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Sonntag, 3. Mai 2015

Moskauer Straßen, kaukasischer Mais und immer wieder Krieg: das 15. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films



Freitag, 24. April 2015

16.00 Uhr, Caligari FilmBühne
GOLI (NAKED ISLAND)
Regie: Tiha K. Gucac
Kroatien 2014
75 Min., DCP

Die kroatische Insel Goli Otok (wörtlich: „nackte Insel“) wurde von 1949 bis 1989 als Strafgefangenenlager genutzt. In den Anfangsjahren diente sie vor allem als Internierungsort für Stalinanhänger und Sowjetunion-nahe Mitglieder der Kommunistischen Partei, die nach dem Bruch Jugoslawiens mit der UdSSR 1948 massiv verfolgt wurden. Tiha Gucacs Großvater gehörte zu den knapp über 16.000 Menschen, die auf Goli Otok interniert wurden. In GOLI arbeitet die kroatische Filmemacherin das Schicksal ihres Opas auf, sucht mehrere Menschen auf, die sie als kleines Kind „Onkel“ oder „Tante“ nannte (Mitgefangene ihres Großvaters) und begibt sich schließlich auf Spurensuche auf die Insel.
Als persönliches Projekt mag GOLI sicherlich seine Berechtigung haben. Als Dokumentarfilm finde ich ihn eher mäßig gelungen. Das Nachvertonen von Archivfilmen und -fotografien bei historischen Dokumentationen ist mir nach wie vor unsympathisch, zumal in einer solchen Penetranz. Nach etwa der Hälfte des Films verliert Gucac auch vollkommen ihren Fokus: intimes Portrait des Großvaters, persönliches Familienalbum, Erforschung der „stalinistischen“ Frühphase Jugoslawiens, Denkmal für die ehemaligen Gefangenen von Goli Otok, Rundumschlag über politische Repression im sozialistischen Jugoslawien, öffentlich ausgetragene Fehde mit Mutter und Vater – irgendwie will der Film all das zugleich sein, und so gelingt ihm auch keines davon.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
ČOVEK I ZVER (MAN AND BEAST)
Regie: Edwin Zbonek
Jugoslawien / Bundesrepublik Deutschland 1963
90 Min., 35mm


© Fotoarchiv des Deutschen Filminstituts – DIF
ČOVEK I ZVER war Teil der selektiven Artur-Brauner-Retrospektive, die das diesjährige Symposium des goEast-Festivals mit dem Untertitel „Der Produzent als Grenzgänger und Brückenbauer“ präsentierte. Im Mittelpunkt standen west-östliche, thematisch und und von den Bedingungen der Produktion her grenzüberschreitende Filme Brauners.
Gemäß den Ausführungen Olaf Möllers, Kurator der Brauner-Retrospektive, wurde im Deutschland der 1960er Jahre kaum ein Film mit so viel Hass, Zorn und Missmut empfangen wie die jugoslawisch-deutsche Produktion ČOVEK I ZVER. Mit heutigen Augen hingegen kann man ein kleines Filmmeisterwerk begutachten, ein wunderbarer Grenzgang zwischen dem klassischen Erzählkino und den Erneuerungswellen der frühen 1960er Jahre. Das Lexikon des internationalen Films erwähnt „dramaturgische Schwächen“ und „Kolportage“ (der kann also nur toll sein!).
Erzählt wird die Geschichte der mühsamen Flucht eines Häftlings aus einem Konzentrationslager. Franz (Götz George) flieht aus dem Lager, in dem sein Bruder Willy als Wachmann arbeitet. So wird die Flucht nicht nur zu einem Weg in die Freiheit, sondern auch zu einer tragischen Familienauseinandersetzung biblischen Ausmaßes.
Die Projektion des Films war – gelinde ausgedrückt – eine Katastrophe. Das Bild, dessen Format wohl offenbar irgendwo bei 1.66:1 liegen sollte, war viel zu eng maskiert. Die Maskierungen waren schlecht eingestellt, so dass an den Seiten des Bildes relativ breite Schattenstreifen zu sehen waren. Gezeigt wurde offenbar ein originaler jugoslawischer Cut des Films auf Serbokroatisch, und die englischen Untertitel wurden digital projiziert – meistens aber nicht. Optimistisch geschätzt wurden vielleicht gerade mal ein Drittel der Dialoge halbwegs adäquat untertitelt, und das bei einem Film, der, wenn er mal Dialoge hat, dann auch richtig loslegt.
Und was kann man sagen: der Film war trotzdem magisch. Die eindringlichen Bilder wirkten dennoch wuchtig, beeindruckend, furchteinflössend, umwerfend. Die teils sehr schnelle Montage brachte dennoch genau das richtige Maß an Überwältigung, die dem Thema angemessen erscheint. Wenngleich das Gesagte oft keinen Sinn ergeben konnte und keine Zusammenhänge schuf, so hielten die Bilder das ganze zusammen. Dieser schreckliche Moment, wenn Franz und ein anderer Gefangener gezwungen werden, einen an ein Kreuz gebundenen nackten Co-Häftling zu Tode auszupeitschen. Franz‘ Versteck in der wassergefluteten Höhle, mit dichtem weißen Nebel, das über das Wasser zieht. Und eine der vielleicht ungewöhnlichsten Verfolgungsjagden, die je in einem Film zu sehen war: ein Mann fährt bei hohem Schnee wackelig mit einem Fahrrad davon und ein Schäferhund rennt ihm nach. Die unvermeidliche Begegnung mündet in einen Kampf: der Mann kann den Hund würgen, auf den Boden niederringen. Der Hund versteht dies als Unterwerfungsgeste, und anerkannt infolgedessen Franz als seinen neuen Meister. Ein magischer Filmmoment.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
BRICHA EL HASHEMESH (ESCAPE TO THE SUN)
Regie: Menahem Golan
Israel / Frankreich / Bundesrepublik Deutschland 1972
ca. 115 Min., 35mm

„Wer denkt, dass Artur Brauner keine trashig-sleazige Seite hatte, wird hiermit eines besseren belehrt.“ - meinte sinngemäß Olaf Möller in einem inoffiziellen Statement vor den Türen des Murnau-Filmtheaters nach der Aufführung dieses zutiefst bizarren Films. Ja, man lasse sich das mal auf der Zunge zergehen: Menahem Golan, der spätere Boss der Cannon Group, inszeniert einen Film über das Schicksal sowjetischer Juden, denen zu Beginn der 1970er Jahre die Ausreise aus der Sowjetunion verweigert wird.

© Fotoarchiv des Deutschen Filminstituts – DIF
Filmstill ist schwarzweiß, der Film selbst aber in Farbe
Herausgekommen ist ein echtes Kuriosum. Der Film soll ein ernsthaftes oder besser gesagt ein ernsthaft gemeintes Statement über Antisemitismus in der Sowjetunion sein. Dabei ist er jedoch nicht angemessen nüchtern, sondern völlig melodramatisch inszeniert, voller übergroßer Gefühle und überdrehtem Kitsch – als hätte sich Golan mit einer Douglas-Sirk-Retro auf den Dreh vorbereitet. Golan ist aber nicht Sirk, und zwischendurch ist BRICHA EL HASHEMESH ein echt banales Stück Film, der energielos Expositionsschnipsel vor sich hinjagt – nur um dann wenig später kleine Manierismen bis zum Anschlag aufzudrehen. Als der Held der Geschichte, Yasha Bazarov, mit einer Schusswunde in der Schulter delirierend in einer Scheune liegt, beginnt die Kamera pumpend in eine Öllampe an der Decke rein- und rauszuzoomen – ganz so, als hätten wir kurzzeitig in einen italienischen Giallo reingezappt. Oder als Sarah Kaplan (Lila Kedrova) den Bescheid über die Ablehnung ihres Ausreiseantrags erhält, da geht sie in eine schummerige Kneipe. Eigentlich will sie nicht trinken, doch der lokale Säufer vom Dienst flirtet sie an und überredet sie dazu, einen zu heben und ihre Seele auszuweinen. Ein paar Jahre zuvor deklamierte Kedrova einige antikommunistische Gemeinplätze in einer ähnlichen Situation in TORN CURTAIN und das war‘s, doch hier geht es anders aus: es wird weiter gesoffen, und weiter gesoffen, und irgendwann wird das Mobiliar zertrümmert, Zucker aus unerfindlichen Gründen systematisch auf der Tischdecke verstreut und nostalgische jiddische Liebeslieder gesungen.
Aber um noch mal von vorne anzufangen... ähm... ob das hilfreich ist? Der Film beginnt mit einem fingierten Prozess, der, wenn die Angeklagten keine Juden wären, glatt aus dem feuchten Schritt eines McCarthyisten entspringen könnte (so strunzegemein ist diese sowjetische Richterin mit ihrer blau getönten Sonnenbrille, die aus dem in der UdSSR natürlich nichtexitenten Hippieladen um die Ecke zu kommen scheint)! Die Angeklagten werden von den Kommunisten jedenfalls durch die Bank zum Tode verurteilt (von der Frau abgesehen), und der Schriftsteller zum Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie, was ihn zu einer schwülstigen Rede über Gedankenfreiheit inspiriert. Schnitt: in Zeitlupe fährt ein verliebtes Pärchen während der Credits in einer Kutsche durch eine romantische verschneite Landschaft und tollt dann ein wenig im Schnee herum (wirklich komplett von A bis Z in Zeitlupe!). Und dann folgt die nächste Szene: Yasha Bazarov ist beim Handball der tollste Spieler, doch seine Mannschaftskollegen mögen ihn nicht, weil er Jude ist. Das sieht man an dem Goldkettchen, das er auch in der Gemeinschaftsdusche der Sporthalle auf seiner wuchernden Brustbehaarung trägt, während er sich nach dem Spiel genüsslich einseift. Es gibt dann eine kleine Prügelei, in Zuge derer Seifenschaumteile auch mal den Körper wechseln.
Metaphorisch gesagt, schafft der Film die Gradwanderung zwischen ernsthaftem Anliegen und irrsinnigem Melodrama nicht: er stolpert, und fällt... aber er prallt nicht auf den Boden, sondern fängt an zu schweben und fliegt dann einfach weg, um etwas anderes zu werden.
Am vielleicht beeindruckendsten ist die Figur des Major Kirsanov (Laurence Harvey), der die Familie Bazarov und deren Freunde verfolgt, schikaniert, bedrängt, unter Beobachtung stellt. Major Kirsanov (a. k. a. „Major Hartschnurrbart“, wie ich ihn seit der Sichtung des Films gerne nenne) ist gewissermaßen die Heisenbergsche Unschärferelation des Films. Er ist die fleischgewordene politische Repression der UdSSR – aber ist kein Antisemit! Er ist der persönliche Dämon des Films und der Bazarovs – und verbrachte dennoch seine Kindheit als armer kleiner Waisenjunge! Er ist die Verkörperung des bürokratischen Glaubens an das Sowjetsystem – aber im Grunde drangsaliert er die Bazarovs nur, weil er gerne mal Yashas Verlobte Nina zum Beischlaf zwingen würde. Er ist die absolute Negativfigur des Films – doch wie soll man jemanden hassen, der aussieht, als hätte ein Elvis-Imitator mit Schnurrbart aus Tollpatschigkeit sein weißes Las-Vegas-Kostüm mit einer KGB-Uniform verwechselt? Irgendwie scheint sich Golan auch ein bisschen in Major Hartschnurrbart verliebt zu haben (die logischste Alternative wäre Nina Kaplan, gespielt von Josephine Chaplin, doch diese bewarb sich wohl mit diesem Film für den Negativpreis der ausdruckslosesten Schauspielerin ever). Und irgendwie scheint es auch logisch und folgerichtig, dass ihm, Major Hartschnurrbart, das Freezeframe gehört, mit dem der Film aufhört.
Auch wenn das nach diesen vielen Ausführungen nicht verwunderlich klingt: BRICHA EL HASHEMESH lässt mich einfach nicht los, und je mehr ich über diesen Film nachdenke, umso mehr mag ich ihn.


22.30 Uhr, Caligari FilmBühne
CRNCI (THE BLACKS)
Regie: Goran Dević, Zvonimir Jurić
Kroatien 2009
75 Min., 35mm

Stell dir vor, einige Männer in lächerlichen Kostümen rennen durch einen Wald, spielen Krieg und der ganzen Welt ist es egal...
Die ersten zwanzig Minuten von CRNCI sagen vielleicht mehr über die Absurdität von Krieg als die meisten (vermeintlich) großen Meisterwerke des Antikriegsfilms. Während der jugoslawischen Zerfallskriege begeben sich ein paar kroatische Soldaten auf eine Mission, um einige Kollegen aus serbischer Gefangenschaft zu retten. Sie haben keine Ahnung, wo sie sind. Sie wissen nicht, welcher Spur sie folgen sollen. Der älteste Soldat und Chef des Trupps behauptet unermüdlich zu wissen, wo sie sich befinden. Die anderen wissen, dass das nicht stimmt. Sie rennen weiter. Der jüngste Soldat muss sich hinter einem Gebüsch erleichtern, und als alle nach zwei weiteren Stunden Marsch seinen Haufen entdecken, ist es kaum noch zu verbergen, dass sie herumirren. Feinde gibt es bestimmt auch irgendwo im Wald, bloß wo? Das ganze endet jedenfalls in einem fürchterlichen Blutbad: die Soldaten bringen sich gegenseitig bzw. sich selbst um.
Nach diesem Prolog folgt die große Rückblende, die erklärt, warum das eben gesehene passiert ist. Was ich davon halten soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht: verwirft der Film nicht seine eigene Prämisse, wenn er alles doch irgendwie „erklärt“? Und hätte ich nicht lieber einen Film gesehen, in dem ein paar Männer 70 Minuten lang durch einen Wald rennen? Beide Fragen würde ich mit Ja beantworten. 
Allerdings kämpfte ich nach etwa einer halben Stunde Laufzeit mit großer Müdigkeit und nickte immer wieder ein: jeweils nur ganz kurz, aber trotzdem konnte ich irgendwann die gesehenen Bilder nicht mehr sinnvoll zusammenfügen – also auf einer rein kognitiven Ebene. Ich schaute den Film, sah ihn aber nicht.


Samstag, 25. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
ANGELY REVOLJUCII (ANGELS OF REVOLUTION)
Regie: Aleksej Fedorčenko
Russland 2014
113 Min, Screener
© goEast
Aleksej Fedorčenko ist gewissermaßen ein alter Bekannter des goEast (siehe hier). Zusammen mit seinem Drehbuchautor Denis Osokin befasst er sich nun schon seit einigen Filmen immer wieder mit kleinen ethnischen Minderheiten in Russland. Nun auch in ANGELY REVOLJUCII.
Den Inhalt zusammenzufassen ist gar nicht so einfach, aber in Grundzügen zu schaffen: Polina Schneider, eine Beamte des Bildungsministeriums (?), wird zusammen mit anderen Sowjetaktivisten (die vielleicht ihre früheren Liebhaber sind?) in die Provinz geschickt, um den indigenen Völker der Chanty und der Nency die sowjetische Lebensweise näher zu bringen. Das klappt teils mehr (die Ausstellung suprematistischer Avantgardebilder kommt erstaunlich gut an), teils weniger (die Kampagne gegen religiöse Katzenverehrung stößt auf massives Unverständnis). Schlussendlich werden die sowjetischen Bildungsaktivisten ermordet, und es folgt eine brutale sowjetische Terrorkampagne, bei der unter anderem Älteste öffentlich verstümmelt werden...
ANGELY REVOLJUCII zeichnet den Übergang von der „liberalen“ sowjetischen Nationalitätenpolitik in den 1920er Jahren hin zur terroristischen Nationalitätenpolitik der 1930er Jahren nach. „Liberal“ war immer in Anführungszeichen zu verstehen, denn die Verbreitung des muttersprachlichen Unterrichts, die Förderung traditioneller Kultur und die ethnischen Quotenregelungen für Staats- und Parteiposten auf lokaler oder regionaler Ebene hatten von Beginn an ihre Schattenseiten. Die UdSSR führte zugleich einen Zwang zu eindeutiger nationaler Identität ein, kleine Minderheitengruppen wurden exotisiert, der sowjetische Vielvölkerstaat war stets ein recht eindeutig russisch-zentriertes „Zivilisierungsprojekt“.
Die recht differenzierte Darstellung sowjetischer Minderheitenpolitik, das Portrait indigener Völker in der frühen Sowjetunion, die Gestaltung der Dramaturgie nach der (Nicht-)Logik des magischen Realismus, die Unterbringung vieler, vieler, vieler, vieler kleiner Ideen: all dies gelingt Fedorčenko und Osokin mit Ach und Krach. ANGELY REVOLJUCII ist kein schlechter Film, und wirklich Langeweile kann eh nicht aufkommen, aber er ist manchmal hoffnungslos überladen, verzettelt sich in Mini-Vignetten variierender Qualität. Sein Zugang zur frühen Sowjetzeit als historisches Ereignis ist nicht uninteressant, zumal die zerschossene Form des Films vielleicht mehr über das gewalttätige Chaos der Zeit sagen kann, als eine „realistische“ Herangehensweise. Dennoch bleibt neben der Hoffnung auf weitere spannende Filme Fedorčenkos und Osokins auch ein leichtes Gefühl der Frustration oder Enttäuschung zurück.


12.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
[DIGITAL RESTAURIERTE FILME DER MANAKI-BRÜDER]
Regie: Janaki Manaki, Milton Manaki
[Mazedonien] 1905-1923
ca. 70 Min. (gesehen: 35), Screener

Janaki und Milton Manaki gelten als die ersten bedeutenden Filmemacher des Balkans, als Filmpioniere Südosteuropas. Ganz und gar nicht pionierhaft ist der Screener, der die Kinovorführung ohne meine Anwesenheit ersetzen musste. Möglicherweise war die Kontextualisierung bei der Aufführung besser oder anders, aber so präsentierte sich das ganze als lose Ansammlung von Filmschnippseln ohne jegliche Kontextualisierung. Filmtitel und Zwischentitel hatten das gleiche Schriftbild, was die Sichtung nicht eben einfacher machte. Die Bilder selbst: in dieser Form ethnografisch interessanter als filmografisch. Die Manaki-Brüder filmten Alltagsszenen in mazedonischen Dörfern (Markt, Schlachtbetrieb, Hochzeitsfeier), und offenbar ganz viele osmanische Militärparaden. Ratlos und enttäuscht unterbrach ich irgendwann die Sichtung und ging in die Mittagspause vor dem längsten Film des Festivals.


14.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
MNE DVADCAT‘ LET (I AM TWENTY)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1965
175 Min., 35mm

© goEast
Der in Tiflis geborene Regisseur Marlen Chuciev gehört zu den Gallionsfiguren des sowjetischen Tauwetters im Kino – gleichwohl er namentlich unbekannter ist als etwa Tarkovskij oder Kalatazov. Seinen Magnum Opus MNE DVADCAT‘ LET bezeichnete Olaf Möller gar als „Zentralmassiv des Tauwetter-Kinos“.
Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es von diesem Film drei Versionen. Die erste, von 1962, hieß noch ZASTAVA IL‘IČA und kam niemals in die Kinos, weil Nikita Chruščev den Film sah, nicht mochte und sogleich verbot. Unter strengen Auflagen erhielt Chuciev die Erlaubnis, denselben Film noch einmal zu drehen: heraus kam MNE DVADCAT‘ LET in der Fassung von 1965, die im Murnau-Filmtheater lief und unter Experten als die beste gilt. Ende der 1980er Jahre schnitt Chuciev eine neue Fassung zusammen, möglicherweise aus den beiden existierenden?
Im (vagen) Zentrum von MNE DVADCAT‘ LET steht Sergej, der vom Militärdienst in seine Heimatstadt Moskau zurückkehrt und dort sein neues Leben als Erwachsener in die Gänge leitet. Er verliebt sich in eine Passantin, deren Liebe er tatsächlich erobern kann, besucht Parties, sorgt sich mit Mutter und Schwester um den Unterhalt der Wohnung, stellt sich die großen Fragen des Lebens und begegnet schließlich in einer Vision seinem im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater.
Trotz der Laufzeit ist MNE DVADCAT‘ LET ein „kleiner“ Film der „großen“ kleinen Momente. Weniger ein dramaturgisches Konzept als eine lockere Aneinanderreihung kleiner Vignetten bietet Chuciev in seinem monumentalen Film. Mehr als das große Ganze brennen sich eher mehr oder weniger kurze Passagen in die Netzhaut. Eine Bande von Kumpels, die sich nach einer durchfeierten Nacht im Innenhof eines Wohnkomplexes trifft, und einer bringt einen Topf mit Fleischnudeln mit, aus dem direkt gelöffelt wird. Die Eröffnung mit der komplexen Plansequenz, in der die Kamera durch eine Straße streift und nach dem Protagonisten sucht. Überhaupt Chucievs Vorliebe für fast menschenleere Moskauer Straßen.
Der Höhepunkt des Films ist sicherlich die „große Verfolgungsjagd“: Sergej geht mit dem Nachbarsjungen ins öffentliche Bad. Im Bus verliebt er sich spontan in eine Co-Passagierin, die ganz in ihre Buchlektüre vertieft ist. Er will unter allen Umständen die junge Frau im Blick behalten, auch wenn der Bus ganz schön voll ist und andere Passagiere ihn teils zur Seite schieben. Als sie aussteigt, folgt er ihr weiter, über einen Büchermarkt, über einen Imbiss und bis hin zu ihrer Haustür. Sie hat irgendwie geahnt, dass sie verfolgt wurde, und als sie Sergej schließlich erblickt,  „verabschiedet“ er sich mit einem Winken.
Nicht weniger schön ist die Sequenz der Maiparade, bei der Sergej die Frau wieder trifft. Sie ist dort mit ihren Freunden unterwegs, die nach ihr rufen („Anja“) als sie kurz zurückbleibt, um mit Sergej zu reden (so erfährt er ihren Namen). Er selbst spannt dann seine Kumpels ein, um ebengesagte Freunde der Frau loszuwerden: geschickt drängen sie sie in Situationen, in denen sie gezwungen werden, eines der vielen großen 1.-Mai-Banner zu tragen. Sergej flieht mit Anja aus der Maiparade, geht zu ihr nach Hause. Auf dem Treppenabsatz wehrt sie einen Kuss ab, doch sie erlaubt ihm, ihn anzurufen. Ein Bild für die Ewigkeit: Anja steigt die Treppe hoch, und am Ende eines jedes Stockwerks schaut sie herunter und teilt Sergej ein weiteres Stück ihrer Telefonnummer mit.
Nun... so sehr viele dieser Momente auch geglückt sind (die Begegnung mit dem Vater in der Vision ist ebenfalls sehr berührend), so sehr scheint mir MNE DVADCAT‘ LET als epische Erzählung unausgegoren. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich zwischendurch mit der typischen Festivalmüdigkeit zu kämpfen hatte. Vielleicht würden weitere Sichtungen andere Erkenntnisse bringen (wie sie mir bei einem anderen „monumentalen“ Hauptstadtfilm, LA DOLCE VITA, schlussendlich brachten).


18.00 Uhr, Caligari FilmBühne
KEBAB I HOROSKOP (KEBAB AND HOROSCOPE)
Regie: Grzegorz Jaroszuk
Polen 2014
72 Min., DCP

Ein Horoskopschreiber und ein Mitarbeiter in einer Dönerbude, die beide eben arbeitslos geworden sind, treffen sich zufällig. Spontan stellen sie ein gemeinsames Projekt auf die Beine: zusammen geben sie sich als Marketing-Spezialisten und möchten einen fast bankrotten Teppichladen und seinen Mitarbeitern mit klugen Tips über Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung wieder auf die Beine helfen...
KEBAB I HOROSKOP ist ein recht sympathischer Film. Zu viel mehr reicht es allerdings nicht. Die minimalistische aber großartige Eingangssequenz, in der sich die beiden Protagonisten in einer Dönerbude begegnen und kennenlernen, setzt allzu hohe Versprechen. Die Grundidee (zwei „Loser“ erklären einer Gruppe von „Losern“, wie sie ihr Geschäft verbessern können, und alle lernen sich dabei besser kennen) läuft recht schnell ins Leere. Mehrere Subplots, etwa über einen japanischen Selbstmörder, der bei der Kassiererin des Ladens untergebracht ist oder über die manisch-depressive Mutter der Verkaufsberaterin laufen gegen die Wand: zu kurz, um wirklich interessant und greifbar zu werden, zu lang als einfache „Nebensätze“. Da die Grundidee rasch ausgelutscht ist, gerät der Film auch in eine gewisse Vorhersehbarkeit und arbeitet sich zunehmend verkrampft am Plot ab.
Je mehr ich über den Film nachdenke, umso belangloser scheint er mir.


20.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
SIMINDIS KUNDZULI (CORN ISLAND)
Regie: George Ovashvili
Georgien / Deutschland / Frankreich / Tschechische Republik / Kazachstan / Ungarn 2014
100 Min., DCP

© goEast
In einem Fluss, der Georgien von Abchasien trennt, werden in jedem Frühjahr kleine Inseln aufgeschwemmt, die bis in den Herbst, wenn sie wieder weggeschwemmt werden, fruchtbare Mini-Kornkammern bilden. Auf eben einer solchen Insel baut ein alter abchasischer Bauer mit Hilfe seiner Enkelin eine Hütte und legt ein Maisfeld an. Um die beiden herum bekämpfen sich währenddessen georgische und abchasische Soldaten...
Der größte Skandal des diesjährigen goEast-Festivals ist wohl, dass diese kleine Filmperle aus Georgien nicht im Wettbewerb lief, sondern in der „Beyond Belonging“-Sektion „Filmen gegen Krieg: von Trauma und Aussöhnung“. SIMINDIS KUNDZULI ist eine Urgewalt von einem Film. Eine extrem einfache Erzählung, inszeniert in traumhaft schönen Cinemascope-Bildern, die vom Klang der Wellen, des Windes in der Mais-Plantage und ab und zu der Gewehrschüsse rhythmisiert werden. Der Film ist über weite Strecken fast komplett dialogfrei (ohne die Uhr gestoppt zu haben: die erste Dialogzeile erklingt wohl nicht vor der 30-Minuten-Marke), sondern vertraut vollkommen seinen Bildern. Klar, Filme mit extrem wenigen Dialogen können mich immer leicht beeindrucken. Aber der Zauber von SIMINDIS KUNDZULI reicht weiter. Es ist auch eine universelle und wahrhaft große humanistische Geschichte. Dabei vollkommen unsentimental. Der alte Mann rettet einen verletzten georgischen Soldaten – nicht, weil es im Drehbuch so nett aussieht, sondern weil es in seinem Weltbild keine Alternative geben kann: er ist ein Gast, und der Gast wird eben versorgt. Reden tut er mit ihm dennoch nicht: sie könnten sich rein sprachlich eh nicht verstehen. Nur zornig wird der alte Mann, als der georgische Soldat und seine Enkelin sich anzuflirten beginnen. Wenn der Georgier dem alten Abchasier bei den Arbeiten hilft, dabei einige Pflöcke mit einer Axt zuspitzt und währenddessen die Teenagerin anguckt, dann ist klar, was Sache ist (überhaupt ist SIMINDIS KUNDZULI immer wieder unumwunden erotisch, wenn nicht gar ganz offen sexuell). 
Als Beitrag über Krieg ist dieser Film eigentlich mitnichten zu „gebrauchen“, denn das georgisch-abchasische Setting mit der angeschwemmten Insel gibt nur eine Grundsituation vor, die fast einer Laboranordnung gleicht, aber eben glaubwürdig unterfüttert ist.
Nun, wenngleich dieser ziemlich großartige Film nicht im Wettbewerb war, so gibt es dennoch eine kleine Gerechtigkeit auf dieser Welt: er läuft ab 28. Mai auch in Deutschland regulär im Kino.


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
POD ELEKTRIČESKIMI OBLAKAMI (UNDER ELECTRIC CLOUDS)
Regie: Aleksej German Jr.
Russland / Ukraine / Polen 2015
138 Min., DCP

Im Moskau der Zukunft wird ein Hochhaus nicht fertig gebaut, steht trist wie ein Klotz in der Gegend und viele Leute tummeln sich dann drum herum und deklamieren pompöse Dialogzeilen.
Zweifelsohne der Tiefpunkt des Festivals. Hohe Erwartungen, weil er ja auf der Berlinale gut lief. Im Ergebnis die Karikatur prätentiösen Kunstkinos. „Es ist hart, ein Gott zu sein“ hieß der letzte Film Aleksej Germans Sr.. Ich kann nur sagen: es ist hart, Sohnemanns Film zu dieser fortgeschrittenen Stunde zu gucken und dabei wach zu bleiben. Mir ist es gelungen. Knapp. Die Mühe war es nicht wert.


Sonntag, 26. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
DE CE EU? (WHY ME?)
Regie: Tudor Giurgiu
Rumänien / Bulgarien / Ungarn 2015
132 Min., Screener

Ein eifriger Staatsanwalt ermittelt in einem Fall von Korruption gegen einen Kollegen. Dabei entdeckt er, dass hinter der Sache viel mehr steckt, als er ursprünglich dachte...
„Sidney Lumet für sehr arme Leute“ mag ein hartes Urteil sein, aber tatsächlich hat mich dieser rumänische Beitrag arg enttäuscht (nicht nur, weil Rumänien seit meinem letzten goEast für mich ein Filmland voller großer Versprechen ist). Der Hauptdarsteller Emilian Oprea war nach meinem Geschmack zu blass. Der Film schleppte sich mühsam und sehr drehbuchraschelnd durch seine Intrigen und Wendungen. Manche Charaktere (etwa die Verlobte des Protagonisten) scheinen nur da zu sein, weil es im Drehbuch steht. Vor allen Dingen aber scheitert DE CE EU? daran, dass die extreme Bedrängnis der Hauptfigur im Kampf gegen die Korruption zu keinem Zeitpunkt wirklich spürbar ist (genau das war die große Stärke von Altmeister Lumet in SERPICO, PRINCE OF THE CITY und NIGHT FALLS ON MANHATTAN), sondern stets nur eine reine Behauptung bleibt. Aus dem Nichts wird die Figur paranoid (weil es so im Drehbuch steht). Aus dem Nichts springt sie am Ende in den Freitod.


13.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
IJUL‘SKIJ DOŽD‘ (JULY RAIN)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1966
108 Min., 35mm

© goEast
Wenn man IJUL‘SKIJ DOŽD‘ im Sinne des klassischen Erzählkinos zusammenfassen möchte, dann geht es um eine glückliche und harmonische Beziehung, die durch zunehmende Entfremdung nach und nach in die Brüche geht. Doch Chuciev „erzählt“ das nicht straight, sondern gönnt sich und seinen Figuren zahllose Umwege. Und tatsächlich sind diese Umwege wesentlich spannender als die „eigentliche“ Geschichte. Und zugespitzt: die „toten“ Momente des Films waren faszinierender als die „lebendigen“.
Drei dokumentarisch gefilmte, gewissermaßen „abstrakte“ Momente strukturieren IJUL‘SKIJ DOŽD‘. Zu Beginn gibt es eine sehr lange Plansequenz durch einen Moskauer Bürgersteig, die zwischendurch von Motiven aus der Renaissance-Malerei unterbrochen wird (die Hauptfigur, Lena, arbeitet in einem Verlag für Kunstbücher) und von einem Radio begleitet wird, dessen Sender immer wieder abrupt umgeschaltet werden.
Etwa in der Mitte des Films gibt es eine Passage mit einer Straßenmontage, bei der Kamera sich durch den Moskauer Straßenverkehr bewegt. Irgendwann taucht dann mit einer gewissen Regelmäßigkeit dasselbe Motiv auf: ein Transportwagen mit zwei aufgeladenen Pferden. Die „suchende“ Kamera „entscheidet“ sich schließlich für dieses Motiv und bleibt dann dran hängen. Dieser Moment ist vielleicht eine schöne Zusammenfassung von dem, was Chuciev-Filme charakterisiert: sie scheinen oftmals das Ergebnis zufälliger „Entscheidungen“ der Kamera zu sein. Wichtig scheint es zunächst immer zu sein, die vielen Möglichkeiten aufzuzeigen, um nach der Entscheidung zu wissen, dass es auch andere Auswahloptionen gegeben hätte. Es ist eine sehr offene Herangehensweise ans Kino und eine radikale Absage an das Konzept der Schicksalshaftigkeit: es muss nicht kommen, wie es kommt.
Chucievs „Kino der extremen Zwanglosigkeit“, wie ich es nennen würde, leitet ebenso MNE DVADCAT‘ LET ein, wenn die Kamera eine Moskauer Straße erforscht und es mehrmals so scheint, als würden wir den Protagonisten im Visier haben (und dem dann doch nicht so ist).
IJUL‘SKIJ DOŽD‘ schließt dann ebenso offen ab. Der Film endet mit einer Montage aus vielen Gesichtern von der Straße: Lenas Geschichte ist nicht abgeschlossen, aber wir könnten uns nun trotzdem theoretisch einer anderen Geschichte widmen. Wessen Geschichte?
Ehrlich gesagt macht es mir im Nachhinein mehr Spaß, über IJUL‘SKIJ DOŽD‘ nachzudenken, als ihn wirklich zu schauen. Gerade die eigentlichen Handlungsmomente mit ihren vielen langen und meiner Meinung nach fürchterlich trivialen Dialoge haben mich bisweilen etwas angeödet. Mein Fazit aus diesem Film ist aber klar: es ist jammerschade, dass im Rahmen der Hommage an Chuciev keiner seiner Dokumentarfilme gezeigt wurden!


16.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
DESTINACIJA_SERBISTAN / LOGBOOK_SERBISTAN
Regie: Želimir Žilnik
Serbien 2015
94 Min., DCP

Želimir Žilnik, einer der Vertreter der jugoslawischen Neuen Welle (hier nun erneut ein Verweis auf meine alte goEast-Besprechung, in der Žilnik allerdings nicht gut weggekommen ist), nimmt in seinem Dokumentarfilm LOGBOOK_SERBISTAN einen ungewöhnlichen Aspekt Serbiens in den Blick: nämlich seine Eigenschaft als Aufnahme- und Transitland für Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten.
Im Laufe seines Films erzählt Žilnik vom Leben vieler Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen und Zielen. Ein Syrer etwa hat sich spontan dazu entschieden, in Serbien zu bleiben, Serbisch zu lernen und in einer Gemeinschaftsunterkunft als Dolmetscher für arabischsprachige Flüchtlinge zu arbeiten. Zwei afrikanische Flüchtlinge, die aus verschiedenen englischsprachigen Ländern kommen (der eine aus Ghana, glaube ich), gehen den Weg in Richtung Westeuropa gemeinsam. Ein (ostafrikanisches?) Ehepaar mit Kleinkind möchte ursprünglich die Grenze nach Ungarn überschreiten, doch die Eheleute entscheiden sich nach dem Rat eines Fluchthelfers anders: sie kaufen ein brachliegendes, kriegszerstörtes Haus für ein Appel und ein Ei und richten sich vorläufig als Kleinbauern ein, während der Mann als Erntehelfer anheuern geht.
Žilnik legt implizit sehr viel Wert auf das Moment der Begegnung zwischen einheimischen Serben und Flüchtlingen und offenbart dabei viel gegenseitige Neugier und Offenheit. In geballten anderthalb Stunden wirft das natürlich auch Fragen auf. Kommt dieser relativ offene Umgang der Serben mit Flüchtlingen daher, dass eine Kamera dabei ist? Oder dass Žilnik sein verfügbares Material so zusammengesucht hat? Oder weil Serben sehr lebhafte und vor allem relativ aktuelle Erfahrungen mit Flüchtlingen aufgrund der jugoslawischen Zerfallskriege haben?
LOGBOOK_SERBISTAN ist als Projekt der Sensibilisierung sowohl in Serbien selbst wie auch im Ausland gut zu gebrauchen. In einem deutschen Kontext, in dem viele Leute so oft über die ganzen Flüchtlinge maulen, erinnert er jedenfalls daran, dass deren Aufnahme bzw. überhaupt der Umgang mit ihnen eine gesamteuropäische Angelegenheit ist.


18.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
NIČIJE DETE (NO ONE‘S CHILD)
Regie: Vuk Ršumović
Serbien / Kroatien 2014 
95 Min., DCP

Die Geschichte eines Wolfskindes, übertragen in die Ära des zerfallenden Jugoslawien: ein von Wölfen erzogener Junge wird von Jägern in einem Wald gefunden, später in ein Waisenheim gebracht, wo er zunächst sich selbst überlassen wird, sich nach und nach durch die Freundschaft mit einem der anderen Bewohner zu einem „richtigen“ Menschen entwickelt. Mit dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens wird er als Kindersoldat von einer bosnischen Miliz zwangsrekrutiert.
NIČIJE DETE habe ich eigentlich – mangels Alternativen – nur als Lückenfüller zwischen der 16-18- und der 20-22-Uhr-Schiene gesehen. Und so entstehen aus Lückenbüßer doch wundervolle Sichtungen. Ich befürchtete ein wenig eine „pädagogisch wertvolle“ Betroffenheitskeule, doch die serbisch-kroatische Koproduktion erwies sich als erstaunlich unsentimentaler und komplexer Film mit störrischen, vielschichtigen Charakteren. Haris, so wird der Wolfsjunge genannt, ist sicherlich auch ein Opfer in einem recht tristen Waisenheim, aber er ist eben auch ein Mensch, dessen Umgang tagtäglich eine schwere und strapazierende Herausforderung ist. Žika, der Haris‘ bester Freund und Vertrauter wird, ist in der Nahrungskette des Waisenheims recht weit unten positioniert, und freundet sich nur zu gerne rasch mit jemandem an, der noch weiter unter ihm steht. Doch auch er schlägt und beschimpft Haris immer wieder. Der schnurrbärtige Sozialpädagoge, der sich nicht damit abfinden will, dass man Haris sich selbst überlässt, glaubt felsenfest an eine gute Zukunft des Wolfsjungen, doch auch seine Erziehungsmethoden sind oft autoritär, teils latent gewalttätig. Paradoxerweise sind es die Mobbingtäter, die Haris dazu bringen, seine ersten (zornigen) Worte auszusprechen, als sie ihm seine geliebte Glasmurmel wegnehmen. Und der Mensch, der Haris als Mitglied der Gesellschaft am ernsthaftesten nimmt, ist ausgerechnet der Kommandant einer paramilitärischen bosnischen Miliz: er „identifiziert“ Haris als Bosnier, gibt ihm eine Uniform und drückt ihm eine Maschinenpistole in die Hand. In NIČIJE DETE hat eben alles seine vielen Seiten.
© goEast
Luzifus von the-gaffer.de a.k.a. Der Chefredakteur (mit dem ich den Trip nach Wiesbaden unternommen habe, und der hier seinen eigenen Bericht veröffentlicht hat) schien die Zwangsmobilisierung Haris‘ gegen Ende des Films etwas zu viel des Guten. Doch ich denke, dass man sie auch als ultimative Stufe einer radikalen „Zivilisierung“ sehen kann: Krieg ist in diesem Sinne der absolute (freilich nach gängigen Maßstäben natürlich negative) Höhepunkt von Zivilisation. Vom Wolfskind aus dem Walde zum sozialistisch-jugoslawischen Pionier zum bosnischen Soldaten – kein Wunder, dass Haris am Ende wieder aus der Zivilisation aussteigen möchte. Den Preis für seine Zivilisierung muss er trotzdem bezahlen: eine Rückkehr und Integration in die Natur, die sich von ihm abwendet, ist nicht mehr möglich.
Auch wenn ich für den deutschen Kinostart des nächsten Films nun komplett schwarz sehen muss, ist es trotzdem fein, dass NIČIJE DETE den Hauptpreis des Festivals gewonnen hat (was seine Chancen auf westeuropäische Kinostarts erhöht).


20.00, Caligari FilmBühne
KREDITIS LIMITI (LINE OF CREDIT)
Regie: Salomé Alexi
Georgien / Frankreich 2014 
85 Min., DCP

KREDITIS LIMITI ist eigentlich eine relativ leichte, absurde Komödie. Hinter dieser verbirgt sich eine bittere, fast unendlich traurige Tragödie. Und hinter dieser lauert ein purer Horrorfilm.
Nino, die Betreiberin eines Imbissladens in Tiflis und stolze Wohnungsbesitzerin, konnte sich bislang ein bequemes Leben leisten, weil ihr Vater einst als mittelgroßer Bonze zu Sowjetzeiten recht erfolgreich und ohne geschnappt zu werden die örtliche Kasse der Partei für sich „privatisierte“. Doch nun ist das Geld durchgebracht, Nino und ihre große Familie (Ehemann, Tochter, Sohn, Mutter, Großmutter) stehen vor dem Ruin. Täglich muss die Frau aufs Neue ums Geld kämpfen, aber der Imbissladen läuft nicht richtig, und mit jedem neuen Tag flattern neue Rechnungen, Mahnungen und geldvernichtende Situationen ins Haus.
Eine Komödie ist KREDITIS LIMITI, weil der Ton immer sehr leicht erscheint. Doch er ist auch ein Film über eine Frau, die in einer erbarmungslosen Schicksalsmaschine gefangen ist, aus der es für sie kein Entkommen geben kann. Für jede weitere Geldquelle, die sich auftut (meistens ein Kredit oder ein Anpumpen) tun sich zwei weitere Rechnungen auf, die immer größer werden. Der Gipfel kommt, als die Großmutter in ein Koma fällt und im Krankenhaus an Schläuchen zur Lebenserhaltung angeschlossen wird: nach zehn kostenlosen Tagen folgt mit jedem neuen Tag eine neue happige Rechnung, doch den Schlauch abdrehen darf Nino rechtlich nicht, solange sich der Zustand der Großmutter nicht verschlechtert und natürlich will sie das auch nicht – sie, die alles menschenmögliche tut, um auch noch Geld für die Behandlung einer kranken Freundin aufzutreiben. Der Schluss ist unvermeidlich: Nino und ihre Familie werden aus der Wohnung rausgekehrt, wie Hunderttausende anderer Haushalte in Georgien, als 2008 (oder 2009?) eine Immobilienblase platzte.
© goEast
Die strenge Komposition des Films macht deutlich, wie sehr Nino von Anfang an ausweglos gefangen ist. KREDITIS LIMITI ist ein Film, der die meisten Elemente seiner Geschichte nicht diskursiv, sondern mit seinen formalen Mitteln erzählt, besonders mithilfe des Produktionsdesigns. Ein aufgehellter Fleck auf einer Tapete weist etwa daraufhin, dass hier mal ein Bild oder ein wertvoller Spiegel hing, der wohl verkauft wurde. In anderen Momenten kann die Einrichtung auch eine Wahrnehmungsfalle sein, eine Verkörperung von Falschheit und ein Versuch, das Gesicht zu bewahren: eine üppige Vitrine voller wertvoller Liköre und Alkohole enthüllt Ninos Mutter ganz nebenbei als Fake, als Ansammlung von Flaschen, die mit Tee oder Kaffee gefüllt wurden. KREDITIS LIMITI ist mehrheitlich in starren Tableaus gefilmt, es gibt aber auch lange Plansequenzen durch Tifliser Bürgersteige, wenn Nino geschäftig nach dem nächsten Schnäppchen sucht oder zum naheliegenden Pfandhaus geht: überall an den Läden prangern riesige Zahlen voller Versprechungen, die die Hauptfigur noch mehr unter Druck setzen.
Die Wege des Geldes werden formalistisch aufgezeigt. So holt sich Nino mithilfe einer Freundin einen Kredit in einer hyperstilisierten Bank, in der alles durcharrangiert ist (selbst die Abstimmung der Nagellackfarbe der Bänkerin mit der Farbe ihres Datumstempels), in der nächsten Szene teilen sich die beiden Frauen das Geld in der Gosse auf, vor einer graffitibesprühten Wand, die von Hunden angepisst wurde: im Tempel gibt es Geld im Übermaß, in der Gosse werden die Krummen aufgeteilt.
Auch immer wieder faszinierend ist es, wie Salomé Alexi den Raum und die Tiefenschärfe nutzt. In der absurdesten Szene des Films möchte Nino eine Tante (?) oder Freundin der Mutter um Geld anpumpen, während sich die quartiersbekannte Straßenkehrerin von Nino wiederum Geld leihen möchte. Beide gehen zur Tante, diese wirft in einem Stoffbündel das Geld vom Balkon herunter – und natürlich bleibt dieses an den Ästen eines Baumes hängen. Spielende Kinder werden beauftragt, das Bündel zu holen. Nino setzt sich mit der Straßenkehrerin auf eine Bank, unterhält sich mit ihr über die Mühen des Lebens, während im Hintergrund die Kinder auf dem Baum klettern, von der Tante auf dem Balkon angefeuert. Das Geld bleibt also schon irgendwo hängen, aber oft da, wo man es nicht gebrauchen kann!
Meisterhaft! Und das auch noch bei einem Debüt, den die Regisseurin selbst geschrieben, produziert und geschnitten hat.


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
POSLESLOVIE (EPILOGUE)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1984
98 Min. 35mm

© goEast
Filmstill ist schwarzweiß, der Film selbst aber in Farbe
Schwiegereltern! Im Volksmund gibt es ja nichts nervigeres. Über eben diese sprichwörtliche Nervigkeit hat Marlen Chuciev einen wunderbaren Film gedreht.
Der Zoologe Viktor, der in einer schönen Moskauer Wohnung mit seiner Frau und seiner Hündin lebt, bekommt eines Tages Besuch von seinem Schwiegervater Aleksej angekündigt. Viktors Frau kennt ihren Vater nur allzu gut und macht sich auch aus dem Staub: eine Geschäftsreise kann praktischerweise vorgeschoben werden. Viktor, der gerade Urlaub macht, muss nolens volens den alten Mann empfangen. Recht schnell merkt er, was für eine Nervensäge er sich da eingefangen hat. Eine Nervensäge, die sich über kleinste Dinge minutenlang freut, abgedroschene Lebensweisheiten von sich gibt, darüber meckert, dass Moskau sich geändert hat und schlussendlich sogar seinem Schwiegersohn vorschreiben möchte, wie dieser sein Schreibtisch arrangieren sollte.
Aber! So einfach läuft das ganze nun doch nicht. Wir sind in einem Chuciev-Film, und wenn wir mittlerweile etwas gelernt haben, dann wohl, dass Chuciev keine direkten Wege nimmt, sondern lieber verwilderte, unbekannte Nebenpfade betritt. Denn der Regisseur und seine beiden tollen Hauptdarsteller Rostislav Pljatt und Andrej Mjagkov verteilen die Sympathien recht unerwartet: der penetrante alte Mann kann sich des Herzens der Zuschauer sicher sein, während der in seiner Arbeit gestörte junge Mann rasch pedantisch, herrisch und intolerant wirkt (auch wenn wir wissen, dass seine Aufregung eigentlich gerechtfertigt ist). Diese Verteilung der Sympathien erzeugt Chuciev mit einem recht einfachen Mittel: er lässt einfach Viktor immer wieder in die Kamera sprechen und das Geschehen kommentieren. Was anderswo ein Mittel der Identifikation sein könnte, wird hier zum Mittel der unbewussten Distanzierung: denn Viktor erscheint dann automatisch in einer Position der Rechtfertigung, seine diesbezüglichen Versuche wirken selbst penetrant und vor allem besserwisserisch. 
Chuciev ist aber kein Zyniker, sondern ein Humanist. Beide haben ihre Gründe. Und hinter der jovialen Fassade des alten Mannes verbirgt sich eine tiefe Traumatisierung aus dem Zweiten Weltkrieg. Sein Dozieren über die Vorzüge des klassischen Rasiermessers über den Systemrasierer dient in erster Linie dazu, seelische Kriegsnarben zu verbergen und ein eigenes persönliches Stück Erinnerungskultur aufzubauen.
POSLESLOVIE ist über weite Strecken ein Zweipersonen-Kammerspiel, gefilmt in einem recht nüchternen Stil. Abweichungen stechen umso mehr hervor. In einer Szene, die man wohl als psychedelisch bezeichnen könnte, freut sich Aleksej stürmisch, als draußen ein Gewitter ausbricht, und Viktor hält diese Begeisterung mit einer Kamera fest, während die Wohnung von Gewitterblitzen brutal aufgehellt wird. Und wieder zeigt sich Chuciev in den Außenszenen als feinsinniger Dokumentarist. Die Häuser- und Wohnblockfassaden, die in den 1960er Jahren noch von einem optimistischen Aufbruch kündeten, erscheinen hier nun einfach nur trostlos: was in Schwarzweiss modern erscheint, kann in Farbe eben abgeranzt und verbraucht aussehen.


Montag, 27. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA (THE POSTMAN‘S WHITE NIGHTS)
Regie: Andrej Končalovskij
Russland 2014
101 Min., Screener
© goEast
Andrej Končalovskij, der Grenzgänger zwischen UdSSR/Russland und den USA (und dessen TANGO & CASH ich bislang sehr schätzte), kehrt nun in die russische Provinz zurück. Das Konzept von BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA klingt im Grunde wie eine russifizierte Version von De Sicas LADRI DI BICICLETTE. Končalovskij drehte den Film komplett mit Laiendarstellern, die sich selbst spielen. Erzählt wird vom Lebensalltag eines Postboten im Gebiet Pleseck, im russischen Norden. Aufgrund der geografischen Bedingungen ist er nicht mit dem Fahrrad unterwegs, sondern mit einem Motorboot, um auch an entlegene Orte die Post bringen zu können. Auf seinen Touren begegnet er natürlich allen Bewohnern, darunter auch einer alleinerziehenden Mutter, in die er ein bisschen verliebt ist und einem lokalen Dorfsäufer. Eines Tages wird der Motor seines Bootes geklaut und er kann keine Post mehr austragen...
Končalovskij, der schon in SIBIRIADA ein feines Gespür für die Lebensumstände in der abgelegenen russischen Provinz bewiesen hatte, entwirft hier ein faszinierendes und zutiefst menschliches Portrait vom Alltagsleben in einer infrastrukturschwachen Region. Mit Ausnahme eines Traummotivs, das immer wieder auftaucht (nämlich eine graue Katze) verzichtet der Film konsequent auf Psychologisierung und Symbole, sondern verlässt sich ganz und gar auf seine tollen Laiendarsteller. Aleksej Trjapicyn ist ein unwahrscheinlicher Filmheld, aber dank seines knittrigen, kantigen und höchst lebendigen Charaktergesichts trägt er mühelos den ganzen Film auf seinen Schultern.
Fazit: klein, leise, unscheinbar, nach klassischen Maßstäben „ambitionslos“ – und sehr schön!


Persönliches Ranking

aktuelle Filme:

1. SIMINDIS KUNDZULI (CORN ISLAND)

– KREDITIS LIMITI (LINE OF CREDIT)

3. NIČIJE DETE (NO ONE'S CHILD)

4. BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA (THE POSTMAN‘S WHITE NIGHTS)

5. DESTINACIJA_SERBISTAN / LOGBOOK_SERBISTAN

6. ANGELY REVOLJUCII (ANGELS OF REVOLUTION)

7. KEBAB I HOROSKOP (KEBAB AND HOROSCOPE)

– [CRNCI (THE BLACKS)]

9. GOLI (NAKED ISLAND)

10. DE CE EU? (WHY ME?)

11. POD ELEKTRIČESKIMI OBLAKAMI (UNDER ELECTRIC CLOUDS)


Retrospektive:

1. ČOVEK I ZVER (MAN AND BEAST)

 BRICHA EL HASHEMESH (ESCAPE TO THE SUN)

3. POSLESLOVIE (EPILOGUE)

4. MNE DVADCAT‘ LET (I AM TWENTY)

5. IJUL‘SKIJ DOŽD‘ (JULY RAIN)

6. [DIGITAL RESTAURIERTE FILME DER MANAKI-BRÜDER]


Persönliche Spezialpreise: 

Bester Darsteller
- Ilyas Salman als der alte Mann in SIMINDIS KUNDZULI
(knapp vor Denis Murić als Haris in NIČIJE DETE und Aleksej Trjapicyn als er selbst in BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA)

Beste Darstellerin:
- Evgenija Uralova als Lena in IJUL‘SKIJ DOŽD
(knapp vor Nino Kasradze als Nino in KREDITIS LIMITI)

Bester Nebendarsteller:
- Laurence Harvey als Major Hartschnurrbart a.k.a. Major Kirsanov in BRICHA EL HASHEMESH

Bestes Produktionsdesign:
- ? für KREDITIS LIMITI

Bester Filmanfang:
- Straßenplansequenz meets Renaissancemalerei meets gestörtes Radioprogramm in IJUL‘SKIJ DOŽD (vor Arbeitsloser meets Arbeitsloser in Dönerbude in KEBAB I HOROSKOP)

Bester Filmschluss:
- Eine Wölfin steht in einem Wald, blickt einen Teenager an und läuft desinteressiert weg in NIČIJE DETE

Bestes Arrangement prolliger Goldkettchen auf wallender Brustbehaarung:
- Yehuda Barkan als Yasha Bazarov in BRICHA EL HASHEMESH