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Montag, 22. Juni 2015

Howard Hawks zu Gast bei Jess Franco

X312: FLUG ZUR HÖLLE
Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971
Regie: Jess Franco
Darsteller: Thomas Hunter (Tom), Esperanza Roy (Anna Maria Vidal), Fernando Sancho (Bill der Steward), Gila von Weitershausen (Steffi), Siegfried Schürenberg (Alberto Rupprecht), Howard Vernon (Pedro)


Vor einigen Wochen schrieb ich in meinem Bericht zum goEast-Festival 2015 über einen Film, der die „trashig-sleazige“ Seite von Artur Brauners Wirken als Filmproduzent veranschaulichte. Nun, im Gegensatz zur „Riskanten Welle“, die sich auf einen Film beschränkte (also ČOVEK I ZVER), war Brauner in diesem Bereich etwas umfangreicher tätig. So produzierte er ab Anfang der 1970er Jahre mehrere Filme des Eurosleaze-Papstes Jess Franco, darunter VAMPYROS LESBOS, DR. M SCHLÄGT ZU (eine Art Mabuse-Ripoff, wenn man das wirklich so sagen möchte), DER TODESRÄCHER VON SOHO (nach einer Vorlage von Edgar Wallaces Sohn Bryan Edgar) – und eben X312: FLUG ZUR HÖLLE. Das Arbeitsverhältnis Brauners mit Franco war wohl enger als mit Menahem Golan, da er mit dem Spanier zusammen auch die Drehbücher verfasste.

Stets mit charmantem Lächeln, oft mit schmackhaftem
Drink in Griffweite: Tom (hier im Beicht-Modus)
Irgendwo in einer brasilianischen Küstenstadt lässt sich ein etwas müde aussehender Mann zu einem Bürogebäude chauffieren. Dort setzt er sich in einen Arbeitsraum, greift nach den beiden Arbeitsgegenständen, die er in den nächsten Stunden brauchen wird – nämlich eine Flasche Scotch mit Glas und ein Diktiergerät – und beginnt seine Erzählung, oder man möchte fast sagen: seine Beichte. DOUBLE INDEMNITY-mäßig erinnert er sich an die vergangenen, todbringenden Ereignisse. Tom, der im „wahren“ Leben als Reporter arbeitet, ist zusammen mit einer Gruppe von mehr oder minder bizarren Passagieren in einem holprigen Flugzeug aus Chile geflohen (wir schreiben das Jahr 1971: Salvador Allende ist der erste Marxist, der in demokratischen Wahlen Ende 1970 zum Präsident eines lateinamerikanischen Landes gewählt wurde – für manche Leute in Chile und international ein geradezu apokalyptisches Ereignis, wesentlich apokalyptischer als die Ereignisse Ende 1973. Jedenfalls greift der Film diese „Rote-Socken“-Panik auf, zumindest am Rande). Unter Toms Co-Passagieren findet sich ein hunde- und männerliebender spanischer Adeliger, eine ultranervige US-amerikanische Touristin, die naive junge Wienerin Steffi, ein junger Mann namens Carlos, der besagter Steffi schöne Augen macht, der grobschlächtige Steward Bill und eine mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal. Vor allem aber fliegt der ehemalige Chef der chilenischen Nationalbank Alberto Rupprecht mit einem Aktenkoffer voller Kostbarkeiten mit. Dumm nur, dass dies nicht geheim gehalten wurde und er nur einen Bodyguard dabei hat, der sich auch noch auf dem Flugzeugklo wie ein kleiner Amateur von einem Gangster erschießen lässt. Der Gangster allerdings, der den Auftrag hat, die Maschine zu einem mit seinen Auftraggebern ausgemachten Treffpunkt umleiten zu lassen, ist auch nicht der Geschickteste: den Piloten kann er im Cockpit nicht unter Kontrolle bringen und die Maschine stürzt ab. So findet sich die illustre Gesellschaft mitten im brasilianischen Dschungel wieder. Der Survival-Marsch beginnt. Würze in das ganze bringt die Tatsache, dass alle auf den Inhalt von Alberto Rupprechts Koffer neugierig sind, und die gröberen unter ihnen (zum Beispiel der Steward Bill) durchaus bereit sind, über Leichen zu gehen.

So weit, so banal, möchte man sagen. X312: FLUG ZUR HÖLLE könnte ein fürchterlicher Langweiler sein (und die ersten zehn Minuten deuten ein wenig in diese Richtung). Dennoch ist der Film, wenn man keine allzu bornierte Sichtweise auf Kino und seine Magie hat, wunderbar gelungen. Und zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen: er ist gelungen, trotzdem Jess Franco auf dem Regiestuhl saß und gleichzeitig eben weil der exzentrische Spanier den Film gedreht hat.

Zum „trotzdem“: X312: FLUG ZUR HÖLLE ist ein Actionfilm mit leichtem Survival-Thriller-Touch, also ein Stoff, der eine effiziente, ökonomische, dynamische Inszenierung verlangt, mit einem Drehbuch, das recht schnörkellos von A nach B führt. Das sind nicht gerade Attribute, die man mit Jess Franco in Verbindung bringt, bei dem eine Striptease-Szene sich auch über ganze fünf Minuten hinziehen kann und dessen Filme im Allgemeinen eher frei assoziativ als kompakt zusammengeschnürt sind. Die Gratwanderung gelingt ihm dennoch und mit X312: FLUG ZUR HÖLLE ist etwas herausgekommen, das man wohl als so etwas wie einen „straighten“ Jess-Franco-Actionfilm bezeichnen kann (aber bei über 200 Filmen kann es durchaus vielleicht noch ein weiteres halbes Dutzend von dieser Sorte geben).

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist tatsächlich als Actionfilm im wörtlichen Sinne inszeniert, als Aktionsfilm, als Film der permanenten Bewegung. Bei Franco bewegt sich die Kamera meistens nicht, sie zoomt, rein, raus, wieder rein, und das nicht zu wenig. Und was hier Franco liefert, ist ein schwindelerregendes Crashzoom-Feuerwerk ohnesgleichen. Kein Stillstand, immer Bewegung, Schnitt von einem Zoom in den nächsten. X312: FLUG ZUR HÖLLE wurde mehr am Schneidetisch realisiert als „in“ der Kamera. Das betrifft natürlich auch den Zusammenschnitt aus holprigen Studiodrehs mit Aufnahmen, die sehr offensichtlich von der Second Unit gedreht wurden oder gar Stockmaterial sind und der bei Jess Franco fast schon als „auteuristisches“ Statement erscheinen kann. Was in einigen seiner anderen Filme nicht recht überzeugt, weil es den Bogen dann doch überspannt, funktioniert hier wunderbar. Franco übt sich sogar ein wenig darin, Stockmaterial zu sparen, wenn die Explosion des Flugzeugwracks so gefilmt wird, dass sie nur zu hören bzw. auf den schockierten Gesichtern der Verunglückten zu sehen ist.

So schön kann es sein, sich zu verlieben!
Wohldosierte Zärtlichkeit in einer erbarmungslosen Welt
In den ersten Minuten des Films überwog bei mir noch die Skepsis. Die „Vorstellung“ der Flugpassagiere durch Tom im Off weckte mein Interesse, weil die teils gekippt gefilmten Bilder der Gesichter so bizarr und elliptisch zusammengeschnitten wurden. Die kurze Zwischenlandung in einer schmierigen Dschungelbar (wo Alberto Rupprecht zusteigt) nahm mich schließlich ganz für den Film ein. Steffi, die Wienerin, sitzt Carlos gegenüber. Den Kuschelbär, den sie im Flugzeug auf dem Nebensitz angeschnallt hatte, hat sie für die Zwischenlandung mit raus genommen (wie sie überhaupt auch später im Dschungel den Teddybären immer mit sich und ihn sogar zwischendurch zu Carlos' Radio tanzen lässt!). Carlos hingegen hat sein tragbares Radio auf den Tisch gestellt: es läuft gerade ein leichter Schlager und der Junge Mann beginnt, fröhlich die Melodie mitzupfeifen, während er die Wienerin dabei anschaut. Steffi, die bislang die Blicke Carlos‘ eher uninteressiert, wenn nicht sogar etwas genervt entgegennahm, fängt an zu lächeln! Später kriegen die beiden vor lauter Lächeln und Pfeifen gar nicht mit, dass es mit dem Flug weitergehen soll und der Steward muss sie schon sehr laut auffordern, mitzukommen. Die Szene in der schmierigen Dschungelbar ist überhaupt toll: das Dekor ist wahrscheinlich eher eine bundesdeutsche Kantine, aber das „Beba CocaCola“-Schild und ein Pflanzentopf mit brasilianischer Flagge teilen uns mit, dass wir uns im südamerikanischen Dschungel befinden. Bill tauscht ein paar Worte mit dem Kneipier aus (der für den Steward natürlich noch ein kaltes Getränk im Hinterzimmer übrig hat). Tom ist offenbar verkatert und deswegen trinkt er ein großes Glas Rum mit einer darin aufgelösten Aspirintablette. Die mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal, die später im Film wichtig wird, sitzt weiterhin hinten, raucht und sieht dabei verführerisch und mysteriös aus. Dann geht‘s weiter.

Edelsteine mit klangvollen Namen
Von Hawks‘ianischer Figurencharakterisierung zu sprechen ginge vielleicht zu weit, aber tatsächlich werden die Figuren in X312: FLUG ZUR HÖLLE hauptsächlich über ihre Handlungen und nicht über ihre Auslassungen charakterisiert. Stichwort Hawks: der hat zusammen mit einigen anderen großen Regisseuren ein kleines Cameo in einer der wohl wunderlichsten Details dieses an Details sehr reichen Films. In der Aktentasche des Alberto Rupprecht befindet überhaupt kein Geld, sondern gewöhnlicher Plunder – und ein unscheinbares Zigarrenkarton, das einige wertvolle Edelsteine enthält. Das findet Bill heraus, nachdem er Rupprecht ermordet und den Krokodilen zum Fraß gegeben hat. Die weggeworfene Zigarrenschachtel findet später Anna Maria Vidal, und darin befindet sich ein Papier mit der Auflistung der Edelsteine – und ihrer Namen!

Aufgelistet von den teuersten zu den billigsten (unter den Namen, die erkennbar sind) handelt es sich um:
[Howard] „Hawks“ – 374.000 $
[Buster] „Keaton“ – 325.000 $
[Nicholas] „Ray“ – 243.000 $
[Ernst] „Lubitsch“ – 198.000 $
[Max] „Ophuls“ – 145.000 $
[Josef von] „Sternberg“ – 121.000 $
[George] „Cukor“ – 120.000 $
[Alexander] „Dovjenko“ – 117.000 $
[Budd] „Boetticher“ – 90.000 $
„Scarface“ – 88.000 $ (zwei Mal Hawks kann nie schaden?)
(Ohne Pause- und Einzelbild-Funktion beim DVD-Player hätte ich Sternberg vielleicht nicht und Cukor sicherlich gar nicht entdeckt.)
Wenn ich den Film bis zu diesem Zeitpunkt auch schon vorher mochte: spätestens da habe ich mich in ihn verliebt. Mitten im Urwald in einem wilden Action-Survival-Exploiter eine Liste mit den „teuersten“ Regisseuren rauszuholen, das hat schon irgendwie Klasse! Ob das Francos und Brauners gemeinsame Liste ist? Dass Franco den Surrealisten Keaton, den expressionistischen Seelenerkunder Ray und den abstrakten Minimalisten Boetticher mochte, wäre zumindest nicht verwunderlich.

Nackte Haut; grausame Tode; Howard Vernon mit Bräunungscreme
und Goldkettchen; Faustkampf auf dem Lastwagen
X312: FLUG ZUR HÖLLE bleibt dennoch ganz und gar ein Franco-Film. Am deutlichsten wird dies in den Szenen, die man als „Sleaze-Inserts“ bezeichnen könnte. Anna Maria Vidal, die ausgiebig zur treibenden Musik Bruno Nicolais in einer Dschungelkaskade badet – dann wird sie von einer Schlange bedroht und von Tom gerettet, der ihr mitteilt, dass er sie wie die Schlange die ganze Zeit beobachtet hat. Oder Anna Maria Vidal, die später von der Freundin des schmierigen Dschungelgangsters Pedro (Howard Vernon mit angeklebtem Schnurrbart und Bräunungscreme) auf dessen Anordnung vergewaltigt wird, bevor er dann selber ranmöchte (dumm für ihn, dass er in seinem Zimmer Stichwaffen so offen rumliegen lässt).

Am Franco-istischsten ist vielleicht der Umgang mit dem gewaltsamen Tod der Figuren. So unfeierlich, dreckig, klanglos, gänzlich von jeglichem Pathos entledigt sterben in Filmen wohl nur wenige Figuren außerhalb des Franco-Universums. Das betrifft nicht nur „Pappkameraden“ am Rande, sondern den harten Kern der Figurenriege. Die zarte Liebe, die Franco zwischen Steffi, Carlos, seinem Radio und ihrem Teddybär sanft aufbaut, ist ein zartes Pflänzchen, das vor Pfeilen, Messern, Gruppenvergewaltigungen und Kopfschüssen nicht sicher ist. Ein einfaches Abenteuer-Survival-Filmchen mit Diamantenraub-Subplot hätte jeder drehen können. Für einen holprigen Exploiter voller irritierender Brüche, der weder schmachtenden Kitsch noch wahrhaftig Abgründiges verschmäht, der den Zuschauer zwischendurch geradezu auf die Schnauze fallen lässt, brauchte es schon einen Exzentriker wie Franco.

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist in Deutschland auf einer DVD von Pidax erhältlich. Ton und Bild sind in Ordnung, wirklich mehr, was man auf dieser Edition gut oder schlecht finden könnte, gibt es nicht, außer vielleicht, dass der Film hier im Gegensatz zur britischen DVD offenbar ungekürzt ist.

Montag, 9. Februar 2015

Dosensuppen und Faschismus

LA SEMANA DEL ASESINO („Cannibal Man“)
Spanien 1973
Regie: Eloy de la Iglesia
Darsteller: Vicente Parra (Marcos), Eusebio Poncela (Néstor), Emma Cohen (Paula), Charly Bravo (Esteban), Vicky Lagos (Rosa), Lola Herrera (Carmen), Fernando Sánchez Polak (Señor Ambrosio)


Inhalt

Marcos arbeitet in einer Fleischfabrik, die unter anderem Dosensuppen mit Fleischbällchen produziert. Er hat die Dreißig schon gut überschritten, ist aber trotzdem mit der erheblich jüngeren Paula verlobt. Eines Abends werden beide von einem Taxifahrer aus dem Auto rausgeschmissen, weil sie sich auf der Rückbank stürmisch geküsst haben. Als der Taxifahrer dann die bereits zurückgelegte Strecke bezahlt bekommen möchte, weigert sich Marcos, zu zahlen. Und als der Fahrer gegenüber Paula handgreiflich wird, schlägt ihn Marcos mit einem Stein nieder.

Marcos ermordet Paula
Am nächsten Tag trifft sich der Arbeiter wieder mit seiner Verlobten. Sie haben aus der Zeitung erfahren, dass der Taxifahrer tot ist. Marcos nimmt das sehr gelassen hin, während Paula davon sehr beunruhigt ist. In Marcos‘ Wohnung schlafen die beiden miteinander, doch das vermag Paula nicht zu beruhigen. Sie stellt ihrem Verlobten ein Ultimatum: entweder, sie melden sich bei der Polizei und berichten über den Vorfall, oder sie wird ihn nicht heiraten. Daraufhin erwürgt Marcos seine Verlobte im Affekt und versteckt die Leiche in seinem Zimmer unter dem Bett.

In seiner schäbigen Wohnung (ein eingeschossiges Häuschen mit zwei Räumen) wohnt Marcos aber eigentlich nicht alleine, sondern in Wohngemeinschaft mit seinem Bruder Esteban, einem LKW-Fahrer. Der kommt frühzeitig von seinem letzten Auftrag zurück, weil sein Lastwagen eine Panne hatte. Das verärgert Esteban, aber zugleich freut er sich, dass er zurück ist, weil er seiner Verlobten Carmen bald eine schöne und teure Armbanduhr schenken kann. Bald merkt er, dass mit seinem Bruder etwas nicht in Ordnung ist. Nach einem Besuch in der Bar gesteht Marcos alles – den toten Taxifahrer, die Ermordung Paulas – und bittet Esteban darum, ihm zu helfen. Doch der will seinen Bruder der Polizei übergeben. Mit einem Schraubenschlüssel erschlägt nun Marcos auch seinen Bruder. Die Leiche versteckt er rasch in seinem Schlafzimmer.

Makabre Familienzusammenkunft
Marcos ist zwar aufgewühlt, geht aber am nächsten Tag trotzdem zur Arbeit, als wäre nichts gewesen. Als er nach Feierabend nach Hause kommt, steht Carmen vor der Haustür: sie sucht nach ihrem Verlobten Esteban. Marcos lässt sie ins Wohnzimmer rein, bittet sie dann aber (verständlicherweise) bald, wieder zu gehen. Carmen lässt sich aber nicht abwimmeln, möchte wissen, wo Esteban steckt und fragt auch danach, ob dieser etwas von einem Geschenk erwähnte. Sie will spontan und freudig in das Schlafzimmer gehen, um nach der „Überraschung“ zu suchen. Marcos versperrt ihr den Weg – auf so offensichtliche Weise, dass sie noch neugieriger wird und ihren zukünftigen Schwager in die Küche schickt, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Als Marcos kurz weg ist, stürmt sie in das Schlafzimmer, findet dort aber kein Geschenk, sondern die übel zugerichtete Leiche ihres Verlobten. Daraufhin schneidet ihr Marcos mit einem Küchenmesser die Kehle durch. Die Leiche deponiert er wie üblich in seinem Schlafzimmer. Seinen Bruder und seine künftige Schwägerin legt er nun gemeinsam und makaber vereint in sein Bett.

Als Marcos dann nach frischer Luft schnappen möchte, begegnet ihm der Nachbar mit dem Hund – ein homosexueller Intellektueller, der in einer teuren Wohnung im naheliegenden Hochhaus wohnt und der immer wieder mit Marcos kleine Smalltalk-Gespräche führt. Er stellt sich als Néstor vor und schlägt Marcos vor, in ein Café zu gehen. Dort werden die beiden Männer von der Polizei kontrolliert, die aber nichts verdächtiges an ihnen findet. Marcos ist dennoch sichtlich beunruhigt. Als Néstor nach der Rückkehr fragt fragt, ob Marcos' Wohnung sehen könne, lehnt dieser nervös ab: sie sei hässlich und voller schlechter Erinnerungen. „Begrabe sie doch“, schlägt ihm Néstor vor. Die Assoziation entlässt Marcos noch nervöser in die Nachtruhe.

Am nächsten Morgen steht Señor Ambrosio vor der Tür: Carmens Vater ist auf der Suche nach seiner Tochter, und verdächtigt Esteban, mit ihr vor der Ehe zu schlafen. Marcos versichert ihm, dass Carmen nicht da sei – doch Señor Ambrosio findet Carmens Handtasche, und möchte ins Schlafzimmer gehen. Der Fleischarbeiter wimmelt ihn ab. Als Señor Ambrosio schon bereit ist, zu gehen, überlegt es sich Marcos anders: während er schon zu einem Küchenutensil greift, schlägt er Carmens Vater vor, ruhig ins Schlafzimmer zu gehen und selbst zu überprüfen. Señor Ambrosio stürmt ins das Schlafgemach und schäumt über vor Wut: im Bett liegt offenbar seine Tochter mit Esteban. Ein näheres Hinsehen zeigt, in welchem Zustand sich die beiden befinden: die letzte und furchtbare Erkenntnis des Señor Ambrosio, bevor er Marcos‘ Hackbeil ins Gesicht geschlagen bekommt.

Marcos' Lösung für das Leichenproblem
Marcos‘ Wohnung ist ohnehin recht klein, und bereits vier Leichen stapeln sich in seinem Schlafzimmer. Mit dem Hackbeil, das ihn des lästigen Señor Ambrosio entledigte, beginnt er die sterblichen Überreste seiner Familie zu zerkleinern und bringt eine Sporttasche voll davon zur Arbeit: das besondere Fleisch wird einfach in den Kreislauf seiner Fabrik eingespeist. Das ganze ist freilich nicht nur ein Platzproblem. Es ist gerade Hochsommer, selbst die Nacht bringt keine Abkühlung und die Leichname seiner Verwandtschaft beginnen zu riechen. Um dieses Problem zumindest provisorisch zu beheben kauft Marcos in einer Drogerie Raumdeodorant und starkes Parfum.

Marcos Leben wird immer mehr zur Qual. Zum Glück gibt es die nette Café-Besitzerin Rosa, die stets für einen kleinen Flirt offen ist und ihm auch spätnachts noch ein Essen zubereitet. Oder den freundlichen Nachbarn Néstor, der ihn in das Schwimmbad seines exklusiven Clubs einlädt. Die Freude währt aber nicht lange, als Rosa ihm dann im Café eine Suppe serviert, die sich (erst nach ein paar Löffeln) als Produkt seiner Fabrik entpuppt. Von Übelkeit und Magenkrämpfen geplagt torkelt Marcos nach Hause. Am nächsten Morgen steht Rosa vor der Haustür. Sie will sich nach dem Zustand ihres Stammgasts erkundigen, bringt ihm ein süßes Gebäck und verführt ihn dann auf seiner Wohnzimmercouch. Rosa ist danach überhaupt nicht aufzuhalten, und möchte nun die ganze, etwas verwahrloste Wohnung putzen, besonders aber das Schlafzimmer, aus dem ein unangenehmer Geruch entströmt. Marcos verhält sich plötzlich sehr merkwürdig, und Rosa geht langsam ein Licht auf, als sie Blutspritzer an der Wand und Flecken auf verschiedenen Gegenständen entdeckt. Zu spät: Marcos packt ihren Kopf und knallt ihn solange an die Wand, bis sie tot ist.

Voyeure: Néstor und Marcos beobachten Marcos'
Wohnung von Néstors Balkon aus
Der Fleischarbeiter zieht dann los, irrt den ganzen Tag ziellos und verwirrt durch die Stadt und kommt erst am Abend zu seiner Wohnung zurück. Hunde haben sich davor versammelt, und Marcos kann nicht mehr hineingehen: schier unerträglich ist mittlerweile der Geruch der verrottenden Leichen. Néstor findet Marcos just in diesem Moment vor seinem Häuschen und lädt ihn zu einem erfrischenden Drink bei sich ein. Die geräumige, geschmackvolle und luxuriös eingerichtete Wohnung beeindruckt Marcos, doch er ist umso beunruhigter, als ihn Néstor dazu auffordert, auf dem Balkon die Umgebung mit einem Fernglas zu überblicken: das Innere seiner Wohnung sei von Néstors Wohnung aus perfekt zu überblicken. Marcos reagiert panisch, zerbricht ein Glas und bedroht Néstor mit den Scherben, lässt aber doch von ihm ab. Der freundliche Nachbar bietet dem Mörder sogar, ihm helfen zu wollen. Marcos jedoch ist zu einer Erkenntnis gelangt, sagt seinem mittlerweile noch einzigen lebenden Bekannten, den er näher kennt, Aufnimmerwiedersehen und zeigt sich dann per Telefon selbst bei der Polizei an. Er wartet auf den Stufen seines Hauses auf die Verhaftung. Stunden später, als die Dämmerung schon eingebrochen ist, wartet er immer noch...



Dosensuppen, franquistische „Ordnung“, homosexuelle Ikonografie und „verschwommene Bildsymbolik“

Die Inhaltszusammenfassung macht es vielleicht nicht ganz deutlich, aber LA SEMANA DEL ASESINO ist nicht nur ein früher und überaus exzellenter Slasherfilm, sondern auch eine gallige Satire, eine offene Attacke auf Aspekte des Lebens in der späten Franco-Ära, und insbesondere auf die Verbindung von Faschismus mit modernem Konsum.

Konsumprodukte, die Gewalt übertünchen:
Dosensuppe und Raumdeodorant
Um es noch einmal zu rekapitulieren: in LA SEMANA DEL ASESINO geht es um einen Mann, der zahlreiche Menschen aus seiner Familie und Bekanntschaft ermordet und der dann ihre Leichen in einem abgeschlossenen Hinterzimmer verrotten lässt. Als der Geruch zu penetrant wird, übertüncht er das ganze mit Parfüm und speist die Leichname nach und nach in den Konsumkreislauf, in dem er sie zur Fleischbeigabe für Dosensuppen verarbeiten lässt. Dieser Film wurde in einem Land gedreht, dessen noch herrschendes faschistisches Regime während des Bürgerkriegs und noch einige Jahre danach zehntausende Menschen ermordet und viele Leichen in anonyme Massengräber verscharrt hatte (deren Öffnung und Untersuchung bzw. Nicht-Öffnung bietet in Spanien bis heute Stoff für Kontroversen). In den 1960er Jahren folgte in Spanien ein wirtschaftlicher Aufschwung mit Bauboom und einer Öffnung hin zum Tourismus – wenngleich dies keine prinzipielle politische Liberalisierung brachte, so hatte das Regime einen Umschwung zu weniger massenhaften Formen der Repressionen eingeleitet. Eine gezügelte, wenngleich stets gewaltbereite Diktatur wurde mit einem Schuss Konsum etwas „schmackhafter“ gemacht – für diejenigen, die nicht so genau hinsehen wollten, und schon gar nicht in die Hinterzimmer. Wenn in LA SEMANA DEL ASESINO die Leichen brutal ermordeter Menschen für Dosensuppen „nutzbar“ gemacht werden, findet der Spätfranquismus seine bittere Bestimmung.

Die Motivation Marcos‘, als er seine Freundin Paula im Affekt tötet, ist, dass er nicht verhaftet werden möchte. Im weiteren Verlauf des Films stellt sich ein gewisser Automatismus in seinen Morden ein: wer die Leichen entdeckt, den bringt Marcos um – weil er Angst um seine Freiheit hat. Diese Angst entpuppt sich nach und nach als vollkommen unberechtigt. Die Gesellschaft um ihn herum ist viel zu „atomisiert“, als dass sich irgendjemand außer den allernächsten Bekannten ernsthaft um die Verschwundenen Sorgen machen würde. Vor allem aber braucht sich Marcos absolut nicht vor der Polizei zu fürchten. Denn diese interessiert sich nicht für Morde. Die kurze Szene, in der Marcos und sein Nachbar Néstor von Ordnungshütern kontrolliert werden, macht dies deutlich: die beiden gehen spätabends in ein Café, um etwas zu trinken. Sie sind die einzigen Gäste. Eine Gruppe von Polizisten (zwei in Uniform, einer in Zivilkleidung) erscheint, und will die Papiere der beiden Männer kontrollieren. Dem mehrfachen Mörder bricht schon der kalte Schweiß aus, als er dem Polizisten in Zivil seinen Ausweis gibt. Doch diesem fällt nichts besonderes auf (man kann annehmen, dass der Ausweis ein Bild hat und das Bild mit dem Mann am Cafétisch übereinstimmt – und fertig ist die Sache). Néstor jedoch hat seinen Ausweis nicht dabei, und bleibt dabei dennoch sichtlich gelassen. Der Caféhausbesitzer erklärt den Polizisten, dass er Néstor kenne und dieser „im neuen Hochhaus da drüben“ lebe. Die Polizisten geben sich mit dieser Erklärung rasch zufrieden, denn sie merken mit dem Hinweis auf das Hochhaus gleich, dass der Kontrollierte ohne griffbereiten Ausweis ein wohlhabender Mann ist. Der Chef der Truppe betont dann noch einmal schulmeisterlich, wie wichtig es sei, den Ausweis immer mit sich zu führen, denn man wisse ja nie, wer sich so auf den Straßen herumtreibe. In wenigen Sekunden werden faschistische Vorstellungen von „Ordnung“ entlarvt: Wichtiger als die Suche nach wirklichen Mördern ist eine reine Symbolpolitik auf den Straßen in Form pompöser Ausweiskontrollen, die sich zumal auch von Klassenkriterien leiten lässt. Klingt logisch: ein Staatssystem, das auf Massenmord aufbaut, will bei Mord lieber nicht so genau hinsehen. Am Ende des Films denunziert sich Marcos selbst als Mörder bei der Polizei. Und wartet. Und wartet. Offenbar mehrere Stunden, denn er sitzt zunächst im Dunkeln vor seinem Haus. Dann ist die Sonne aufgegangen. Und keine Polizei kommt, um ihn zu verhaften. Warum einen Mörder verhaften, wenn man doch „Stärke“ demonstrieren kann, indem man Ausweispapiere auf der Straße kontrolliert? Das Schlussbild von LA SEMANA DEL ASESINO entlarvt nicht nur ein mörderisches Regime, sondern wirkt auch „an sich“ als wunderbares Sinnbild existentieller Verzweiflung: ein Mörder, der für seine Taten nicht verfolgt und bestraft wird (angesichts der Politik des Stillschweigens nach der Transformation in Spanien aber auch ein unangenehm prophetisches Bild).

Markantes Schlussbild: ein Mörder wird nicht verhaftet
Das Klassenelement, gewissermaßen die Reibung zwischen zwei verschiedenen Spaniens (diese gibt es auch in der postfranquistischen Groteske EL PLACER DE MATAR, über die ich hier schon schrieb), schwingt in LA SEMANA DEL ASESINO immer mit. Marcos lebt zusammen mit seinem Bruder Esteban in einer recht heruntergekommenen, einstöckigen Hütte in einem Viertel, das im Zuge des Baubooms  der 1960er Jahre langsam „gentrifiziert“ wird: ein Steinwurf davon entfernt werden schon Hochhäuser mit schicken Wohnungen für die Reichen und Schönen hochgezogen und diese Hochhäuser vertreiben langsam die schäbigen Baracken. Dieses reiche und „andere“ Spanien findet mit Néstor Eingang in die Geschichte: ein besonders schillernder und ambivalenter Vertreter. Seine Homosexualität entfremdet ihn größtenteils von seiner Umgebung und seinem eigenen Milieu (die katholische Kirche war schließlich eine tragende Säule des Franquismus). Néstors sehr raffinierte, überlegte und intellektuelle Sprechweise trennt ihn auch kulturell vom proletarischen Marcos, der immer wieder etwas irritiert bei seinem Nachbarn nachfragt, was denn dieses oder jenes Fremdwort bedeute. Dies widerspiegelt auch das Unbehagen des Mörders: bis zum Schluss ist sich Marcos überhaupt nicht sicher, ob denn Néstor von seinen Verbrechen konkret weiß (und wenn ja, was er mit diesem Wissen denn anstellen möchte). Der Zuschauer übrigens auch nicht, denn Néstor wird als Voyeur in den Film eingeführt: mit einem Fernglas beobachtet er von seiner Wohnung aus immer wieder seine Nachbarschaft, darunter auch Marcos‘ Haus. Später wird klar, dass neben erotischer Schaulust (Marcos läuft aufgrund der Hitze immer wieder oberkörperfrei durch seine Wohnung) dahinter auch der Versuch steht, eine existentielle Entfremdung zu lindern: Néstor ist trotz Reichtum von der Welt fast komplett abgeschnitten, zumal er als freiberuflicher Schriftsteller keine „materiellen Werte“ schafft und Marcos ist seine einzige Verbindung.

Homosexuelle Ikonographie im Schwimmbad
Marcos und Néstor mögen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrer kulturellen Sozialisation getrennt sein – aber Freundschaft, Zuneigung, und seitens Néstors vielleicht sogar Liebe kennen keine Grenzen! LA SEMANA DEL ASESINO ist ein knüppelharter Film, nicht primär wegen seiner durchaus auch vorhandenen grafischen Gewalt, sondern wegen des hoffnungslosen, tristen und fatalistischen Grundtons. Der schwarze Humor, der immer wieder durchscheint, wirkt stets eher gallig als auflockernd. Doch im letzten Drittel passieren schier unglaubliche Dinge, die man in einem in der Franco-Ära entstandenen spanischen Film nicht vermuten würde: LA SEMANA DEL ASESINO eröffnet die Hoffnung auf eine mögliche Liebschaft zwischen Néstor und Marcos. Oder zumindest auf eine Freundschaft ohne wenn und aber. Der reiche Intellektuelle lädt den Arbeiternachbarn in das Schwimmbad seines exklusiven Luxusclubs ein. Dort gehen sie zusammen schwimmen. In einer rauschhaften Montage, die vollkommen furchtlos und entfesselt in Kitsch schwelgt, feiert der Film diesen homophilen Bund: beide können sich zumindest im Bad komplett fallen lassen und in trauter Zweisamkeit den Moment genießen. Die Schwimmbad-Szene von LA SEMANA DEL ASESINO erweckt für kurze Zeit den Eindruck, dass „New Queer Cinema“ nicht in den späten 1980er Jahren in angelsächsischen Ländern seinen Ausgang nahm, sondern ausgerechnet im franquistischen Spanien (die restliche Filmografie Eloy de la Iglesias würde dafür ebenso sprechen – dazu gleich mehr): sie ist ein kurze, poetische Ode an eine in alle Richtungen befreite männliche Sexualität.

Gewalt / Konsum
Reflexionen über ein Land mit einem auf Massenmord aufgebauten politischen System, Denkanstöße über die Verbindungen von Gewalt und Konsum, über soziale Ungleichheiten, Gentrifizierung und sexuelle Identität: LA SEMANA DEL ASESINO stürzte trotz seiner offensichtlichen thematischen Dichte in das Ghetto für cinematographische Schmuddelkinder. Im Ausland wurde „Die Woche des Mörders“ meistens als „Cannibal Man“ vermarktet und entsprechend auch behandelt. Er gehört zu den Filmen, die etwa im Vereinigten Königreich zu Beginn der 1980er Jahre der „video nasty“-Schmähkampagne zum Opfer fielen. Das „Lexikon des internationalen Films“ kritisierte „Cannibal Man“ hingegen als „psychologisch nicht fundiert“, „blutdürstig“ und warf dem Film eine „verschwommene Bildsymbolik“ vor.

Ohne behaupten zu wollen, dass Verrisse im „Lexikon des internationalen Films“ Garanten für die hohe Qualität eines Films sind, so ist LA SEMANA DEL ASESINO ein äußerst sorgfältig und minutiös inszenierter Film, voller teils subtiler visueller Details. Er beginnt ohne Vorwarnung mit blutigen, dokumentarischen Bildern aus der Fleischfabrik, in der Marcos arbeitet. Kühe werden abgeschlachtet, der Boden ist komplett rot, ganze Blutfontänen schießen aus den Wunden der geschlachteten Tiere (ist diese ganze Szene eine Anspielung auf Georges Franjus LE SANG DES BÊTES?). Der Film schneidet dann zu Marcos, der draußen steht, offenbar Pause macht und beherzt in ein Wurstsandwich beisst. Er genießt hier das Endprodukt seiner Arbeit – oder um die „verschwommene Bildsymbolik“ schärfer zu machen: extreme Gewalt und Konsumismus, die beiden Hauptthemen von LA SEMANA DEL ASESINO, werden schon in den ersten Sekunden recht deutlich formuliert. Es folgen die Anfang-Credits. DIe Kamera fährt durch das Wohngebiet Marcos‘ – schicke, industriell gefertigte Hochhäuser stehen neben „handgemachten“ Bruchbuden: das „reiche“ Spanien verdrängt das „arme“. Gewalt, Konsum, Klassenspannungen – bis zum Ende der Anfang-Credits hat der Film gewissermaßen schon sein „Exposé“ ausgelegt.

Marcos, Carmen und Jesus
Dass die Schlachterei in der Fleischfabrik und die Schlachterei in Marcos‘ Haus zusammenhängen, ergibt sich natürlich rein inhaltlich. Wer genau hinsieht, wird entdecken, dass die geometrische Struktur der Deckenfenster in Marcos‘ Bruchbude (durch die Néstor von seinem Balkon aus mit einem Fernglas hineinblicken kann) und die Deckenstruktur in der Schlachterei eine gewisse Ähnlichkeit haben. Auch Marcos‘ Biss in das Wurstbrötchen bei der Arbeit wird später in seiner Wohnung „gespiegelt“: Rosa bringt ihm ein kleines Gebäck zum Frühstück mit. Dieses bleibt zunächst liegen, während Marcos mit Rosa redet, mit ihr Sex hat und sie schließlich tötet (man könnte auch sagen: schlachtet). Danach erst nimmt er das Gebäck, und isst es.

Ebenso unausgesprochen, aber keineswegs „verschwommen“, sind die religiösen Regalien in Marcos‘ heimischer Schlachterei. Ein Jesusabbild und eine Plakette mit der Aufschrift „Gott schützt dieses Haus“ ziert die Aussenfassade. Einzelne Rosenkränze und Madonnenfiguren zieren die Inneneinrichtung. Die katholische Kirche, eine der tragenden Säulen des Franquismus, gibt dem Treiben in Marcos‘ Haus implizit ihren Segen.


Das wilde Kino des Eloy de la Iglesia

„Years before Almodovar patented his own brand of ‚shock‘ cinema, the Basque director Eloy de la Iglesia was busy smashing every taboo of the Spanish screen.“ – so das Urteil eines Nutzers der imdb über den Regisseur von LA SEMANA DEL ASESINO.

Eloy de la Iglesia, Jahrgang 1944, ist mit dem jüngeren und wesentlich berühmteren Álex de la Iglesia nicht verwandt, kommt aber ebenfalls aus dem Baskenland. Der Spross einer wohlhabenden Familie wuchs in Madrid auf und wollte schon früh Filmemacher werden. Er besuchte Kurse am Institut des hautes études cinématographiques in Paris (ob er dort vielleicht LE SANG DES BÊTES sah?) und begann dann ein Studium der Philosophie und Literatur in der spanischen Hauptstadt, das er abbrach, um Kindertheater zu inszenieren und Drehbücher für Kindersendungen der RTVE zu verfassen. 1966, mit knapp 22 Jahren, drehte de la Iglesia seinen ersten Kinofilm: FANTASÍA... 3, ein Märchenfilm mit den Episoden „Die kleine Meerjungfrau“, „Der Zauberer von Oz“ und „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“. Es folgten dann die zwei erfolglosen Melodramen ALGO AMARO EN LA BOCA und CUADRILATERO. Sein Thriller EL TECHO DE CRISTAL von 1971 (von einigen Leuten als spanischer Giallo bezeichnet), in dem eine Frau eine Nachbarin verdächtigt, ihren Mann ermordet zu haben, wurde von Publikum und Kritik hingegen wohlwollend aufgenommen. Es folgte LA SEMANA DEL ASESINO und im selben Jahr UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO, der oft als eine spanische Variante von A CLOCKWORK ORANGE bezeichnet wird: eine liebevolle Krankenschwester entpuppt sich als Serienkillerin, die ihre Liebhaber mit einem Skalpell absticht; ein Arzt möchte mittels Elektroschocktherapie Gewaltverbrecher in Musterbürger verwandeln; Gangs in Motorradlederoutfits und mit Bullenpeitschen terrorisieren wohlhabende Bürger – Sue Lyon (LOLITA) und Christopher Mitchum spielten mit. Ebenso im Jahr 1973 kam NADIE OYÓ GRITAR heraus, in dem ein Mörder (Vicente Perra) seine Nachbarin, eine Edelprostituierte, entführt und sie zwingt, ihn bei der Beseitigung der Leiche seiner Ehefrau zu helfen.

De la Iglesia brach nicht nur in seinen Filmen alle möglichen und unmöglichen Tabus, sondern auch im Leben. Er war selbst offen homosexuell, und das in einem Staat, der Homosexuelle zu Hunderten in Gefängnisse, Zwangsarbeitslager und Psychiatrien einsperrte. Er engagierte sich auch als Mitglied in der Kommunistischen Partei Spaniens, die Anfang der 1970er natürlich noch illegal war. Die Verbindung eines Slasher-Szenarios mit ätzender Kritik an der franquistischen Variante des Konsumismus fiel also nicht aus heiterem Himmel, und auch seine anderen Filme sind von diesem politischen Impetus geprägt. Kommentare zu UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO und NADIE OYÓ GRITAR bestätigen, dass dies nicht nur schwindelerregende Genre-Fantasien sind, sondern auch implizit politische Filme.

Dies wird auch in JUEGO DE AMOR PROHIBIDO recht deutlich, der knapp zwei Monate vor Francos Tod in die spanischen Kinos kam und den ein imdb-Nutzer als thematischer Vorläufer von Pier Paolo Pasolinis SALÒ bezeichnete: ein Lehrer entführt zwei seiner Schüler, um sie mittels Folter einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Mit der politischen Transition bewegte sich de la Iglesia von wuchtigen Horror- und Thriller-Stoffen hin zu sozialen Melodramen oder grotesken Komödien – ohne jedoch die politischen Komponenten zu vernachlässigen. LOS PLACERES OCULTOS (1977) handelt von der platonischen Liebe eines wohlhabenden Bankiers zu einem jungen Mann aus der Arbeiterschicht: es war einer der ersten spanischen Filme, die so offen von Homosexualität handelten (de la Iglesia musste mehrere Monate lang mit der Zensur verhandeln) und am Premierentag demonstrierten homosexuelle Aktivisten zum ersten Mal öffentlich in Spanien. Im selben Jahr flieht in LA CRIATURA eine Frau von den Zumutungen ihrer Ehe, in dem sie eine sexuelle Liaison mit ihrem Schäferhund beginnt (neun Jahre vor dem thematisch ähnlich gelagerten MAX MON AMOUR von Oshima Nagisa). Die Titelfigur von EL SACERDOTE (1978) ist hingegen ein Priester, der sich nach der Weihe nicht von seiner Sexualität lossagen kann. In seinem nächsten Film, EL DIPUTADO, entwickelt de la Iglesia ein Szenario, in dem ein linker Abgeordneter aufgrund seiner Homosexualität von seinen politischen Gegnern erpresst wird (einen ähnlichen Subplot gab es in Otto Premingers ADVISE & CONSENT, den ich hier schon besprochen habe). Interessanterweise hatte EL DIPUTADO einen großen Erfolg in Mexiko und in den USA und machte de la Iglesia auch außerhalb seiner Heimat bekannt. In amerikanischen Kritikerkreisen wurde er als „spanischer Fassbinder“ bezeichnet. 15 Millionen Zuschauer sahen in Spanien den Film bei der Erstausstrahlung im Fernsehen.

De la Iglesia thematisiert in seinen Filmen häufig
urbanen Wandel und soziale Ungleichheit.
Hier: Gentrifizierung in LA SEMANA DEL ASESINO
Mit NAVAJEROS (1980), COLEGAS (1982), EL PICO (1983) und EL PICO 2 (1984) schuf de la Iglesia einen Zyklus von Filmen über jugendliche Delinquenten, die in den subproletarischen Peripherien von Städten spielen, wo Kleinkriminalität, Prostitution und Drogensucht herrschen – gedreht mit geringem Budget an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern. Diese Filme waren kommerziell verhältnismäßig erfolgreich, fielen aber größtenteils bei der spanischen Kritik durch, die de la Iglesias Filme als vulgär  und voyeuristisch bezeichneten. Es folgte dann 1985 die Adaption von Henry James' „Turn Of The Screw“ OTRA VUELTA DE TUERCA (auf den Roman basierte auch THE INNOCENTS). LA ESTANQUERA DE VALLECAS von 1987 ist eine Komödie über einen misslungenen Überfall auf einen Tabakladen, ein Film, den de la Iglesia einem Interview zufolge als reinen Mainstreamfilm drehte, um Geld für persönlichere Projekte zu sammeln. Trotz des kommerziellen Erfolgs des Films kam es dann aber nicht dazu: seit Beginn der 1980er Jahre war de la Iglesia heroinabhängig. Nach LA ESTANQUERA DE VALLECAS machte ihn seine Sucht komplett arbeitsunfähig und er verschwand  für die nächsten 16 Jahre von der Bildfläche. 2003 drehte er noch LOS NOVIOS BÚLGAROS über einen wohlhabenden Spanier, der sich in einen jungen bulgarischen Immigranten verliebt und von diesem nach und nach ausgenommen wird. 2006 verstarb der an Nierenkrebs erkrankte Regisseur nach einer Operation.



Verfügbarkeit – und der verlorene „de-la-Iglesia-Cut“?

LA SEMANA DEL ASESINO ist in Deutschand, Österreich, im UK und in den USA auf DVD erschienen. Keine der verfügbaren Versionen enthält jedoch die spanische Originalfassung, sondern lediglich englische und ggf. deutsche Synchronfassungen. In Spanien selbst ist der Film offenbar in keiner Edition erschienen.
Diese Besprechung beruht auf der DVD/Blu-ray-Combo-Edition von Subkultur Entertainment, die Ende letzten Jahres herausgekommen ist. Das Label hat den Film als Nr. 2 seiner „Grindhouse Collection“ herausgebracht (Nr. 1 war der amerikanisch-philippinische Rache-Exploiter VENGEANCE IS MINE – meine ausführliche Besprechung hier). Der Film liegt wie gesagt nur auf englisch und auf deutsch vor: die englische Synchronisation fällt meiner Meinung nach in die Kategorie „halbwegs okay“. Kurzes Reinhören in die deutsche lässt vermuten, dass es sich um eine dieser fürchterlichen selbst-vertrashenden Kalauer-Synchros handelt. Das beiliegende Booklet hat nur Kinoaushangbilder.

Klingt alles nach nicht sehr nennenswerten Extras. Aber überaus interessant sind die „Deleted Scenes“, die wie folgt eingeführt werden: „Sehen Sie nun erstmals weltweit bisher unveröffentlichte Szenen der ursprünglich von Eloy de la Iglesias (sic!) montierten Version. Diese Szenen wurden im Zuge des Filmverbots in Spanien aus dem Negativ entfernt und schafften es somit auch in keine internationale Schnittfassung des Films.“ Diese Einführung schafft zwar prinzipiell mehr Verwirrung als Klarheit, aber scheinbar gab es eine „Ur-Fassung“ des Films, bevor er durch die Zensur ging. Und offenbar sind diese unter „Deleted Scenes“ aufgeführte zehn Minuten stumme Bilder (die Tonspur fehlte) auf Druck der Zensur herausgenommen worden. Es sieht zumindest so aus, als würden die Fragmente „chronologisch“ nach Verlauf des Films gezeigt werden. Folgende Szenen sind zu sehen:
– Marcos sitzt mit Handschellen in einem Polizeiauto: dieser Ausschnitt ist komplett farbentsättigt, fast schwarzweiß. Sieht aus wie eine Traumsequenz, die die Angst Marcos‘ vor einer Verhaftung zeigt.
– Ein Establishing Shot mit einer recht simplen Kamerafahrt von einem unbefestigen Weg auf Rosas Bar. Störte sich die Zensur vielleicht daran, dass man zwei Polizisten auf dem Weg sieht?
– Gespräch Marcos‘ mit dem Chef der Fabrik: im fertigen Film wird Marcos von einem Kollegen mitten in einem Arbeitsschritt gebeten, zum Chef zu gehen, und offenbar ist diese Szene der „Anschluss“ daran. Besagter Chef, in Anzug und Krawatte, spricht die meiste Zeit auf Marcos ein (was er sagt, hören wir ja nicht). Dieser ist unkonzentriert, weil er ständig auf die Beine einer jungen Frau im Minirock starren muss, die mit im Büro sitzt (die Sekretärin?).
– Gespräch Marcos‘ mit einem Arbeitskollegen in der Fabrik, wobei überwiegend der Kollege spricht.
– Gespräch Marcos‘ mit Señor Ambrosio an der Tür seiner Wohnung (offenbar sollte dieses länger werden als letztlich im veröffentlichten Film zu sehen)
– Gespräch zwischen zwei Vorarbeitern in der Fabrik, die sich offenbar über Marcos unterhalten, in zwei Teilen: zwischen diesen beiden Teilen liegt der Moment, der im veröffentlichten Film ist und in dem der Vorarbeiter Marcos‘ Sporttasche (in der er die Leichenteile zur Fabrik bringt) untersucht (sie ist zu diesem Zeitpunkt dann schon leer) und ihn streng daran erinnert, dass sein Vorgänger wegen Fleischdiebstahl entlassen wurde.
– Sexszene zwischen Marcos und Rosa, bei der mehr nackte Haut zu sehen ist und bei einer Kamerafahrt auch die ganzen Raumdeodorants auf dem Couchtisch, mit denen Marcos seine Wohnung „erfrischt“.
– Alternative Bilder der Stadt-Montage gegen Ende, als Marcos verwirrt durch die Straßen läuft: zu sehen sind unter anderem in Schaufenstern ausgestellte Puppen.
– Marcos steht in der U-Bahn und denkt nach. Die Tür geht auf und die Passagiere, inklusive Marcos, strömen raus.

Mit Ausnahme der „erweiterten“ Sexszene ist es, nicht zuletzt mangels Ton, oft unklar, warum die Zensur diese Szenen raus haben wollte. Bei den letzten dreißig Sekunden sind die Motive natürlich wesentlich klarer.

– Marcos steht kurz davor, Néstors Wohnung zu verlassen. Néstor geht auf Marcos zu. Es folgt eine kurze Rückblende (oder Erinnerung?) des Aufenthalts im Freibad, bei dem sie sich unter Wasser küssen. Nun fangen sie auch in Néstors Wohnung an, sich stürmisch zu küssen, zunächst bekleidet, dann nackt, während die Kamera um sie herum kreist. Die homosexuelle Ikonografie von LA SEMANA DEL ASESINO sollte also im „de-la-Iglesia-Cut“ ganz explizit sein. Ob sie „wörtlich“ zu verstehen ist (die beiden Männer sich wirklich küssen) oder ob es sich nur um Néstors Fantasie handelt, ist jedoch unklar.
– Es gibt dann noch eine knappe Sekunde, in der man Néstor in seiner Wohnung sitzen sieht, bevor die Einblendung „Fin“ kommt. Vielleicht alternatives Ende, das im Schlussbild nicht mit Marcos, sondern mit Néstor den Film beschloss?

Zwischendurch immer wieder eingestreut sind:
– Weiß-auf-Schwarz-Texttafeln mit Angabe des Wochentags. Der veröffentlichte Film spielt vielleicht in einer Woche, vielleicht auch in einem Monat – das wird im Grunde offen gelassen: wie viele Tage zwischen den Schnitten vergehen, ist nie ganz klar. Der „de-la-Iglesia-Cut“ teilte offenbar den Film in sieben Kapitel ein, was ihm nicht nur eine strengere Form, sondern auch eine biblische Assoziation mit schwarzhumorig-galligem Unterton verliehen hätte.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Ere erera baleibu izik subua aruaren

...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... (ursprünglich: ERE ERERA BALEIBU ICIK SUBUA ARUAREN)
Spanien 1968-70
Regie: José Antonio Sistiaga


Was ist das denn für ein Titel? Baskisch? Damit liegt man nicht weit daneben, denn der 1932 in San Sebastián geborene José Antonio Sistiaga ist in der Tat Baske. Doch der Titel bedeutet überhaupt nichts - er besteht aus Fantasiewörtern, die nur baskisch klingen sollen, und die Sistiagas Freund und Kollege Rafael Ruiz Balerdi für ihn erfand. Mehr dazu weiter unten.


...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... ist ein abstrakter Film, den Sistiaga direkt, also ohne Kamera, auf 35mm-Film malte. Das ist eine Technik mit langer Tradition. Schon um 1912 schufen die beiden italienischen Brüder Arnaldo Ginna und Bruno Corra, die dem Futurismus nahestanden, einige abstrakte handgemalte Filme, die von Prinzipien der chromatischen Musik inspiriert waren. Besonders elaboriert waren die Filme wohl noch nicht (sie sind nicht erhalten, es existieren nur verbale Beschreibungen von Corra). Das änderte sich in den 30er Jahren, als mit dem damals in England tätigen Neuseeländer Len Lye und mit Norman McLaren, der direkt von Lye inspiriert wurde, zwei Großmeister des handgemalten abstrakten Films die Szene betraten (wobei McLaren dann auch viele andere Techniken verwandte und z.T. selbst erfand). Len Lye war es wohl auch, der für handgemalte und andere kameralose Filme den Terminus direct film prägte (in diesen Zusammenhang gehören auch LE RETOUR À LA RAISON und EMAK-BAKIA von Man Ray, in denen wenigstens zum Teil die Technik der Rayographie auf den Film erweitert wurde). Nach Lye und McLaren arbeiteten beispielsweise Harry Smith, Stan Brakhage und in Deutschland Bärbel Neubauer mit dieser Technik, und fast immer entstanden dabei abstrakte Filme.


...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... zeichnet sich, abgesehen von seiner handwerklichen und künstlerischen Qualität, durch ein besonderes Merkmal aus: Er dauert 75 Minuten, und er ist damit mit Abstand sowohl der längste handgemalte als auch der längste abstrakte Film, den ich kenne. Man muss sich das vorstellen: 75 Minuten, das sind bei 35mm über zwei Kilometer Filmstreifen, es sind vor allem 108.000 einzelne Frames. Um das zu bewerkstelligen, arbeitete Sistiaga von 1968 bis 1970 17 Monate lang wie ein Besessener: Täglich 10 oder 12 Stunden. Zeitweise schlief er sogar neben dem entstehenden Film, er reduzierte seine Mahlzeiten auf das Nötigste, und er rasierte sich nicht, um keine Zeit zu verschwenden. Der Großteil des Films entstand im baskischen Hondarribia, aber eines Tages fiel ein Sonnenstrahl durch ein offenes Fenster auf den trocknenden Abschnitt des Filmstreifens, und da fasste Sistiaga den Entschluss, den Film unter freiem Himmel zu vollenden, und so übersiedelte er nach Ibiza, wo er schon 1961/62 ein Jahr gelebt hatte, und schuf dort den Schluss des Films. Das war, wie er selbst mehrfach in Interviews sagte, typisch für ihn: Immer wachsam und offen für Zufälle, für Chancen, für plötzliche Eingebungen.


Sistiaga - der Wert darauf legt, nicht Spanier, sondern Baske zu sein - entwickelte schon als Kind eine Abneigung gegen den franquistischen Staat und zwei seiner Hauptstützen, Kirche und Militär, nachdem sein Vater durch einen Priester und Soldaten zweimal denunziert und inhaftiert worden war. In Interviews betont Sistiaga immer wieder den Wert des Individuums und sein Misstrauen gegenüber Organisationen, Behörden, Parteien. Ebenfalls schon als Kind verspürte Sistiage das Talent und das Interesse für die Malerei, und so wurde er denn auch Maler. 1955-61 verbrachte er in Paris, und dort sah er 1958 einen Film von McLaren, was in ihm den Grundstein zu dem Plan legte, selbst einmal einen derartigen Film zu machen. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich lebte er, wie erwähnt, ein Jahr auf Ibiza, dann wieder im Baskenland, wo er zu den jungen Avantgarde-Künstlern zählte, die gegen die vom Staat protegierte akademische Kunst aufbegehrten. In den 60er Jahren entfaltete er neben der Malerei weitere Aktivitäten. Gemeinsam mit dem Beuys-Schüler Bernd Lohaus und dem aus Uruguay stammenden experimentellen Poeten Julio Campal veranstaltete Sistiaga 1964 in Madrid eine öffentliche Performance. Im Jahr darauf gründete er mit dem befreundeten Bildhauer Jorge Oteiza und ungefähr einem halben Dutzend weiteren baskischen Malern und Bildhauern eine Künstlergruppe namens "Gaur". Sistiaga war auch daran beteiligt, neutönende Musik - von Stravinsky und Schönberg über Edgard Varèse und Pierre Schaeffer bis zu Boulez, Xenakis und Stockhausen - erstmals ins Baskenland zu bringen. Mitte der 60er Jahre betätigte sich Sistiaga auch als Lehrer, und zwar, gemeinsam mit der befreundeten baskischen Künstlerkollegin Esther Ferrer, nach den antiautoritären und kreativitätsfördernden Maximen des französischen Pädagogen Célestin Freinet. Dagegen gab es aber erhebliche Widerstände - im Franco-Spanien nicht weiter verwunderlich -, und schließlich gab Sistiaga frustriert seine Verpflichtungen auf - um einen Film zu machen.


Wie schon erwähnt, stammte der Keim der Idee von der Sichtung eines Films von Norman McLaren, aber der unmittelbare Anstoß kam von Rafael Ruiz Balerdi. Ruiz Balerdi war ein Mitglied von Gaur, aber Sistiaga kannte ihn schon seit seiner Jugend, als beide in einem Museum in San Sebastián zu Übungszwecken Gemälde kopierten. Ruiz Balerdi hatte mit der Arbeit an einem handgemalten Film mit dem Titel HOMENAJE A TARZÁN begonnen, und er versorgte Sistiaga mit 35mm-Material, so dass dieser nun auch loslegen konnte. Nach den Querelen um seine schulischen Aktivitäten (und immer wieder mal mit dem etablierten Kulturbetrieb und den Kulturbehörden) empfand es Sistiaga als Befreiung, sich losgelöst von seinen bisherigen Aktivitäten in etwas Neues stürzen zu können. In einem Interview mit der Zeitschrift L'Art Vivant sagte er einige Monate nach Fertigstellung des Films auf die Frage, was er damit erreichen wollte, sogar folgendes: "Zunächst fühlte ich die Notwendigkeit, mich an allen zu rächen, an all den Organisationen und Leuten, die mir Hindernisse in den kreativen Weg geworfen hatten; ich wollte mich rächen für ihren Mangel an Sensitivität und Liebe, für ihre Feigheit und Angst vor allem, das kein Konsumprodukt ist oder unmittelbaren materiellen oder politischen Gewinn verspricht, alles, das ihrer Kontrolle der Ökonomie entgeht. Ich fühlte mich gründlich unterdrückt. Ich hatte keine ökonomischen Ressourcen. Ich fühlte mich verzweifelt, nach einer langen Schlacht auf dem Feld des Unterrichts, wo ich versucht hatte, andere, humanere und kreativere Erziehungsansätze durch ihre Anwendung zu etablieren. Im Mai 1968 übertrug ich alle meine direkten Aktivitäten und Verantwortlichkeiten an Andere und begann noch einmal, mit Farbe zu experimentieren, nur diesmal auf Film."


Der Film, der nun zunächst entstand, dauerte nur acht Minuten, und er vereinte abstrakte und erzählende Sequenzen. Die Handlung besteht darin, dass sich ein Kirchturm in eine Rakete verwandelt, im Weltraum Hammer und Sichel sowie dem Dollarzeichen begegnet, dann hat die Rakete (oder ist es wieder die Kirche?) Sex mit dem Dollar. Es hätte noch etwas weitergehen sollen, aber Sistiaga lief die Zeit weg, weil er den Film beim Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmfestival Bilbao einreichen wollte. Dort gewann er 1968 den Preis für den besten experimentellen Film. Wenn es nach Sistiaga gegangen wäre, hätte der Film überhaupt keinen Titel haben müssen, aber da es nun mal Usus ist, dass es einen Titel gibt, und weil Baskisch damals im öffentlichen Leben praktisch verboten war, rief Sistiaga Ruiz Balerdi an, der offenbar Talent für das Erfinden sinnloser Wörter hatte, und bat ihn, einen Titel zu nennen, der baskisch klingen sollte, und der "weder zu kurz noch zu lang war". Und so kam der Film zu seinem Titel ERE ERERA BALEIBU ICIK SUBUA ARUAREN (und zwar in dieser Schreibweise). Nach dem erfolgreichen Auftakt war Sistiaga auf den Geschmack gekommen, und er wollte den Film zu einem viel längeren erweitern. Dazu brauchte es einen Geldgeber, und den fand er in Juan Huarte Beaumont, einen großzügigen Kunstsammler und Mäzen, der in vielfältigen Projekten zeitgenössische Künstler aller Art förderte. Unter anderem hatte Huarte in Madrid X Films gegründet, eine Firma, die ohne Gewinnabsicht Avantgardefilme produzierte (auch HOMENAJE A TARZÁN wurde von X Films produziert). Nachdem Sistiaga Huarte seine Idee erläutert hatte, übernahm X Films die Kosten, und zwar nicht nur die Materialkosten, sondern auch Sistiagas Lebensunterhalt während der 17 Monate Arbeit am Film.


Sistiagas ursprüngliches Konzept, den Kurzfilm auszubauen, änderte sich schnell: Er warf die erzählenden Partien hinaus und wollte nun einen rein abstrakten Film machen, der mit dem in Bilbao ausgezeichneten Film nicht mehr viel zu tun hatte. Deshalb wurde der Erstling nachträglich in DE LA LUNA A EUSKADI (was "Vom Mond ins Baskenland" bedeutet) umbenannt, während Ruiz Balerdis enigmatisches Wortgebilde für das nun entstehende opus magnum reserviert wurde. Doch das war noch nicht der Endpunkt. Baskisch war zwar Sistiagas Muttersprache, aber durch das weitgehende Verbot hatte er die Sprache im Lauf der Zeit mehr oder weniger verlernt. Und so bedachte er nicht, dass im Baskischen das "c" nicht üblich ist, als ihm Ruiz Balerdi am Telefon den Titelvorschlag durchgab. Irgendwann später korrigierte Sistiaga diesen Lapsus und ersetzte das ICIK durch das noch "baskischere" IZIK (und die Punkte am Anfang und Ende des Titels kamen auch noch hinzu). Aber der Titel in seiner ursprünglichen Form hatte längst seinen Einzug in die Presse und Bücher gehalten, so dass heute beide Fassungen kursieren, teilweise sogar nebeneinander in ein und derselben Publikation. - Der fertige Film musste (wie jeder Film damals) der Zensur vorgelegt werden, in diesem Fall einem Gremium aus 12 Personen, darunter zwei Priestern, und er erhielt die Freigabe, nachdem Sistiaga die (nicht vorhandene) Bedeutung des vermeintlich baskischen Titels erläutert hatte. Weil man nicht wusste, in welche Schublade man ihn einsortieren sollte, wurde er als Kurzfilm klassifiziert. Es gab sogar, den Regularien entsprechend, eine nachträgliche finanzielle Förderung vom Staat, aufgrund der Einstufung als Kurzfilm allerdings weniger, als Sistiaga eigentlich zugestanden hätte.


Was ist ...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... nun eigentlich für ein Film? Zunächst mal: Er hat keine Ähnlichkeit mit den Filmen von McLaren. (Im Gegensatz zu den drei Filmen EXP. NO.1 bis EXP. III, die der katalanische Apotheker und Freizeit-Regisseur Joaquim Puigvert zwischen 1958 und 1960 machte, und die stark von McLaren beeinflusst sind. Zumindest die ersten beiden (den dritten kenne ich nicht) erinnern insbesondere an BLINKITY BLANK.) Während bei McLarens abstrakten Filmen geometrische Formen dominieren, sind es bei Sistiaga organische. Und während McLaren meist viel Mühe darauf verwandte, identifizierbare Objekte mit möglichst wenig von dem unvermeidbaren Ruckeln und Zittern über die Leinwand zu bewegen oder stillstehen zu lassen, gibt es bei Sistiaga solche identifizierbaren Objekte fast überhaupt nicht, weil die Bilder in rasendem Rhythmus wechseln. Nur in einer wenige Minuten langen Sequenz bleibt ein kreisförmigen Objekt mit Oberflächentextur (in dem man, wenn man mag, einen Planeten mit Kontinenten sehen kann), an Ort und Stelle. Tatsächlich hat sich Sistiaga über weite Strecken des Films überhaupt nicht an die Grenzen der einzelnen Frames gehalten, sondern einfach darüber hinweggemalt. Übrigens entspricht die Anordnung des Films exakt der chronologischen Reihenfolge seiner Entstehung, mit anderen Worten, es gibt keinen einzigen Schnitt. Der deutlich überwiegende Teil des Films ist sehr farbig, es gibt aber auch eine längere Sequenz mit herumwuselnden filigranen weißen Mustern auf schwarzem Grund, in denen man vielleicht zuerst Insekten und dann, wenn die Muster etwas kräftiger werden, einen Schwarm Fledermäuse sehen mag, der nächtens von einem Scheinwerfer angestrahlt wird. Auch diese schwarzweisse Sequenz ist übrigens gemalt und nicht etwa in schwarzes Filmmaterial eingeritzt (wie das McLaren bei BLINKITY BLANK und im Mittelteil von BEGONE DULL CARE oder Len Lye bei FREE RADICALS gemacht haben). Wie ich schon mit Planeten und Fledermäusen andeutete, ist es praktisch unvermeidlich, beim Ansehen eines solchen Films Assoziationen zu bilden. Hier sind es bei mir und Anderen Bilder auf allen mikro- und makroskopischen Größenordnungen, von Elementarteilchen über Einzeller bis zu Galaxien, von blubbernder Lava über ein Asteroidenfeld, das man durchrast bis zu einem Kaleidoskop, das seine geometrische Form überwunden hat und in eine organische Existenz hinein wuchert. Unnötig zu erwähnen, dass solche Metaphern rein subjektiv sind. Man sollte übrigens beachten, dass sich der Eindruck des Films in Bewegung teilweise stark vom Eindruck der einzelnen Screenshots unterscheidet, die ich hier präsentiere. - Wenn man nach einem Vergleich mit anderen Schöpfern von abstrakten und/oder handgemalten Filmen sucht, dann erinnert mich ...ERE ERERA... (wie ich ihn ab jetzt abkürzen werde) am stärksten an die abstrakten Filme von Stan Brakhage. Das gilt nicht nur für die Bilder: Ebenso wie die abstrakten (und auch fast alle sonstigen) Filme Brakhages ist auch ...ERE ERERA... komplett stumm. Einen direkten Einfluss gibt es aber vermutlich nicht. Sistiaga sah seinen ersten und bislang einzigen Brakhage-Film 1995, und von einem Einfluss von ...ERE ERERA... auf Brakhage ist mir zumindest nichts bekannt.


...ERE ERERA... hatte 1970 in Madrid Premiere, und er lief noch im selben Jahr bei verschiedenen Gelegenheiten im Ausland, u.a. beim Kurzfilmfestival in Oberhausen und beim London Underground Film Festival. Seitdem läuft ...ERE ERERA... in unregelmäßigen Abständen irgendwo auf der Welt, auf Festivals, in Museen und dergleichen, z.B. 1979 im Berliner Arsenal, 1982 im Museum Ludwig in Köln und 1986 im Frankfurter Filmmuseum, und erst vor ein paar Monaten in Hanover (New Hampshire). Es besteht also die theoretische Möglichkeit, den Film irgendwann mal auf Leinwand zu sehen. 2007 wurde als Höhepunkt einer Ausstellung in der Tabacalera Donostia, einem Kulturzentrum in San Sebastián (Donostia ist der baskische Name der Stadt), ...ERE ERERA... auf die Wände, Böden und Decken des Gebäudes projiziert, und aus diesem Anlass wurde ein viersprachiges Buch (Baskisch/Spanisch/Englisch/Französisch) mit dem Titel "...ere erera baleibu izik subua aruaren..." herausgegeben, das auf einer beiliegenden DVD den kompletten Film enthält (allerdings ist das Bild an den Rändern beschnitten). Das ist offenbar die einzige Möglichkeit, zu einem vernünftigen Preis an ...ERE ERERA... auf einem digitalen Datenträger zu kommen (bei Sistiagas Distributor in Paris kann man ebenfalls eine DVD bestellen, aber zu einem Preis jenseits von gut und böse). 2011 erschien (ohne DVD) ein weiteres Buch in denselben vier Sprachen mit dem Titel "José Antonio Sistiaga. Lorategi irudikatu bateko islak". Daneben gibt es auch noch weitere Bücher sowie Ausstellungskataloge seiner Gemälde in Spanisch und/oder Baskisch.


Sistiaga hat nach ...ERE ERERA... weitere Filme gemacht, auf die ich hier aber nicht eingehen will. Fast wäre ihm übrigens sein Meisterwerk abhanden gekommen. Bei X Films war für die geschäftlichen Belange ein gewisser Gonzalez Sinde zuständig, und der beanspruchte ...ERE ERERA... als sein Eigentum. Zwar war der von Sistiaga hinzugezogene Juan Huarte auf seiner Seite, doch die Witwe des mittlerweile verstorbenen Gonzalez Sinde hatte seinen Nachlass, und darunter auch ...ERE ERERA..., an einen Filmproduzenten verkauft. Der konnte dann überredet werden, den Film im Austausch gegen zwei von Sistiagas Gemälden herauszurücken.


Einige Informationen für den Artikel habe ich von Sistiaga selbst bekommen, wofür ich ihm herzlich danke. Für die Vermittlung des Kontakts und die Übersetzung der Fragen und Antworten danke ich Nere Pagola und Maider Zendoia von der Baskischen Filmothek (Euskadiko Filmategia / Filmoteca Vasca) in San Sebastián.

Samstag, 5. April 2014

José Val del Omar: Spanisches Triptychon der Elemente

AGUAESPEJO GRANADINO
Spanien 1953-55

FUEGO EN CASTILLA
Spanien 1958-60

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
Spanien 1961/1981-82/1995

alle drei Filme zusammen: TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA

Regie: José Val del Omar

FUEGO EN CASTILLA
José wer? José Val del Omar (1904-82) war ein spanischer Künstler und Techniker, den es außerhalb seiner Heimat erst noch zu entdecken gilt. Man findet online wenig Brauchbares über ihn auf Englisch (auf Deutsch noch weniger), am besten ist dieser Text. Wikipedia-Artikel über ihn gibt es nur auf Spanisch und Katalanisch. Immerhin existiert ein leider nicht ganz billiges englischsprachiges Buch (neben ungefähr einem halben Dutzend spanischen), das als Katalog zu einer Ausstellung in Madrid entstand, und Amos Vogel erwähnt Val del Omar in seinem Buch Film als subversive Kunst. Val del Omar vereinte in sich auf eine Weise, für die mir kein anderes Beispiel einfällt, einen Hang zu Spiritualität und Mystizismus mit einer Begabung für Tüftelei und Erfindungen auf den Gebieten der Film- und Tontechnik.

AGUAESPEJO GRANADINO
José Val del Omar wuchs in Granada auf, wo er als junger Mann u.a. mit Federico García Lorca befreundet war. Als 1931 in Spanien die Zweite Republik ausgerufen wurde, startete die neue Regierung unter dem Namen Misiones Pedagógicas ein Programm, das Lehrer, Techniker, Künstler und Intellektuelle in abgelegene und rückständige Dörfer entsandte, um Entwicklungshilfe im eigenen Land zu leisten, und Val del Omar schloss sich mit Begeisterung als Fotograf und Kameramann dieser Bewegung an. In den 30er Jahren filmte Val del Omar ca. 40 Dokumentationen für die Misiones Pedagógicas sowie einige auf eigene Rechnung. Fast alle diese Filme sind verschollen, es könnten aber noch irgendwo Exemplare überlebt haben. Im Booklet der DVD-Box (s.u.) ist zu lesen, dass in Puerto Rico sowie bei Kodak in Rochester (New York), wohin Kopien gelangt sein sollen, Nachforschungen angeleiert wurden. Ob diese inzwischen irgendetwas erbracht haben, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall existieren noch ein Film von einer der pädagogischen Missionen unter dem Titel ESTAMPAS 1932 und Aufnahmen von christlichen und säkularen Festen in verschiedenen Städten, die von Val del Omars Tochter María José und deren Mann Gonzalo Sáenz de Buruaga vor zehn Jahren unter dem Titel FIESTAS CRISTIANAS/FIESTAS PROFANAS veröffentlicht wurden. Interessant sind dabei vor allem Aufnahmen von Prozessionen in der Osterwoche (Semana Santa) mit den langen spitzen Kapuzen, die in ähnlicher Form vom Ku-Klux-Klan übernommen wurden. Diese Filme sind ohne Ton und nur grob geschnitten, so dass man sie eher als dokumentarisches Material denn als ausgearbeitete Dokumentarfilme bezeichnen sollte. Ich nehme an, dass das auch für die meisten der verschollenen Filme gilt, anders wäre die hohe Zahl von über 40 Filmen in wenigen Jahren kaum zustande gekommen.

AGUAESPEJO GRANADINO - der Mond hat die Herrschaft übernommen
Anders geartet ist der ebenfalls erhaltene und 1935 entstandene VIBRACIÓN DE GRANADA, der keine Dokumentation, sondern ein Filmpoem ist und in manchen Bildmotiven schon wie ein Probelauf für den 20 Jahre später fertiggestellten AGUAESPEJO GRANADINO wirkt. Ebenfalls 1935 veröffentlichte Val del Omar ein künstlerisches Manifest, das wohl gewisse Berührungspunkte mit dem Surrealismus aufweisen soll. Ich hätte es gern gelesen, aber leider findet es sich nicht im Bonusmaterial der DVDs, und sonst auch nirgends (außer vermutlich im einen oder anderen der Bücher über Val del Omar). Überhaupt ist die Entwicklung von Val del Omars Gedankenwelt für mich nur schwer greifbar, weil im Bonusmaterial alles nur angedeutet statt detailliert ausgeführt wird. Jedenfalls entwickelte er schon früh einen Hang zu einem christlich inspirierten und spezifisch spanischen Mystizismus, der sich wohl im Lauf der Jahre kontinuierlich verstärkte. Fasziniert war er beispielsweise vom Schweißtuch der Veronika, weil dabei ein Portraitbild ohne Mitwirkung eines Malers sozusagen von selbst entstanden war, worin er eine gewisse Parallele zum Medium Film sah. Er interessierte sich auch für die Schriften von Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz), einem spanischen Mystiker und Heiligen aus dem 16. Jahrhundert. Val del Omars generelle Tendenz wird im Bonusmaterial als "Meca-Mystizismus" bezeichnet, als Mystizismus mit "mechanischen" (also film- und tontechnischen) Hilfsmitteln.

FUEGO EN CASTILLA
Scheinbar diametral entgegengesetzt zu diesen spirituellen Interessen ist Val del Omars Begabung und Interesse für Film- und Tontechnik (zu der sich später auch Video- und Lasertechnik gesellten). Das lief von Anfang an parallel - schon seit den späten 20er Jahren entwickelte Val del Omar Geräte, Aufnahme- und Wiedergabeverfahren, neue Filmformate und dergleichen mehr. Er bekam etliche Patente zugesprochen, doch keine seiner Erfindungen wurde kommerziell verwertet. Leider bleibt auch auf diesem Gebiet das Begleitmaterial der DVDs recht vage, so dass ich schlecht abschätzen kann, welches Potential in diesen Erfindungen steckte. Ein technischer Spinner war Val del Omar aber auf keinen Fall. Er war Mitglied internationaler Technikervereinigungen, besuchte Kongresse im Ausland und hielt dort gelegentlich auch selbst Vorträge. Sein Schwiegersohn Gonzalo Sáenz de Buruaga führt die kommerzielle Erfolglosigkeit in einem Text im Booklet auf eine im franquistischen Spanien allgemein verbreitete Geisteshaltung zurück, komplizierte Technik lieber von bewährten Quellen im Ausland zu beziehen, statt sich entsprechende Entwicklungen selbst zuzutrauen. Val del Omar selbst soll die Vertreter dieser Haltung als "Nachäffer" bezeichnet haben.

FUEGO EN CASTILLA 
Zumindest einige seiner Erfindungen waren wohl auch ihrer Zeit voraus. So entwarf er schon 1951 in Vorwegnahme späterer Surround-Sound-Techniken eine Installation mit nicht weniger als 14 dreidimensional angeordneten Audiokanälen. Bereits 1944 bekam er ein Patent für "diaphonischen" Sound (diafónico), wie er es nannte. Dabei kam im Kinosaal ein Audiostrom wie gewohnt von vorne, ein zweiter dagegen aus der entgegengesetzten Richtung, also von hinten. Wenn ich die knappe Beschreibung richtig verstanden habe, dann war hier nicht ein realistischer Raumklang das Ziel, sondern es sollte die emotionale Wirkung des Gehörten auf das Publikum moduliert werden. Wenn es so etwas wie eine Generallinie in all diesen Erfindungen gibt, dann war es wohl der Wunsch nach einem "totalen", nach einem multisensorischen Kino, das nicht nur die Augen und die Ohren, sondern möglichst alle Sinne (und natürlich auch den Geist) anspricht. Tatsächlich trug er sich auch mit Gedanken für Geruchs- und Tast-Kino. In letztere Richtung geht auch seine Entwicklung der Táctil Visión, auch wenn dabei nicht wirklich taktile Reize übermittelt werden. Vielmehr geht es dabei darum, durch optische Tricks die dreidimensionale Form und die Oberflächentextur der abgebildeten Objekte besser erfassbar, sozusagen mit den Augen ertastbar zu machen. Dazu werden einerseits Streifen- oder Rautenmuster auf die Objekte projiziert, wodurch sich Bildeffekte wie in der Op Art ergeben, andererseits wird stroboskopische Beleuchtung eingesetzt.

FUEGO EN CASTILLA
In den 40er Jahren, als sich Val del Omar irgendwie mit dem franquistischen Regime arrangiert hatte, arbeitete er als fest angestellter Fotograf und Tricktechniker bei einem großen Filmstudio, was ihm ein geregeltes Einkommen sicherte, ihn aber nicht ausfüllte. Irgendwann fasste er den Entschluss, wieder unabhängig eigene Filme zu drehen, die einerseits seine spirituellen Neigungen widerspiegeln sollten, die andererseits aber auch als Vehikel für einige seiner Erfindungen dienen sollten. Und damit sind wir nun endlich bei den drei Filmen, die Val del Omars Hauptwerk bilden, und wegen denen er überhaupt von fortdauerndem Interesse ist. Jeder der Filme ist einem der klassischen "Elemente" gewidmet (Wasser, Feuer und Erde - die Luft bleibt hier außen vor), und sie bilden eine geographische Achse: Von Granada im Südosten Andalusiens über das kastilische Herz Spaniens bis zur Provinz Galicien im Nordwesten. Die Filme dauern 21, 17 und 23 Minuten, zusammen also ziemlich genau eine Stunde. AGUAESPEJO GRANADINO, was ungefähr "Wasser-Spiegel [man beachte die Schreibweise] von Granada" bedeutet, ist der Film über das nasse Element, und er verwendet (erstmalig) diaphonischen Ton. Gedreht wurde an verschiedenen Orten in und um Granada, vor allem aber in der Alhambra, dem Wunderwerk maurischer Baukunst, mit ihren Brunnen und Wasserspielen. Gelegentlich verselbständigt sich das Wasser zu einem fast abstrakten Fluidum, ähnlich wie in Ralph Steiners H2O oder auch in Kenneth Angers EAUX D'ARTIFICE. Gelegentlich sind Gebäude oder Menschen als Reflexion auf einer Wasseroberfläche zu sehen, was wiederum etwas an Kurt Steinwendners VENEDIG erinnert. In einer Sequenz, in der der Mond sozusagen seine sinistre Herrschaft ausübt, ist der ansonsten schwarzweiße Film grün viragiert, was ihn hier noch etwas näher an den blau viragierten EAUX D'ARTIFICE heranrückt. Insgesamt ist aber AGUAESPEJO GRANADINO deutlich vielgestaltiger als Angers eher monolithischer Film. Der Soundtrack besteht zu einem beträchtlichen Teil aus elektronisch verfremdeten oder vollständig elektronisch erzeugten Geräuschen. Es gibt auch etwas Flamenco zu hören, wobei aber jeder folkloristische Eindruck vermieden wird. Daneben wird sehr ausgiebig (für meinen Geschmack etwas zu ausgiebig) aus irgendeinem poetischen Text zitiert. In den anderen beiden Filmen ist der Text demgegenüber sehr stark reduziert, was mir besser gefällt.

FUEGO EN CASTILLA
FUEGO EN CASTILLA ("Feuer in Kastilien") etabliert von Anfang an eine dunklere Stimmung als der Vorgänger. Der Untertitel Táctil Visión del páramo del espanto bedeutet ungefähr "Tactilvision der Hochebene des Schreckens", und ein paar Gedichtzeilen von García Lorca evozieren Assoziationen an Blut und Tod. Technisch wartet der Film wieder mit diaphonischem Ton auf, vor allem aber, wie der Untertitel schon ankündigt, mit Táctil Visión. Und was hier geboten wird, ist frappierend. Als Anschauungsobjekte für die Technik dienen hölzerne Heiligenstatuetten, gedreht wurden diese Sequenzen in einem Museum für religiöse Skulpturen in Valladolid. Die schnell wechselnden unterschiedlichen Schwarzweißmuster, die als Schatten auf die Gesichter der Skulpturen projiziert werden, erzeugen ein ums andere Mal verblüffende bis atemberaubende Bildwirkungen. In Filmen, die vor der CGI-Ära entstanden, habe ich so etwas bisher noch nicht gesehen. Einzelne Screenshots können diese Effekte nur höchst unzureichend wiedergeben. Daneben werden weitere verfremdende Techniken genutzt, etwa stark verzerrende Linsen. Beim Soundtrack kommen wieder elektronische Töne reichlich zum Einsatz. Die düstere Stimmung des Films wird am Ende aufgehoben. Wieder sind poetische Zeilen zu hören, die aber diesmal die Macht des Todes negieren und die der Liebe dagegensetzen. Und dann kommt nach dem schwarzweißen Hauptteil des Films noch ein Epilog, der eine Blumenwiese in Farbe zeigt, wobei Blau und Orange dominieren - es sieht fast wie neumodisches Color Grading aus. Wie zuvor schon bei AGUAESPEJO GRANADINO wird auch hier am Ende SIN FIN eingeblendet - OHNE ENDE.

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
ACARIÑO GALAICO (DE BARRO) schließlich bedeutet "Liebeserklärung an Galicien (Aus Lehm)". Auch hier gibt es wieder etwas Táctil Visión, aber weit gemäßigter als im Vorgänger, dafür mehr verzerrte Bilder sowie Negativaufnahmen. Mehrfach ist ein Mann mit lehmverkrustetem Gesicht im Bild, auch galicische Landschaften und sakrale Kunst und Architektur in Santiago de Compostela sind zu sehen. Die Aufnahmen entstanden 1961, doch dann brach Val del Omar die Arbeit am Film ab, weil er ihm in irgendeinem Sinn zu negativ war, und weil er glaubte, seine selbstgesteckten Ziele nicht erreichen zu können. Erst 1981 nahm er Schnitt und Vertonung von ACARIÑO GALAICO in Angriff, aber durch seinen Tod wurde er nicht damit fertig. 1982 hatte Val del Omar einen Verkehrsunfall, der zunächst glimpflich verlaufen zu sein schien, aber nach ein paar Tagen fiel er ins Koma, und einige Wochen später ist er gestorben. Endgültig fertiggestellt wurde ACARIÑO GALAICO (DE BARRO) erst posthum 1995. Vermutlich hätte Val del Omar auch diesem Film diaphonischen Sound verpasst, aber weil keine gesicherten Informationen darüber vorlagen, wurde er in Mono abgemischt.

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
FUEGO EN CASTILLA wurde 1961 in Cannes gezeigt, und für seine optischen Effekte wurde ihm dort ein Preis verliehen. Ein Durchbruch zu internationalem Ruhm war das für Val del Omar aber nicht. Im Gegenteil, im Ausland war er bald wieder weitgehend vergessen. In den 20 Jahren zwischen den beiden Arbeitsperioden an ACARIÑO GALAICO beschäftigte er sich weiter mit seinen Erfindungen und Tüfteleien, finanziell unterstützt von Tochter und Schwiegersohn. In Madrid richtete er sich ein Labor ein mit dem Namen Picto-Lumínica-Audio-Táctil (PLAT), in dem er nach dem Tod seiner Frau auch wohnte und ein wohl etwas asketisches Leben führte. In Spanien bestand immer ein gewisses Interesse an ihm, das seit den 90er Jahren kontinuierlich anwuchs und in Filmen und Ausstellungen über ihn sowie den bereits erwähnten Büchern kulminierte. Das spanische Label Cameo, das auch die verdienstvollen DVD-Sets Del Éxtasis Al Arrebato und Cine A Contracorriente herausgebracht hat, veröffentlichte 2010 eine Box mit nicht weniger als fünf DVDs unter dem Titel Val Del Omar. Elemental De España, die alle erhaltenen Filme von Val del Omar sowie einige Bonusfilme enthält. Allerdings sind die DVDs nicht alle voll befüllt - man hätte das auch auf vier oder sogar drei DVDs unterbringen können. Wie schon von den anderen beiden Sets gewohnt, ist auch dieses zweisprachig in Spanisch und Englisch abgefasst. - FUEGO EN CASTILLA ist auch auf Del Éxtasis Al Arrebato enthalten.

ACARIÑO GALAICO (DE BARRO)
Erst spät hatte Val del Omar wohl die Eingebung, seine drei Hauptwerke formell zu einem Triptychon zusammenzufassen, wobei er auf die Idee kam, dass die Filme in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Entstehung betrachtet werden sollten. Das wurde von seinen Nachlassverwaltern aufgegriffen, so dass heute die reverse chronologische Ordnung die kanonische ist. In Stein gemeißelt ist das aber nicht, so dass das Triptychon, das 1996 seine Uraufführung in kompletter Form erlebte, auch in anderer Reihenfolge angesehen werden kann. Wie auch immer man die Filme sieht - gemeinsam durchzieht sie eine seltsam dräuende, rätselhafte Atmosphäre, und sie künden von einem für mich ebenso faszinierenden wie enigmatischen Regisseur.

José Val del Omar und seine Frau María Luisa Santos (Privatfilm von Val del Omar, 30er Jahre)