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Montag, 28. Januar 2013

Ode an eine lächerliche Existenz: Von der Radikalisierung des „Melville-Touch“


LE DEUXIÈME SOUFFLE (DER ZWEITE ATEM)
Frankreich 1966
Regie: Jean-Pierre Melville
Darsteller: Lino Ventura (Gustave Minda, dit „Gu“), Paul Meurisse (Commissaire Blot), Christine Fabréga (Simone, dite „Manouche“), Michel Constantin (Alban), Marcel Bozuffi (Jo Ricci), Pierre Zimmer (Orloff), Raymond Pellegrin (Paul Ricci), Paul Frankeur (Inspecteur Fardiano)

„Bei seiner Geburt erhält der Mensch nur ein einziges Recht: die Wahl seines Todes. Wenn aber diese Wahl durch Ekel vor seinem Leben diktiert wird, so wird seine Existenz eine reine Lächerlichkeit gewesen sein...“

Drei Männer versuchen, aus einem Gefängnis auszubrechen. Einer von ihnen springt etwas zu weit, verfehlt das Seil und stürzt in die Tiefe. Die beiden anderen stellen emotionslos seinen Tod fest und fliehen durch den Wald. Sie springen in einen Güterzug und nach kurzer Zeit verabschiedet sich einer der Männer und geht seinen eigenen Weg. So beginnt LE DEUXIÈME SOUFFLE, der zu recht als transitorisches Werk der Stiländerung in Jean-Pierre Melvilles Schaffen gedeutet wird. Diese ersten fünf Minuten des Films konzentrieren (dialog- und musiklos) alle Themen, die das Spätwerk des französischen Regie-Exzentrikers prägen: Flucht, Ausbruch, Tod, die Unterdrückung von bzw. der Unwillen zu Emotionen, Einsamkeit, die Vergänglichkeit von Kameraderie und Loyalität, Verrat, und die Ambivalenz zwischen hyperrealistisch-naturalistischer und künstlich-stilisierter Welt (das Einsteigen in den fahrenden Güterwagon wird in „Echtzeit“ inklusive Anlaufnehmen, Stolpern, erneutes Anlaufnehmen, Raufklettern, Fast-Fallen, erneutes Raufklettern gefilmt, während der vorangegangene Ausbruch als Kletteraktion über eine eindeutig als artifiziell erkennbare Kulisse inszeniert wird).

Der Flüchtling, dem wir für den Rest des Films folgen, ist Gustave Minda, genannt „Gu“: ein Gangster, der gerade eine lebenslängliche Strafe wegen eines Raubüberfalls mit Mord absaß. Zuflucht findet er bei seiner Geliebten Manouche und bei seinem besten Kumpel, dem Scharfschützen Alban. Beide befinden sich gerade in einer Art Bandenkrieg mit dem Mobster und Nachtclub-Besitzer Jo Ricci. Dessen beiden Handlanger, die Manouche und Alban aus dem Weg räumen sollen, werden von Gu überwältigt und wenig später hingerichtet. Der flüchtige Gangster macht sich nach Wochen des Verstecks in den Süden auf, um seine Überfahrt nach Italien vorzubereiten, doch der Kommissar Blot, ein intimer Kenner des „Milieus“, ist ihm schon nahe an den Fersen. Um im Ausland untertauchen zu können, braucht Gu aber vorher Geld. Der Profi-Räuber Orloff bietet ihm die Teilnahme an einem Projekt Paul Riccis an (Jos Bruder): ein Raubüberfall auf einen Platin-Konvoi, bei dem die Tötung zweier Wächter schon fest eingeplant ist...

LE DEUXIÈME SOUFFLE basiert auf einem Roman des Schriftstellers und späteren Regisseurs José Giovanni, erschienen in der série-noire-Reihe des Verlags Gallimard. Hier wurden nicht nur Übersetzungen US-amerikanischer hard-boiled-Romane, sondern auch von ihnen inspirierte französische Werke publiziert. Überaus amerikanisch geprägt ist also der Stoff von LE DEUXIÈME SOUFFLE, was bei einem Film Jean-Pierre Melvilles ohnehin nicht wunderlich ist. Wie vier Jahre zuvor in LE DOULOS frönte der „American in Paris“ (Ginette Vincendeau) erneut hemmungslos seinem Trenchcoat-Fedora-Gangster-Cool-Fetischismus. Auch sonst enthält LE DEUXIÈME SOUFFLE viele Elemente des film noir, nicht zuletzt eine expressive Schwarzweiß-Fotografie – effizient lotete Melville deren Möglichkeiten aus, bevor er für seine letzten vier Filme definitiv auf Farbe umstieg (oder zumindest auf farbähnliche Monochromie).

Das noir-Feeling entsteht auch aus der fast unübersichtlichen Zahl an Figuren, die teilweise nur als namentliche Erwähnungen die Bühne betreten, oder die Allianzen wechseln, oder schnell eines gewaltsamen Todes sterben. Auch eine noir-typische moralisch-existentielle Unsicherheit zieht sich durch den ganzen Film. Als völlig bedeutungslos erscheinen die Grenzen zwischen Gangster und Polizisten: nur die Dienstmarke unterscheidet sie. Kommissar Blot kennt alle Leute des milieu ganz genau, wie intime Freunde. Er duzt die Gangster hinter den Kulissen, trinkt mit ihnen bedenkenlos Cognac, fragt nach Befinden von Frau und Kind, warnt vor rachesüchtigen Rivalen... Hinter dieser höflichen Freundlichkeit steckt auch eine Kaltblütigkeit, die jener der mordenden Gangster in nichts nachsteht. Als es Blot zusammen mit dem Marseiller Inspektor Fardiano gelingt, Gu und Paul Ricci zu verhaften, versuchen die Polizisten aus den Inhaftierten mittels Folter Geständnisse und die Nennung von Namen zu erpressen. Nebst dumpfen Prügeln wird auch eine primitive Form des waterboarding zumindest angedeutet (die explizitere, komplette Szene entfernte Melville auf Druck der Zensur). Einen monolithischen Block bildet die Polizei dennoch nicht: Die Missgunst und Verachtung, die zwischen dem Pariser Kommissar Blot und dem Inspektor Fardiano aus Marseilles in der Luft hängt, ist geradezu mit dem Messer zu schneiden. Ihre erbitterte Rivalität um Kompetenzen inklusive aller Schläge unter die Gürtellinie ist letztlich ein Spiegelbild der Streitigkeiten zwischen den Verbrechern. Den ungehemmten Polizei-Brutalitäten stehen Gus eiskalte Morde an meist unbewaffneten Personen gegenüber. Von beiden distanziert sich Melville explizit in einer einleitenden Texttafel.

"Der Autor [Majuskel!] dieses Films hat nicht die Absicht, die „Moral“ GUSTAVE MINDAs mit der Moral [Majuskel!] gleichsetzen. Er möchte betonen, dass die Umstände, die Situationen und die Figuren dieser Geschichte keinerlei reale Grundlage haben und dass, folglich, ein Urteil über die Ermittlungsmethoden anhand dieses Werks der Fantasie auf Grundlage eines Romans außer Frage steht."


Und trotzdem LE DEUXIÈME SOUFFLE genau wie LE DOULOS in der traditionellen Welt des film noir verwurzelt ist, hat er doch auch eine ganz andere Qualität. Wie erwähnt wird er als Übergangs-Werk Melvilles gekennzeichnet: als Verknüpfung zwischen den noch durchaus Genre-verhafteten frühen Filmen Melvilles und dessen puristisch-abstrakten Film-Meditationen über den Tod, die das Spätwerk prägen. Er enthält vielleicht als erstes Werk des Regisseurs ganz explizit das, was man mangels anderer Begriffe wohl als den „Melville-Touch“ bezeichnen könnte. Es handelt sich zunächst darum, dass Zeit und das Verstreichen von Zeit spürbar gemacht werden. Im klassischen cinematographischen Sinne uninteressante Handlungen werden in scheinbar langatmigen Bilderfolgen geradezu zelebriert, und zwar in „Echtzeit“. Das Fahren zum Ort des Überfalls, das Parken, und dann das Warten auf den Platin-Transporter nimmt fünf ganze Filmminuten in Anspruch: qualvolles Warten... auf die Schuhe starren... die Ameisen in der Nähe beobachten... die vor Nervosität schweißnassen Hände mit einem Taschentuch abwischen... das Rumsitzen... das Warten auf den Platin-Konvoi am Horizont... unterbrochen lediglich von einer fast halluzinierenden Kamerafahrt von Paul zu Gustave, die einem Treppengeländer folgt... Die Nachbereitung des relativ raschen Überfalls wird ebenso minutiös eingefangen.

Genauso penibel wird auch die Vorbereitung auf ein Gangster-Treffen in einer leeren Dachgeschoss-Wohnung inszeniert. Der erste Gangster sucht sie auf, betritt sie, untersucht diese, sucht nach dem besten Ort, um eine Pistole zu verstecken, die in einem kritischen Moment schnell und überraschend gezogen werden kann, probiert verschiedene Stellen aus, hinterlegt die Waffe und geht. Es folgt der Gangster der gegnerischen Seite, der ebenfalls die Wohnung gründlich untersucht, sogar die vier für die Sitzung vorgesehenen Sessel ausprobiert und schließlich die versteckte Pistole (offenbar wenig überrascht) findet, einsteckt und geht... Eine erstaunliche fünf-minütige Sequenz komplett ohne Dialog oder Musik, in der eigentlich „nichts“ passiert, und dennoch so viel „gesagt“ wird. In diesen Momenten verletzt Melville sämtliche Regeln des klassischen dramatischen Spannungsaufbaus, um durch den langsamen bzw. punktuell verlangsamten Filmrhythmus seine ganz eigene, persönliche Form der Spannung aufzubauen. Die Filmdauer von 144 Minuten entsteht keineswegs durch episches Erzählen, sondern durch solche voll ausgekosteten Zeit-Verlangsamungen.


Auch als „Gu“ von Paris nach Marseille mit Regionalbussen flieht, wird dies in einer rhythmischen Montage von Bildern dargestellt, die ihn beim Warten auf den Bus, beim Hetzen zu einem startenden Bus, beim Einsteigen und beim sitzenden Nachdenken, Lesen und Schlafen zeigen. Aufgrund der Zeitraffung, die hier faktisch stattfindet, ist das zwar ein Grenzfall im Bezug auf die eben gemachten Ausführungen. Nichtsdestotrotz hebt Melville hier eine banale Handlung (Reisen) auf sehr ungewöhnliche Art sehr bewusst hervor. In LE CERCLE ROUGE wird dies noch radikalisiert, wenn man Alain Delon dabei zusieht, wie er minutenlang „nur“ in seinem schicken amerikanischen Auto durch die Gegend fährt.

Dieses Spürbarmachen von Zeit ergänzt Melville mit einer zutiefst „asozialen“ Atmosphäre, im Sinne einer fast vollkommenen Abwesenheit von „Gesellschaft“. Ansätze davon waren bereits in früheren Filmen vorhanden, doch radikalisiert der Regisseur in LE DEUXIÈME SOUFFLE diese Tendenz zu einem integralen Bestandteil des „Melville-Touch“. Die Figuren handeln nicht aufgrund gesellschaftlicher Zwänge, die sie geformt haben, sondern in einem fast abstrakten Raum. Andere Menschen, etwa Passanten auf der Straße, wirken eher als Teil der Kulisse denn als soziale Einbettung der Handlung. Die „Parallel-Gesellschaft“ der abgebrühten Polizisten und Gangster, die Melville intensiv und dicht inszeniert, lebt im Grunde in einem „Parallel-Universum“. Es ist ein Leben in einem permanenten Ausnahmezustand, dem die Figuren nicht entkommen können (außer durch Tod). Sie können nicht in die „normale Welt“ entfliehen, weil es diese in den späten Melville-Filmen nicht gibt, und bewusst oder unterbewusst wissen sie das auch. Gu weiss dieses Faktum, als er dies seiner Geliebten Manouche bei einem Abendessen in der konspirativen Versteckwohnung beichtet: ein gemeinsames Leben kommt nicht in Frage, da es für ihn nur noch das Leben auf der Flucht gäbe. Melvilles Filmwelten sind also geschlossene Fantasiewelten, in denen normale gesellschaftliche und zivilisatorische Regeln, Wahrscheinlichkeit, Vernunft und Realismus wenig Geltung haben, dafür Pessimismus, Fatalismus und Desillusion umso schwerer wiegen. Diese hermetische Geschlossenheit der Atmosphäre führt zu einer erstickenden Klaustrophobie, die sich unabhängig vom Setting entwickelt. LE DEUXIÈME SOUFFLE spielt zwar folgerichtig größtenteils in beengten Wohnungen, Geheimunterkünften oder in den geschlossenen Räumen von Autos. Gerade deswegen ist es bezeichnend, dass die Raubüberall-Szene, die in einer luftigen und fast Western-artigen Gebirgspass-Landschaft spielt, keine Erleichterung bringt... weder für die Figuren, noch für den Zuschauer!


DVD
Jean-Pierre Melville wird in Deutschland ziemlich stiefmütterlich behandelt: Von den 13 seiner abendfüllenden Filme sind nur fünf auf DVD erhältlich (einer von ihnen in einer fürchterlichen Bildqualität und mit falschem Bildseitenformat). LE SAMOURAÏ, der immer wieder Melville-Top-Listen anführt und hierzulande nur stark geschnitten ausgestrahlt wird, gehört ebenso wenig dazu wie dazu wie LE DEUXIÈME SOUFFLE – der 1966 in einer um 33 Minuten (über ein Fünftel der Gesamtlänge!) gekürzten Fassung in die bundesdeutschen Kinos kam!
Daher sei hier für sehr gute Kenner der französischen Sprache die René-Chateau-Edition empfohlen: gute Bildqualität, Bonus-Material in Melville-typischer Art karg, keine Untertitel. Trotzdem Melville ein Regisseur ist, der den imdb-Tag „very little dialogue“ abonniert hat, ist LE DEUXIÈME SOUFFLE zwischendurch trotzdem recht gesprächig, so dass für Nichtkenner der französischen Sprache mit Untertitelbedarf die US-amerikanische Criterion-Edition wohl am geeignetsten ist.
Wer nach einer DVD von Melvilles LE DEUXIÈME SOUFFLE sucht, wird wahrscheinlich auch auf das Remake Alain Corneaus aus dem Jahre 2007 stoßen. Meine Grundskepsis nicht verbergend, kann ich mich über diese Version nicht qualifiziert äußern: trotzdem ist es traurig, dass wieder einmal die DVD-Ausgabe des Remakes einfacher und günstiger aufzutreiben ist, als jene des Originals.


Interview-Bonus
Hier an dieser Stelle sei auf einen zeitgenössischen Beitrag über LE DEUXIÈME SOUFFLE verwiesen, auf das ich gestoßen bin – hauptsächlich bestehend aus Interviews mit Jean-Pierre Melville und Lino Ventura. Der exzentrische Regisseur spricht hier in der Wohnung über seinem privaten Filmstudio (Studios Jenner), das ein Jahr später durch ein Feuer zerstört wurde. Man beachte, unabhängig von Französisch-Kenntnissen, seine theatralische Selbstdarstellung (mit Sonnenbrille, hier aber ohne Hut), seine klangvolle, tiefe Stimme und seine sehr ausgesuchte Wortwahl und Diktion!
Für Leser/Zuschauer mit Französisch-Defiziten fasse ich mal einige Leckerbissen kurz zusammen: Melville wurde des öfteren als „Vater der nouvelle vague“ bezeichnet. Das störte ihn nicht, bis er eines Tages in einem Magazin eine umfangreiche Liste mit Regisseuren und wichtigen Figuren der nouvelle vague entdeckte und erfuhr, dass er „182 uneheliche Kinder“ habe. Er wollte sie nicht alle adoptieren, und um keine Eifersüchteleien zu erzeugen, hat er entschieden, ihnen en bloc die Anerkennung zu verweigern. Von da an habe er sich sehr schnell alleine wiedergefunden – was er richtig gut mochte.
Melville erzählt auch, dass man ihm angeboten habe, WEEK-END À ZUYDCOOTE (Henry Verneuil, 1964) und LE JOURNAL D‘UNE FEMME DE CHAMBRE (Luis Buñuel, 1964) zu inszenieren, was er abgelehnt habe. Er begründet dies damit, dass er nur Filme dreht, für die er auch bereit ist, 70 Tage seines Lebens voll und ganz zu widmen.
Als die Kamera Bilder seiner seiner zwei, drei, vier (?) Katzen einfängt (die später wahrscheinlich einen Gastauftritt in LE CERCLE ROUGE hatten), sagt Melville vergnügt und stolz, dass er natürlich ein Misanthrop sei.
Das Interview mit Lino Ventura dreht sich vor allem um dessen Weigerung, sich selbst als Schauspieler zu bezeichnen. Der Italiener begründet dies mit seiner mangelnden Schauspieler-Ausbildung und damit, dass er gegebenenfalls unfähig wäre, eine Rolle zu spielen, auf die er keine Lust habe.
Gegen Ende des Beitrags erzählt Melville, dass er 1950 nach den vernichtenden Kritiken zu LES ENFANTS TERRIBLES entschieden habe, mit dem Kino aufzuhören. Fast bankrott ging er zusammen mit seiner Ehefrau zu einem Café an der Place des Ternes, um eine Cola (aufgrund pekuniärer Nöte wirklich nur ein Getränk für beide zusammen) zu trinken. Dort saßen Jacques Becker und Daniel Gélin, die gerade Melvilles Film im Kino zusammen geschaut hatten. Sie sprachen den Regisseur an und teilten ihm ihre schiere Begeisterung mit, woraufhin dieser seinen Entschluss revidierte... se non è vero, è ben trovato!