen Einsatz war es so, dass Alexeïef als künstlerischer Kopf die Bilder auf dem Nagelbrett schuf (und zwar frei, also ohne Storyboard oder dergleichen), während Parker dabei assistierte und die Kamera bediente, so dass sich nach dem Stop-Motion-Prinzip nach und nach der Film zusammensetzte. War schon die Entwicklung des Nagelbretts eine komplizierte und nicht ganz billige Angelegenheit, so galt das auch für das Drehen von Filmen damit. Es war hohe künstlerische und technische Fertigkeit von Nöten, hohe Konzentration und vor allem viel Geduld. Die Arbeit an UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE begann 1931 und dauerte eineinhalb Jahre. Nach der Premiere in Paris gab es viel Lob von Künstlern und von der Kritik, doch dann stellten Parker und Alexeïeff das Nagelbrett erst mal in die Ecke und drehten Werbefilme (im Gegensatz zu den Nagelbrettfilmen in Farbe), zusammen mit Alexandra Grinevsky (wie oben schon erwähnt) sowie ein oder zwei angestellten Animateuren. Aber auch hier gaben sich Alexeïeff und seine Mitstreiter künstlerisch und technisch einige Mühe. Ab 1936 gab es auch eine Reihe von Auftragen aus Deutschland, so dass das Studio vorübergehend nach Berlin verlegt wurde. Das Spektrum der beworbenen Produkte reichte vom Loewe Opta Radioempfänger bis zu Klopapier. Anfang 1938 gingen Alexeïeff und seine Mitstreiter zurück nach Paris, und 1940 setzte sich die Ménage-à-trois Parker, Alexeïeff und Grinevsky (samt Tochter Svetlana) in die USA ab. Dort ließ sich Alexeïeff, wie schon erwähnt, von Grinevsky scheiden, die daraufhin eigene Wege ging, während Parker und Alexeïeff nicht nur als künstlerisches Team zusammenblieben, sondern dann auch heirateten.

Die Lichtquelle wird justiert (À PROPOS DE JIVAGO)
Im amerikanischen Exil drehten Parker und Alexeïeff keine Werbeclips, aber dafür den zweiten Nagelbrettfilm, und zwar beim NFB. Norman McLaren, der beim NFB die Animationsfilmabteilung aufgebaut hatte und für Jahrzehnte leitete, hatte UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE irgendwann in den 30er Jahren gesehen und war schwer beeindruckt, und er hatte wohl Wind davon bekommen, dass sich Parker und Alexeïeff in den USA aufhielten. 1944 produzierte McLaren am NFB eine Reihe von kurzen Animationsfilmen unter dem Sammeltitel CHANTS POPULAIRES, in denen jeweils ein franko-kanadisches Volkslied mit Bildern versehen wird, und er lud Parker und Alexeïeff ein, auch einen Beitrag dazu abzuliefern. Das Ergebnis war der (ohne den Serienvorspann) nicht mal eineinhalbminütige EN PASSANT. Da er als fünfter Film der Serie erschien, findet man ihn auch unter dem Titel CHANTS POPULAIRES N° 5.

Auf den Einfallswinkel des Lichts kommt es an: links oben ganz schlecht, dann zunehmend
besser, aber noch nicht perfekt (PIN SCREEN)
Nach dem Krieg kehrte das Paar nach Paris zurück und nahm Anfang der 50er Jahre zunächst seine Tätigkeit als Werbefilmer wieder auf. Alexeïeff erdachte in dieser Phase ein Verfahren, das er "Totalisation" nannte. Dabei wird eine Lichtquelle, die pendelt, rotiert oder sich sonstwie annähernd regelmäßig bewegt, mit sehr langer Belichtungszeit aufgenommen, so dass die Lichtspur festgehalten wird. Das kombinierte er mit konventioneller Stop-Motion-Technik und weiteren Verfahren und erzielte damit interessante Wirkungen, so dass sein Studio, wie schon in den 30er Jahren, großen Anklang bei den Werbekunden fand. Zwei Werbeclips aus dieser Phase, die bis Mitte der 60er Jahre dauerte, habe ich hier vorgestellt (allerdings beide ohne Totalisation). Bei den Werbefilmen wurde meist Alexeïeff als alleiniger Regisseur benannt, aber Parker beteiligte sich auch daran.

Dieselbe Konfiguration des Nagelbretts bei zwei verschiedenen Lichteinfallswinkeln (À PROPOS DE JIVAGO)
1962 gab es eine weitere Auftragsarbeit für das Nagelbrett: Den Prolog zu Orson Welles' Kafka-Verfilmung LE PROCÈS. Da es sich um eine Abfolge von Standbildern handelt, ist die Sequenz kein Nagelbrettfilm im engeren Sinn. Die Stimme gehört natürlich Meister Welles persönlich, der Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" rezitiert, die einen abgeschlossenen Text innerhalb von "Der Prozess" bildet. 1963 folgte dann der dritte "richtige" Nagelbrettfilm, LE NEZ (DIE NASE), zugleich der längste seiner Art von den beiden. Im Gegensatz zum frei-assoziativen UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE folgt diese Verfilmung der gleichnamigen absurden Parabel von Nikolai Gogol einer klareren Handlungslinie, wenn auch einer ziemlich surrealen: Einem Beamten kommt seine Nase abhanden, die daraufhin ein Eigenleben führt.

Werkzeuge: Verschiedene Rollen, aber auch Matrjoschka-Puppen; unten: eine sehr breite Rolle dient
als "Schwamm" zum Löschen der gesamten "Tafel" (PIN SCREEN)
Die letzten beiden Nagelbrettfilme von Alexeïeff und Parker markieren die Rückkehr zu Mussorgski. TABLEAUX D'UNE EXPOSITION (1972) ist natürlich eine Interpratation von "Bilder einer Ausstellung", ein Jahr nachdem sich Emerson, Lake and Palmer auf ihre Art dieser Musik angenommen hatten. Es spielt der österreichische Pianist Alfred Brendel. Bei diesem Film kommt eine Neuerung zum Tragen: Es werden nicht nur eines, sondern zwei Nagelbretter verwendet. Während das etwas größere im Hintergrund fixiert ist, ist das kleinere im Vordergrund um eine vertikale Achse drehbar gelagert. TROIS THÈMES von 1980 schließlich, wieder mit Brendel am Klavier, ist der Schwanengesang des Paars. Claire Parker starb 1981, Alexandre Alexeïeff 1982.

Werkzeugkasten (À PROPOS DE JIVAGO)
Das Nagelbrett, das Parker und Alexeïeff 1972 nach Kanada mitbrachten, ist kleiner als das Original aus den 30er Jahren (das sich heute im Centre national du cinéma et de l'image animée in Paris befindet) und hat "nur" ca. 240.000 Nägel. Dieses Exemplar wurde nach dem Seminar sogleich vom NFB erworben, und es ist (als einziges weltweit) noch immer im Einsatz. Für lange Jahre war Jacques Drouin vom NFB der einzige, der die Nachfolge von Alexeïeff und Parker antrat und die nötige Mühe und Geduld für Filme mit dem Nagelbrett aufbrachte. Besonders schön ist etwa LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE . Das Motiv der Leinwand, auf der sich der "reale" Hintergrund nahtlos fortsetzt, ist sicher von René Magritte inspiriert. Nagelbrettfilme sind naturgemäß zunächst einmal schwarzweiß, aber natürlich ist es nicht weiter schwer, ihnen eine monochrome Einfärbung zu verpassen, wie in Drouins EX-ENFANT / EX-CHILD. Auch nachdem sich Drouin mittlerweile im Ruhestand befindet, ist die Technik noch nicht tot - Michèle Lemieux hat 2012 mit LE GRAND AILLEURS ET LE PETIT ICI den bislang letzten Vertreter hervorgebracht. Hier erzählt sie etwas über die Entstehung des Films, und man bekommt noch einmal die Technik erklärt und demonstriert. Es kann also weitergehen!

Ein Ring mit einem Profil ähnlich einem Fahrzeugreifen erzeugt beim Abrollen
ein Muster, aus dem Getreide wird (À PROPOS DE JIVAGO)
In den 70er Jahren entwickelte ein Ward Fleming eine Vorrichtung, die dem Nagelbrett von Parker und Alexeïeff sehr ähnlich ist. Die Stifte sind hier nicht aus Metall, sondern Kunststoff, sie sind leichter verschiebbar, und sie sind wohl noch dichter gepackt als beim klassischen Nagelbrett - jedenfalls entstehen hier die Bilder nicht durch den Schattenwurf, sondern durch das dreidimensionale Relief der Stifte selbst. Dennoch ist die Verwandtschaft mit dem ursprünglichen Konzept unübersehbar. Das hielt Fleming nicht davon ab, sich als Erfinder seiner Entwicklung zu betrachten und diese zum Patent anzumelden. Eine kleine Spielzeugversion davon hat sich zig-millionenfach verkauft, Fleming dürfte also ziemlich reich damit geworden sein. Es gibt aber auch sehr große Exemplare, die sich auch für Live-Performances wie diese hier eignen.

Derselbe Ring wie oben erzeugte auch den Stamm und die Zweige
des Weihnachtsbaums (À PROPOS DE JIVAGO)
Alle Nagelbrettfilme von Parker & Alexeïeff (außer dem Prolog zu LE PROCÈS) und eine Auswahl von 20 Werbefilmen sowie À PROPOS DE JIVAGO, McLarens PIN SCREEN, Drouins LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE und einige weitere Bonusfilme sind zusammen in Frankreich auf der DVD Alexeïeff - Le cinéma épinglé erschienen. DVD und Booklet sind zweisprachig Französisch/Englisch. Eine amerikanische Lizenzausgabe davon gibt es auch. Wer beim Nagelbrett nicht kleckern, sondern klotzen will, kommt an einer dieser beiden Scheiben nicht vorbei. Die Bildqualität ist selbstredend besser als bei den YouTube-Videos. UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE ist auch im 7-DVD-Set Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 enthalten, PIN SCREEN auch im 7-DVD-Set Norman McLaren. The Master's Edition. LE PROCÈS ist auf diversen DVDs und Blu-rays erhältlich.

TROIS THÈMES (Kurzdoku): Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an ihrem gleichnamigen letzten Film

Samstag, 6. September 2014

Ein neuer Stummfilm von Orson Welles

TOO MUCH JOHNSON
USA 1938/2013
Regie: Orson Welles
Darsteller: Joseph Cotten (Augustus Billings), Edgar Barrier (Leon Dathis), Arlene Francis (Mrs. Dathis), Virginia Nicolson (Leonore Faddish), Ruth Ford (Mrs. Billings), Mary Wickes (Mrs. Upton Batterson), vielleicht Orson Welles (Keystone Kop)

Ein Keystone Kop - aber wahrscheinlich nicht Orson Welles
Ein neuer Film von Orson Welles? Natürlich nicht wirklich, schließlich ist der Meister schon seit 1985 tot. Aber ein Film, der unvollendet blieb und nicht aufgeführt wurde, der lange als verloren galt und 2008 wundersamerweise wieder auftauchte, der letztes Jahr zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, und der neuerdings allgemein zugänglich ist. Ein Stummfilm ist TOO MUCH JOHNSON in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde er ohne Tonspur aufgenommen, und zweitens imitiert er Hollywoods Slapstick-Komödien aus der Ära eines Mack Sennett. Schon in THE HEARTS OF AGE, seinem ersten Film (oder seinem zweiten, wenn man TWELFTH NIGHT von 1933 mitzählt, aber das ist nur eine mit völlig statischer Kamera abgefilmte Theaterprobe eines Stücks, das Welles inszeniert hatte), versuchte sich Welles auf ähnlichem Gebiet. Er inszenierte THE HEARTS OF AGE gemeinsam mit seinem Schulfreund William Vance 1934 anlässlich eines Schulfestes an der früheren Schule der beiden in Woodstock, Illinois (nicht zu verwechseln mit Woodstock, New York). Es handelt sich um eine kurze Parodie auf die surrealistischen Stummfilme von Buñuel/Dali und Jean Cocteau, mit Welles als einer Figur irgendwo zwischen Dr. Caligari und dem Joker. 1938 produzierte Welles das legendäre Hörspiel "The War of the Worlds" sowie eine ganze Reihe weiterer Hörspiele (die man alle hier herunterladen kann), und er wirkte als Regisseur, Schauspieler und in multipler sonstiger Funktion am Mercury Theatre, das er und John Houseman 1937 in New York gegründet hatten. Eines der Stücke, die 1938 auf dem Spielplan standen, war "Too Much Johnson", ein 1894 geschriebener Schwank von William Gillette (1853-1937), einem seinerzeit sehr bekannten und beliebten Schauspieler und Bühnenautor, der vor allem für seine Darstellung von Sherlock Holmes berühmt war. In "Too Much Johnson" wird Augustus Billings, ein New Yorker Playboy (der den falschen Namen Johnson benutzt), vom eifersüchtigen Ehemann seiner Geliebten bis nach Kuba (wo noch ein echter Johnson in die Handlung eingreift) verfolgt.

Joseph Cotten und Arlene Francis
Welles kam nun auf den Gedanken, die Aufführung mit einem dreiteiligen Film von ungefähr 40 Minuten Länge zu ergänzen: Die einzelnen Teile von 20, 10 und nochmal 10 Minuten sollten jeweils einen der drei Akte des Stücks einleiten. Die Idee war nicht neu - so entstand etwa René Clairs erster Film ENTR'ACTE (1924) als Pausenfüller für ein von Francis Picabia ausgestattetes Ballett, und 1923 drehte Sergej Eisenstein seinen ersten Kurzfilm GLUMOWS TAGEBUCH zur Anreicherung eines von ihm inszenierten Theaterstücks. Um die Aufführungen durch die Filmsequenzen nicht zu sehr aufzublähen, wurde im Gegenzug Gillettes Stück von Welles stark gekürzt (Welles schreckte auch nicht davor zurück, Shakespeare stark zu kürzen, da war das bei Gillette ein Klacks). Für den geplanten Film schrieb Paul Bowles eine Musik, die bei den Aufführungen live hätte gespielt werden sollen. Bowles ist zwar viel bekannter als Schriftsteller ("Himmel über der Wüste", verfilmt von Bertolucci), aber er war auch Komponist.

Slapstick auf den Dächern von New York
Die Darsteller in TOO MUCH JOHNSON kamen überwiegend vom Mercury Theatre und von Welles' Hörspiel-Truppe. Für etliche, darunter Joseph Cotten, war es der erste Filmauftritt, und einige, neben Cotten etwa Erskine Sanford, traten auch in späteren Welles-Filmen regelmäßig auf. Ebenfalls zur Besetzung gehörte Welles' erste Ehefrau Virginia Nicolson (manchmal auch "Nicholson" geschrieben), die auch schon in THE HEARTS OF AGE mitgespielt hatte. Welles selbst übernahm vielleicht die Rolle eines Keystone Kops (siehe Update). In zehn Tagen drehte Welles mit seinen Schauspielern ungefähr 7600 Meter Film (was über viereinhalb Stunden Laufzeit entspricht). Daraus schnitt er selbst in dem New Yorker Hotel, in dem er wohnte, mit einer Moviola eine Rohfassung von 66 Minuten Länge. Über diesen Zustand kam TOO MUCH JOHNSON jedoch nicht hinaus. Verschiedene Gründe könnten dazu beigetragen haben, dass er unvollendet blieb, aber über die Gewichtung herrscht Unklarheit. Nach einer Kurzversion von 1900 hatte 1919 Donald Crisp Gillettes Stück für Paramount verfilmt, und 1938 besaß Paramount die Filmrechte immer noch und ließ Welles angeblich über einen Anwalt ausrichten, dass er die Rechte nicht umsonst, sondern nur gegen eine beträchtliche Lizenzgebühr haben könne. Eine heuer durchgeführte ausgiebige Recherche in den Archiven von Paramount hat allerdings keine Belege für diese Version erbracht. Welles war damals anscheinend knapp bei Kasse, jedenfalls soll es Beschwerden von einigen der Schauspieler gegeben haben, dass sie ihre Gage unvollständig oder verspätet erhielten, und das Kopierwerk soll die bearbeiteten Filmrollen nur noch gegen Vorkasse herausgerückt haben. Die Inszenierung des Stücks hatte im August 1938 einen Probelauf in einem Theater in der Nähe von New Haven, Connecticut, und angeblich stellte sich heraus, dass dieses Theater überhaupt nicht für die Projektion von Filmen gerüstet war. Allerdings war das Theater ursprünglich ein Nickelodeon, was auch diese Version etwas zweifelhaft erscheinen lässt. Vielleicht lief Welles einfach nur die Zeit weg, weil er den Aufwand unterschätzt hatte, und weil er und ein Teil der Besetzung gleichzeitig noch mit der regelmäßigen Radio-Arbeit beschäftigt waren. Jedenfalls lief die Inszenierung in Connecticut ohne den Film (und damit auch ohne Bowles' Musik, die dieser etwas umarbeitete und 1939 separat veröffentlichte). Das ohne Film und in der gekürzten Form offenbar nur noch mäßig interessante Stück fiel bei Publikum und Kritik in Connecticut durch, und der eigentlich vorgesehene Lauf in New York wurde daraufhin abgesagt - und das war es dann mit TOO MUCH JOHNSON. Der erste Eintrag in der betrüblich langen Liste von Welles' unvollendeten Filmprojekten war geboren.

Virginia Nicolson (links) und Ruth Ford
Was danach mit dem 66-minütigen "Workprint" geschah, ist nicht bekannt. Welles entdeckte das Material Ende der 60er Jahre in der Villa bei Madrid, die er damals bewohnte, aber er konnte sich seiner Aussage nach nicht erinnern, ob es sich immer in seinem Besitz befunden hatte. Der Zustand der Filmrollen war laut Welles damals ausgezeichnet. Eine nachträgliche Veröffentlichung zog er nicht in Betracht, weil sie ihm ohne das Theaterstück als sinnlos erschien, aber er hatte die Idee, eine fertig geschnittene Fassung Joseph Cotten als Geschenk zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Welles 1970 zu Dreharbeiten abwesend war, brannte die Villa aus, und der leicht entflammbare Nitrofilm löste sich in Rauch auf (so die offizielle Version - mehr dazu unten im Update). Wie jedermann einschließlich Welles selbst (oder doch nicht?) glaubte, war TOO MUCH JOHNSON damit endgültig verloren. Doch 2008 tauchte völlig unverhofft in einem Lagerhaus in Pordenone in Friaul (wo regelmäßig das bekannte Stummfilmfestival stattfindet) eine intakte Kopie auf. Zunächst kümmerten sich die in Pordenone ansässige Einrichtung Cinemazero und die Cineteca del Friuli darum, dann das George Eastman House in Rochester, New York. In einer international koordinierten Anstrengung dieser Institutionen und eines spezialisierten Filmlabors, unterstützt durch eine Geldspritze der amerikanischen National Film Preservation Foundation (die u.a. durch die verdienstvolle DVD-Reihe Treasures From American Film Archives hervorgetreten ist), wurde TOO MUCH JOHNSON sorgfältig restauriert. Im Oktober 2013 hatte der wiederauferstandene Film unter großem Publikumsandrang (es mussten zusätzliche Aufführungen anberaumt werden) seine Premiere beim Stummfilmfestival in Pordenone - welchen besseren Ort hätte es dafür geben können? Und seit zwei Wochen kann man TOO MUCH JOHNSON auf der Website der National Film Preservation Foundation legal, kostenlos und in guter Qualität herunterladen oder als Stream ansehen, und zwar gleich in zwei Versionen: der komplette 66-minütige Workprint (ca. 1 GB) und eine daraus erstellte 34-minütige Version (ca. 560 MB), die mit einigen erklärenden Zwischentiteln ergänzt wurde, und die vielleicht dem nahekommt, was sich Welles seinerzeit vorgestellt hatte. Wobei betont wird, dass das nur ein Versuch ist, und dass andere Versuche möglich und wünschenswert sind. Beide Versionen wurden mit einer neuen stummfilmgemäßen Klavierbegleitung von Michael D. Mortilla versehen.

Nochmal Cotten und Francis
Man sollte kein CITIZEN KANE 0.9 von TOO MUCH JOHNSON erwarten - natürlich nicht. Selbst wenn Welles den Film vollendet hätte, würde da zuviel fehlen, vom kongenialen Kameramann Gregg Toland bis zu den materiellen Möglichkeiten eines großen Hollywood-Studios. Und durch den vorgesehenen Einsatzzweck geht im zweiten und dritten Teil die inhaltliche Kohärenz doch etwas verloren - schließlich hätte ein Teil der Geschichte auf der Bühne erzählt werden sollen, und das können die Zwischentitel nur teilweise kompensieren. Doch TOO MUCH JOHNSON ist trotzdem eine interessante und unterhaltsame Talentprobe mit witzigen Ideen und gelungenem Slapstick. Auch ohne den überlebensgroßen Namen "Orson Welles" wäre er durchaus einen Blick wert.

UPDATE (11. September): In IMDb, Wikipedia und anderswo ist zu lesen, dass Welles in TOO MUCH JOHNSON eine Rolle als einer der Keystone Kops übernommen hat, und ich hatte das zunächst so in den Artikel übernommen. Quelle für diese Behauptung scheint ein Interview zu sein, das Welles 1978 einem Frank Brady gab, und das in der Zeitschrift American Film erschien. Doch Welles ist bekannt dafür, dass man nicht alles glauben darf, was er in Interviews erzählte, und laut Auskunft der National Film Preservation Foundation glaubt Prof. Scott Simmon, der für die Foundation die 34-minütige Schnittfassung erstellte und die beiden Begleittexte auf den Download-Seiten schrieb, dass es sich dabei um ein falsches Gerücht handelt. Es könnte also sein, dass Welles gar nicht mitspielt.

In IMDb und Wikipedia wird Mrs. Billings' Mutter Mrs. Upton Battison geschrieben, in den Zwischentiteln dagegen Mrs. Upton Batterson. Letzteres ist richtig, wovon ich mich hier überzeugt habe.

ZWEITES UPDATE: Wie der Welles-Experte Joseph McBride in diesem Artikel berichtet, hat sein spanischer Kollege Esteve Riambau in diesem August etwas Licht in die Frage gebracht, wie TOO MUCH JOHNSON überlebt haben könnte. Laut einem spanischen Zeitungsartikel von 1970 und Auskunft von Juan Cobos, der Welles' Regieassistent beim in Spanien gedrehten FALSTAFF (1965) war, gab es zwar ein Feuer in der Villa (die während einer längeren Abwesenheit von Welles von dem Schauspieler-Paar Robert Shaw und Mary Ure gemietet war), aber das war schnell gelöscht und betraf nur einen Raum, während die Filmrollen sicher im Keller lagerten. In seinen späteren Erzählungen hat Welles das Ausmaß des Feuers also stark übertrieben. Es scheint nun, dass Welles selbst, der 1969/70 einige Zeit in Rom arbeitete, die Filmrollen dorthin mitgenommen haben könnte (von wo sie später über Vicenza nach Pordenone kamen), sei es, um den Film fertig zu schneiden (vielleicht, um ihn Cotten zu schenken), sei es, um ihn vor neugierigen Filmhistorikern zu verbergen, die an der von ihm selbst lange verbreiteten Legende rüttelten, CITIZEN KANE sei sein erster Film gewesen (Welles war auch gar nicht froh, als McBride 1970 den lange verschollenen THE HEARTS OF AGE in einem Archiv aufstöberte). Welles könnte die Filmrollen in Rom zurückgelassen haben, als er etwas überstürzt abreiste, nachdem seine Affäre mit Oja Kodar bekannt wurde und ihm die Sensationspresse auf den Fersen war. Jedenfalls scheint Welles auch schon über TOO MUCH JOHNSON (wie über diverse andere Aspekte seines Lebens und Schaffens) ein Gespinst aus Legenden gestülpt zu haben, in dem sich auch seriöse Institutionen wie das George Eastman House und die National Film Preservation Foundation verfingen und deshalb teilweise falsche oder widersprüchliche Informationen verbreiten. Nach Rücksprache mit dem italienischen Filmhistoriker Paolo Cherchi Usai vom George Eastman House, der auch mit Pordenone verbunden ist, verlegt McBride die eigentliche Entdeckung und Identifizierung der Filmrollen auf Ende 2012. Das ist auch plausibler als eine Entdeckung schon 2008 (wie sie in den meisten Berichten behauptet wird), denn in diesem Fall hätte die Restaurierung nicht nur fünf Jahre gedauert, sondern auch ebenso lange geheim gehalten werden müssen (die Presse berichtete erst 2013 über die Wiederentdeckung). Nur langsam lichten sich die Nebel um TOO MUCH JOHNSON, und manches wird wohl für immer ein Mysterium bleiben.

Liebhaber und gehörnter Ehemann am Ende auf seltsame Weise vereint