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Sonntag, 25. März 2012

Jesus Kinski Superstar

JESUS CHRISTUS ERLÖSER
Deutschland 1971/2008
Regie: Peter Geyer
Text und Vortrag: Klaus Kinski

Ich spreche nicht von dem Jesus mit der gelben leberkranken Haut, den eine irrsinnige menschliche Gesellschaft zur größten Hure aller Zeiten macht. Dessen Kadaver sie pervers mit sich herumschleppt an infamen Kreuzen. Ich spreche von dem Abenteurer, dem furchtlosesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren lässt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen.

Dieses Gesindel
[Störenfriede im Publikum] ist noch beschissener als die Pharisäer. Die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben.

(Klaus Kinski)


In der Frühphase seiner Karriere von 1952 bis 1962 gehörten Rezitationen auf der Bühne zu Klaus Kinskis Hauptbetätigungen, dann verzichtete er zugunsten seiner Filmkarriere darauf. Doch 1971 wollte er es noch einmal wissen. Er schrieb einen 30-seitigen Text über Jesus, wie er ihn sah (tatsächlich wollte Kinski schon Anfang der 60er Jahre ein ähnliches Projekt verwirklichen, konnte damals jedoch keinen Veranstalter davon überzeugen). Er beginnt mit einem Fahndungsaufruf: "Gesucht wird Jesus Christus!" Nach einer Charakterisierung des Gesuchten schlüpft Kinski selbst in die Rolle von Jesus und bedient sich dabei ausgiebig in Texten des neuen Testaments, verändert und angereichert durch aktuelle Bezüge. Es ist ein kämpferischer, ein revolutionärer Jesus, den Kinski da entwirft: "Seine Umgebung sind Gotteslästerer, Staatenlose, Zigeuner, Prostituierte, Waisenkinder, Kriminelle, Revolutionäre, Asoziale, Obdachlose, Arbeitslose, verurteilte Gefangene, Geflohene, Gejagte, Mißhandelte, Zornige, Kriegsverweigerer, Verzweifelte, schreiende Mütter in Vietnam, Hippies, Gammler, Fixer, Ausgestoßene, zum Tode Verurteilte." Kinskis Jesus bekämpft das Establishment - das vor 2000 Jahren, aber mehr noch das vor 40 Jahren, das wirtschaftliche, politische und kirchliche Establishment (und bei letzterem insbesondere den Papst). Parallelen zur "Befreiungstheologie", wie sie seinerzeit vor allem in Lateinamerika betrieben wurde, sind unübersehbar, und der Wiener Theologe Adolf Holl hat mit seinem Buch "Jesus in schlechter Gesellschaft" von 1971 einen direkten Einfluss auf Kinski ausgeübt. Natürlich entspringt die Stoßrichtung des Textes auch dem allgemeinen Zeitgeist und Kinskis künstlerischen und politischen Überzeugungen.


Mit diesem Text ging Kinski auf eine Tournee mit dem Titel "Jesus Christus Erlöser", die ihn eigentlich durch viele Großstädte führen sollte. Es kam jedoch nur zu zwei Vorstellungen. Die Auftaktveranstaltung fand am 20. November 1971 vor 3000-5000 Zuschauern in der Berliner Deutschlandhalle statt. Ein Aufnahmeteam filmte auf Kinskis Veranlassung das Ereignis auf 16mm mit - die Grundlage des hier besprochenen Films. Kinskis Vortrag ist intensiv und stellenweise exaltiert, wie man es von ihm kannte und erwartete. Er allein auf abgedunkelter Bühne vor dem Mikrofon stehend. Doch von Anfang an gab es störende Zwischenrufe. Ein Teil des Publikums nahm es ihm übel, dass er nicht der brotlosen Kunst frönte, sondern mit vielen Filmen (von oft zweifelhafter Qualität) gutes Geld verdient hatte, während sein Jesus nun den Mammon verdammte. So wurde er denn als Heuchler und ähnliches beschimpft. Natürlich gab es auch Christen im Publikum, die ihren Jesus durch Kinski verunglimpft oder zumindest falsch dargestellt glaubten. Zu dieser Kategorie gehörte einer, den Kinski nach wenigen Minuten auf die Bühne zitierte: "Komm Du jetzt hierher, der so ein großes Maul hat!". Nachdem der Mann kundtat, dass er an einen duldsameren Jesus als Kinski glaubt, widersprach Kinski heftig und verabschiedete ihn mit einem herzhaften "Du dumme Sau" von der Bühne. Und weiter: "Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder die, die nicht zu dem Gesindel gehören, schmeißen die anderen raus, oder sie haben ihr Geld umsonst bezahlt!" Dann verließ er die Bühne - nicht zum letzten Mal an diesem Abend. Jede dieser Pausen wird im Film durch kurze Einblendungen aus Kinskis Autobiographie "Ich brauche Liebe" von 1991 überbrückt, die sich auf jenen Abend beziehen (daraus sind auch die beiden eingangs angeführten Zitate entnommen).


Nachdem er sich beruhigt hatte und auf die Bühne zurückkehrte, begann er mit dem Text nochmal von vorn. Doch die Störungen gingen weiter, mal mehr, mal weniger lautstark. Mehrfach legte Kinski kurze Pausen ein, um dann seinen Text leicht abzuwandeln und ersichtlich auch gegen die Störer im Publikum zu richten. Etwa eine halbe Stunde nach dem Neubeginn erklomm einer die Bühne, diesmal ohne Einladung, wurde von Kinski am Sprechen gehindert und von einem Ordner von der Bühne gedrängt. Danach eskalierte die Stimmung, wurde fast tumultuös. Kinski verließ wieder die Bühne und kündigte an, er werde erst wiederkommen, wenn "das Scheißgesindel" weggegangen sei. Während seiner Abwesenheit wurde nun auf der Bühne diskutiert. Einer der Redner aus dem Publikum verlangte, Kinski solle sich bei dem von der Bühne Gedrängten entschuldigen, und er bezeichnete Kinski wegen des Vorfalls als "Faschist und Psychopath". Schließlich kam Kinski zurück und setzte seinen Text fort, doch die Stimmung beruhigte sich nicht wirklich, immer wieder gab es Zwischenrufe, und Kinski rang sichtlich um seine Konzentration. Nach 70 Minuten im Film (im Saal war schon deutlich mehr Zeit vergangen) war es wiederum soweit: Kinski verließ die Bühne, einer aus dem Publikum bemächtigte sich des Mikrofons, schließlich machte der Veranstalter von seinem Hausrecht Gebrauch und verwies einige Störer des Saals, Polizei war zu sehen. Kinski erklomm nur noch kurz die Bühne, erklärte die Veranstaltung für beendet und ging wieder.


Damit schien die Sache gelaufen, und der größte Teil des Publikums verließ den Saal. Aber ein Häuflein von vielleicht 100 Leuten versammelte sich auf dem Boden vor der Bühne und harrte aus. Und tatsächlich, gegen Mitternacht erschien Kinski und begann erneut, seinen Text zu sprechen - nicht auf der Bühne, sondern mitten unter den Leuten. Unruhe im Restpublikum ließ ihn erneut abbrechen, er wies die Leute zurecht, fing nochmal an, und diesmal trug er den Text bis zum Ende vor. Gegen 2:00 Uhr war die Veranstaltung zu Ende. Nur wenige Minuten vom Anfang und vom Ende der nächtlichen Zweitvorstellung sind im Film zu sehen, als Epilog nach den Endcredits. Es war schlicht nicht genug Filmmaterial vorhanden, um alles aufzuzeichnen - man hatte schließlich mit einer Veranstaltung von vielleicht zwei Stunden gerechnet, nicht mit einer, die einschließlich der Unterbrechungen sechs Stunden dauerte. Insgesamt wurden von vier Kameras 135 Minuten auf Film gebannt.


Die Veranstaltung wurde seinerzeit von der Presse skandalisiert, Kinski mit Häme übergossen. Wer aber von dem Film spektakuläre Exzesse erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar belegt Kinski die Störer mit deftigen Kraftausdrücken, wirft auch mal zornig das Mikro um, aber maßlose Wutausbrüche, wie man sie etwa in Werner Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND zu sehen bekommt, gibt es hier nicht. Wenn man bedenkt, dass Kinski von Anfang an provoziert, in seiner Konzentration gestört und letztlich am Vortrag gehindert wurde, dann war seine Reaktion sogar noch moderat - jedenfalls für Kinski-Verhältnisse. Er selbst hat den Abend als Erfolg bewertet und sogar als seinen wichtigsten Auftritt bezeichnet. Doch für den Tournee-Veranstalter war es ein Debakel. Er bat Kinski, den Vertrag einvernehmlich zu lösen. Eine Woche nach Berlin trug Kinski den Text in Düsseldorf vor, diesmal ohne Störungen. Es war dies Kinskis letzter Bühnenauftritt, und er absolvierte ihn ohne Honorar. Dann meldete der Veranstalter Insolvenz an, und der Rest der Tournee fiel ins Wasser.


Die Film- und Tonaufzeichnungen von Berlin blieben in Kinskis Besitz. 1999 nahm Peter Geyer Kontakt mit Kinskis Erben, seiner dritten Frau Minhoi Loanic und dem gemeinsamen Sohn Nikolai, auf, die in Kalifornien lebten. Anscheined war Geyer der Erste, der vernünftige Vorschläge zur Verwertung von Kinskis Nachlass machte. Er erhielt die Filme und Bänder von Berlin und weiteres Material und fungiert seitdem als Kinskis Nachlassverwalter. Er veröffentlichte 2006 eine Biographie Kinskis, den Originaltext "Jesus Christus Erlöser" (der, wie erwähnt, etwas von der Berliner Fassung abweicht) zusammen mit Gedichten Kinskis, eine Hörfassung des Berliner Abends auf einer Doppel-CD, und schließlich 2008 den 83-minütigen Film, der denselben Titel trägt wie der Text. Dass bei dem nicht gerade üppigen Ausgangsmaterial von 135 Minuten und der fragmentierten Natur des Abends der Film nicht wie Stückwerk wirkt, sondern in sich geschlossen ist, ist keine geringe Leistung. Aber der eigentliche Wert des Films besteht doch in seiner Eigenschaft als historisches Dokument. Quellen zum damaligen Zeitgeist gibt es genug, aber in Bezug auf Kinski liefert der Film einen echten Mehrwert. Man trifft auf einen Künstler, der, wenn er sich mit einem Projekt identifiziert, nicht auf Show aus ist, sondern der um seine Kunst ringt - wenn es sein muss, auch gegen einen Teil des Publikums. Der aber auch denjenigen Teil des Publikums, der ihm zu folgen gewillt ist, durchaus respektiert, der also nicht nur für sein eigenes Ego spielt. Dem Bild von Kinskis Persönlichkeit, wie man es aus seinen erratischen Interviews und aus Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND kennt (oder zu kennen glaubt), wird damit eine interessante Facette hinzugefügt. Und nicht zuletzt ist der Berliner Abend Kinskis einzige Bühnenvorstellung, von der überhaupt eine längere Aufzeichnung existiert. - Nicht lange nach den Ereignisen von Berlin begann für Kinski ein neuer Abschnitt: Er brach mit Werner Herzog nach Südamerika auf, um mit AGUIRRE, DER ZORN GOTTES den ersten ihrer gemeinsamen Filme zu drehen.


JESUS CHRISTUS ERLÖSER ist auf DVD erhältlich. Man kann den Film auch komplett bei YouTube ansehen (ob legal, sei dahingestellt).