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Samstag, 24. September 2016

Und sie dreht sich doch!

Kurze und höchst unvollständige Geschichte der rotierenden Raumstation

Die Hauptdarstellerin betritt die große Bühne (Collier's, 22. März 1952,
Illustration Chesley Bonestell nach Vorlagen von Wernher von Braun)
Kürzlich lief wieder einmal Stanley Kubricks epochaler 2001: A SPACE ODYSSEY im Fernsehen. Darin gibt es bekanntlich eine riesige Raumstation in Form eines rotierenden Rades. Genau betrachtet sind es eigentlich zwei Räder, die durch ihre gemeinsame Achse miteinander verbunden sind, und von denen eines noch im Bau befindlich ist, aber auf diesen feinen Unterschied soll es hier nicht ankommen. Die Rotation dient natürlich dazu, durch die Zentrifugalkraft eine Art von künstlicher Schwerkraft im äußeren Bereich der Station zu erzeugen. Die heutige Raumstaion ISS sieht aber ganz anders aus, ist viel kleiner, und vor allem rotiert sie nicht (abgesehen von einem sehr kleinen Betrag, der dazu führt, dass die Station der Erde immer dieselbe Seite zuwendet), und das galt auch für alle ihre Vorgänger (Skylab, die Saljut-Stationen, Mir). Es gab also nie ein reales Gegenstück zum Design der rotierenden Station in 2001: A SPACE ODYSSEY. Haben somit Kubrick und sein Co-Autor Arthur C. Clarke dieses Konzept erfunden? Kenner der Materie wissen natürlich, dass das nicht der Fall ist.

2001: A SPACE ODYSSEY
In diesem Zusammenhang wird gern der Name Pawel Kluschanzew genannt. Im Film DER WEG ZU DEN STERNEN (DOROGA K ZVEZDAM) von 1957 zeigte dieser russische Regisseur ebenfalls eine ringförmige rotierende Raumstation. DER WEG ZU DEN STERNEN ist kein Spielfilm, sondern eine 50-minütige populärwissenschaftliche Dokumentation mit eingestreuten Spielszenen. Neben einer Rückschau, in der der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski im Mittelpunkt steht, geht es vor allem um die nähere Zukunft der bemannten Raumfahrt, wie sie sich 1957 (im Jahr des Sputnik) aus sowjetischer Sicht darstellte. Kluschanzew hatte dazu den führenden Raumfahrtkonstrukteur Michail Tichonrawow und weitere Experten als Berater. Es wurde gelegentlich auf die Ähnlichkeit gewisser Szenen in DER WEG ZU DEN STERNEN und 2001: A SPACE ODYSSEY hingewiesen, z.B. in diesem Artikel von Mark Wade, Autor der Encyclopedia Astronautica. Hat Kubrick womöglich bei Kluschanzew geklaut? Ich will hier nicht auf die Innenausstattung der jeweiligen Raumstation und auf Details einzelner Szenen eingehen - mir geht es hier nur um die äußere Form der Stationen und um die Rotation. Und hier bekommt Kubrick einen Freispruch erster Klasse, denn das Konzept war schon Jahre vor DER WEG ZU DEN STERNEN in der amerikanischen Populärkultur verankert, und in der theoretischen Raumfahrtliteratur existierte es noch viel länger.

DER WEG ZU DEN STERNEN - es rotiert nur der torusförmige Teil der Station; links unten ist ein Mondraumschiff angedockt
Schon Ziolkowski schrieb 1903, dass man im Weltraum durch Rotation künstliche Schwerkraft erzeugen kann. Das erste konkrete Konzept eines ringförmigen rotierenden Raumflugkörpers legte der österreichisch-slowenische Ingenieur Herman Potočnik vor, in seinem Buch Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor, das er 1928 unter dem Pseudonym Hermann Noordung veröffentlichte. In das allgemeine Bewusstsein ist dieses Werk nicht vorgedrungen - dafür war die Zeit noch nicht reif, und Potočnik selbst konnte durch seinen frühen Tod 1929 auch nicht viel zur Popularisierung seiner Ideen beitragen. Aufmerksam gelesen wurde sein Werk aber von den Mitgliedern des in Berlin ansässigen Vereins für Raumschiffahrt (VfR), in dem sich Wissenschaftler, Techniker und Enthusiasten wie Hermann Oberth, Walter Hohmann, Rudolf Nebel und Max Valier versammelt hatten. Mitglied im VfR war auch der damals noch recht junge Wernher von Braun, der somit um 1930 herum mit Potočniks Ideen in Berührung kam.

Skizze aus Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor von Herman Potočnik
(Quelle: Wikipedia)
Zeitsprung rund 20 Jahre in die Zukunft: Wernher von Braun hat jetzt schon eine Karriere als Chefentwickler der "Wunderwaffe" V2 (und in diesem Zusammenhang als Sturmbannführer der SS) hinter sich, und nun ist er als "Beutewissenschaftler" in den USA. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Fort Bliss bei El Paso (Texas), der anfangs noch den Charakter einer Internierung trägt, übersiedelt er mit seinem Team (darunter viele alte Kollegen aus Peenemünde) nach Huntsville (Alabama), wo er ziviler Chefwissenschaftler in einer Raketenentwicklungsabteilung der US Army wird. Doch von Braun ist mit seiner Situation nicht zufrieden. Denn sein eigentliches Ziel ist von jeher die bemannte Raumfahrt, und davon will die damalige US-Regierung nichts wissen. Statt Flausen über Raumstationen und Flüge zum Mond und zum Mars will man von ihm atomar bestückbare Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen, um den neuen Erzfeind Sowjetunion in Schach zu halten, und der Ausbruch des Koreakriegs 1950 hat diese Position noch zementiert. Doch von Braun ist nicht gewillt, das hinzunehmen, und er geht in die PR-Offensive.

2001: A SPACE ODYSSEY
Ebenso wie der mit ihm befreundete Publizist Willy Ley, der auch schon Mitglied im VfR gewesen war (der aber durch seine Emigration 1935 Nazi-Verstrickungen entging), schrieb von Braun allgemeinverständliche Bücher, mit denen er die Raumfahrt (und insbesondere die bemannte Raumfahrt) popularisieren wollte. Entscheidend wurde aber vor allem eine Artikelserie mit dem Titel Man Will Conquer Space Soon! (ja, das Soon war unterstrichen), die von März 1952 bis April 1954 in acht Ausgaben der Zeitschrift Collier's erschien, und die ungeahnte Breitenwirkung entfaltete. Wernher von Braun, Willy Ley und der Harvard-Astronom Fred Whipple waren die Hauptautoren, auch der in der Luft- und Raumfahrtmedizin tätige Physiker Heinz Haber (der später bei uns durch seine Wissenschaftssendungen in ARD und ZDF bekannt wurde) und andere trugen Artikel bei. Redaktionell betreut wurde die Serie von dem Schriftsteller und Journalisten Cornelius Ryan, damals Mitherausgeber von Collier's (Ryan schrieb auch die Buchvorlage zu THE LONGEST DAY über die Invasion in der Normandie). Ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der Artikelserie war den instruktiven und teilweise spektakulären Illustrationen zu verdanken, die von drei damals führenden Grafikern im Grenzbereich von Wissenschaft und Science Fiction stammten, nämlich Fred Freeman, Rolf Klep, und vor allem vom genialen Chesley Bonestell.

Der Anfang des ersten und der komplette zweite Artikel in der Collier's-Serie
(Illustration oben Chesley Bonestell, unten Fred Freeman)
Im Editorial zur Artikelserie, das den Titel What Are We Waiting For? trägt, wird schon fünfeinhalb Jahre vor Sputnik das Wettrennen ins All mit der Sowjetunion ausgerufen, und interessanterweise wird eine öffentliche Äußerung von Kluschanzews Berater Tichonrawow als Beleg dafür zitiert, dass das Rennen auf sowjetischer Seite bereits im Gang ist. Im darauf folgenden ersten Artikel der Serie mit dem Titel Crossing the Last Frontier legt Wernher von Braun seine damaligen Pläne für ein amerikanisches Weltraumprogramm dar. Und in deren Zentrum steht eine ringförmige rotierende Raumstation mit einem Durchmesser von ca. 75 Metern, die in einer Höhe von 1700 km alle zwei Stunden die Erde umkreisen sollte. Die Neigung der Bahn zum Äquator würde ungefähr 65° betragen, so dass durch die Eigendrehung der Erde innerhalb kurzer Zeit große Teile der Erdoberfläche überflogen würden. Die Außenhülle der Station sollte nicht aus einem massiven Material bestehen, etwa einer Aluminium- oder Titanlegierung, sondern aus luftdichtem Nylongewebe, das kompakt verpackt in den Weltraum geschossen und erst dort zu seiner Form aufgeblasen werden sollte. Zur Energieversorgung der Station sollte ein solarthermisches Kraftwerk mit einer Leistung von 500 kW dienen, als Arbeitsmedium war Quecksilber vorgesehen. Bei der Rotationsgeschwindigkeit legt sich von Braun nicht genau fest, aber er gibt zwei Zahlenbeispiele: Wenn sich die Station alle 22 Sekunden um ihre Achse drehen würde, würde im äußeren Bereich eine künstliche Schwerkraft von ⅓ g herrschen, und bei einer Drehung alle 12,3 Sekunden wäre es 1 g. Im kurzen nächsten Artikel erläutert Willy Ley anhand einer sehr detaillierten Schemazeichnung von Fred Freeman weitere technische Einzelheiten der Raumstation.

Weitere Bilder aus den Collier's-Artikeln. Links oben die Macher der Serie (es fehlen Freeman und Ryan)
Der Zweck der Station war einerseits die Erdbeobachtung zu verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen Zwecken. So sollte etwa eine ganze Schar von Meteorologen mit ihren Instrumenten permanent die Atmosphäre beobachten, um gleich im Orbit Wetterprognosen zu erstellen - dieser Aspekt findet sich eins zu eins auch in Kluschanzews Raumstation in DER WEG ZU DEN STERNEN. Andererseits sollte die Station als Abflugbasis für bemannte Missionen zum Mond (und später zum Mars) dienen. Von Braun diskutiert auch eine mögliche militärische Nutzung der Station, zur militärischen Aufklärung, aber auch als Träger von Atomraketen. Zum Projekt gehört auch ein astronomisches Observatorium in unmittelbarer Nähe zur Raumstation, aber räumlich abgekoppelt, um nicht durch die Rotation und die Erschütterungen gestört zu werden. Von Braun entwarf damit also einen Vorläufer des Hubble-Teleskops (Fred Whipple geht in einem anderen Artikel weiter auf diesen Aspekt ein). Diese ganzen Ideen hatte von Braun schon länger mit sich herumgetragen. Bereits 1946 hatte er der Army einen schriftlichen Vorschlag für eine solche Raumstation samt von ihm angefertigter Skizze vorgelegt, war aber auf taube Ohren gestoßen.

In der Schwerelosigkeit schwebende Schreibstifte in DISNEYLAND: MAN IN SPACE (oben) und
2001: A SPACE ODYSSEY - hat sich Kubrick hier vielleicht wirklich bedient?
Was an der damaligen Sichtweise auffällt (und das schließt Kluschanzew ein), ist die Tatsache, dass die zukünftigen Fähigkeiten und die Bedeutung unbemannter Satelliten dramatisch unterschätzt werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass erst Jahre später die ersten integrierten Schaltkreise vorgestellt wurden - die spektakuläre Entwicklung der Halbleitertechnik war damals noch nicht im Entferntesten absehbar, und daran hing auch die Entwicklung der Satellitentechnik zu einem großen Teil. - Die Collier's-Serie wurde im April 1954 sozusagen mit der Königsdisziplin abgeschlossen: Wernher von Braun diskutiert den bemannten Flug zum Mars, den er vage für Mitte des 21. Jahrhunderts prognostiziert. Dabei erwähnt er auch eine Option, die Eingang in die Science Fiction (einschließlich 2001: A SPACE ODYSSEY) gefunden hat, nämlich die Möglichkeit, Crew-Mitglieder für die Dauer der Reise in einen Tiefschlaf zu versetzen.

Willy Ley (links) und Heinz Haber in DISNEYLAND: MAN IN SPACE
Die Artikelserie hat das Thema Raumfahrt ungemein populär gemacht und aus der Sphäre der Science Fiction in die einer realen Option in einer greifbar nahen Zukunft versetzt. Und sie machte aus einem weithin unbekannten deutschen Wissenschaftler mit etwas dubioser Vergangenheit einen strahlenden amerikanischen Helden des Fortschritts (von Braun und seine Frau wurden 1955 US-Bürger). Wernher von Brauns Popularität wurde nun durch Radio- und Fernsehinterviews quasi zum Selbstläufer, und auf diesen Zug sprang auch Disney auf. In der Serie DISNEYLAND, die von Disney in Zusammenarbeit mit dem Sender ABC produziert wurde, wurde das Thema der Artikelserie in aktualisierter Form ins Fernsehen getragen, wobei verbal vorgetragene Informationen mit Schaubildern und Modellen auf sehr unterhaltsame Weise mit witzigen und gelegentlich fast surrealen Zeichentricksequenzen, Animationen mit Modellen und einigen Realaufnahmen mit Schauspielern kombiniert wurden.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - Wernher von Braun stellt das neue Modell seiner Raumstation vor
In der ersten der drei Folgen, MAN IN SPACE (1955), erläutern Willy Ley, Wernher von Braun und Heinz Haber Grundsätzliches zu den physikalischen Grundlagen, zum Ablauf eines Raumflugs und zur (begrenzten, aber doch gegebenen) Tauglichkeit des Menschen fürs All. In MAN AND THE MOON (1955) geht es um den bemannten Flug zum Mond - vorerst noch ohne Mondlandung, sondern nur mit einer einmaligen Umrundung des Trabanten, wobei erstmalig seine Rückseite betrachtet und fotografiert wird. Von Braun, diesmal der einzige Experte im Studio, erklärt den Ablauf der Mission, wobei auch diesmal eine rotierende Raumstation als Startpunkt dient. Im Vergleich zu der Version von 1952 ist diese nun etwas kleiner, hat drei statt zwei dicke Streben, und zusätzlich viele "Speichen" (in Wirklichkeit Kühlrohre), die an einen Fahrradreifen erinnern. Während die Station aus Collier's mit Sonnenenergie betrieben wurde, besitzt die neue Version einen Kernreaktor im nicht rotierenden Zentrum der Station (wo auch Raumschiffe andocken können). Der Grund für diesen Sinneswandel wird nicht erklärt, ich kann mir aber vorstellen, dass er von den seit 1954 existierenden Atom-U-Booten mit kompakten Kernreaktoren an Bord inspiriert wurde. Diese Folge hat auch eine ausgedehnte Spielsequenz mit den vier Astronauten in ihrem Mondraumschiff, die sich in Ausstattung und Tricktechnik nicht hinter zeitgenössischen Hollywoodfilmen über Raumflüge verstecken muss, dabei aber - allen damaligen Fehleinschätzungen zum Trotz - viel realistischer ist. In MARS AND BEYOND (1957) schließlich dient dieselbe Raumstation wie in der zweiten Folge auch als Startpunkt zum Roten Planeten. Von Braun und sein Kollege Ernst Stuhlinger warten aber mit einer neuen und extravaganten Idee auf: Die Flotte von sechs Raumschiffen, die gemeinsam die Reise absolvieren, wird nicht von konventionellen chemischen Treibstoffen angetrieben, sondern von Ionentriebwerken, wobei Kernreaktoren an Bord der Schiffe die Energie für einen kontinuierlichen Betrieb der Triebwerke liefern und Cäsium als Medium zur Erzeugung des Rückstoßes dient.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Station wird im Orbit zusammengebaut
Diese drei Sendungen sind in mehrerlei Hinsicht auch heute noch sehenswert; inszeniert und moderiert wurden sie von Ward Kimball. Ein Modell der Raumstation aus den Folgen 2 und 3 wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von der Firma Strombecker als Plastikbausatz im Maßstab 1:300 (bezogen auf die Maße, die von Braun genannt hat) als Disney Space Station verkauft. Basierend auf den originalen Druckgussformen von damals, wurde der Bausatz in den 90er Jahren erneut herausgebracht - diesmal mit eher nostalgischem statt futuristischem Flair.

CONQUEST OF SPACE
Wir können also festhalten, dass die rotierende Raumstation 1952 in der amerikanischen Populärkultur angekommen ist, und auch so schnell nicht wieder verschwand. Und von der Populärkultur im Allgemeinen ist es nicht mehr weit bis Hollywood. 1955 brachte Paramount CONQUEST OF SPACE in die Kinos. Regisseur war Byron Haskin (der kurz zuvor den Klassiker THE WAR OF THE WORLDS inszeniert hatte), Produzent war George Pal - da waren namhafte Leute am Werk. Wie im Eröffnungsartikel der Collier's-Serie gibt es eine Raumstation, von der aus eigentlich demnächst der erste Testflug zum Mond starten sollte. Doch da wird der Testflug vom Hauptquartier auf der Erde kurzfristig abgesagt und stattdessen der sofortige Flug zum Mars befohlen. Der Kommandant der Station sträubt sich heftig gegen diese Entscheidung, beugt sich aber schließlich dem Befehl und übernimmt auch die Rolle als Kommandant des Marsraumschiffs. Doch dummerweise sind da die Gefahren der kosmischen Strahlung, die das Nervensystem angreift. Nachdem anfangs ein Besatzungsmitglied der Station (als warnendes Exempel) einen minder schweren Anfall erleidet, trifft es auf dem Flug zum Mars ausgerechnet den Kommandanten mit voller Härte. Er steigert sich in einen religiösen Wahn hinein und bringt mit erratischem Verhalten die Mission in höchste Gefahr ...

CONQUEST OF SPACE
CONQUEST OF SPACE wurde inspiriert von dem fast gleichnamigen Buch The Conquest of Space, das Willy Ley (Text) und Chesley Bonestell (Illustrationen) schon 1949 herausgebracht hatten, sowie von Wernher von Brauns Buch Das Marsprojekt bzw. The Mars Project, das er im Wesentlichen schon 1948 geschrieben hatte, das aber erst 1952 auf Deutsch und 1953 auf Englisch erschien. Der etwas schwachbrüstige Plot um den Kommandeur mit Weltraum-Rappel stammt allerdings nicht aus diesen Büchern, sondern wurde erst für den Film erfunden. Chesley Bonestell war auch direkt am Film beteiligt, als Verantwortlicher für Astronomical Art, wie es in den Credits heißt. Wenig überraschend ist das Design des Films sehr eng an die Collier's-Artikel angelehnt. Beispielsweise erkennt man in meinem ersten Bild oben deutlich eine Art Aufsatz auf dem eigentlichen ringförmigen Körper der Station. Es handelt sich dabei wohl um die gekrümmten Spiegel des Solarkraftwerks, die die Sonnenstrahlen auf eine Metallröhre fokussieren, in der das Quecksilber zirkuliert und dabei erhitzt wird. Und einen solchen Aufsatz besitzt auch die Station in CONQUEST OF SPACE - ebenso wie die in QUEEN OF OUTER SPACE.

CONQUEST OF SPACE
1958 erschien QUEEN OF OUTER SPACE, den ich leider nicht online auftreiben konnte - die Screenshots sind aus dem Trailer (ich habe für diesen Artikel keine DVDs gekauft, es gibt aber zu allen hier erwähnten Filmen welche). Auf der Venus gibt es nur Frauen, die von einer permanent maskierten männerhassenden Königin regiert werden. Die rotierende Raumstation im Film wird den Informationen nach, die ich finden konnte, schon am Anfang des Films zerstört, durch Todesstrahlen der Venusianerinnen. Eher versehentlich fliegt dann ein Raumschiff mit vier Astronauten zur Venus und rückt die Dinge (aus irdisch-männlicher Sicht) wieder zurecht. Eine der Venus-Damen wird von Zsa Zsa Gabor gespielt, und Eric Fleming hat sowohl in QUEEN OF OUTER SPACE als auch in CONQUEST OF SPACE eine Hauptrolle (etwas später war Fleming der Star der Westernserie RAWHIDE an der Seite des Nachwuchsdarstellers Clint Eastwood). Regisseur von QUEEN OF OUTER SPACE war ein Edward Berns. Dieser durchaus vielbeschäftigte Regisseur hatte 1956 für dasselbe Studio (Allied Artists, das frühere Monogram) WORLD WITHOUT END inszeniert, und aus diesem Film wurden einige Szenen in QUEEN OF OUTER SPACE wiederverwendet. Auch Kostüme und Utensilien aus FORBIDDEN PLANET sind hier offensichtlich einer Zweitverwertung zugeführt worden. Heute gilt dieser recyclingfreudige Film als ein Camp-Klassiker.

QUEEN OF OUTER SPACE - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 1
Von 1963 bis 1968 (mit längeren Pausen zwischen den Staffeln) flimmerte die Puppentrickserie SPACE PATROL über die englischen Bildschirme. In den USA hieß die Serie PLANET PATROL, weil es in den 50er Jahren schon eine amerikanische Serie mit dem Titel SPACE PATROL gab. Das ringförmige Ding in der Serie fliegt aktiv durch das All, ist also eher ein Raumschiff als eine Raumstation, und es rotiert auch nicht selbst, sondern es wirbelt nur eine Art Kraftfeld darum herum. SPACE PATROL galt lange als verloren, aber vor ungefähr 20 Jahren fand Roberta Leigh, die Schöpferin der Serie, längst vergessene Kopien wieder.

SPACE PATROL
Bei MUTINY IN OUTER SPACE (1965) haben wir wieder das von Braun'sche Konzept in Reinkultur: Die rotierende Raumstation als Ausgangs- und Rückkehrpunkt für Flüge zum Mond. Auf dem Erdtrabanten gibt es bereits eine bemannte Station, und dort wurden kürzlich mysteriöse Eishöhlen gefunden. Als ein Raumschiff Proben aus den Höhlen zur Raumstation bringt, ist einer der beiden Astronauten mit einem tödlichen Pilz infiziert. Der Kommandant der Raumstation ist stark überarbeitet, und er wird zwar nicht komplett verrückt wie sein Kollege aus CONQUEST OF SPACE, aber er trifft fatale Fehlentscheidungen, die es dem Pilz ermöglichen, den Körper des mittlerweile toten Astronauten zu verlassen und die ganze Station zu überwuchern. Da der Kommandant weiterhin uneinsichtig ist, bahnt sich unter seinen Offizieren eine Meuterei an, um zu retten, was noch zu retten ist. Unterdessen erwägt man im Hauptquartier, die Station mit Atomraketen zu vernichten, um eine Kontamination der Erde mit dem Pilz zu verhindern ...

MUTINY IN OUTER SPACE - die Station erst blitzblank und dann vom Pilz überwuchert
Der von einem Hugo Grimaldi (sowie ungenannt Arthur C. Pierce) inszenierte MUTINY IN OUTER SPACE ist ein ziemlicher Billigheimer. Die Handlung ist einfallslos, die Spezialeffekte sind dürftig. Unter den Namen der Beteiligten fallen nur zwei Söhne berühmter Väter ins Auge, Harold Lloyd jr. als Darsteller und Josef von Stroheim beim Tonschnitt. Die physikalisch-technischen Sitten sind ein bisschen verlottert, denn bei Innenaufnahmen in der Station ist der Korridor nach links gekrümmt und nicht nach oben, wie es sein müsste, wenn die äußere Begrenzung durch die Rotation zum Boden wird. Mit anderen Worten, die künstliche Schwerkraft wirkt hier nicht radial nach außen, sondern entlang der Drehachse, was natürlich kompletter Humbug ist. Immerhin gibt es auch einen Fortschritt zu vermelden: Während die Station in CONQUEST OF SPACE eine reine Männerdomäne ist, gibt es hier eine Wissenschaftlerin und einen weiblichen Lieutenant, und beide dürfen nicht nur gut aussehen, sondern auch technische Geräte bedienen und eigene Entscheidungen treffen. (Kluschanzews Raumstation hat übrigens einen sehr hohen Frauenanteil.) Die blonde Lt. Engstrom in MUTINY IN OUTER SPACE wirkt sogar noch etwas autonomer als Lt. Uhura, die im Folgejahr ihren Platz auf der Brücke der Enterprise einnahm. Es gibt in MUTINY IN OUTER SPACE übrigens auch einen Doktor, der sich freundschaftlich mit dem uneinsichtigen Kommandanten wegen dessen angegriffener Gesundheit kabbelt, und der in dieser Hinsicht an "Pille" erinnert.

MUTINY IN OUTER SPACE - hier geht es linksrum statt nach oben
Ebenfalls 1965 drehte Anthony M. Dawson alias Antonio Margheriti innerhalb von nur drei Monaten seine Gamma-Eins-Tetralogie. Die vier Filme, in denen jeweils die rotierende Raumstation Gamma 1 vorkommt, kamen aber erst 1966 ins Kino, als auch die Enterprise und die Orion in die unendlichen Weiten aufbrachen. Bekannter als die italienischen dürften die englischen Titel sein, die da lauten: WILD WILD PLANET, WAR OF THE PLANETS, WAR BETWEEN THE PLANETS und SNOW DEVILS. Ich kenne keinen davon, der Screenshot ist aus einem Trailer für WAR OF THE PLANETS. 1968 schließlich, im Jahr, als 2001: A SPACE ODYSSEY das Licht der Welt erblickte, inszenierte der durch seine brachialen Yakuza-Filme bekannte Kinji Fukasaku als Sequel zu Margheritis Tetralogie den Kracher THE GREEN SLIME mit der weiterentwickelten Raumstation Gamma 3, der in deutlich unterschiedlichen japanischen und amerikanischen Versionen veröffentlicht wurde.

WAR OF THE PLANETS
Wurde eigentlich auch Kluschanzew von den Collier's-Artikeln beeinflusst, zumindest indirekt? Davon gehe ich aus, denn sein Berater Tichonrawow wusste sicher darüber Bescheid. Die hochrangigen sowjetischen Raumfahrtforscher (und zu denen zählte Tichonrawow) wurden vom Geheimdienst mit allen verfügbaren Informationen über ihre amerikanischen Kollegen und deren Aktivitäten versorgt, und die Collier's-Artikel waren ohnehin für jedermann frei zugänglich. Jeder sowjetische Diplomat konnte sie mit seiner Post in die Heimat schicken, um sie den interessierten Kreisen zugänglich zu machen, und das ist sicher auch geschehen.

THE GREEN SLIME - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 2
Übrigens fand auch Disney Anklang in der Sowjetunion. Im August 1955 fand in Kopenhagen der sechste International Astronautical Congress (IAC) statt, und dort wurde in einer Sondervorführung DISNEYLAND: MAN IN SPACE gezeigt. Bei diesem Kongress waren auch sowjetische Wissenschaftler zugegen. Einer von ihnen war der Physiker Leonid Sedow, der Vorsitzende einer Kommission der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die das Sputnik-Programm vorantrieb. Sedow bat um leihweise Überlassung einer Kopie des Films, um ihn in der Sowjetunion zu zeigen. Doch Walt Disney persönlich ließ ihn abblitzen. Und zwar, wie sich Ward Kimball erinnerte, weil die sowjetische Regierung Ende der 30er Jahre eine Kopie von SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE "für zwei Wochen" entliehen hatte und erst zehn Jahre später in arg ramponiertem Zustand zurückgab. Doch Sedow gab nicht so schnell auf. Im September des Jahres schrieb er einen Brief an Frederick C. Durant, den damaligen Vorsitzenden der International Astronautical Federation IAF (die die jährlichen IACs veranstaltet). Eine Überlassung einer Kopie, zu welchen Bedingungen auch immer, würde die Ost-West-Zusammenarbeit beträchtlich voranbringen, meinte er in dem Brief. Ob sich Durant als Vermittler einspannen ließ, und ob Sedow doch noch eine Kopie von MAN IN SPACE bekam, ist mir allerdings nicht bekannt.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Reise zum Mond kann beginnen
Und wie steht es nun mit Kubrick? Ich nehme an, dass auch er schon in den 50er Jahren von Wernher von Brauns Ideen gehört oder gelesen hat, weiß es aber nicht mit Bestimmtheit. Aber da ist ja auch noch Arthur C. Clarke, und bei dem ist die Beweislage eindeutig. Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit an 2001: A SPACE ODYSSEY war Clarkes 1951 erschienene Kurzgeschichte The Sentinel, und ab 1964 schrieben Clarke und Kubrick parallel und in enger Abstimmung den Roman und das Drehbuch zum Film. Und Clarke war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein Wissenschaftler, der sich intensiv mit Fragen der Raumfahrt befasste. Schon 1945 hatte er als Erster in einem wissenschaftlichen Artikel vorgeschlagen, geostationäre Satelliten zum Aufbau eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes zu verwenden. Die Eigenschaften der geostationären Bahn waren schon länger bekannt, aber erst Clarke erkannte, dass nur drei solche Satelliten, die ein gleichseitiges Dreieck aufspannen, genügen, um den größten Teil der Erdoberfläche (alles außer den Polgebieten) abzudecken. Clarke war auch seit 1934 langjähriges Mitglied und zeitweise Vorsitzender der British Interplanetary Society, so etwas wie das britische Gegenstück zum VfR (aber anders als der deutsche Verein wurde die Interplanetary Society nie von staatlichen Stellen vereinnahmt).

2001: A SPACE ODYSSEY
1951 fand der zweite IAC in London statt, und auf dem Kongress wurde ein ausführlicher Vortrag von Wernher von Braun (der nicht persönlich anwesend war) über die Möglichkeit einer Reise zum Mars verlesen (und darin wurde bestimmt auch die Raumstation erwähnt). Und Vorsitzender dieses Londoner Kongresses war kein anderer als Arthur C. Clarke. Als Schriftsteller schrieb Clarke nicht nur Science Fiction, sondern auch populärwissenschaftliche Bücher über Raumfahrt mit ähnlicher Ausrichtung wie die von Willy Ley und von Braun. Und in mindestens einem davon (nämlich The Exploration of Space von 1951) wird die Erzeugung künstlicher Schwerkraft in rotierenden Raumfahrzeugen diskutiert. Clarke steckte also tief drin in der Materie, und er war mit dem Konzept der rotierenden Raumstation mindestens seit 1951 vertraut. Es brauchte also nicht den Umweg über Kluschanzew, um ihm (und damit Kubrick) diese Idee einzugeben.

Nach oben gekrümmte Flure bei Kluschanzew (oben) und Kubrick - prinzipbedingt notwendig,
wenn man die Physik ernst nimmt, und deshalb kein Indiz für Ideenklau
Diese kleine Chronologie bis 1968 erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. 2001: A SPACE ODYSSEY war zweifellos für lange Zeit der tricktechnische und ästhetische Höhepunkt der Entwicklung, aber er war nicht einmal ein vorläufiger Endpunkt, denn schon im selben Jahr 1968 ging es ja mit THE GREEN SLIME weiter. Danach gab es noch viele Raumstationen, die ganz oder in Teilen rotierten, in letzter Zeit etwa in THE MARTIAN und ELYSIUM. Aber weil dieser Artikel höchst unvollständig ist, ist er hier auch schon (fast) zu Ende.

2001: A SPACE ODYSSEY
Mitglieder der Houston Section des American Institute of Aeronautics and Astronautics (AIAA) haben die Collier's-Artikel in hoher Qualität gescannt und in acht aufeinanderfolgenden Ausgaben ihrer Zeitschrift Horizons wiederveröffentlicht. Hier kann man die Hefte als PDF frei herunterladen, es handelt sich um die Ausgaben July/August 2012 bis September/October 2013. Dafür bedanke ich mich (unbekannterweise) bei den Leuten, denn es handelt sich um faszinierenden Lesestoff. Meine Collier's-Bilder hier habe ich aus diesen PDFs extrahiert.

Dienstag, 6. November 2012

Eine Weimarer Pizza geht nach Wien oder zur Psychopathologie österreichischer Toiletten: Bericht von der Viennale 2012



Am Donnerstag, den 25. Oktober, bin ich in Richtung Österreich gereist, um dem 50. Internationalen Filmfestival Wien (25. Oktober bis 7. November 2012), auch als Viennale bekannt, einen Besuch abzustatten. Der Weg führte mich von Weimar, über Jena, Leipzig, Dresden, Prag bis in die ehemals kaiserliche Hauptstadt. Drei Tage voller Filme erwarteten mich: neue, alte, gute und nicht so gute. Und extrem gute Kaffees. Und merkwürdige Bekanntschaften mit österreichischen Toiletten. Und nasse Füsse. Und eine hirnverbrannte Festival-Organisation... aber dazu später.

Donnerstag 25. Oktober 2012

Bei einem dreistündigen Halt in Leipzig stimmte ich mich Kino-technisch etwas auf die Viennale ein und ließ mich in einer Pressevorführung vom neuen James-Bond-Film begeistern. Diese hatte zwar nichts mit dem österreichischen Filmfestival zu tun, wird in meinem Gedächtnis aber immer mit meiner ersten Viennale-Reise verbunden sein. An anderer Stelle habe ich mich schon etwas über den nunmehr 23. (bzw. je nach Perspektive 24., 25., 26.) Bond-Film ausgelassen. Hier also eine Zusammenfassung meiner durch und durch positiven Eindrücke in freier Assoziation.

10.00 Uhr, Cinestar Leipzig
Skyfall
UK/USA 2012, 143 Minuten
Regie: Sam Mendes

James Bond goes Apocalypse Now. James Bond goes art house. James Bond goes avant garde. James Bond goes back to childhood. James Bond goes back to the roots. James Bond goes bi (maybe). James Bond goes Caspar David Friedrich. James Bond goes crazy deadly drinking games. James Bond goes dada. James Bond goes expressionistic. James Bond goes for a swim. James Bond goes Freudian. James Bond goes Gothic. James Bond goes Greek tragedy. James Bond goes greyish. James Bond goes Heineken. James Bond goes hunting knife. James Bond goes introspective. James Bond goes James Bond. James Bond goes meta. James Bond goes neon signs. James Bond goes Oedipus. James Bond goes Oskar Fischinger. James Bond goes sawed-off shotgun. James Bond goes self-aware. James Bond goes shadow play. James Bond goes sicko. James Bond goes vintage. James Bond goes weirdo.
James Bond goes Skyfall!
P.S.: „Q“ goes hipster-nerd. Bond villain goes Hannibal Lecter. Bond side villain goes Stromberg.


Nach einer sehr langen Reise (Start: 07:20 Uhr in Weimar) kam ich also kurz nach 22.00 Uhr in Wien an. Nach einem Bier und einem Wodka mit meinem Gastgeber, dem ich vom neuen Bond-Film und von der kommenden Fritz-Lang-Retrospektive vorschwärmte, ging es zur Eröffnungsparty der Viennale. Zu der Eröffnungsparty oder vielleicht auch zu einer Eröffnungsparty. Mehr noch als die fürchterliche Musik, die Kälte und die horrenden Bierpreise brachten mich die Toiletten zur rasenden Verzweiflung. Vor ihnen stand eine gefühlt vierzig Meter lange Schlange. Dixie-Klos im Innenhof waren die Alternative. Sie waren zwar nicht beleuchtet, aber hier konnte ich mich zum letzten Mal während meines Wien-Aufenthalts ohne Klaustrophobie-Anfall erleichtern...


Freitag 26. Oktober 2012

Nach vierstündigem Schlaf ging es weiter. Zunächst durch die Innenstadt etwas spazieren. Beim Stephansdom einen Cappuccino to go genommen, der mich bei der ersten Berührung mit meinen Geschmacksknospen in den Himmel geführt hat. Was ich letztes Jahr in Graz erlebt hatte, wiederholte sich nun in Wien: österreichischer Kaffee ist der beste der Welt, oder zumindest der beste, den ich kenne. Die Österreicher haben Mut zur Bohne, und das ist gut so!
Weiter zum Hilton Hotel Wien, wo die Presse-Karte abgeholt wurde. Die Freude über das kostenlose Festivalkatalog, das kostenlose Fritz-Lang-Buch und über die Viennale-Umhängetasche verflog zunächst angesichts des Info-Blattes für „Teilnehmer“. Irgendetwas von 4,50 Euro pro Film stand da. Es stellte sich später glücklicherweise heraus, dass auch die niedrige Journaille kostenlos in die Filme gehen durfte. Als schwerwiegenderes Problem stellte sich später allerdings das ineffiziente Reservierungs-System für Pressekarten heraus.
Schwer bepackt ging ich zusammen mit meinem lieben Mitreisenden, luzifus von the-gaffer.de, zum Metro-Kino, wo um 11 Uhr unser erster Festivalfilm begann. Wir hatten nicht „reserviert“ und mussten deshalb über die „Warteliste“ rein, bekamen dann aber trotzdem Karten.
An den Kino-Toiletten hing ein stolzes Schild über den gelungenen Umbau des Örtchens zu einer behinderten-gerechten Einrichtung. Diesen Wienerischen Witz habe ich leider nicht verstanden, denn eine Warnung für Klaustrophobiker wäre angesichts der unglaublichen Enge der Örtlichkeit angemessener gewesen. Ein Ort, der wirklich nur in einem sehr basisch-physischen Sinne Erleichterung brachte.
Der Kino-Saal jedoch war prunkvoll, mit schönen roten Sitzen und Seitenlogen ausgestattet. Die eher mäßige Beinfreiheit stellte sich später als für Wienerische Verhältnisse absolut extravagant heraus...


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
Vous n‘avez encore rien vu
Frankreich/Deutschland 2012, 115 Minuten
Regie: Alain Resnais

Ein Theater-Regisseur stirbt. Sein Butler ruft eine ganze Horde an berühmten Schauspielern an (Michel Piccoli, Pierre Arditi, Sabine Azéma, Lambert Wilson, Mathieu Amalric, Anny Duperey, Hippolyte Girardot etc.), um sie zur Trauerfeierlichkeit und Nachlass-Erklärung einzuladen. Der letzte Wunsch: die Geladenen mögen bitte das Probevideo einer unbekannten Theatergruppe, die das berühmteste Stück des Regisseurs spielt, bewerten und eine Empfehlung geben. Während das Video abgespielt wird, erinnern sich die anwesenden Schauspieler – die wohlgemerkt alle sich selbst spielen – an ihre respektiven Rollen in dieser Adaption der griechischen Sage um Orpheus und Eurydike und beginnen, selbst das Stück im Austausch mit der Leinwand zu spielen.
Was als spannender Film über die Interaktion von Kino mit dem „wahren“ Leben erscheint, entpuppt sich als eine brachiale Tortur von einem „Film“, der über das Niveau eines abgefilmten (schlechten) Theaterstücks nicht hinausreicht. Der Genuss, so viele tolle französische Schauspieler auf einem Haufen zu sehen, wird einem gründlich verdorben. Grottenschlechte CGI-Effekte widerspiegeln entweder den Wunsch des nunmehr 90-jährigen Regisseurs, auch mal moderne Technologie zu nutzen, oder sollen wohl zweck Verfremdungs-Effekt absichtlich „beschissen“ aussehen. Nur mäßig verklausuliert erschien der Film auch als eine völlig ungehemmte und neunmalkluge Selbstbeweihräucherung Resnais‘. Nach gefühlten zwei Stunden lud der Film zum Sekundenschlaf ein, obwohl noch über eine halbe Stunde übrig blieb. Kein schönes Festivaleröffnungs-Erlebnis.


Zwanzig Meter vom Metro-Kino entfernt befand sich eine Imbissbude, bei der der hungrige Festival-Besucher einen ganz ausgezeichneten Dürum (u. a. mit einer scharfen Sauce aus frischen Chillies) genießen konnte. Gleich daneben die Café-Version eines internationalen Fastfood-Konzerns, dessen doppelter Espresso jedoch durchaus „österreichisch“ schmeckte und den Verfasser dieser Zeilen noch vor gar zu schlimmen Sekundenschlaf-Anfällen retten sollte.
In der Zwischenzeit kam heraus, dass die Journaille ausschließlich Wartelisten-Plätze erhält, wenn sie nicht vorher ihre Karten bei der zentralen telefonischen Presse-Reservierung bestellt. Dies sollte sich später noch als echtes Problem erweisen.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
Pearblossom Highway
USA 2012, 80 Minuten
Regie: Mike Ott

Mit einem nunmehr etwas günstigeren Platz begann der zweite Film in Anwesenheit des überaus sympathischen Regisseurs. Plakate habe er mitgebracht, und wer den Film möge, könne sich im Anschluss eins bei ihm holen. Wer den Film nicht möge, könne sich aber ebenfalls eins holen.
Zwei junge Menschen am Wüstenrand von Los Angeles stehen im Mittelpunkt dieses kleinen Independent-Films. Cory redet ständig und filmt ein Videotagebuch, das er gerne einmal zu einer Reality-Show ausbauen möchte. Atsuko bzw. Anna, eine immigrierte Japanerin, spricht hingegen kaum und bereitet sich auf ihren Einbürgerungs-Test vor. Außer ihrem besten Freund Cory, dessen geistige Gesundheit fraglich und soziale Kompetenz gänzlich unausgeprägt ist, ist die junge Frau völlig von ihrer Umwelt entfremdet. Ihr Nebenjob als Prostituierte verbessert diese soziale Isolation nicht gerade. Erleichterung findet sie nur in den Telefongesprächen mit ihrer Großmutter in Japan, die jedoch zunehmend erkrankt. Derweilen hat Cory immer größere Probleme mit seinem älteren Bruder, einem Armee-Veteranen.
Die scheinbar absolute Loslösung dieses größtenteils eher still vor sich hinplätschernden Films erklärte sich im nachhinein daraus, dass er ein Sequel zu Mike Otts „Littlerock“ ist, der die Figuren Cory und Anna übernimmt. Der Film plätscherte in der Tat: Langweilig, rührend, lustig, emotional, nervig, öde, quicklebendig – all dies war „Pearblossom Highway“, und manchmal sogar gleichzeitig. Nervend waren die immer wiederkehrenden, von einem verfremdeten Polaroidkamera-Klickgeräusch begleiteten Montage-Verdichtungen, die etwas übermäßig bemüht den ansonsten eher realistischen Stil des Films konterkarieren wollten. Atsuko Okatsuka (auch Drehbuchautorin des Films) als Atsuko-Anna bot hingegen eine sehr überzeugende minimalistische Darstellung der entfremdeten Japanerin.
Auch wenn ich mich stellenweise schwer gelangweilt habe, so bleibt im Nachhinein doch ein tendenziell eher netter Eindruck. Das liegt vielleicht am unterhaltsamen Q & A mit dem Regisseur, der sich ganz natürlich, völlig unprätentiös und absolut sympathisch mit dem Publikum austauschte. Ott versprach etwa einer Zuschauerin, die nach einer DVD-Veröffentlichung von „Littlerock“ gefragt hatte, einen Link zu einem Download zu geben.


Nach dem dritten Kaffee des Tages ging ich ins Wiener Filmmuseum, um meinen ersten Film der Fritz-Lang-Retrospektive zu schauen. Luzifus ging derweilen – am 26. Oktober ist österreichischer Nationalfeiertag – zu irgendeinem feierlichen Empfang in der österreichischen Nationalbibliothek, wo der Bundespräsident dem anwesenden Pöbel die Hand schütteln sollte... Gähn! Langweilig! Wer will schon dem österreichischen Staatsoberhaupt die Hand schütteln, wenn er stattdessen einen Fritz-Lang-Film in Kino sehen kann?
Vor „Hangmen Also Die!“ trank ich im Filmmuseum den größten und teuersten und schmackhaftesten doppelten Espresso meines Lebens. Doch auch in diesem Kino spielten mir die Toiletten einen bösen Streich: sie hatten nur eine winzige Kabine und drei Pissoirs, die so eng nebeneinander gestellt waren, dass Mann sie alle gleichzeitig hätte nutzen können. Ein sehr junger Zuschauer besetzte eine halbe Stunde lang die Kabine unter der Aufsicht seines Vaters, der den Rest der Örtlichkeit blockierte. Natürliche Bedürfnisse werden angesichts eines Filmfestivals selbstverständlich völlig überschätzt, aber trotzdem...


16.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Hangmen Also Die!
USA 1943, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

„Hangmen Also Die!“ ist einer der drei offenen Anti-Nazi-Filme, die der Emigrant Lang in den USA drehte und basiert auf einem Drehbuch von Bertolt Brecht, der sich wenig später vom Film distanzierte. Er ist eine Hommage an den tschechoslowakischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation und behandelt die Ermordung des „Henkers von Prag“ Reinhard Heydrich.
Jeder Film verlangt natürlich eine filmhistorisch kontextualisierte Sichtung, doch „Hangmen Also Die!“ sicherlich in einem ganz besonderen Maße. Wir kennen alle das Klischee des überbösen und dämonischen Nazis bis zum Überdruss. Dieses wurde unter anderem gerade hier „erfunden“ und ikonographisch in Zelluloid gebrannt – wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als eben die Nazis noch an der Macht waren und halb Europa besetzten und terrorisierten! Langs Nazis sind mit ihren Pickeln im Gesicht wirklich hässlich. Sie verhalten sich ur-“deutsch“, wenn sie zum Kaffee eine Wurst essen und diese in zwei Hälften so knacken, dass Fleisch und Fett durch das ganze Zimmer fliegen. Sie sind gnadenlos grausam, etwa in Prügelszenen, die selbst mit heutigen Zuschauergewohnheiten noch äußerst brutal wirken. Sie tragen (ironischerweise) Monokel. Zugleich sind sie feige, verantwortungslos und kriecherisch, womit Lang im Prinzip auch das spätere reale „Ich habe nur Befehle ausgeführt“-Narrativ cinematographisch vorweggenommen hat.
Den „Lang im Film“ erkennt man durch die subtile Psychologisierung der Figuren: Schuldgefühle, moralische Dilemmata und Rachegelüste. Der Attentäter Svoboda lebt mit dem unlösbaren moralischen Dilemma, sein Leben zu retten und dabei unschuldige Menschen (Geiseln der Nazis) auf dem Gewissen zu haben oder aber sich zu ergeben und damit zugleich die Widerstandsbewegung in Gefahr zu bringen. Gerade das Thema des Unschuldigen, der in die Knochenmühle der Gewalt gerät, wird hier vielfältig variiert. Lang geht schließlich so weit, dass ein tschechischer Kollaborateur für seine Sünden damit bezahlt, dass er durch eine Verschwörung des Widerstands für ein Verbrechen gerichtet wird, das er nicht begangen hat!


Nach drei Filmen völlig erschöpft und kaum noch fähig, einen verständlichen Satz zu verstehen oder gar selbst zu formulieren, entließ ich mich in eine Dinier-Pause mit einem originalen Wiener Schnitzel und einem Gespräch mit Einheimischen über die Bedeutung des Nationalfeiertages und der österreichischen Neutralität. Gestärkt und mit einem leichteren Geldbeutel ausgestattet kehrte ich, diesmal mit luzifus, in das Wiener Filmmuseum zurück.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
You Only Live Once
USA 1937, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

Langs zweiter US-amerikanischer Film um einen ehemaligen Kleinkriminellen (ein junger Henry Fonda), der nach drei Jahren Gefängnis nach kurzer Zeit des Glücks zu Tode verurteilt wird, schwankt zwischen einem “amerikanischen“, kontroversen Thema und einer „deutschen“ Ästhetik.
Gerade die barock-expressionistischen Momente wirken auf einer Kino-Leinwand großartig. Nachdem die Hauptfigur Eddie seine Geliebte Joan geheiratet hat, spricht er über seine Kindheitserlebnisse. Dazwischen geschnitten werden Nah- und Extremnahaufnahmen von Fröschen in einem kleinen Gartenteich (vielleicht ein visuelles Vorbild für das spätere „Night Of The Hunter“?), während das Paar durch gebrochenes Wasser umgekehrt gespiegelt wird. Auch die Isolations-Todeszelle, deren Gitterschatten sich in alle Richtungen ausbreiten, markieren visuell beeindruckend die Verlorenheit der Hauptfigur. Als Eddie kurz vor seiner Hinrichtung ausbricht, flieht er durch ein dichtes, atmosphärisches Nebelmeer mit seiner Geisel in Richtung Ausgangstor. Die Flucht des Paares endet in einem offensichtlich im Studio nachgebauten und deshalb so hochstilisierten Wald: eine schöne und hoffnungsvolle Idylle, aber letztlich ein Trugschluss.
Auch wenn das persönliche Schicksal eines Außenseiters im Mittelpunkt steht, so lässt sich „You Only Live Once“ auch als sehr starkes und nicht wenig subversives Plädoyer gegen die Todesstrafe in den USA sehen: Verbrechen entstehen aus sozialen Ursachen, über Schuld besteht keine Garantie, es gibt keine Gerechtigkeit (daher die anfänglich deplatziert wirkende Figur des italienischen Obsthändlers, der sich darüber beklagt, dass patrouillierende Polizisten ihm Äpfel klauen), und die Todesstrafe zerstört nicht nur Leben, sondern auch das gesellschaftliche Gefüge. Die drückende, fast nihilistische Atmosphäre wird schließlich mit einer christlichen Erlösung gedämpft, die jedoch keine richtige Erleichterung zu bringen vermag.
Fritz Lang war die wichtigste Vermittlungsfigur zwischen dem deutschen (expressionistischen) Stummfilm und dem US-amerikanischen film noir. „You Only Live Once“ ist dabei eines der wichtigsten Glieder dieser Verbindungskette, ein spätes strukturelles Sequel zu „M“, ein Vorläufer des Schuld-und-Reue-Melodrams „Scarlet Street“, und dabei doch ein eigenständiges Meisterwerk. Eindeutig ein Höhepunkt der Viennale.


Mittlerweile nicht mehr ganz so frisch erfolgte der Umzug zum Gartenbau-Kino am Stubenring, wo mich erwartete:


23.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Double Feature Room 237 & The Shining

Bereits kurz nach 23.00 Uhr traf ich im Gartenbau ein und holte mir meine (reservierte) Pressekarte für das große Shining-Double-Feature. Das Foyer des Kinos füllte sich immer mehr mit Zuschauern, es wurde immer enger, und schließlich so eng, dass jemand, der ob der schlechten Luft ohnmächtig geworden wäre, nicht hätte auf den Boden fallen können. 23.40 Uhr kündete ein Mitarbeiter an, dass sich der Einlass wegen der vorherigen Veranstaltung noch um zehn Minuten verzögern würde. Bis zum Einlass 20 Minuten später also weiter klaustrophobische Unruhe und Ströme an Schweiß...


23.30 Uhr (faktisch etwa um 00.15 Uhr), Gartenbau-Kino Wien
Room 237
USA 2012, 102 Minuten
Regie: Rodney Ascher

„The Shining“ ist zwar ein Kultfilm eigenen Rechts, aber er wäre vielleicht nicht das Werk des Stanley Kubrick, das einem als erstes für eine abendfüllende Dokumentation einfallen würde... zu unrecht, wie sich herausstellte.
Der anwesende Regisseur Rodney Ascher hat mehrere Leute – dass man nicht erfährt, wen genau, kann man je nach dem als irrelevant oder als Schwäche sehen – zur Verfilmung von Stephen Kings Roman befragt und dabei Erstaunliches erfahren: von Kleindetails bis zu umfassenden Interpretationen.
Eine mögliche Sichtweise auf „The Shining“ wäre zum Beispiel, dass es sich um Kubricks allegorische Verarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den amerikanischen Ureinwohnern handelt. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass das „Overlook“ auf einem Indianerfriedhof gebaut wurde. Während des ganzen Films im Hintergrund verteilte Regalien (Calumet-Backpulverdosen, ausgestopfte Büffel-Köpfe, Häuptling-Portraits, Teppichkunst etc.) lassen diese Interpretation in Ansätzen plausibel wirken.
Stanley Kubrick hatte in den frühen 1990ern bekanntermaßen angefangen, mit „Aryan Papers“ einen Film über den Holocaust zu drehen. Mit „Schindler‘s List“ ließ er sein Projekt als obsolet fallen. Möglich wäre auch – so einer der Interviewten –, dass Kubrick mit „The Shining“ seinen Holocaust-Film bereits gedreht hatte: die apokalyptischen Blutfluten sprechen am offensichtlichsten dafür. Mehrere Überblenden von Personen auf Reisekoffer-Haufen (eine der vielen Holocaust-Ikonographien) und umgekehrt an einer und derselben Stelle weisen subtiler auf eine solche potentielle Interpretation. Dass die riesigen Büchsen „kosher dill“ in der Speisekammer oder das Arrangement der Fleischhaufen im Kühlraum (das tatsächlich an Lager-Schlafbarracken-Bilder erinnerte) keinem Interviewten aufgefallen ist, scheint überaus verwunderlich.

Erheblich abstruser scheint die Interpretation von „The Shining“ als Kubricks persönliche Bewältigung seiner Beteiligung an der Fälschung der Mondlandungs-Bilder, wozu man über Dannys Apollo-Pullover und diverse Zahlenspielereien mit der Raumnummer 237 kommt. Lacher waren hier garantiert.
Mehrere Interpretationen waren zumindest sehr viel ergebnisoffener. Kubrick sei als Mensch mit überdurchschnittlichen intellektuellen Kapazitäten seit Anfang der 1970er Jahre zutiefst gelangweilt gewesen und habe daher angefangen, seine Filme mit noch erheblich mehr mit elaborierten, geradezu manischen Details zu spicken. „The Shining“ sei in diesem Sinne ein strukturelles Sequel von „Barry Lyndon“: ein Meta-Film über ein gelangweiltes, weil intellektuell unterfordertes Genie. Deshalb gäbe es auch in der Szene des Vorstellungsgesprächs einfach mal eine Phallus-Konstruktion, die sich aus dem Kamerawinkel in Verbindung mit einer dunklen Papierablage ergäbe. Auch relativ ergebnisoffen ist die Deutung von „The Shining“ als philosophisches Essay über Vergangenheit.
Wenngleich „Room 237“ vielleicht 20 Minuten weniger ganz gut getan hätten, so war er doch eine schöne Erfahrung. Zunächst hat er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen Film gelenkt, der manchmal wohl etwas zu schnell als „Kubricks Horrorfilm“ abgetan wird und ihm damit eine schöne Hommage geschenkt. Zweitens hat er auch gezeigt, dass ein gutes Kunstwerk in seiner Ausdeutung sich immer sehr schnell von den möglichen Intentionen des Künstlers freimachen kann. Genauso, wie Kubrick den King-Stoff auf persönliche Weise verarbeitet hat, eignet sich der Zuschauer den Film in ganz eigener Art an... Der Beweis erfolgte in einem Q & A mit dem vielleicht großartigsten Zuschauerkommentar aller Zeiten: ob Rodney Ascher bemerkt habe, dass die Deckenverzierung des Kinosaals den Teppichmustern in „The Shining“ ähnlich sei...


Nach spätestens einer halben Stunde bemerkte nicht nur ich, sondern auch luzifus und mein lieber Wien-Gastgeber, dass die Sitze des Gartenbau-Kinos zu streng quadratisch geformt (und daher sehr unbequem) sind und dass Füße und Knie sich permanent an den Vordersitz anstoßen. Länger als anderthalb Stunden hier zu sitzen, sollte sich also theoretisch als die reinste Tortur erweisen. Wir haben aber zu diesem Zeitpunkt noch über drei Stunden vor uns! Dosenbier kann vielleicht etwas Erleichterung schaffen (was sich später als Illusion erweist).


etwa um 02.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
The Shining
UK/USA 1980, 119 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Die ganzen Lacher und Ahas und Ohhs, die während der Vorführung durch das Publikum gingen, wenn eine in „Room 237“ prominent besprochene Stelle kam, waren sicherlich besonders bemerkenswert und der Beweis, dass Filme im Kino geschaut werden sollten. Doch erst richtig einmalig war die 35-mm-Filmkopie: vollkommen ausgewaschen, rotstichig, mit permanenten tiefen Kratzern und teils so schweren Beschädigungen, dass man in manchen Momenten einen Filmriss erwartete.
Meine zweite Sichtung von „The Shining“ war also ein großartiges, einmaliges, und wirklich niemals wiederholbares Erlebnis. Manch Schock-Effekt wurde zwar dank der Verfremdung der schlechten Kopie minimal gedämpft, doch nur im Kino kann man wohl erleben, was für ein PHÄNOMENAL LAUTER Film „The Shining“ eigentlich ist.
Mir ist übrigens aufgefallen, dass auf der roten Männer-Toilette eine Toilettenschüssel im Hintergrund viel zu nahe an der Trennwand der Kabine montiert ist, und daher – zumindest für große Geschäfte – unmöglich nutzbar wäre. Sehr irritierend! Sehr beunruhigend!



... ... zum ersten Mal in meinem Leben das Kino um vier Uhr morgens verlassen. Gehirn fühlt sich wie Matschepampe an. Füße und Knie ebenso. Ins Bett gekommen um 04.30 Uhr, jedoch noch eine Stunde gebraucht, um einzuschlafen...


Samstag 27. Oktober 2012

Das diesjährige Viennale-Tribute befasste sich mit Michael Caine und zeigte zehn Filme des charismatischen britischen Schauspielers. Zwei von ihnen sollten jeweils den Einstieg in den Tag bilden.


12.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Hannah And Her Sisters
USA 1986, 105 Minuten
Regie: Woody Allen

Ein typischer 1970er- und 1980er-Jahre Woody-Allen-Film: es wird massenweise geredet (über Sex, Neurosen und den ganzen üblichen Rest), zwischendurch die Bettpartner gewechselt, es gibt ein bisschen Lustiges, ein bisschen Trauriges, und das ganze plätschert in kleinen Episoden nett vor sich hin. Manch begeistertes und überschwängliches Kritikerlob für Woody Allen kann ich nicht so recht nachvollziehen. Im Kino „Hannah And Her Sisters“ auf einer 35-mm-Kopie zu sehen, war nichtsdestotrotz ein nettes Erlebnis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!


Club-Mate wird auch in Österreich verkauft, wenngleich etwas überteuert. Eine willkommene Pause zu den ganzen üblichen doppelten Espressi.


14.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Sinapupunan (Thy Womb)
Philippinen 2012, 106 Minuten
Regie: Brillante Mendoza

Eine nicht mehr blutjunge Geburtshelferin in einem philippinischen Fischerdorf ist selbst unfruchtbar und fordert ihren Mann dazu auf, sich eine neue Ehefrau zu suchen, die ihm Nachwuchs gebären kann.
Was zunächst narrativ, atmosphärisch und ästhetisch eher wackelig beginnt, entwickelt sich nach einiger Zeit zu einem exzellenten ethnographischen Tableau über Glück und Mühen des Lebens in einem isolierten Fischerdorf. Man könnte, wie etwa mein lieber Kollege luzifus, bedauern, dass der Film über weite Strecken und ganz besonders im Mittelteil seine „eigentliche Story“ und sogar seine beiden Hauptfiguren vergisst. Dieser Verlust des Fokus kann aber auch als große Chance begriffen werden, als Möglichkeit, ein umfassendes Panorama dörflichen Lebens in Südostasien in sorgfältig komponierten Weitwinkelbildern zu entfalten. Den Höhepunkt bildet die lange Vorbereitung einer Hochzeitsfeier (wohlgemerkt: nicht der männlichen Hauptfigur, sondern eines unbekannten jungen Paars) und ihre Durchführung: Einkaufen am Markt, Schlachtung der Tiere, Kochen, die religiöse Vermählung, Baderitual im Meer, die Tanz- und Sing-Zeremonie... Entrückt schöne Bilder aus einer anderen Welt. Ganz ruhig nimmt dann der Film seinen „eigentlichen“ roten Faden wieder auf.
Nebst der wunderbaren Photographie, deren zeitweilige Wackelästhetik allein der Tatsache geschuldet ist, dass der Film entweder in Booten oder auf wackligen Pfahlhütten spielt, sei hier besonders die großartige Darstellung der berühmten philippinischen Schauspielerin Nora Aunor erwähnt. Sie verleiht mit ihrem differenzierten Spiel der Figur der kinderlosen Geburtshelferin und Fischerin eine besondere Würde und Willensstärke. Ein sehr sperriger, aber schöner Film.


Dank der unbequemen Sitze herrscht kurz nach dem Film eine gewisse Unsicherheit darüber, ob ich überhaupt noch Knie und Beine besitze. In die Pause raustorkelnd lässt sich die Frage knapp bejahen. Wir nehmen uns vor, den nächsten Film mit Beinfreiheit in der ganz ersten Reihe zu sehen.


17.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Meanwhile
USA 2011, 60 Minuten
Regie: Hal Hartley

Ups! Wenn man ganz vorne sitzt, ist die Leinwand wirklich riesig. Dürfte aber zu einem kurzen Film passen.
Hal Hartley, eine Gallionsfigur des US-amerikanischen Independent-Kinos der 1990er Jahre, zeigt knapp 24 Stunden im Leben eines End-Dreißiger New Yorkers. Er fliegt aus der Wohnung seiner erheblich jüngeren Freundin raus, unterhält sich an der Brooklyn Bridge mit einer möglicherweise suizid-gefährdeten Frau, kann aufgrund einer Kontensperrung kein Geld abheben und streitet sich deshalb mit einer Gläubigerin, repariert die Schreibmaschine eines Schriftstellers in einer Bar, plant ein großes Geschäft um den Import europäischer Isolierfenster, bietet chiropraktische Hilfestellung an, tritt als Schlagzeuger bei einer Band-Audienz auf und macht noch diverse andere Sachen. Einen Roman mit dem Titel „Meanwhile“, der mindestens um die 700 Seiten hat, hat er auch schon geschrieben.
„Meanwhile“ war gewissermaßen das Gegenstück zu „Vous n‘avez encore rien vu“, der alles verkörperte, was man an Kunstkino hasst. Hartley Film hat hingegen vieles, was wir an Kunstkino mögen: eine augenzwinkernde Leichtigkeit, eine Freude am Filmemachen und an skurrilen Figuren sowie eine Bereitschaft, die Dinge einfach mal assoziativ geschehen zu lassen. Das wirkte nicht zuletzt deshalb erfrischend, weil der Film sich selbst nicht allzu ernst nimmt, und dem Zuschauer gerade deshalb erlaubt, ihn für voll zu nehmen. Vom Mut, nach einer Stunde einfach mal fertig zu sein, könnte sich manch Film eine Scheibe abschneiden. Kein unvergessliches Meisterwerk, sondern eher der nette kleine Indie-Film von nebenan (und mit nebenan meine ich natürlich: New York).


Die Beine und die Knie sind für die tolle Idee, mich in der ersten Reihe hinzusetzen, höchst dankbar. Der Nacken möchte mich hingegen am liebsten umbringen. So was nennt man wohl ausgleichende Ungerechtigkeit.
Auf dem Weg zum bislang noch unbekannten Stadtkino habe ich auf Anraten von luzifus eine Käsekrainer gegessen. Dazu ein Gösser getrunken. Es stellte sich als eine gute Möglichkeit heraus, sich für den nächsten Film zu stärken. Getrübt wurde diese Erhebung lediglich durch den wieder einmal völlig depperten Preis für Wurst und Bier und durch die Tatsache, dass Löcher in meinen Sohlen der Trockenheit meiner Füße in einem überaus regnerischen Wien nicht gerade zuträglich waren.
Auch das Stadtkino drückte mit seinen sanitären Einrichtungen das psychopathologische Malaise der Österreicher gegenüber ihren Toiletten aus, der dem demonstrativen Wienerischen Prunk diametral entgegensteht.


20.30 Uhr, Stadtkino Wien
Student
Kasachstan 2012, 90 Minuten
Regie: Darezhan Omirbayev

Es lässt sich nicht leugnen. Sowjetisches bzw. postsowjetisches Kino hat eine komplett eigene Ästhetik, die sich nur schwer erklären lässt. Verzicht auf Dialoge, absurde Situationen, unverständliche Handlungen ohne Motive und eine Kadrierung, die nur selten das zeigt, was man zu sehen erwartet...
Auch „Student“, der sechste Film des Kasachen Darezhan Omirbayev, weist diese Merkmale auf. Sein Anspruch war es, Dostoevsjkijs „Schuld und Sühne“ auf das moderne Kasachstan zu übertragen. Der titelgebende Student ist von der Transformation der Gesellschaft angeekelt: sozialdarwinistischer Egoismus wird in den Vorlesungen gepredigt, bullige Mafiosi prügeln sich herbei, was sie wollen, während Dichter und Denker in Sozialwohnungen am Rande des Existenzminimums darben. Dass der Student ausgerechnet einen unbedeutenden Kleinladen-Verkäufer und eine junge Kundin erschießt, erscheint völlig sinnlos. Von seinen Motiven erfahren wir nichts, da er von seiner Umwelt so stark entfremdet ist, dass er kaum mit ihr spricht – tatsächlich dürfte der Hauptdarsteller in 90 Minuten vielleicht allerhöchstens zwei mit Großbuchstaben bedruckte A4-Seiten an Dialogzeilen haben. Ein bizarrer und teils verstörender Film: eine Szene, in der ein Gangster mit einem Golfschläger einen Esel erschlägt, der sein Auto aus einem Flussbett gezogen hat, mutet wie viele andere wie absurdes Theater an. Trotzdem vermag „Student“ es nicht, einen mit ungebrochener Anspannung durch die ganzen 90 Minuten hindurch zu fesseln.


Auf dem Weg zum Gartenbau-Kino zurück geht der ohnehin feuchte Regen in ekelhaft matschig-nassen Schneeregen über. Die nassen Füße sorgen für eine entsprechende Stimmung und für die schlechteste Vorbereitung zum Abschlussfilm des Tages.


23.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Che Sau (Motorway)
Hongkong 2012, 90 Minuten
Regie: Soi Cheang

Ein Gangster spielt gerne mit Autos rum. Ein Polizist spielt ebenfalls gerne mit Autos rum, und sein älterer Streifendienst-Partner hat das früher auch gemacht. Dann gibt es irgendeine Flucht aus dem Gefängnis, bei der irgendein geklauter Diamant auch noch eine Rolle spielt.
Mit anderen Worten: das Drehbuch von „Che Sau“ kann man getrost in die Tonne kloppen. Auch die Figuren sind nur holzschnittartige Klischees und daher nur wenig interessant. Bleibt also die Autoverfolgungsjagd-Action. Tatsächlich stellt sich heraus, dass auch da der Regisseur keinen richtigen Bock hatte und die Arbeit einfach seiner anscheinend hyperaktiven Cutter-Crew überlassen hat. Der „Höhepunkt“ des Films ist die wahrscheinlich lächerlichste, dämlichste, bescheuerteste, unansehnlichste, unvisuellste und vor allen Dingen unübersichtlichste Autoverfolgungsjagd aller Zeiten. Ein völlig konsternierender Tagesabschluss. Dabei hatte ich mich so auf einen Autoverfolgungsjagd-Hongkong-Actioner gefreut...


Sonntag 28. Oktober 2012

Die Zeit habe ich umgestellt und wollte anschließend meinen Tagesplan über die Presse-Reservierungshotline zusammenstellen. Von 10.00 Uhr bis kurz vor 11.00 Uhr habe ich wohl mindestens ein Dutzend mal angerufen, nur um das Besetzt-Zeichen zu hören. Und genau an diesem Morgen ist mir aufgefallen, wie absurd schlecht die Viennale organisiert ist. Sogar der City-Pizza-Lieferdienst in Weimar ist mit zwei Nummern besser aufgestellt als der Presse-Service des Internationalen Filmfestivals Wien. Dies sollte sich später am Tag noch an mir rächen.


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
The Quiet American
USA/UK/Australien/Deutschland/Frankreich 2002, 101 Minuten
Regie: Phillip Noyce

Trotz zweier Kaffees intus schaute ich diesen Film mehr in einem dauerhaften Dämmerzustand als wirklich wach. Vielleicht angesichts der tropischen Hitze, des permanenten Saufens, der schwülen Liebesgeschichte und der bedrückenden politischen Lage gar nicht so unpassend. Ein Film, der meiner Meinung nach aus seinem Setting durchaus mehr hätte tun können und letztlich vor allem von der exzellenten Darstellung und der Dynamik seiner beiden Hauptdarsteller Michael Caine und Brendan Fraser lebt.


Ein Dürum-Döner, anschließend ein doppelter Espresso. Hunger gestillt. Müdigkeit nur oberflächlich angekratzt.
„They Wanted To See Something Different. Eine kleine Geschichte des Unheimlichen“ hieß bei der diesjährigen Viennale ein Spezialprogramm mit Retrospektiven-Charakter, der vom deutschen Horrorfilm-Regisseur und Filmkritiker Jörg Buttgereit vorbereitet worden ist. Unter anderem sollten Beispiele des „Kinos des Abseitigen“ wie „Cannibal Holocaust“, „The Hills Have Eyes“, „The Texas Chain Saw Massacre“ und andere gezeigt werden, die in der ganzen Welt als Klassiker gelten, in Deutschland aber teils indiziert bzw. beschlagnahmt sind. Die Terminplanung brachte uns zu einem anderen Film.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
The Thing From Another World
USA 1951, 87 Minuten
Regie: Christian Nyby

John Carpenters Splatter-Horror „The Thing“ von 1982 ist das Remake dieser Howard-Hawks-Produktion. Die Geschichte ist bekannt: ein komischer Außerirdischer taucht in einer Eisstation auf und randaliert rum.
Angeblich ist der Film deshalb so berühmt, weil man das Monster kaum je sieht. Tatsächlich taucht der Mann im lächerlichen Kostüm etwas zu oft auf. Der Rest des Films sieht bzw. hört sich wie die Adaption eines Hörspiels. So unfassbar dialoglastig und unvisuell er war, lud er dazu ein, seine Augen zu schließen und dem Sekundenschlaf nachzugeben. Ed Wood-Filme sind vielleicht noch erheblich unkohärenter, aber wenigstens sehr viel unterhaltsamer!


„Was hätte sein können, Teil 1“: nach „The Quiet American“ wäre wahrscheinlich für ein Dürum und ein Espresso keine Zeit mehr geblieben, da wir zum Gartenbau-Kino hätten rennen müssen, um folgendes zu sehen:


13.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Donovan‘s Reef
USA 1963, 109 Minuten
Regie: John Ford

Die Vorstellung, einen John-Wayne-Film von John Ford auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino zu sehen, entbehrt nicht eines gewissen Reizes... um es mal im Sinne eines Understatements auszudrücken. Nicht zuletzt terminliche Gesichtspunkte haben für „The Thing From Another World“ gesprochen, aber auch natürlich die relative Bequemlichkeit der Sitze im Metro-Kino und der ganz eigene Reiz, einen Sci-Fi-Klassiker mit Trash-Elementen auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino sehen zu können. Im Nachhinein ist man immer klüger!


Aufgrund der vorher geschilderten Reservierungsprobleme kamen wir für eine geplante Vorstellung im Urania-Kino um 16.00 Uhr nur auf die Warteliste. Ich war die Nummer 6, luzifus die Nummer 7. Um 15.55 wurde die Liste aufgerufen und die Tickets verteilt... und zwar bis zur Nummer... 5! Die beiläufige Bemerkung der Mitarbeiterin, dass wir hätten reservieren müssen, führte fast zum Amoklauf: unter Schlafmangel leidende Filmfreaks, die durch einen Overkill an Filmen und einer Überdosis an starkem Kaffee völlig zugedröhnt sind, sollte man eigentlich nicht so freimütig provozieren. Das Niederbrennen des Urania-Kinos erschien uns als Rache zwar ganz sinnvoll, zumal hier völlig überdimensionierte, ewig lange und verschwenderisch prunkvolle Treppen wieder einmal zu Toiletten führten, die das Wort Klaustrophobie neu definiert haben. Wir suchten dann aber doch nach weniger gewalttätigen Alternativen. Während luzifus für Fäkalstreiche optierte, entschied ich mich für die dadaistische Variante: ich überlegte, bei City Pizza Weimar eine Bestellung für das Urania-Kino in Wien aufzugeben. Was schließlich folgte, war ein Aufenthalt in unserem Lieblingscafé bei starkem Kaffee und leckerem Kuchen. Leider auch keine richtige Alternative zu „Was hätte sein können, Teil 2“:


16.00 Uhr, Urania-Kino Wien
Killer Joe
USA 2011, 103 Minuten
Regie: William Friedkin

Am 2. November erscheint der Film in Deutschland auf DVD und Blu-Ray. Insofern zeugt auch „Killer Joe“ davon, dass die Viennale nicht immer das Allerfrischeste an Filmen präsentiert. Eine überaus sprachgewaltige, metaphernreiche  und lustmachende Kritik, die wir im Zug in Richtung Wien gelesen hatten, versprach jedoch ein lustig-durchgeknallt-krankes Kinovergnügen. Stattdessen also: bis bald auf DVD.


18.30 Uhr, Filmmuseum Wien
Man Hunt
USA 1941, 100 Minuten
Regie: Fritz Lang

Noch einmal etwas mit Lang und Nazis. Diesmal dreht sich die Geschichte um den Briten Thorndike, der an der deutsch-österreichischen Grenze mit einem Zielfernrohr-Jagdgewehr unterwegs ist und Adolf Hitler ins Visier nimmt (ein früher und spannender POV durch ein Fernrohr mit Fadenkreuz). In Gefangenschaft geraten, wird der Jäger gefoltert und dazu animiert, ein Geständnis zu unterschreiben, wonach er im Auftrag der britischen Regierung Hitler ermorden sollte. Dies lehnt er ab und kann schließlich fliehen. Doch die Nazis heften sich dicht an seine Fersen.

Ein eher unbekannterer Film des Meisters, der wegen seiner eindeutigen Anti-Nazi-Haltung in den damals noch neutralen USA nur ungern gesehen wurde, zumal auch noch das Production Code Office an der Figur der Prostituierten, die Thorndike bei der Flucht hilft und sich in ihn verliebt, Anstoß nahm. Eine Nähmaschine musste also in ihr Zimmer gestellt werden, damit der Zuschauer sie für eine Näherin hielt!
Ganz ohne die großen Ambitionen von „Hangmen Also Die!“, der vergleichsweise sperriger ist, inszenierte Fritz Lang hier einen überaus spannenden Hetzjagd-Thriller, der von den herrlichen komödiantischen und romantischen Szenen mit der Cockney-sprechenden Prostituierten aufgelockert wird – teilweise gar zu stark. Was an psychologischen Tiefgang fehlt, macht Lang mit seinen kontrastreichen Hell-Dunkel-Kompositionen wieder wett. Der Action-Höhepunkt ist eine Verfolgungsjagd in der Londoner U-Bahn, die mit einem tödlichen Kampf auf der Fahrtbahn endet. „Man Hunt“ ähnelt ein wenig dem ein Jahr zuvor präsentierten „Foreign Correspondent“ Alfred Hitchcocks, und sollte den Vergleich keineswegs scheuen.


Vor dem nächsten Fritz-Lang-Film mit Hitchcock-Vergleichs-Potential ging es in eine eisige Kälte raus, um bei einer Würstchen-Bude um die Ecke den cinephilen Hunger zu stillen. Ein Filmmuseum-Espresso später konnte es dann auch weiter gehen.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Secret Beyond The Door
USA 1947, 99 Minuten
Regie: Fritz Lang

Blaubart trifft auf Fritz Lang trifft auf Hitchcocks „Rebecca“: Eine junge Frau in Trauer namens Celia – sie hat gerade ihren Bruder verloren – heiratet Hals über Kopf den dahergelaufenen Architekten Mark. Schnell merkt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist: die Hochzeitsnacht läuft im weitesten Sinne „unbefriedigend“, Mark verheimlicht seine geschäftlichen Probleme, in seinem Anwesen tauchen plötzlich skurrile Figuren wie eine überaus dominante Schwester, ein nicht erwähnter Sohn aus erster Ehe, eine Sekretärin mit entstelltem Gesicht sowie der Geist einer wohl nicht ganz natürlich verstorbenen ersten Ehefrau auf und der Ehemann sammelt gerne Zimmer, in denen berühmte Morde stattgefunden haben. Kein Wunder, dass in jeder Szene mindestens einmal ein Schatten Joan Bennetts Gesicht verdeckt.

„Secret Beyond The Door“ ist ein Film, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass mehr dahinterstecken könnte oder sollte. Tatsächlich sollte ursprünglich das Voice-Over von Celias innerer Stimme nicht von der Celia-Darstellerin Joan Bennett gesprochen werden, sondern von einer anderen Frau, um damit die Zerrissenheit der Hauptfigur auf beunruhigendere Weise deutlich zu machen. Auch der Schluss vermag angesichts seiner fast konsternierenden Banalität kaum zu überzeugen. Dies wiegt umso mehr, als dass der konsequent aus der Sicht Celias erzählte Film etwa 20 Minuten vor Schluss – nach einer Bedrohungssituation mit offenem Ende – die Perspektive radikal ändert und Mark zum Erzähler macht. Für einige wahrhaftig großartige Minuten verläuft „Secret Beyond The Door“ in einer Art schlafwandlerischen und verrückten Autopilot voller Ambivalenzen, löst sich dann aber leider wieder in Wohlgefallen auf, statt konsequenter und mutiger im kompletten Wahnsinn zu enden.
Aus dem Vergleich mit dem thematisch und atmosphärisch sehr ähnlichen „Rebecca“ (der sich freilich ebenso am Schluss in Wohlgefallen auflöst) geht „Secret Beyond The Door“ eindeutig als Verlierer hervor. Zurück bleibt kein schlechter Film, aber einer, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass er sein Potential nicht ausgenutzt hat. 


Antriebslos und müde raus. Was nun?


23.30 Uhr, Urbania-Kino Wien
Gimme The Loot
USA 2012, 81 Minuten
Regie: Adam Leon

Was es so mit „Gimme The Loot“ auf sich hat, habe ich vorerst nicht erfahren. Er hätte als letzte Spätvorstellung noch gut gepasst. Müdigkeit und unsichere U-Bahn-Pläne haben letztlich dazu geführt, dass die letzten physischen Ressourcen für die Suche nach einer Kneipe verwendet wurden... für ein überteures und nicht übermäßig gutes Bier... Gute Nacht und wieder aufstehen um 07.00 Uhr, diesmal für die Heimfahrt.


Fazit
Insgesamt hatte ich ein bisschen mehr von der Viennale erwartet. Richtige Knaller jenseits der Retrospektiven sind im Grunde ausgeblieben und irgendwie blieb das unangenehme Gefühl, dass der beste aktuelle Film dieser Reise... „Skyfall“ war. „Sinapupunan“, „Meanwhile“ und „Student“ waren bestimmt sehr interessante Filme, die jedoch eine Reise von über 700 Kilometern (bzw. über 1500 Kilometern mit Rückfahrt) nicht vollends zu rechtfertigen vermögen. Der Anteil der absoluten Totalgurken war mit einem Film pro Tag gut sichtbar, während das wohlige Gefühl, mehrere Filme auf 35-mm-Kopien zu sehen, meine subjektive Bewertung der Filme selbst oft übertraf – von „The Shining“ abgesehen. Ich kann mich jedoch sehr über meine Fortschritte im Bereich des „Amerikaners Fritz Lang“ freuen. Vor drei Jahren hätte ich mich wohl noch zu der blödsinnigen, banausigen und vorurteilsbeladenen Aussage verführen lassen, dass Fritz Lang in den USA nur noch Grütze inszeniert hat. Im Rahmen einer persönlichen film noir-Retrospektive habe ich dieses Jahr mit „Scarlet Street“ und „The Big Heat“ einen überaus interessanten und spannenden Fritz Lang jenseits von „Metropolis“ und „M“ entdeckt. Die vier bei der Viennale gesichteten Langs haben meine Absicht bekräftigt, mich mehr mit seinen „Amerikanern“ zu beschäftigen, die schließlich quantitativ fast zwei Drittel seines Oeuvres umfassen. Das ist immerhin etwas. Eine Wiederholung der Reise dürfte also vom Retrospektiven-Programm abhängen... denn Wien wird bis dahin nicht günstiger werden und seine Toiletten wahrscheinlich nicht geräumiger.