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Montag, 2. April 2018

Ménage à trois in Moskau

TRET‘JA MEŠČANSKAJA („Bett und Sofa“)
UdSSR 1927
Regie: Abram Room
Darsteller: Ljudmila Semënova (Ljudmila Semënova, genannt Ljuda, die Ehefrau), Nikolaj Batalov (Nikolaj Batalov, genannt Kolja, der Ehemann), Vladimir Fogel‘ (Vladimir Fogel‘, genannt Volodja, der Freund)


Wer an den sowjetischen Film der 1920er Jahre denkt, der denkt oft an Eisenstein, Pudovkin, Dovženko, Vertov, an revolutionäre Menschenmengen in sorgfältig choreografierten Massenszenen, sieht avantgardistische, formalistische Montage-Experimente, sieht Filme, die sich in den Dienst der Russischen Revolution stellen, ob „guten“ oder „schlechten“ Wissens (der realsozialistische Staat der Bolschewiki war von Anfang an gewalttätig und repressiv)…
Das ist natürlich eine extrem grobe Vereinfachung. Jeder einzelne Eisenstein-Film ist einzigartig, Pudovkin und vor allem Dovženko brachten bei allem politischen Input auch Zärtlichkeit für individuelle Figuren und pure visuelle Poesie in ihre Filme. Kulešov verband scheinbaren Anti-Amerikanismus mit einer Begeisterung für die Mechanismen des US-amerikanischen Slapsticks. Und der exzentrische Regie-Aussenseiter Boris Barnet begann seine Karriere schon Ende der 1920er Jahre (über dessen frühe Filme kann ich allerdings nichts sagen – seinen außergewöhnlichen Musical-Liebesfilm U SAMOGO SINEGO MORJA, „Am blauesten aller Meere“, erschuf er 1936, zu Beginn des Großen Terrors; eine fast utopische Gegenwelt zu seiner Entstehungszeit).
TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist dennoch der wahrscheinlich außergewöhnlichste sowjetische Film der 1920er Jahre, den ich bislang gesehen habe*. Derjenige, der mir am meisten als Anomalie in seinem Entstehungskontext erscheint: eine Mischung aus erotischer Screwball-Komödie und Melodrama über eine Dreiecksbeziehung. Ein Film, der sich nicht für (oder auch gegen) die Sowjetunion und die Revolution positioniert, sondern einfach Alltag Alltag sein lässt. Ein Film, der von seiner ganzen unbändigen Begeisterung, seiner ganzen grenzenlosen Zärtlichkeit nicht ein einziges Quäntchen an den sowjetischen Staat und die Revolution überlässt, sondern alles voll und ganz seinen Figuren gibt.

*(Kleiner Hinweis: das will natürlich nicht viel heißen. Ich bin kein Spezialist für das sowjetische Kino der 1920er Jahre oder auch der späteren Zeit. Aus den jeweiligen Jahrzehnten und von den „großen“, „wichtigen“ oder alternativ auch „wiederentdeckten“ Regisseuren kenne ich jeweils nur einige Filme.)

Die Eheleute Nikolaj und Ljudmila, er Bauingenieur, sie Hausfrau, leben in einer recht kleinen Wohnung in der titelgebenden Dritten Kleinbürgerstraße. An einem schönen Samstag-Nachmittag liest Nikolaj auf der Straße seinen ehemaligen Bürgerkriegskameraden Vladimir auf und lädt ihn nach Hause ein. Aufgrund des Mangels an Wohnraum schläft der gelernte Drucker erst einmal bei Nikolaj und Ljudmila auf dem Wohnzimmer-Sofa. Eines Tages muss Nikolaj unverzüglich zu einer mehrtägigen Dienstreise wegfahren. Vladimir führt während Nikolajs Abwesenheit Ljudmila aus. Die beiden kommen sich näher und schlafen schließlich miteinander. Als Nikolaj nach mehreren Tagen zurückkehrt, ist Vladimir vom Sofa in das Ehebett umgezogen. Der gehörnte Ehemann steht erst einmal dumm da, geht für kurze Zeit weg – und kommt schließlich wieder, weil das Sofa als Schlafstätte doch bequemer ist als der Schreibtisch im Ingenieursbüro. Wenn Ljudmila und Vladimir drei Meter weiter etwas zu lautstark Sex haben, muss sich Nikolaj eben ein Kissen aufs Ohr drücken. Der etwas peinlichen Situation zum Trotz bleiben die beiden Männer gute Freunde und arrangieren sich mehr oder weniger mit der Lage. Ljudmila jedoch geht das zunehmend herrische Ehemann-Gehabe ihres „neuen Mannes“ Vladimir immer mehr auf die Nerven, während ihr Ex (der vor der Ankunft Vladimirs genauso herrisch und dauermeckernd drauf war) ihr zunehmend wieder netter erscheint. Also nimmt sie sich wieder Nikolaj ins Bett und verbannt Vladimir zurück auf das Sofa. Wenige Monate später merkt Ljudmila, dass sie schwanger ist und sehr rasch ist klar, was getan werden muss: sie wird das Kind abtreiben. Die Kosten sollen natürlich durch drei geteilt werden, da ja nicht sicher ist, wer der Vater ist. In der Abtreibungsklinik bekommt es die schwangere Hausfrau mit der Angst zu tun, sieht zumal auch noch fröhlich spielende Kinder im Innenhof, die sie zum Nachdenken bringen. Kurz bevor sie mit der Operation dran ist, flüchtet sie, stürmt nach Hause, wo sie ihre Sachen packt, eilt dann zum Bahnhof, um Moskau zu verlassen. Sie wird weiter im Osten ein freies Leben führen, wo sie das Kind allein erziehen und (wieder?) arbeiten wird. Nikolaj und Vladimir bleiben mit Ljudas Abschiedsnotiz alleine zurück, sehen ein, dass sie sie beide nicht besonders gut behandelt haben – und werden erst mal weiter zusammen wohnen und ab und zu gemeinsam einen Tee trinken.


Wo fang ich jetzt am besten an? Die ersten wenigen Minuten versprechen bereits einen großartigen Film und dieses Versprechen wird sehr großzügig eingelöst. TRET‘JA MEŠČANSKAJA beginnt mit drei Personen, zwei Geschwindigkeiten und einer Stadt.
Ein Zug rast durch die Landschaft. Darin sitzt unter anderem Vladimir, offenbar voller Hoffnungen auf die Möglichkeiten, die Moskau bieten wird. Pure Bewegung. Dann ein Blick auf Moskau, noch still am frühen Morgen – und in die noch schlafende Dritte Kleinbürgerstraße. Nikolaj, Ljudmila und ihre Hauskatze wachen langsam auf, während der Zug weiter nach Moskau rast. Stehen auf und waschen sich dann (alternativ am Wasserhahn und unter einem umfunktionierten Samowar) – genau so wie Stadt einer gründlichen Reinigung (allerdings mit dem Hochdruckreiniger) unterzogen wird und dabei allmählich erwacht. Frühstück – während Vladimir schon die Moskauer Straßen erkundet.
Die Einführung der drei Hauptfiguren und der Stadt Moskau (letztere fast schon als kleine Stadt-Sinfonie) ist so atemberaubend wie zauberhaft. Eine kleine bittere Note gibt es dennoch: Nikolaj meckert beim Frühstück mehrmals wegen kleiner Lappalien rum, kommandiert seine Frau etwas zu selbstherrlich herum und verabschiedet sie mit der Erinnerung, dass heute Samstag sei und sie mal wieder den Boden wischen könnte. Kolja ist sichtlich kein böser Mensch, aber ganz offensichtlich merkt er nicht, wie unangenehm er sich manchmal gegenüber seiner Frau benimmt. Die Ehe der beiden ist nicht vollkommen dysfunktional, aber es häufen sich doch mehrere kleine Dinge, die Ljuda sichtlich auf den Geist gehen (was sich später rächen wird).


Mit dem rasenden Zug fährt der tatenlustige Vladimir nach Moskau;
Nikolaj und Ljudmila wachen in ihrer kleinen Wohnung erst auf
Nach dem Aufstehen waschen sich erst einmal alle!

TRET‘JA MEŠČANSKAJA kann man eigentlich ohne Umschweife als Sex-Komödie, als commedia sexy alla russa bezeichnen (freilich natürlich die Überdrehtheit der über vierzig Jahre später kommenden italienischen Filme). Die Darstellung von Sex wird jedem Zuschauer, der sich daran erinnert, dass wir es mit einem Stummfilm von 1927 zu tun haben, der zumal auch in der Sowjetunion gedreht wurde, die Kinnlade runterklappen lassen. Vielleicht zunächst zu den „Fakten“. Vladimir führt also Ljuda aus: Flugzeugfliegen, dann ins Kino. Später sind sie wieder zuhause. Das Gespräch gerät ein wenig ins Stocken, als er ihr sagt, dass sie schön sei und ihr Gesicht kurz streichelt. Sie geht an den Tisch und fängt an, Karten zu legen. Er macht mit, und offenbar wirkt Kartenlegen bzw. ein Scheingespräch über Astrologie aphrodisisch, denn irgendwann fängt Ljuda an, Vladimir zärtlich anzusehen, schließlich gar mit einem absolut lustverzehrten Blick. Vladimir zieht die Karten, legt den Karo-König zunächst neben die Herz-Dame, überlegt es sich anders und legt ihn dann verkehrt (also „Körper auf Körper“) auf die Herz-Dame drauf. Diesen eindeutigen Vorschlag finden offenbar beide ganz gut, und setzen ihn dann auch gleich um...


Die Begrüßung zwischen Ljuda und Volodja ist zunächst kühl...
doch nach einem gemeinsamen Flugzeugausflug und einem Film kommen sie sich näher...
...beim Kartenlegen wird klar, was sie jetzt tun wollen.
(Oben rechts: der Blick, den Ljuda auf Volodja wirft, ist pure, unverstellte Lust!)
Nach der Rückkehr Nikolajs, als Vladimir im Ehebett schläft und der gesetzliche Ehemann auf dem Sofa, wollen die beiden eines Nachmittags nach einer Partie Dame Tee trinken (sie unternehmen überhaupt vieles miteinander, ohne Ljuda einzubeziehen). Kolja geht Brötchen kaufen, während Volodja den Tee zubereiten soll, doch als er vom Bäcker zurückkehrt, „erwischt“ er seinen Bürgerkriegskameraden und seine Gattin bei einer ziemlich eindeutigen Beschäftigung: das Bett wird von der spanischen Wand verdeckt, über die die Kleidung gelegt ist, aus der Tülle einer überhitzten Teekanne schießt Dampf heraus und Nikolaj schaut ziemlich unbegeistert aus der Wäsche. Da er sich nicht in ein anderes Zimmer zurückziehen kann, legt er sich eben auf das Sofa und drückt sich ein Kissen auf‘s Ohr.
Die gleiche Szene wird später mit Vladimir „gespiegelt“, als er wieder der Sofa-Nutzer ist. Da schießt allerdings kein Dampf aus einer phallisch geformten Tülle, sondern man sieht eine Wasserkaraffe, deren Inhalt hin- und herschwapppt. Vladimir kommt allerdings rasch auf die gleiche Lösung: sich seitlich auf das Sofa legen, Kissen auf das freie Ohr.


Unter den wachsamen Augen Budjonnys und zweier Schwäne vergnügen sich Ljuda und Volodja
...sehr zum peinlichen Missfallen Koljas
Natürlich: die 1920er Jahre waren international wesentlich sexier als die 1930er Jahre, als die Filmzensur mächtig anzog (in den USA das Breen Office, in Deutschland die Nazis, in der Sowjetunion der Stalinismus). Das Besondere bei TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist allerdings nicht nur die völlig entwaffnende Offenheit, die absolute Unmittelbarkeit, sondern auch die völlige Entspanntheit, ich würde fast schon sagen die Unschuld und Naivität. Sex ist in TRET‘JA MEŠČANSKAJA nur Sex: keine politische Befreiungsagenda (wie vielleicht in manch Filmen um die 1968er), kein zwischenmenschliches oder politisches Macht- und Unterwerfungsmittel (wie im film noir oder bei Paul Verhoeven), keine Externalisierung innerer Schmerzen und Entfremdungsgefühle (wie vielleicht bei Oshima) – sondern nur eine so fröhliche und wie flüchtige Vereinigung.

Vielleicht gerade mit dieser „Unschuld“ im Blick sollte man auch die unterschwellige Homoerotik des Films deuten. Der Gedanke, dass zwei sowjetische Männer, der eine Facharbeiter, der andere vielleicht ein ehemaliger Arbeiter, der durch die erweiterten Chancen des sowjetischen Weiterbildungssystem zum Ingenieur wurde, sich mit einem traditionellen Bruderkuss der sozialistischen Arbeiterbewegung begrüßen, ist nicht völlig abwegig. Aber wie herzlich sich Nikolaj und Vladimir doch küssen!
Ljuda zieht sich zu Beginn des Films gerade um, als plötzlich unvermittelt ein fremder Mann in der Wohnung steht. Das sei doch Fogel‘, stellt ihr Kolja, der erst als zweiter eintritt, den Unbekannten vor. Mit ihm habe er sich im Bürgerkrieg einen Mantel geteilt, und um das zu unterstreichen, drückt er seinem ehemaligen Kavallerie-Kameraden einen dicken, herzlichen Schmatzer auf die Lippen. Als Nikolaj, erst einmal völlig unwissend, später von seiner Dienstreise zurückkehrt, tritt er unbemerkt in die Wohnung ein, schleicht sich an Vladimir heran und hält ihm von hinten die Augen zu. Vladimir dreht sich darauf hin um und küsst Nikolaj leidenschaftlich. Das ist fast schon ein klassischer Hitchcock‘scher Spannungsmoment: wir wissen, dass Ljudmila und Vladimir miteinander schlafen, Nikolaj also betrogen haben – doch er weiß es nicht. Als sich von hinten Hände auf sein Gesicht legen, denkt Vladimir natürlich, dass es Ljudmila ist und küsst „sie“ sogleich. Nikolaj erwartet sicherlich nicht, dass sich Vladimir umdreht und ihn küsst. Seine Reaktion ist allerdings nicht Erschrecken oder gar eine bittere Erkenntnis (die kommt aber später), sondern er deutet die Situation in aller Unschuld gleich zu seinen Gunsten aus und lacht seinen Freund auf herzliche, keineswegs böse Weise aus – ganz nach dem Motto „Da hab ich dich aber schön veräppelt, nicht wahr?“ Vladimir ist zu erstarrt, um zu reagieren. Ljuda, die das ganze Schauspiel aus dem Hintergrund mit einem sichtlich großen Schrecken beobachtet hat, stimmt herzlich in Koljas Lachen ein. In wenigen Sekunden wird eine hochexplosive Situation durch Lachen entspannt (wenig später folgt dann aber doch die große Offenbarung).


Ein herzhafter und ein unfreiwilliger Bruderkuss

Ich schrieb oben, dass TRET‘JA MEŠČANSKAJA von einer überbordenden Zärtlichkeit für seine drei Hauptfiguren ist. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die Kamera geradezu in die Darsteller „verliebt“ ist: ein wenig in Nikolaj und Vladimir, aber ganz viel in Ljudmila, die trotz ihrer Passivität am Anfang die eigentliche Heldin des Films ist. Ljudmila Semënova wirkt wie die etwas sprödere und fülligere sowjetische Schwester Louise Brooks‘. Sie ist ein Star ohne jeglichen klassischen Glamour, aber auch ohne jegliche „sowjetische Aufladung“: keine Heldin der Revolution, sondern nur eine „normale“ Frau. Das macht sie viel nahbarer als die klassischen Stummfilmschönheiten, bodenständiger, aber nicht weniger attraktiv. Ich habe mich bei beiden bisherigen Sichtungen ein wenig in sie verliebt, und das ist wohl ganz im Sinne des Films. TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist eine Hymne an die ungewöhnliche Schönheit Ljudmila Semënovas und endet auch als Hymne auf die Befreiung ihrer Figur von den Zügeln der klassischen bzw. der Dreier-Ehe.




Semënova, die sowohl im Bereich Theater wie auch im Bereich Film Schauspielausbildungen machte, wurde durch ihre Rolle in ČERTOVO KOLESO des Regie-Duos Trauberg-Kozincev berühmt und zum Star. In deren NOVYJ VAVILON spielte sie 1929 eine Nebenrolle. Nach nur wenigen Rollen zog sie sich Mitte der 1930er Jahre vorerst aus dem Filmgeschäft zurück. Ihre russische Wikipedia-Seite vermerkt, dass sie sich wohl nicht an den Tonfilm zu adaptieren wusste, aber das ist die wohl übliche kolportierte Legende der Stummfilmdarsteller mit den komischen Stimmen (schließlich war sie ja auch ausgebildete Theaterdarstellerin). 1935 heiratete sie einen Offizier der Roten Armee und blieb bis zu seinem Tod während des Kriegs 1943 wohl Hausfrau. Nach dem Krieg übernahm sie ab und zu noch Filmrollen, vor allem aber arbeitete sie im Staatstheater für Filmschauspieler und wirkte am Aufbau des „Hauses der Kinoveteranen“ mit, in dem sie ab 1977 auch lebte. Sie starb 1990 mit 91 Jahren in Moskau.

(Übrigens ein sehr interessanter Fakt: die Figuren des Films heißen mit Vornamen und Nachnamen genau so wie die Darsteller selbst. Selbst der Vatersname stimmt überein. Ljuda wird vom Hausmeister in einem Zwischentitel mit „Ljudmila Nikolaevna“ angesprochen. Spontan fiele mir Marco Ferreris LA GRANDE BOUFFE ein, in dem die Figuren den gleichen Vornamen haben wie ihre Darsteller.)

Das Leben der beiden männlichen Hauptdarsteller war leider wesentlich kürzer und tragischer. Nikolaj Batalov begann in den 1910er Jahren als Theaterdarsteller, unter anderem in Produktionen Konstantin Stanislavskijs. Theaterschauspieler blieb er auch parallel zu seiner Filmkarriere. Seine erste Filmrolle war der Rotarmist Gusev in AĖLITA 1924, seine zweite die des Sohnes in Pudovkins Gorki-Adaption MAT‘. Er spielte die Hauptrolle im ersten sowjetischen Tonfilm PUTEVKA V ŽIZN‘ 1931 (wenn man mich fragt: fürchterlicher, geradezu unerträglicher stalinistischer Melo-Kitsch). Batalov erkrankte in den 1920er Jahren (je nach Quelle 1923 oder 1927) an Tuberkulose, wovon er sich im Grunde nie wieder richtig erholte. Ab 1935 zog er sich vom Schauspiel zurück und machte mehrere Kuren am Schwarzen Meer (und möglicherweise auch in polnischen und italienischen Kliniken). Im November 1937 erlag er seiner Krankheit. Die Beurteilung seines Schauspiels auf seiner deutschen Wikipedia-Seite kann ich nicht widersprechen: „Seine Spielweise zeichnet sich durch Realismus und die warme Darstellung kraftvoller Charaktere aus.“

Noch ein Stück tragischer verlief das kurze Leben Vladimir Fogel‘s. Fogel‘ (Sohn eines deutschen Immigranten namens Vogel), war ein Schüler Lev Kulešovs, der ihm gleich eine Nebenrolle in dem Slapstick-Film NEOBYČAJNYE PRIKLJUČENIE MISTERA VESTA V STRANE BOL‘ŠEVIKOV gab. Für Kulešov spielte er auch in den späteren LUČ SMERTI und PO ZAKONU mit. Der „Erfinder“ des weltberühmten Effekts bezeichnete Fogel‘ als besten Schauspieler seiner Generation. Auch mit anderen Leuten, die an Kulešovs „Mr. West“ mitwirkten, blieb Fogel‘ später verbunden. Mit Pudovkin drehte er noch zwei Filme, mit Boris Barnet drei. Besonders vom Publikum geschätzt wurde sein Talent als Komödiant, auch wenn Kulešov ihn als ernsthaften Darsteller bevorzugte. Fogel‘ litt an an einer psychischen Erkrankung, hatte gegen Ende der 1920er Jahre immer mehr Zusammenbrüche. Im Sommer 1929 beging er mit nur 26 Jahren Selbstmord.


Da ich gerade bei den involvierten Personen bin, mach ich jetzt mal mit dem Regisseur Abram Room weiter. Der gebürtige Wilnaer war von Haus aus Mediziner bzw. studierte zumindest jahrelang Medizin in Petrograd und Saratov. Parallel, oder vielleicht auch kurz nach seinem Studium begann er mit diversen Tätigkeiten im Bereich Theater und Film: Regisseur am Theater Meyerholds, Dozent am VGIK (am Allrussischen staatlichen Kinematografie-Institut). Im französischen Wikipedia-Artikel steht, dass er auch Direktor des Hebräischen Theaters von Vilnius war – da die Stadt ab 1922 zu Polen gehörte, scheint mir das etwas unwahrscheinlich. Über seine erste Filme finde ich nichts Kohärentes, nur sein Bürgerkriegsfilm BUCHTA SMERTI („Die Bucht des Todes“) von 1926 taucht immer wieder auf. TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist zweifelsohne sein berühmtester Film.
Sein PRIVIDENIE, KOTOROE NE VOZVRAŠČAETSJA von 1929 („Der Geist, der nicht zurückkehrt“) ist ein Gefängnisfilm in einem südamerikanischen Setting. In einigen Kommentaren zu dem Film, die ich gefunden habe, ist von atemberaubenden Montage- und Handkamerasequenzen die Rede und von expressionistischen, teils surrealistischen und völlig abstrakten Bildern.
STROGIJ JUNOŠA („Ein strenger junger Mann“) von 1935, ist thematisch offenbar eine Variation von TRET‘JA MEŠČANSKAJA: ein junger Mann verliebt sich in eine ältere Frau, die mit einem berühmten Wissenschaftler verheiratet ist, daraus entsteht eine Art Dreiecksbeziehung. TRET‘JA MEŠČANSKAJA wurde von der sowjetischen Kritik ziemlich einmütig verrissen, STROGIJ JUNOŠA wurde hingegen wegen gravierender „Abweichung vom sozialistischen Realismus“ sogar komplett verboten. In den 1960er Jahren wurde er an Filmschulen vorgeführt und erlebte seine breite Kinopremiere erst 1974. Ein Kommentator bei MUBI meint, dass STROGIJ JUNOŠA Godard und Makavejev um 30 Jahre vorwegnimmt.
Zwei Filme in Rooms Werk dürften zusammen gesehen ein höchst merkwürdiges, dialektisches Double-Feature ergeben. Im Dokumentarfilm EVREI I ZEMLJA („Die Juden und das Land“) von 1927 portraitierte Room jüdische Landwirtschaftskommunen auf der Krim. Der Film entstand im Rahmen der Kampagnen gegen Antisemitismus in den 1920er Jahren: die Sowjetunion war in ihrer frühen Phase einer der wenigen Staaten, die die Bekämpfung von Antisemitismus zu einer offiziellen Staatspolitik machte. Bekanntermaßen änderte sich das in den 1930er Jahren, spätestens aber nach dem Zweiten Weltkrieg, als schließlich der sowjetische Staat eine massive antisemitische Kampagne (gegen „entwurzelte Kosmopoliten“) lostrat, die erst mit Stalins Tod endete. Ein Film mit dem Titel SUD ČESTI („Das Ehrengericht“), der im Februar 1949 Premiere hatte, begleitete und unterstützte die Kampagne im Kino: es ist ein Gerichtsfilm, in dem zwei Wissenschaftler angeklagt werden, die bei einer Auslandsreise aus humanistischen Motiven ihre Ergebnisse im Bereich der Schmerzlinderung mit ausländischen Forschern geteilt haben. Der Regisseur von SUD ČESTI war Abram Room (der selbst jüdischer Herkunft war). Es sollte sein kommerziell und politisch erfolgreichster Film werden: dritter Platz in den sowjetischen „Kino-Charts“ des Jahres, 15 Millionen Zuschauer, durchweg positive Kritiken in der Presse, Stalinpreis.
Ab den 1950er Jahren häufen sich in Rooms Schaffen die Theateradaptionen (nach Gorki, Tschechow sowie einigen unbekannteren Autoren). Sein letzter Film war dann auch die Gorki-Adaption PREŽDEVREMENNYJ ČELOVEK („Ein Mann vor seiner Zeit“). Room starb 1976 in Moskau.
Hier, in der Dritten Kleinbürgerstraße, befindet sich Ljudas und Koljas Wohnung
Zurück zum eigentlichen Film… Wie ich bereits oben erwähnt präsentiert sich TRET‘JA MEŠČANSKAJA zwischendurch auch als waschechte kleine Moskauer Stadtsinfonie und zeigt zahlreiche Sehenswürdigkeiten, bekannte Plätze und auch weniger bekannte Orte. Da ist natürlich zunächst die titelgebende, ganz reale Dritte Kleinbürger-Straße (die „dritte“ ist nicht die Hausnummer, sondern die Zählung der „Kleinbürger-Straße“), die sich im zentralen Verwaltungsbezirk der Stadt befindet. Die „meščany“, die „Kleinbürger“, sind nicht im heutigen, eher negativ konnotierten Sinne zu verstehen, sondern waren im komplizierten Rangordnungssystem des Russischen Reiches der niedrigste soziale Stand der städtischen Bevölkerung: alle Stadtbewohner, die keine Adelige, Kaufmänner, eingetragene Handwerker, Geistliche, Armeeangehörige, Staatsbeamte oder zeitweilig in der Stadt (z. B. als Bedienstete) residierende Bauern waren – in der Regel also städtische Unterschichten, ungelernte Arbeiter, Boten, Angestellte, auch freischaffende Künstler etc. Der Revolution zum Trotz sind Kolja und Ljuda auch im ursprünglichen Sinne „meščany“, denn mit ihrer Einzimmerwohnung und trotzdem Kolja Ingenieur ist, gehören sie ganz offensichtlich nicht zu den Leuten, die es in den 1920er Jahren wirklich bequem hatten. Wann „meščany“ im Russischen die heute bekannte negative Konnotation erhielt, weiß ich nicht (ich vermute, ohne Sicherheit: in der Stalin-Ära), jedenfalls wurde die Straße aber erst 1962 umbenannt in Ulica Ščepkina, also Schtschepkin-Straße (nach einem berühmten Theaterschauspieler des 19. Jahrhunderts).
Theater-Platz bzw. zeitgenössisch Sverdlov-Platz
gesehen aus der luftigen Höhe eines Baugerüsts bzw. in Splitscreens

Ein weiterer zentraler Ort in TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist der Theater-Platz bzw. zwischen 1919 und 1991 Swerdlow-Platz mit dem Bolschoi-Theater. An dessen Restauration wirkt Nikolaj mit und deshalb sehen wir den Theater-Platz nicht nur aus der „schnöden“ Perspektive der Fußgänger. Vielmehr können wir das rege Treiben besagter Fußgänger aus der Sicht eines Bauarbeiters in schwindelerregender Höhe beobachten – mit Kolja und anderen Bauleuten, die furchtlos über die Baugerüste laufen und völlig entspannt ihr Mittagessen in wohl über zwei Dutzend Metern Höhe einnehmen. Man kann so genau hinschauen wie man will: ganz offensichtlich ist das alles echt und keine Rückprojektion, was die Bilder noch packender macht. Die Macher waren von ihren Bildern so begeistert, dass es zwischendurch, scheinbar völlig unmotiviert, sogar kleine, spielerische Splitscreen-Sequenzen zu sehen gibt.

An weiteren Sehenswürdigkeiten gibt es noch die 1931 zerstörte (und in den 1990er Jahren dann wiederaufgebaute) Christ-Erlöser-Kathedrale zu sehen, und zwar zunächst nicht „in Echt“, sondern in Spiegelung auf dem Wasser der Moswka. Gegen Ende kann man auch einen Blick auf den Jaroslawler Bahnhof werfen, wo Ljuda in den Zug einsteigt. Der Jaroslawler Bahnhof ist der Startbahnhof der Transsibirischen Eisenbahn bzw. aller Züge, die von Moskau in Richtung Osten fahren. Ljuda wird also ihr weiteres Glück im Osten suchen. Vielleicht in Sibirien? Trotzdem Sibirien im Westen als Inbegriff der zarischen Verbannung und des sowjetischen Lagersystems gilt, hatte er im Russischen Reich auch die Aufladung eines Ortes der Freiheit. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass das System der Leibeigenschaft dort nicht traditionell verankert war – Bauern waren also dort schon vor der großen Bauernbefreiung 1861 „frei“. Sibirien hatte noch den Vorteil, fern von der Hauptstadt und somit „regierungsfern“ zu sein. Der russische Osten hatte (für freie Menschen) durchaus den mystischen Beigeschmack dessen, was in den USA die „frontier“ war. Wenn Ljuda am Ende des Films also am Jaroslawler Bahnhof in den Zug steigt, eilt sie ihrer persönlichen „frontier“ entgegen.

Die Christ-Erlöser-Kathedrale im Wasser gespiegelt; Moskauer Straßenszenen
Die Stadt wird auch auf dem Fahrrad oder mit dem Flugzeug erkundet
Zu sehen sind da natürlich auch unzählige, mehr oder minder „anonyme“ Orte und Straßenszenen, was sich durch den ganzen Film zieht. Momente, die das Melodrama links liegen lassen, um einfach ein bisschen einen Geschmack von der Lebhaftigkeit Moskaus zu geben. Mit dem Auto, mit der Straßenbahn, mit dem Fahrrad wird durch die Straßen gerast, dass es die hellste Freude ist. Selbstverständlich ist das nicht genug und deshalb sehen wir zwischendurch Moskau auch aus gleich noch aus einem Flugzeug heraus: Vladimir lädt am Anfang von Nikolajs Abwesenheit Ljuda nämlich dazu ein, mit ihm eine Flugtour in einem „Agit-Flugzeug“ zu machen, was der gelangweilten Hausfrau, die einen großen Teil ihrer Tage in einer Einzimmerwohnung verbringt, tatsächlich eine wahnsinnige Freude macht.
Die Begeisterung für die Lebhaftigkeit der Stadt Moskau: wie ist sie zu bewerten? Ist hier doch gewissermaßen ein Engagement für eine spezifisch urbane, sowjetisch-revolutionäre Moderne zu sehen? Die Szenen erinnern ein bisschen an Dziga Vertovs ČELOVEK S KINOAPPARATOM, der wiederum auch nicht nur „rein“ sowjetisch ist, sondern auch im Kontext des europäischen Avantgardefilms seinen Platz hat (man denke an Walter Ruttmanns BERLIN – DIE SINFONIE DER GROßSTADT). Also eine Begeisterung für bewegte Stadt im Kontext einer euro-amerikanischen Moderne der Zwischenkriegszeit? Am Ende von TRET‘JA MEŠČANSKAJA sieht das noch mal ein bisschen anders aus. Ljuda fährt am Schluss mit dem Zug weg und das Verlassen der Stadt Moskau ist genau so hoffnungsvoll wie die Ankunft Vladimirs am Beginn. Ein Blick auf eine Eisenbahnbrücke und eine leere Landschaft – das ist am Ende des Films das große Hoffnungssymbol.
(Mit einer anderen Musikbegleitung würde das Ende vielleicht pessimistischer aussehen. Auf meiner DVD interpretiert der Pianist das meiner Meinung nach zurecht mit einer hoffnungsvollen Musik, die Aufbruchsstimmung und Triumph vermittelt.)

Das sowjetische Moskau in den 1920er Jahren... TRET‘JA MEŠČANSKAJA wirkt in vielerlei Hinsicht „unsowjetisch“, bleibt aber dennoch natürlich in vielerlei Hinsicht ganz in seiner Zeit verwurzelt. Die Sowjetunion der 1920er Jahre ist zunächst Nachkriegsland. Der Erste Weltkrieg, vor allem aber der Russische bzw. Russländische Bürgerkrieg (je nach Zählung 1914/15/16/17/ bis 1920/21/22) hinterließ eine ganze Generation von Veteranen. Von schwer traumatisierten Kriegsrückkehrern. Aber auch von Männerbünden und Männerfreundschaften. In TRET‘JA MEŠČANSKAJA sind das dann auch Vladimir und Nikolaj, die sich etwas nostalgisch an ihre Zeit in der Roten Armee erinnern. Beide haben offenbar in Semën Budënnyjs (Budjonny) Reiterarmee gedient: eine Kavallerie, die im kollektiven Gedächtnis besonders legendär war (heute wissen wir, dass einige, teils desertierte Einheiten, um 1920 an Judenpogromen während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs teilnahmen). Ein Portrait Budënnyjs, erkennbar an seinem besonders markanten Schnurrbart, hängt in der Wohnung Nikolajs. Auf das Portrait weist Kolja auch gesondert hin, als er Vladimir seiner Frau vorstellt und als Kriegskameraden ausweist.
Budjonny- und Stalinportraits;
mehrsprachiger Abreisskalender;
Ljudas persönliche Ecke, u. a. mit Titelblatt der Filmzeitschrift Ekran (die später den Film auch verriss)
Auch ein Portrait Stalins ist in der Wohnung zu sehen. Ob das Portrait fixer Bestandteil des Abreisskalenders ist oder separat an der Wand darunter hängt, ist schwer zu sagen. 1927, das Entstehungsjahr des Films, markiert den frühen Beginn des Stalinkults, der allerdings erst in den 1930er Jahren überdimensionierte Ausmaße gewinnen sollte. Insofern ist es relativ bemerkenswert, dass schon so früh in einer Privatwohnung ein Stalinportrait so prominent zu sehen ist. Kolja und Ljuda – frühe Stalinisten? Wie Kolja und Vladimir waren allerdings auch Stalin und Budënnyj enge Bürgerkriegskameraden. Der Kavallerist gehörte zum engsten Kreis des Diktators und überlebte auch sämtliche Terrorkampagnen. Für Bürgerkriegsveteranen gehörte 1927 vielleicht noch eher Stalin zu Budënnyj (als umgekehrt).
Kolja ist übrigens auch Parteimitglied. Das erfahren wir, als ihn ein Arbeitskollege zu Feierabendstunde fragt, ob er denn nicht zur Parteiversammlung käme. Nein, mit ihm geht‘s ab nach Hause, antwortet Kolja lachend. Auch das sowjetischer Alltag: Parteimitglieder, die nicht zu den Versammlungen gehen, sondern lieber ihren Feierabend genießen… Das würde sich auch in der Stalin-Ära nicht wirklich ändern: in Quellen aus den 1930er Jahren ist immer wieder von der Passivität des Mitgliederbestands die Rede.
Über dem Stalin-Portrait (oder auf dem Portrait) hängt ein Abreisskalender. In einer Nahaufnahme auf die Kalenderblätter erkannt man, dass es sich um einen dreisprachigen Kalender auf Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch handelt. Die sogenannte korenizacija (mehr dazu gibt es in einem meiner früheren Artikel zu lesen), die Politik der Integration nichtrussischer Sowjetbürger durch muttersprachlichen Unterricht und Muttersprachenförderung, ist noch in Kraft.


Am „sowjetischsten“ ist der Film natürlich darin, wie er Abtreibung thematisiert: nämlich im Grunde überhaupt nicht. Dass die schwangere Ljuda in eine Abtreibungsklinik geht, ist in TRET‘JA MEŠČANSKAJA eine absolute Selbstverständlichkeit, denn die Sowjetunion war der erste Staat der Welt, der Abtreibung bedingungslos legalisierte. Die Russische Revolution fegte 1917/18 die alten Gesetze aus dem Zarenreich hinweg – darunter auch Gesetze, die Abtreibung verboten. Ein Paradox also: in einer der ersten „modernen“ Diktaturen der Welt wurde Frauen ein Recht gewährt, das sie heute noch in manch demokratischen Staaten nicht oder nur extrem beschränkt haben. Damit meine ich nicht weit entfernte südamerikanische Staaten (nun ja, die natürlich auch), sondern gerade auch Deutschland, wo man als Arzt immer noch vor Gericht gezerrt werden kann, wenn man über Schwangerschaftsabbrüche medizinisch informiert (im amtsbürokratischen Sprachgebrauch: „Werbung macht“). Über die Änderung Paragraf 219a StGB wird gerade diskutiert… Schwangerschaftsabbrüche waren in der Sowjetunion der 1920er Jahre jedenfalls Alltag und zunächst tatsächlich nicht gesetzlich reguliert. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden Gesetze erlassen, die Abtreibungen etwas genauer erfassten – da ging es aber wohl tatsächlich um das Ausformulieren von medizinischen Standards. Die verhältnismäßig fortschrittliche Sexual-, Familien-, Ehe- und Geschlechterpolitik der Sowjetunion fiel in den 1930er Jahren dem Stalinismus zum Opfer. So wurde Abtreibung Mitte der 1930er Jahre verboten, und erst zwei Jahre nach Stalins Tod wieder legalisiert. Was wir in TRET‘JA MEŠČANSKAJA sehen, wäre also knapp 10 Jahre später in dieser Art nicht mehr auf einer sowjetischen Leinwand zu sehen gewesen.

Wie bereits angedeutet: TRET‘JA MEŠČANSKAJA war in der Sowjetunion kein Erfolg. Er wurde von Filmemacherkollegen gelobt, doch die Filmkritiken waren vernichtend (darunter auch in Ėkran, der Filmzeitschrift, die Ljuda im Film offenbar gerne liest). Man warf ihm vor, „psychopathologisch“, eine „westeuropäische Romanze“, eine „Entschuldigung für Ehebruch“ zu sein. In ländlichen Gegenden waren die Reaktionen wohl noch auf eine andere Weise negativ, weil der Film scheinbar Vorurteile über die Dekadenz von Städtebewohnern bestätigte. Bald wurde TRET‘JA MEŠČANSKAJA unter dem alternativen Titel LJUBOV’ VTROËM („Liebe zu dritt“) neu in die Kinos gebracht (auch das wahrscheinlich mit wenig Erfolg, zumal der Titel viel weniger unverfänglich war als der ursprüngliche).
Die IMDb listet eine reguläre Kinoauswertung in Deutschland 1927, doch in Westeuropa wurde der Film kaum gezeigt. In Großbritannien gab es keine reguläre Kinoauswertung, aber der Film wurde bei einer Vorführung der London Film Society am 8. April 1929 (in einer gekürzten Fassung) gezeigt. Bei der Veranstaltung waren mindestens zwei Redakteure der Zeitschrift Close Up dabei, die den Film in der Mai-Ausgabe dann auch besprachen. „A. W.“ war von „Bed and Sofa“ begeistert, lobte das Engagement des Films für die Unabhängigkeit von Frauen, bezeichnete ihn als „great human document“ und machte sich über Co-Zuschauer lustig, die den Film als „schmutzig“ und „ekelhaft“ bezeichneten. „H. C.“ verurteilte nicht nur die Entscheidung der Film Society, den Film zu kürzen, sondern kritisierte auch „Bed and Sofa“ an sich als manipulativ und betrügerisch (darin, wie er die Entscheidung der Protagonistin gegen die Abtreibung zeigt). Zwei gänzlich konträre Meinungen zu dem Film in knapp vier Seiten.
Die Chefredaktion von Close Up drehte mit BORDERLINE um die Zeit selbst einen Film, in dem es um eine schwierige Dreier- bzw. sogar Viererbeziehung geht (und den Manfred hier in diesem Blog schon besprochen hat). Auch in BORDERLINE reist am Ende eine Frau weg und hinterlässt zwei ratlose Männer. Über irgendeine direkte Beeinflussung durch TRET‘JA MEŠČANSKAJA kann man wohl nur wild spekulieren. Aber es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die Hauptbeteiligten von BORDERLINE den sowjetischen Film zumindest gesehen hatten.
Ljuda lässt Moskau und ihr altes Leben hinter sich

Wer diesen Artikel eben zu kurz fand und gerne noch viel, viel mehr zu dem Film lesen möchte, der sei auf Bed and Sofa: The Film Companion von Julian Graffy (Professor für Russische Sprache und Literatur) verwiesen. Das Buch ist zu erschwinglichen Preisen verfügbar. Ich selbst bin noch nicht dazu gekommen, es zu bestellen und zu lesen.

TRET‘JA MEŠČANSKAJA ist in Deutschland 2017 in der Doppel-DVD-Edition Der neue Mensch: Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland erschienen, als „Bett und Sofa“. Einige andere Titel dieser feinen Edition, nämlich Kurzfilme des Animationsfilm-Pionier Nikolaj Chodataev, habe ich hier bereits besprochen. Auch wenn die Originalzwischentitel nicht mehr erhalten sind, so ist die Bildqualität sehr gut bis hervorragend für einen Film dieses Alters. Da wurde offensichtlich sehr gute Restaurationsarbeit geleistet. Für die Ohren gibt es allerdings auch etwas schönes: der von mir sehr geschätzte Stummfilmpianist Richard Siedhoff hat einen eigenen Score für diesen Film komponiert und eingespielt. Sein tolles Verständnis von Filmatmosphären, sein intuitives Gefühl für Melodien, zugleich seine große Demut gegenüber dem Film als Kunstwerk und entsprechend seine Bemühung, die Musik ganz in den Dienst des Films zu stellen, kommen hier wunderbar zur Geltung. Etwas schade ist, dass der Ton teilweise etwas merkwürdig in meinen Lautsprechern gerauscht bzw. gescheppert hat – da war die Abmischung wohl nicht ganz ideal?
Jedenfalls ist die Doppel-DVD-Edition Der neue Mensch: Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland ein absoluter Pflichtkauf für Cinephile, die sich für frühen sowjetischen Film begeistern. Ich bin mit dieser Edition übrigens immer noch nicht „fertig“. Auf der gleichen Scheibe befindet sich ein weiterer Film, den ich gerne hier bald besprechen möchte, nämlich OBLOMOK IMPERII, in dem ein Mann, der die Russische Revolution „verschlafen“ hat, in der sowjetischen Hauptstadt anno 1929 seine „verschollene“ Ehefrau sucht. Die wird übrigens nicht von einer Unbekannten gespielt...

Sonntag, 9. Juli 2017

Der paranoide Killer und die Actionstars des Slapstick-Kinos

oder: was haben John Wick, Stoneface und der Tramp miteinander zu tun?

JOHN WICK: CHAPTER 2
USA / Hong Kong / Italien / Kanada 2017
Regie: Chad Stahelski
Darsteller: Keanu Reeves (John Wick), Riccardo Scamarcio (Santino D'Antonio), Common (Cassian), Ruby Rose (Ares), Claudia Gerini (Gianna D'Antonio), Lance Reddick (Charon)


JOHN WICK war für mich zweifelsohne der zweitbeste Actionfilm des Jahres 2015 – zwar deutlich hinter MAD MAX: FURY ROAD, aber dennoch sehr bemerkenswert. Der Film, der am explosivsten die Rückkehr Keanu Reeves‘ in die Sphäre einer größeren Aufmerksamkeit markierte, begeisterte mit seinen grandiosen Actionszenen, die im Gegensatz zum gegenwärtigen state of art im Actionfilm absolut glasklar gefilmt waren: kein Rumgewackel, keine Schnittgewitter, sondern präzise choreografierte Schüsse, Schläge und Tritte. Was JOHN WICK ebenfalls ausmachte: seine kompakte, elliptische Erzählweise, die mit aussagekräftigen Bildern und nur wenigen Worten Zusammenhänge andeutete, die man anderswo ausführlich und mit vielen Dialogen auserzählt bekommen würde (sei es der Tod von Wicks Ehefrau nach kurzer, akuter Krankheit oder die Funktionsweise des Continental-Hotels, des Refugiums für die Gilde der Profikiller).
Groß war die Erwartung an die Fortsetzung. Zunächst zur kleinen Enttäuschung: JOHN WICK: CHAPTER 2 beginnt damit, dass er die „offenen Fragen“ aus dem ersten Teil noch „beantwortet“. Er ist äußerst umständlich, manchmal fast behäbig erzählt, wirkt manchmal etwas wie mit Handbremse gefilmt. Der Subplot um Laurence Fishburnes Figur ist größtenteils ein billiger Gimmick für die MATRIX-Fangemeinde. Der Versuch, den legendären Shootout im „Red Circle“ in den Katakomben Roms neu aufzulegen, ist nur bedingt geglückt. Wo JOHN WICK wie aus einem Guss wirkte, erscheint JOHN WICK: CHAPTER 2 wie ein Stückwerk mit zu viel Ballast (und mit tatsächlich über 20 Minuten mehr Laufzeit).
Aber hey! Wirklich schlimm ist das nicht und JOHN WICK: CHAPTER 2 ist und bleibt ein toller Film. So schöne Parallelmontagen, die von einer pulsierenden Musik getrieben werden, kriegt momentan niemand außer diesem ehemaligen Second-Unit-Regisseur und Stunt-Koordinator Chad Stahelski hin. Mit einer solchen Selbstverständlichkeit alle Actionszenen so klar filmen – das sieht man momentan wohl nur bei George Miller und in ausgewählten Filmen des vielgehassten Paul W. S. Anderson. Eine wüste Prügelei im Herzen Roms, gefilmt ohne Musik, aber dafür mit intensiven nächtlichen Ambientegeräuschen (Sirenen, Autohupen und das Flimmern der lauwarmen Frühlingsluft)... Das Jammern über JOHN WICK: CHAPTER 2 im direkten Vergleich zu JOHN WICK ist eines dieser Luxusprobleme, von denen wir anstelle echter Probleme mehr haben sollten auf dieser Welt.
Besonders interessant war aber ein Aspekt: JOHN WICK: CHAPTER 2 enthält immer wieder Anspielungen auf den Actionfilm (sprich: Slapstickfilm) der Stummfilm-Ära – diese reichen von expliziten Zitaten bis zu milden Andeutungen.

John Wick – ein Nachfahre von Speedy?
Das fängt schon einmal mit dem ikonischen Filmposter an. Wick ist von über einem Dutzend Schützen umringt, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen, während er unbeirrt und mit intensivem Blick den Betrachter anschaut. Hier ist klar: ein Mann – furchtlos gegen den Rest der Welt. Vor allem ist das Poster aber auch die Nachstellung eines Publicity-Fotos mit Harold Lloyd.
Hier ein Link zu dem Bild. Und hier ein Link zu einem Artikel, wo die beiden Bilder ebenfalls zu sehen sein.
Lloyd ist auf dem Foto ebenfalls umringt von Schützen, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen – wirkt allerdings der Situation entsprechend auch ziemlich beunruhigt. Es handelt sich angeblich um ein Werbeplakat oder vielleicht ein Aushangfoto für TWO-GUN GUSSIE von 1918, der noch unter der Produktion von Hal Roach entstand, als Harold Lloyd noch kein Superstar war. Es ist ein Slapstick-Film im engeren Sinne, ein typisches Produkt der Roach-Schmiede: recht grobschlächtig im manchmal erfreulichen, manchmal nicht so erfreulichen Sinne, mit vielen akrobatischen Einlagen, die allerdings nicht mit den spektakulären Action-Sequenzen späterer Lloyd-Filme mithalten können.
Abgesehen von der Tatsache, dass John Wick ab der Mitte des Films von einem großen Teil der Gilde der Serienkiller verfolgt wird – also viele Pistolen auf ihn gerichtet sind – „taucht“ das Plakatmotiv nicht weiter im Film „auf“. Trotzdem versetzte es mich gleich im Vorfeld des Films als Fan des modernen Actionfilms und Fan des klassischen Actionfilms der Stummfilm-Ära in „Alarmbereitschaft“. Würde im Film mehr in diese Richtung zu finden sein?

„Baba Jaga“ in den Fußstapfen eines träumenden Filmvorführers?
Lange warten musste ich nicht. JOHN WICK: CHAPTER 2 eröffnet mit Helikopteraufnahmen des nächtlichen, neonbeleuchteten New York. Dazu gibt es brummende Motorradgeräusche. Nach einigen Bildern in Vogelperspektive blicken wir plötzlich auf die Fassade eine Brownstone-Hauses. Auf diese Fassade wird ein Stummfilm projiziert. Der geneigte Stummfilm-Liebhaber erkennt, dass es sich um einen Ausschnitt aus Buster Keatons SHERLOCK JR. handelt, namentlich um den Showdown mit der langen „Verfolgungsjagd“, bei der Keaton auf dem Lenkrad sitzend ein herrenloses Motorrad „fährt“. Er fährt in Richtung eines Bahnübergangs und nur knapp entkommt er dem rasenden Zug. Kurz darauf kracht er in die Hütte, in der einer der Bösewichte seine Angebetete gefangen hält. Da werden keine halben Sachen gemacht: Buster/Sherlock Jr. fliegt durch den Raum, landet auf dem Tisch auf eine solche Weise, dass er den Böswatz einfach wegkickt. Nach diesem Crash in diesem Ausschnitt aus Keatons SHERLOCK JR. crasht auch in JOHN WICK: CHAPTER 2 jemand, nämlich ein Motorradfahrer auf der Straße – was wir aber nur hören und nicht sehen. Sichtbar wird der Fahrer, als er auf einer abschüssigen Straße unter dem Haus mit der Projektion mit seinem Gefährt heruntergleitet. Das suggeriert fast, dass er aus SHERLOCK JR. herausgefallen ist. Er steigt wieder auf das Motorrad und fährt davon. Wenig später rollt ein alter Sportwagen vorbei, der das Motorrad verfolgt (und in dem, wie wir kurz darauf erfahren, John Wick sitzt).

JOHN WICK: CHAPTER 2 – auf eine Hausfassade wird ein Stummfilm projiziert, nämlich...
SHERLOCK JR.
Das ist der Beginn des Prologs, in dem John Wick noch bei Abram Tarasov vorbeifährt, dem Bruder und Onkel der in Teil 1 von ihm getöteten Viggo und Josif Tarasov, um Frieden zu schließen – nachdem er selbstredend ein Dutzend von Abrams Handlangern brutal tötet, weil sie ihn nicht vorlassen wollen. Dieser Prolog ist eine interessante Verkörperung für die relativen Schwächen des zweiten Teils im Vergleich zum ersten Teil: ein narrativer Ballast, der allerdings gekonnt inszeniert ist.
Was der Prolog mit dem Ausschnitt aus SHERLOCK JR. zu tun hat? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Am einleuchtendsten scheint es, den Filmausschnitt als das Motto des Films zu begreifen – nicht in Form einer Texteinblendung, sondern als Filmeinblendung. Sherlock Jr., also der alter-ego-Protagonist im Traum des Filmvorführers, hat gerade gemerkt, dass er sich im freien Fall befindet, denn freihändig auf dem Lenkrad eines geisterfahrenden Motorrads zu balancieren ist echt keine gute Idee (also im wirklichen Leben der Figuren im Film bzw. Filmtraum – auf Film an sich bei Keaton sieht das natürlich toll aus). Das entdeckt er erst spät, weil er erst einmal minutenlang so fährt, ohne es zu merken. Ihm bleibt dann nichts anderes übrig, als die bittere Pille zu schlucken und mit dem Kopf voran zu gehen. Das ist genau das, was John Wick im Verlauf von JOHN WICK: CHAPTER 2 auch tun muss. Im zweiten Teil verliert der Profikiller alle Autonomie. Vom Jäger des ersten Teils wird er nun zum Getriebenen. Das wirkt sich nicht gut auf seinen Geisteszustand aus (von seiner körperlichen Gesundheit mal ganz zu schweigen).

Der „Boogey Man“ wird paranoid!
Nachdem John Wick Frieden mit den russischen Gangstern geschlossen hat, will er in Ruhe in das Zivilleben zurückkehren. Doch sein ehemaliger Profikillerkumpan Santino D‘Antonio besucht ihn und zwingt ihn, eine „Schuld-Marke“ zu begleichen. Santino hatte Wick einmal in einer brenzligen Situation geholfen, wofür er eine „Schuld-Marke“ nahm – die er nun einlöst. Wick muss nun also für Santino einen Auftragsmord ausführen: nämlich seine Schwester Gianna ermorden, damit er ihren Sitz im Großen Rat des internationalen organisierten Verbrechens einnehmen kann. Wick reist nach Rom und erledigt nolens volens den Job. Das gelingt ihm eher indirekt: als er bei Gianna auftaucht, wechseln sie ein paar Worte, und bevor John Wick begreift, was da passiert, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Er schießt ihr dann in den Kopf, nachdem (! – dazu unten mehr) sie bereits gestorben ist. Santino, der eh von Anfang an wie ein schmieriger Heuchler wirkte, will selbstverständlich in aller Öffentlichkeit den Mord an seiner Schwester rächen und übergibt dem US-Zweig der internationalen Profikiller-Gilde den „offenen“ Auftrag, John Wick für 7 Millionen Dollar zu ermorden. Jeder Profikiller, der der großen Organisation angehört, wird per SMS dazu ermuntert, John Wick zu töten. Alle US-amerikanischen Mitglieder der Profikiller-Gilde erhalten eine SMS mit dem Auftrag. In einer denkwürdigen Parallelmontage hört man die SMS-Töne der Mobiltelefone klingeln: alle Besucher des New Yorker Continental-Hotels, der Manager des Hotels, aber auch irgendwelche unbekannten Gesichter auf der Straße erhalten Kurznachrichten.
JOHN WICK: CHAPTER 2 entfesselt hier etwas, was in JOHN WICK noch vergleichsweise harmlos war. John Wick läuft durch Straßen, in denen an jeder Ecke ein potentieller Killer auf ihn warten könnte – und es dann tatsächlich auch tut: die harmlose Geigenspielerin an der Ecke der U-Bahn-Unterführung, der friedlich aussehende Sumo-Typ auf der Parkbank, die zwei seriösen asiatischen Geschäftsmänner beim U-Bahn-Imbiss, die Männer von der Reinigung in der Metro – sind plötzlich brutale Killer, die auf John Wick losgehen. Hier befinden wir uns im Bereich von Buster Keatons de-facto-Paranoia-Thrillern THE GOAT und COPS (über diese schrieb ich bereits hier). Die ganze Szene ist als eine dieser schönen Parallelmontagen gefilmt, mit denen beide JOHN-WICK-Filme glänzen – und sie vibriert vor fiebriger, absurder und surrealer Paranoia. Die Welt war in SHERLOCK JR. ein Traum im Film – in THE GOAT, COPS und JOHN WICK: CHAPTER 2 wird der Film zum Alptraum, in dem überall Hundertschaften von Polizisten oder Profikillern darauf warten, zuzuschlagen. 
Im Gegensatz zu Buster wird man John Wick schwerlich als „unschuldig“ bezeichnen können, und im Gegensatz zu Buster in COPS kapituliert John Wick nicht vor seinen paranoiden Schüben, um Suizid zu begehen, sondern verteidigt sich durch Angriff, indem er seine Verfolger tötet – um nicht zu sagen: sie regelrecht massakriert (unter anderem auch mit dem legendären Bleistift).

John Wick paranoid: wo er auch hingeht – überall warten Killer auf ihn
Buster paranoid: eine Welt voller Polizisten
Noch ein Gedanke zu Keaton. Alle Filialen des Hotel Continental, des Refugiums für Profikiller, sind Orte, in denen sie nicht nur vor der Polizei sicher sind, sondern auch voreinander: es dürfen dort nämlich keine „Geschäfte“ gemacht werden, und einen Gast des Hotels innerhalb des Hotels zu töten kommt der Exkommunikation aus der internationalen Profikillergilde gleich (und wird mit einem Todesurteil bestraft). Wie absolut wortwörtlich das gemeint ist, wird deutlich, als Wick sich in den Straßen Roms mit Cassian, dem Leibwächter (und wahrscheinlich Liebhaber) Gianna D‘Antonios die Seele aus dem Leib prügelt und mit ihm im Kampf eng umschlungen durch die Fensterfront einer Terrasse kracht. Der intensive Kampf wird beendet, weil beide zur Ordnung gerufen werden: sie haben nicht gemerkt, dass sie durch die Fensterfront des Rom-Continentals gekracht sind. Sie lassen einander los, gehen in die Bar, trinken zusammen und schwören sich dabei in ausgesucht höflichen Worten, sich bei nächstbester Gelegenheit gegenseitig zu ermorden. Ein Haus als heiliges Refugium, in dem nicht gemordet werden darf – was angesichts der extremen Gewalt „draußen“ auch ziemlich heuchlerisch wirkt: das gab es schon in Keatons OUR HOSPITALITY zu sehen, in dem Buster/Willie McKay sich solange sicher fühlen kann, wie er sich als Gast im Haus der mit seiner Familie befehdeten Canfields befindet.

Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp
JOHN WICK: CHAPTER 2 arbeitet sich auch fleißig an der Geschichte der plastischen Kunst und Malerei der letzten 2000 Jahre ab. John Wick flaniert durch Rom, die Gebäude und Sehenswürdigkeiten der Antike und der Renaissance im Hintergrund. Er bespricht Geschäftsprobleme vor Gemälden, die ich intuitiv in der Frühen Neuzeit ansiedeln würde. Bei einem Shootout in einem Museum wird John Wick schließlich gar selbst zum „Künstler“ und verwandelt mit dem spritzenden Blut seiner Feinde eine Kunstausstellung in eine große Action-Painting-Installation – abstrakter Expressionismus nicht mit dem Pinsel gespritzt, sondern mit der Pistole geschossen. Das ganze endet schließlich bei der modernen Installationskunst, in einem betretbaren Kunstwerk mit dem schönen Titel „Reflections of the Soul“: ein großes Spiegellabyrinth mit sphärischer Ambientemusik und einer Fahrstuhlstimme, die Kommentare zum Kunstwerk abgibt. Alternativ könnte man das Kunstwerk aber auch „Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp“ nennen.
Der Shootout in dem Spiegelkabinett ist die große „pièce de résistance“ von JOHN WICK: CHAPTER 2, der ultimative Action-Höhepunkt des Films – fast so aufregend wie der Shootout im „Red Circle“ aus dem ersten Teil. Vielfach gespiegelt laufen die Kontrahenten durch diese merkwürdigen, jenseitig aussehenden Räume und schießen aufeinander – und ballern dabei oft einen Spiegel kaputt, der Platz macht für noch mal weitere Spiegelungen. Das ganze ist je nach Raum mit kalt-blauem oder mit rötlich-farbwechselndem Neonlicht beleuchtet – und ist natürlich eine weitere Verbeugung vor einem großen Stummfilm, namentlich Charlie Chaplins meiner Meinung nach bestem und unterschätztestem Stummfilm, THE CIRCUS. Dessen Spiegelkabinett-Szene wurde vielfach nachgeahmt: in Orson Welles‘ THE LADY FROM SHANGHAI von 1947, in IL MIO NOME È NESSUNO von 1973 (dessen Protagonist, wie einst der Tramp, einem Kleinkind den Imbiss klaut) sowie in ENTER THE DRAGON, ebenfalls 1973.

Der Shootout im Spiegelkabinett, inspiriert von...
...dem Spiegelkabinett in THE CIRCUS
Wie ich kürzlich mit Manfred besprach: möglicherweise ist Chaplins THE CIRCUS nicht der erste Film, in dem eine Verfolgungsjagd in einem Spiegelkabinett zu sehen war. Vielleicht sah Chaplin eine ähnliche Szene in einem Film, der heute verschollen ist – oder sich außerhalb der großen Aufmerksamkeit bewegt, die Chaplins Werk hat. Relativ sicher ist jedenfalls, dass der verhältnismäßig berühmte THE CIRCUS als Inspirationsquelle für die oben genannten Filme und JOHN WICK: CHAPTER 2 diente.
Nun... John Wick ist natürlich kein Tramp. In JOHN WICK: CHAPTER 2 sind aber durchaus andere Leute Tramps...

Exkurs in den frühen Tonfilm, oder: Die Bettlerorganisation der Profikiller
Euro, Dollar – das ist den Profikillern in dem speziellen Universum der „John Wick“-Filmreihe egal, denn sie haben ihr eigenes Währungssystem mit speziell für sie hergestellte Goldmünzen. Das ist nicht nur etwas wert, sondern das dient auch als unverwechselbares Erkennungsmerkmal. Als John Wick vor seinen Verfolgern in der New Yorker U-Bahn flieht, wendet er sich plötzlich an einen Bettler und legt ihm eine Goldmünze in den Pappbecher. Der Bettler versteckt Wick rasch unter einer naheliegenden Plastikplane. Als die zwei Verfolger näher kommen, zückt der Bettler eine Schalldämpfer-Pistole und erschießt sie. Aus der Nähe treten zwei Obdachlosen-Kollegen heran und schleifen sogleich die Leichen weg. Für kurze Zeit kommt John Wick dann bei einem Spezialzweig der internationalen Profikiller-Gilde unter: nämlich bei der New Yorker Bettlerorganisation der Profikiller.
Nach Llloyd und Keaton (das Chaplin‘sche Spiegelkabinett kommt im Film erst später) befinden wir uns nun bei Fritz Lang. Lang war in seiner deutschen Werksphase von konspirativen Geheimorganisationen fasziniert: die Verbrecherbanden in den DR. MABUSE-Filmen, die Spion- und Verbrecher-Netzwerke in SPIONE – und natürlich das organisierte Verbrechen in M, das eine Zusammenarbeit mit dem Verband der Bettler organisiert, um den Serienmörder auf eigene Faust zu finden.
In JOHN WICK: CHAPTER 2 wird die Bettlerorganisation von dem „Bowery King“ geführt, gespielt von Laurence Fishburne. Sein Verband ist äußerst mächtig, weil er permanent Profikiller vollkommen unauffällig an jeder Straßenecke von New York platzieren kann. Ob das rein taktisch ist, und wenn nein, warum mit Goldmünzen bezahlte Profikiller als Obdachlose leben müssen, wird nicht direkt beantwortet. Warum Wick, der nur einen Bleistift braucht, um schnell und effizient zahlenmäßig weit überlegene Verfolger zu töten, sich an die Bettler wendet, ist auch etwas unklar. Warum die Bettler John Wick nicht einfach plattmachen, ergibt auch wenig Sinn. Die Bettlerorganisation taucht einfach plötzlich im Film auf, und verschwindet dann wieder, nachdem Wick von dem Bowery King eine mit sieben Kugeln (eine Million Dollar pro Kugel) geladene Pistole übergeben wurde – die er sich ebenso gut bei einem Verfolger hätte holen können. Kurz: das ganze erscheint als Vehikel, um in zwei Szenen Laurence Fishburne und Keanu Reeves zusammen unterzubringen, also Morpheus und Neo wieder „zusammen zu bringen“ – ein reines Gimmick für die MATRIX-Fans im Publikum. Der Subplot um die Bettlerorganisation und ihren Chef gehört wie der Prolog zu den Teilen des Films, die wirklich erzählerischer Ballast sind und wie Fremdkörper wirken, gleichwohl sie gut gefilmt sind (die Macht des Bowery King wird in einem einzigen Bild verdeutlicht: eine Totale mit einer mächtigen Brücke im Hintergrund – die Manhattan Bridge? – macht gleich deutlich, wie „übergreifend“ er zumindest Teile der Stadt kontrolliert). Der kleine Wink an M, den man hier sehen kann, ist trotzdem ganz nett.

John Wick beim Bowery King: Herrscher über weite Teile der Stadt

Ohne Worte: die Göttin des Massakers
Die faszinierendste Nebenfigur von JOHN WICK: CHAPTER 2 ist der Bodyguard von Santino D‘Antonio: eine Frau mit einem sehr einnehmenden, androgynen Charisma, die im Nahkampf extrem zäh ist und nur wenige Worte verliert. Um genau zu sein: überhaupt keine, denn sie ist stumm. Sie kommuniziert nur mit Schüssen, Hieben, intensiven Blicken und mit Zeichensprache. Wie die russischen Passagen in JOHN WICK werden ihre (meist sehr kurzen) Dialogzeilen mit grafisch aufbereiteten Bild-Inschriften übersetzt. Mit viel Fantasie bzw. weil es in diesem Kontext noch passt, kann man das als Rückgriff auf die „stummen“ Filmfiguren des Stummfilms interpretieren, deren wenige Worte mit Zwischentafeln oder auch schon mit grafischen Elementen direkt im Bild „übersetzt“ wurden.
Die Figur trägt übrigens den (männlichen) Namen Ares, wie die Zuschauer in den end credits erfahren oder, wenn sie extrem aufmerksam sind und sehr gute Augen haben, auf einer Karteikarte an einer Pinnwand im Hintergrund für knapp eine Sekunde sehen können. Ares – wie der griechische Gott des offensiven Zerstörungskrieges, des Blutbads und des Massakers.

Ares – hier im Continental-Hotel und daher im friedlichen Modus
Mit griechischer und auch mit römischer Mythologie kenne ich mich weniger gut aus als mit Filmen. Auch andere Figuren, etwa Gianna D‘Antonios Leibwächter Cassian oder der absolut grandios stilvolle und unendlich elegante Rezeptionist des New Yorker Continentals Charon tragen antike und mythologische Namen. JOHN WICK und JOHN WICK: CHAPTER 2, diese blutigen Rachegeschichten im Stile antiker Epen, anhand von griechischer und römischer Mythologie zu analysieren, dürfte vielleicht auch ganz interessant sein. Aber das wäre ein anderer Text von einer anderen Person.

Lesenswertes zu JOHN WICK: CHAPTER 2 und dessen Verbindungen zum Slapstick-Film
À propos andere Personen... SHERLOCK JR., die Paranoia im Stile von COPS, das Chaplin‘sche Spiegelkabinett, die Verbindung zu M, die Symbolhaftigkeit der stummen Leibwächterin – das ist mir alles sofort bei der Sichtung im Kino im Februar dieses Jahres schon aufgefallen. Wer ein wenig googelt sieht, dass auch einige andere Leute das gemerkt haben. Einige Journalisten, Blogger und Video-Blogger haben gesehen, dass es eine Verbindung zwischen JOHN WICK: CHAPTER 2 und Stummfilme, Buster Keaton, Charlie Chaplin gibt. Meistens ist nur ein kurzer Nebensatz zu lesen, und der auf die Häuserfassade zu Beginn projizierte Film wird ab und zu fälschlicherweise als THE GENERAL identifiziert.

Am interessantesten und tiefgründigsten in dieser Materie war folgender Artikel (den ich schon oben verlinkt habe beim Abschnitt um das Lloyd-Poster):

In dem Blog „Silent London“ schreibt die Journalistin Pamela Hutchinson über Stummfilme, und führt zugleich eine Rubrik mit dem schönen Titel „At the Talkies“.
Sie interpretiert tatsächlich die Figur John Wick selbst als Tramp und argumentiert, dass Keanu Reeves mit seinen spärlichen Dialogen und seinen stoischen Gesichtsausdrücken durchaus versucht, in die Fußstapfen von Buster „Stoneface“ Keaton zu treten. Hutchinson betont auch, dass JOHN WICK: CHAPTER 2 wie die Stummfilmklassiker „handgemachte“ Action bietet: mit Schauspielern, die nach brachialem Training selbst die Actionszenen spielten und wenig CGI. Gegen Ende des Artikels zieht sie zwischen den Horden von Profikillern, die Wick massenhaft tötet, und den Keystone Kops eine Parallele, kritisiert aber auch sehr scharf die exzessive Gewalt von JOHN WICK: CHAPTER 2.

auch lesenswert:

Ein interessanter Aspekt wird hier aufgeworfen: nämlich dass beide JOHN WICK-Filme sehr geschickt den Kuleschow-Effekt nutzen, um aus Keanu Reeves‘ stoischem Gesicht das Maximale rauszuziehen. Ansonsten eine Analyse der Filme als Parallelwelten von Scheintoten sowie einige Ausführungen zum mythologischen Charakter (u. a. John Wick als moderner Odysseus, der allerdings keine Penelope mehr hat, zu der zurückkehren könnte).

Von nunmehr praktisch der ganzen Welt verfolg rennt John Wick mit seinem Hund weg...
...und wird im dritten Teil zurückkehren.
JOHN WICK: CHAPTER 2 ist in Deutschland kürzlich auf DVD erschienen (und auf blu-ray und auf Ultra-HD-blu-ray). Wie im Kino kam auch die Heimveröffentlichung ungeschnitten mit einer Einstufung „ab 18“ durch die FSK. Trotzdem hat der Film ein paar Federn verloren. Die grafischen Texteinblendungen, mit denen amerikanische Zeichensprache, Russisch, Italienisch und Hebräisch übersetzt werden, fehlen auf der deutschen DVD. Die Einblendungen fehlen übrigens auch auf der DVD des ersten Teils. Die Hinweise für Hörgeschädigte („dramatische Musik“, „Motorradgeräsuche“, „weiter bedrohliche Musik“ etc.) in den Untertiteln gingen mir ehrlich gesagt nach kurzer Zeit gehörig auf die Nerven. Damit möchte ich keineswegs die Sinnhaftigkeit von Untertiteln für Hörgeschädigte bezweifeln, sondern nur beklagen, dass oft nur ausschließlich diese als Übersetzungshilfe vorhanden sind. Jedenfalls schaltete ich die Untertitel aus – was so viel heißt, dass die italienischen Passagen dann unübersetzt blieben (die konnte ich mit meinen Grundkenntnissen der Sprache überbrücken), der eine hebräische Satz auch – und alles, was Ares mit Zeichensprache sagte, wurde ebenso wenig übersetzt. Das machte die Figur zwar mysteriöser und auch etwas bedrohlicher, nahm ihr aber auch ein Stück ihrer Ausdruckskraft (an einer Stelle möchte sie John Wick – in der Bar des Continentals – tatsächlich einfach nur zu einem Drink einladen: hier ein Clip dieses Moments). Das Problem ist in Deutschland nicht neu: die deutsche DVD von Tony Scotts teils spanisch-sprachigem Mexiko-Rache-Thriller MAN ON FIRE ist auch sämtlicher grafischer Schriftelemente „befreit“.
Wer zur britischen Heimveröffentlichung greifen möchte (wo die Einblendungen wahrscheinlich enthalten sind), sollte allerdings vorsichtig sein. Die BBFC ließ den Film für eine niedrigere Kinofreigabe (ab 15 statt ab 18) kürzen. Herumgeschnippelt wurde offenbar an der Selbstmordszene der Gianna D‘Antonio (siehe hier). Das wirft einige Fragen auf. Eine Frau, die in einem Akt der Selbstermächtigung sich vor den Augen ihres Killers die Pulsadern aufschneidet, war 15-Jährigen wohl nicht zuzumuten. War das zu „sozial desorientierend“, „verrohend“ – oder wie nennen englische Zensoren so etwas? Oder war es etwa, weil Gianna dabei nackt ist? Und warum sind dann Aberdutzende von extrem brutalen Erschießungen sowie das Abstechen mit mehr oder weniger scharfen Gegenständen (von Messern bis zu Bleistiften) für 15-Jährige okay? So, wie der Selbstmord Giannas jetzt verstümmelt ist, könnte man wahrscheinlich den Eindruck erhalten, dass sie sich friedlich in ihre große Badewanne legt und John Wick ihr heimtückisch von hinten in den Kopf schießt (was offenbar für 15-Jährige wieder völlig okay ist) – tatsächlich aber ist sie dabei schon tot. Das ist nun wirklich nicht das gleiche wie in dem Film eigentlich zu sehen ist. Gemäß schnittberichte.com jedenfalls wurde die geschnittene Fassung auf DVD und blu-ray veröffentlicht (ab 15) und die ungeschnittene Fassung (ab 18) nur auf der Ultra-HD-blu-ray.

Zu den US-amerikanischen, französischen und italienischen Veröffentlichungen kann ich nichts sagen – ungeschnitten werden sie wahrscheinlich alle sein, erstere wird mit Sicherheit die grafischen Bildinschriften haben.