Posts mit dem Label Türkei werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Türkei werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Freitag, 19. Juli 2019

BORN OF FIRE - wenn der Teufel Flöte spielt

BORN OF FIRE (DIE MACHT DES FEUERS)
Großbritannien 1987
Regie: Jamil Dehlavi
Darsteller: Peter Firth (Paul Bergson), Suzan Crowley (die Frau), Stefan Kalipha (Bilal), Oh-Tee (= Orla Thorkild Pedersen, Master Musician), Nabil Shaban (der Stumme), Jean Ainslie (Pauls Mutter)

Im Rhythmus der Musik ist ein Geheimnis verborgen. Wenn ich es preisgeben würde, würde es die Welt zum Umsturz bringen. (Jalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī)

Mit diesem Zitat des persischen Dichters und Mystikers aus dem 13. Jahrhundert (in Form einer Einblendung) beginnt BORN OF FIRE, und das mit dem Umsturz der Welt, um nicht zu sagen Untergang derselben, nimmt der Film durchaus ernst. Denn kein Geringerer als der Teufel persönlich bläst hier die Flöte, und zwar nicht zur Erbauung seiner Zuhörer.

Der Master Musician - seine Attribute sind Flöte und Feuer
Doch nach dem Vorspann beginnt es in England, fernab vom eigentlichen Ort der Handlung, mit profaneren Flötentönen: Der berufsmäßige Flötist Paul Bergson gibt ein Konzert (Peter Firth wird musikalisch gedoubelt vom nordirischen Virtuosen James Galway). Doch mitten beim Spiel überfallen ihn merkwürdige akustische und visuelle Visionen, er meint, eine orientalische Flöte zu hören, und muss das Konzert abbrechen. Zuvor hatte eine Astronomin, deren Namen man nie erfährt (in den Credits ist sie "the woman"), bei einer Sonnenfinsternis Merkwürdiges beobachtet: Der Mond, der sich vor die Sonne schob, sah plötzlich wie ein Totenkopf aus, und die Messgeräte zeichnen merkwürdige Veränderungen der Sonne auf, die mit einem Vulkanausbruch in Anatolien zusammenzuhängen scheinen - und dabei hörte sie dieselben Flötentöne wie Paul. Sie sucht ihn auf, und Pauls Mutter, die im Sterben liegt, scheint sie wiederzuerkennen. Es gibt offenbar irgendeine mysteriöse Verbindung zwischen Paul und der Frau, obwohl sie sich bisher nicht kannten. Vor ihrem Tod murmelt Pauls Mutter etwas kaum Verständliches über einen "Master Musician". Gemeinsam kommen Paul und die Frau zu der Überzeugung, dass der Schlüssel für die seltsamen Vorgänge in Kappadokien im Herzen der Türkei liegen muss. Dort kannte Pauls schon lange toter Vater, ebenfalls ein begnadeter Flötist, einen Master Musician, war sogar kurz sein Schüler - und ist dort kurz darauf auf bizarre Weise beim Flötenspiel verbrannt. Und genau dort ist nun der Vulkan Erciyes ausgebrochen (in Wirklichkeit ruht dieser über 3900 m hohe eindrucksvolle Vulkan schon seit langer Zeit).

Bizarre Architektur in Kappadokien
Die Sonne liefert immer noch ungewöhnliche Spektrallinien, und die Astronomin will den Ursachen auf den Grund gehen. Doch ihr Antrag auf eine Dienstreise nach Anatolien wird von ihrem Chef brüsk abgewiesen (die Sonne als Hauptreihenstern ist per se stabil, basta!), und so nimmt sie Urlaub, um auf eigene Rechnung hinzufahren. Dort, in der Nähe des Erciyes, läuft sie Paul über den Weg, der schon da ist und nun den Master Musician sucht. Hier in Kappadokien spielt nun der Hauptteil des Films. Gleich bei seiner Ankunft hätte Paul fast eine seltsame, schwarz verschleierte Frau über den Haufen gefahren. Man erkennt sie nicht auf Anhieb, aber auch sie wird wie die Astronomin von Suzan Crowley gespielt - sie ist auf irgendeine Art eine weitere Inkarnation von the woman. Die lokale Bevölkerung wirkt auf Paul abweisend und versteht ihn wohl auch überhaupt nicht (er kann ja nicht Türkisch), nur einer spricht Englisch, und er wird zum unersetzlichen Führer für die beiden Engländer: Bilal, der örtliche Muezzin und Imam. Er kannte schon Pauls Vater, und er weiß über den Master Musician Bescheid. Zu Pauls Verblüffung erklärt Bilal, dass die seltsame Frau auf der Straße ein Djinn, ein aus Feuer geschaffener Geist, gewesen sei. Noch eine ungewöhnliche Begegnung hat Paul: Mit einem stark verkrüppelten, kleinwüchsigen und sprachlosen Mann, der von allen nur "der Stumme" genannt wird.

Die beiden Inkarnationen der Frau; unten Getier in Großaufnahme
Paul hat auch Visionen von der verhüllten Frau, also dem Djinn, wie sie von einer Gruppe von Derwischen gesteinigt wird, und Bilal klärt ihn auf: Als die Frau noch ein Wesen aus Fleisch und Blut war, wurde sie vom Master Musician Pauls Vater zugeführt, der sie geheiratet hat. Kurz danach starben mehrere Kinder im Dorf, und die Frau wurde dafür verantwortlich gehalten, und so wurde sie von den Derwischen, die unter dem Einfluss des Master Musician stehen, zu Tode gesteinigt. Doch zuvor hatte sie noch ein missgestaltetes Kind zur Welt gebracht - keinen anderen als den Stummen, der also Pauls Halbbruder ist. Wie Bilal weiter erklärt, ist der Master Musician durch sein Flötenspiel der Herr des Feuers, und er ist gerade dabei, seine Herrschaft auszuweiten und die Welt in ihrer bisherigen Form zu vernichten - der Vulkanausbruch und die Vorgänge in der Sonne sind die ersten Anzeichen. Es gibt nur einen Weg, das Unheil abzuwenden - Paul muss den Master Musician in einem epischen Flötenduell besiegen und ihn damit vernichten. Freilich braucht er dazu eine innere Stärke, die er momentan noch nicht besitzt, und die auch seinem Vater abging, so dass er sein Duell verlor und vom Master Musician in seinem magischen Feuer geröstet wurde. Während Paul also von Bilal an seine große Aufgabe herangeführt wird, entwickelt sich die Frau zunehmend ambivalent. Es kommt ihr vor, als sei sie früher schon hier gewesen und kenne alles, und die anfangs sachliche, wenn auch sensible und empathische Wissenschaftlerin wirkt nun zunehmend animalisch und verhält sich befremdlich. Es wirkt, als hätte der Djinn, die andere Inkarnation von the woman, einen Teil ihrer Persönlichkeit übernommen, und als würde der Master Musician Einfluss auf sie gewinnen. Das kulminiert darin, dass sie auf mysteriöse Weise im Schnelldurchgang hochschwanger wird - und in den Wehen qualvoll stirbt, nachdem sie zuvor ein monströses lebendes Etwas in der Höhle des Master Musician abgelegt hat.

Bilal bereitet Paul auf seine Aufgabe vor; r.u. der Stumme
Während dieser Geschehnisse hat schon mehrfach der Master Musician eingegriffen, der wie ein uralter Dämon nackt in einer riesigen Tropfsteinhöhle im Berg haust (die freilich vom Feuer und nicht vom Wasser dominiert wird). Er weiß längst um die Anwesenheit der beiden Fremden und kennt ihre Absichten, er stößt bei Gelegenheit einen Feuerstrahl aus, und er faucht, aber er spricht kein einziges Wort. Wer oder was ist nun dieser Master Musician eigentlich? Man könnte zunächst an einen Dämon Lovecraft'scher Provenienz denken, doch eine Stelle aus der 15. Sure des Koran, aus der Bilal am Ende des Films in seiner Eigenschaft als Muezzin rezitiert, legt nahe, dass es sich um Iblis persönlich handelt, die islamische Variante das Satans. Nachdem Paul letzte Instruktionen von Bilal erhalten hat, ist er nun zum Duell bereit - und er erweist sich als der bessere Flötist (was genau das in diesem Kontext auch heißen mag), außerdem wird er von einem von Wasser umgebenen Steinkreis geschützt, und der Stumme unterstützt ihn mit einer Art von körperbetontem Gebet. Jedenfalls gewinnt Paul das Duell, die Höhle des Master Musician wird von hereinbrechenden Wassermassen geflutet, und der Erzdämon ertrinkt darin. Die Welt ist gerettet, Bilal ruft in seiner Moschee zum Gebet, und die lange aus dem Film verschwundenen Dorfbewohner tauchen wieder auf. Doch ist der Master Musician wirklich vernichtet? Eine der letzten Szenen des Films weckt Zweifel. Vielleicht geht der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen der von Allah gegebenen Ordnung und seinem Widersacher, nur in eine neue Runde, vielleicht wird er nie enden ...

Derwische - hier in der Realität nicht in Kappadokien, sondern auf dem Nemrut Dağı, und r.u. in Pamukkale
BORN OF FIRE ist ein visuell sehr beeindruckender Horrorfilm mit vielen bizarr-surrealen Sequenzen, der von der Gedankenwelt der islamischen Mystik zehrt - schon allein das macht ihn in der Welt des westlichen Horrorfilm zu einem ungewöhnlichen Exemplar. Immer wieder wird eine beklemmende Atmosphäre kreiert, indem die Aktionen der Menschen und übernatürlichen Wesen mit Zwischenschnitten auf negativ konnotiertes Getier (Schlangen, Echsen, Insekten etc.) in teilweiser extremer Großaufnahme angereichert werden. Höhepunkt in dieser Hinsicht ist die Wehen- und Sterbeszene der Frau, zu der in Parallelmontage das von ihr in der Höhle abgelegte Wesen, eine Art von übergroßem verpupptem Insekt, sich aus seiner Hülle freiknabbert und den sehr unangenehmen Eindruck erweckt, als würde die Frau selbst von innen her angeknabbert und daran sterben. Diese grandiose Szene hat mich ein bisschen an ALIEN und auch an den Schluss von ERASERHEAD erinnert. Unterstützt werden diese und weitere beklemmende Sequenzen vom dichten Soundtrack des englischen Komponisten Colin Towns, der ohne vordergründige Schockmomente sehr gekonnt die unheimliche Atmosphäre unterstützt bzw. selbst aufbaut. Erwähnt sei noch, dass die orientalische Nay-Flöte im Film vom türkischen Komponisten und Flötisten Kudsi Ergüner gespielt wird - James Galway hatte ich ja bereits erwähnt.


Die größte Stärke von BORN OF FIRE, dessen türkischer Teil vor Ort an echten Schauplätzen in der Türkei (und dort nicht nur in Kappadokien, sondern über halb Anatolien verteilt) gedreht wurde, ist für mich die organische Einbindung dieser teilweise grandiosen Schauplätze in die Handlung. Byzantinische, wenn nicht gar frühchristliche Kirchen und Fresken, kappadokische Höhlen- und geradezu bizarre Tuffkegelarchitektur, die kolossalen Statuenfragmente auf dem Nemrut Dağı, und vor allem die berühmten weißen Kalksinterterrassen von Pamukkale - all das und noch mehr ist zwanglos und überaus wirkungsvoll integriert. Auch die Bilder vom Vulkanausbruch sind kein Archivmaterial, sondern wurden eigens für den Film gedreht, allerdings nicht in der Türkei, sondern auf Réunion (mehr darüber an anderer Stelle).

Die Frau ist tot, und der Stumme trauert um sie
Der 1944 im damaligen Kalkutta geborene Jamil Dehlavi ist der Sohn eines pakistanischen Diplomaten und einer Französin, und er ist aufgrund des Berufs seines Vater schon früh weit herumgekommen, hat exquisite Schulen und Universitäten besucht und spricht fünf Sprachen. Nach einem in New York gedrehten Kurzfilm folgte 1975 der mittellange, in Pakistan gedrehte TOWERS OF SILENCE, und 1977 drehte er ebenfalls in Pakistan THE BLOOD OF HUSSEIN, in dem die Geschichte des von den Schiiten verehrten Prophetenenkels Hussein in die Gegenwart versetzt und mit einer Militärdiktatur verquickt wird. Zwar war das laut Aussage von Dehlavi auf einem allgemein-abstraktem Niveau gemeint und nicht auf Pakistan gemünzt, aber dem Militär im Land gefiel das gar nicht, und obwohl der Film von einer staatlichen pakistanischen Filmagentur gefördert worden war, wurde er von der Zensur verboten, bevor er überhaupt fertiggestellt war. Und kurz nach Abschluss der Dreharbeiten putschte auch noch das Militär, und General Zia-ul-Haq übernahm die Macht. Jetzt wurde auch noch Dehlavis Reisepass eingezogen, und er erhielt Berufsverbot im Filmgeschäft. Zum Glück hatte er das Negativ von THE BLOOD OF HUSSEIN bereits zur Entwicklung nach London geschickt, sonst wäre es wohl vernichtet worden. Zwar hätte Dehlavi auf Schleichwegen das Land verlassen können, wie er selbst meint, aber aus Rücksicht auf seine Mutter und auf seinen Bruder, der wie der Vater im diplomatischen Dienst stand, hielt er aus und hielt sich mit Werbeclips für das Fernsehen über Wasser. Aber nach zwei Jahren hatte er dann doch genug, entwich über den Khyberpass nach Afghanistan und flog von dort nach Europa.

Das finale Duell kann beginnen
Als erstes nahm er nun in London die Endfertigung von THE BLOOD OF HUSSEIN in Angriff. Der Film hatte 1980 in Cannes Premiere, und ironischerweise musste ausgerechnet Dehlavis Bruder, damals Geschäftsträger in Paris, auf Geheiß seiner Regierung gegen die Vorführung protestieren, freilich ohne Erfolg. THE BLOOD OF HUSSEIN gewann auf einigen Festivals Preise, wie fast alle anderen Filme Dehlavis auch. Dehlavi lebte und arbeitete nun vorwiegend in England. Ein Verantwortlicher beim damals noch jungen und experimentierfreudigen Fernsehsender Channel 4 mochte THE BLOOD OF HUSSEIN, und der Sender übernahm die Finanzierung von BORN OF FIRE, Dehlavis nächstem Film, und strahlte ihn 1988 auch auf einem prominenten Sendeplatz aus, nachdem er zuvor schon eine Kinoauswertung im Königreich und einigen anderen Ländern erlebt hatte. Auch BORN OF FIRE hatte Erfolg auf Festivals, aber die Kritiken in England waren eher durchwachsen. Manch einer fand den Film unverständlich. In der Tat, wer bei einem Horrorfilm (oder einem Film überhaupt) Wert auf Logik und eine durchgehend verständliche Handlung legt, wird mit BORN OF FIRE nicht so recht glücklich werden. Wer dagegen einen vorwiegend visuell erzählten surrealen Albtraum zu schätzen weiß, der ist hier genau richtig. Ich kenne keinen weiteren der Filme von Dehlavi und kann deshalb keine allgemeinen Angaben zu seinem Stil und Eigenheiten machen. Immerhin erfährt man von Nabil Shaban und Colin Towns auf der Blu-ray (s.u.), dass er sich bei den Dreharbeiten in der Türkei von den Gegebenheiten vor Ort inspirieren ließ, statt starr am Drehbuch zu kleben, und dass er immer offen für Änderungsvorschläge der anderen Mitwirkenden war.

Jamil Dehlavi 2018 beim Interview
BORN OF FIRE erschien Ende der 80er Jahre auf VHS und Laserdisc, so dass er in den einschlägigen Fankreisen nicht in Vergessenheit geriet, und vor ca. zehn Jahren in den USA auf DVD. 2018 veranstaltete das British Film Institute eine große Dehlavi-Retrospektive, bei der man wohl erstmals sein Werk in der Gesamtschau überblicken konnte. Ebenfalls 2018 erschien in England BORN OF FIRE auf einer Blu-ray mit vorzüglichem Bonusmaterial. Wer Interesse hat, sollte sich sputen, denn diese Edition ist auf 3000 Exemplare limitiert - noch sind die Preise im normalen Bereich. - Noch mehr über Dehlavi und seine Filme mit kurzen Ausschnitten gibt es hier. - Leider ist es mir nicht gelungen, direkt vom Film auf der Blu-ray Screenshots anzufertigen. Die Industrie in ihrer nicht enden wollenden Weisheit hat da einen zusätzlichen Schutzmechanismus implementiert, der mir bisher bei Blu-rays noch nicht begegnet ist. Zum Glück wurde wenigstens beim Bonusmaterial auf diesen Unsinn verzichtet, und in den Interviews mit Dehlavi, Nabil Shaban, Peter Firth und Colin Towns wurden auch Ausschnitte aus dem Film untergebracht, so dass es hier doch noch Screenshots gibt, wenn auch nicht in der Auswahl und Qualität, die mir vorschwebte.

Sonntag, 3. Dezember 2017

Wiesbaden XXX – Eindrücke vom 30. exground Filmfest


Donnerstag, 23. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne


Vorfilm 1
youth-days-Trailer
Regie: diverse
Deutschland 2017
Die youth days, eine feste Rubrik des exground, vereint Filme über Jugendliche und/oder von Jugendlichen. Der Trailer dazu wurde von einem Kollektiv geflüchteter Jugendlicher aus Afghanistan, Pakistan, Somalia, Irak und Syrien gedreht, die bei der Vorführung auch anwesend waren. Es ist bisschen schade, dass es etwa zehn Minuten dauerte, bis sowohl Bild wie auch Ton funktionierten (und das auch noch gleichzeitig und synchron) – aber davon ließen sich die Macher nicht ihre gute Laune verderben. Der kurze Trailer, der die Daten der bisherigen youth days mit popartig verfremdeten Bildern der jeweiligen Plakate und grafischen Schriftspielereien präsentiert, haut einen nicht aus den Socken, aber es ist ja auch ein Amateurfilm, der zudem auch angenehm frisch und nicht so glattgebügelt wie der Hauptfestival-Trailer wirkte.


Vorfilm 2
MORSEN
Regie: Simon Spitzer, Jessyca R. Hauser
Österreich 2017, 6 Minuten
Zwei Mädchenmannschaften spielen die kanadische Sportart Lacrosse (so eine Art Hockey, wo man den Ball nicht schlägt, sondern ihn in einem am Ende des Stocks befestigten Korb trägt). Ein faires, aber auch hartes Spiel.
MORSEN ist wie ein Musikvideo inszeniert. Es wechseln sich Szenen auf dem Rasenspielplatz im Freien ab mit nachgespielten Momenten vor einem tiefen Schwarz – letztere sind besonders beeindruckend auf einer großen Leinwand. Die großen Pathosmomente eines Spiels, besonders wenn zwei Mädchen knüppelhart aneinandergeraten, werden in ausgedehnten, stilisierten Zeitlupen präsentiert. Jungs gibt es auch zu sehen, nämlich als Bläserkapelle, die den Mädchen einen deftigen, leicht Balkan-Beat-angehauchten Soundtrack zu ihren Bewegungen liefert.
Kurzweilig, gekonnt inszeniert, sehr schön.
Ich bin mir nicht sicher, ob möglicherweise das Team „integrativ“ ist, denn zwei Mädchen sahen so aus, als hätten sie Down-Syndrom. Der Film thematisiert das allerdings überhaupt nicht, was ich absolut bewundernswert fände (die sind im Team, und was anders zählt hier nicht).



Hauptfilm
WEIRDOS
Regie: Bruce McDonald
Kanada 2016, 84 Minuten
Nova Scotia am 3. Juli 1976. Die beiden Jugendlichen Kit und Alice reißen von Zuhause aus, um in Sydney (nicht die australische Metropole, sondern die Kleinstadt an der kanadischen Ostküste) eine Strandparty zu besuchen und einige Tage bei Kits Mutter zu verbringen. Für das Pärchen wird der Trip zu einem größeren und schwierigeren Abenteuer als gedacht.
WEIRDOS war in meinem Veranstaltungsplan als der Höhepunkt des ersten Tages vorgesehen. Die Erwartungen waren recht hoch, denn Bruce McDonald ist mir als der Regisseur des außergewöhnlichen PONTYPOOL bekannt, in dem ein Radiomoderator in seinem Studio nur über Funk Anzeichen einer Apokalypse bzw. einer durch „infizierte“ Worte ausgelöste Zombieseuche draußen wahrnimmt. Dieser recht einzigartige Film (als Orientierung könnte man sagen: eine Mischung aus Oliver Stones TALK RADIO und George Romeros DAY OF THE DEAD) hat die Messlatte vielleicht zu hoch gelegt. WEIRDOS war im Vergleich eine milde Enttäuschung.
McDonalds neuer Film ist ein Roadmovie in Cinemascope und Schwarzweiß. Ein Retro-Film sozusagen, der sich keineswegs nur auf seinem Post-1968-Feeling ausruht, sondern in vielerlei Hinsicht recht ambitioniert ist. Vielleicht zu ambitioniert. Road-Movie, Coming-Of-Age, Coming-Out, Generationen-Clash, Pop- und Undergroundkultur, 1968, seine Folgen und sein Katzenjammer – da kommt sehr vieles zusammen. WEIRDOS verbindet das ganze zu einer Ansammlung von kleinen Vignetten, die im einzelnen manchmal ganz reizvoll sein mögen, aber schlussendlich ein wenig beliebig und ohne Rhythmus erscheinen. Wenn Kit und ein Jugendlicher aus einer Gruppe von Bekannten, die die beiden trampenden Ausreisser mitgenommen haben, sich über sehnsüchtige Blicke langsam annähern, zeigen sich kleine Perlen visueller Erzählkraft. Wenn Kit einsam auf dem Sand liegt, im Hintergrund ein brennendes Feuer oder später eine aufgehende Sonne, erweist sich das Cinemascope als das richtige Format (in anderen Momenten erscheint er komplett beliebig). Wenn Kit Visionen davon hat, dass Andy Warhol ihm erscheint und ihm irgendwelche Tips für unterwegs gibt, wirkt die Komik allerdings etwas krampfhaft.
Das strahlende Licht von WEIRDOS ist allerdings ganz eindeutig die zwanzigjährige Julia Sarah Stone als Alice: frisch, keck, natürlich, charismatisch, aber geerdet – ein echter Star ohne oberflächliche Starallüren. Ihr Gesicht und ihre Mimik bilden eine ganz eigene, nonverbale Gefühlswelt. Der Film merkt das zwischendurch, verweilt manchmal wesentlich länger als dramaturgisch nötig auf ihrem Gesicht. Dass er sich zwingt, dann doch weiter zu erzählen, gehört zu seinen großen Schwächen. WEIRDOS wirkt daher auch sehr dissonant: das Drehbuch interessiert sich ganz offensichtlich mehr für Kit und das Drama seines Coming-Out und seiner schwierigen Beziehung zu seiner Mutter – doch das ganze Charisma des Films trägt die Figur Alice. Dylan Authors ist keineswegs schlecht als Kit, aber er spielt eben nur nach Drehbuch und verblasst gegenüber Stone.



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne

Internationaler Kurzfilm-Wettbewerb, Teil 1


THE DOCKWORKER‘S DREAM
Regie: Bill Morrison
Portugal / USA 2016 18 Minuten
Portugal in den 1920er, vielleicht auch 1910er Jahren: Einblicke in Häfen, Textil- und Papierfabriken, Straßenszenen und schließlich Safari-Aufnahmen aus Afrika (wahrscheinlich dem portugiesisch kolonisierten Teil).
Bill Morrison, über dessen Dokumentarfilm um die Bergung mehrerer Hunderter Filme im kanadischen Norden (DAWSON CITY: FROZEN TIME) Manfred hier kürzlich schrieb, präsentiert hier eine 18-minütige Collage, eine Art „Best-Of“ von dokumentarischen Stummfilmszenen, teilweise vielleicht Amateuraufnahmen, die er in portugiesischen Filmarchiven gefunden hat und die größtenteils aus den 1920er Jahren stammen dürften. Das ganze wird mit einer elektronischen Musik unterlegt, bei der sich die Interpreten ganz offensichtlich etwas gedacht haben: die präzise Montage der Ausschnitte erzeugt zusammen mit der Musik einen faszinierenden, hypnotischen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. THE DOCKWORKER‘S DREAM wirkt paradoxerweise gleichzeitig von einer archaischen Kraft und einer großen Modernität.
Bill Morrison ist voll und ganz Materialist und nimmt die Ausschnitte so, wie sie sind. Die Bildqualität der gezeigten Filme schwankt zwischen erstaunlich gut und so-la-la mittelmäßig, und an einigen Stellen ist die Zerstörung des Materials so weit, dass nur noch Schemen der Motive zu erkennen sind (woraus er in DECASIA einen ganzen Film machte). Was angesichts des Materials erstaunlich ist, ist die technische Gewandtheit: eine Szene in einer Textilfabrik (wahrscheinlich ein Industriefilm?) erforderte ganz offensichtlich einen sehr ausgeklügelten Dolly. Die Safari-Szenen sind noch beeindruckender: da hat sich ein Kameramann (nur ein Amateur?) tatsächlich teilweise aus halsbrecherisch schnell fahrenden Auto gelehnt und dabei die vorbeiflitzende Landschaft und galoppierende Tiere gefilmt.


SHEEPO
Regie: Ian Robertson
UK 2017, 4 Minuten
Ein Schafscherer erzählt von seinem Arbeitsalltag...
... klingt langweilig? SHEEPO ist kein Mini-Kitchen-Sink-Drama, sondern wird wie eine Art Actionfilm inszeniert, als würde hier nicht ein Mann mehrere Schafe scheren, sondern mit einem Rennwagen durch die Kurve fahren. Aus einer rasanten Montage der Bilder und des Tons wird der Rausch des Wettbewerbs um das schnellste Scheren, von dem der Protagonist erzählt, sichtbar und fühlbar gemacht.



HAMBRE („Hunger“)
Regie: Alejandro Montalvo
Mexiko 2017, 15 Minuten
Der Protagonist, der gerade Sex mit einer sehr dicken Frau hat und dabei stirbt, erzählt in Rückblende von seinem monotonen Leben als langweiliger, biederer Musterbeamter und Musterehemann, und davon, wie er an seinem 57. Geburtstag explodiert, all seiner Familie und Freunden unbequeme Wahrheiten auftischt und ausbricht.
Der Kurzfilmwettbewerb geht auf höchstem Niveau weiter. Die Erzählung in präzise kadrierten Tableaus erinnert zu Beginn ein wenig an Wes Andersons Stil, später kommt ein ätzender, schwarzer Humor hinzu, der irgendwo zwischen Chabrol und Chatiliez angesiedelt ist. Formal ist HAMBRE absolut vollendet. Das zeigt sich bei der großen Geburtstagsfeier, die mit fröhlichem Anstoßen und einer zunächst klassischen Ansprache des Erzählers beginnt, bis dieser abdriftet und zu einem allgemeinen verbalen Rundumschlag der Selbstanklage und Anklage ausholt und schließlich die verdatterten Familienangehörigen und Gäste sitzen lässt – der allmähliche Spannungsaufbau wird auch dadurch begünstigt, dass dies alles als eine einzige, fließende Plansequenz gefilmt ist.


IN A NUTSHELL
Regie: Fabio Friedli
Schweiz 2017, 6 Minuten
Gemüse, S-&-M-Kleidung, Bomben und ihre Bestandteile und überhaupt die ganze Welt hängen zusammen – eines geht in das andere über.
Ein experimenteller Spot-Motion-Film.
Zunächst dachte ich, dass der Macher der Bücher „Kunst aufräumen“ dahinter steht (der auch Schweizer ist): schließlich werden in IN A NUTSHELL auch Gegenstände einfach nur durch ihre systematische, „aufgeräumte“ Anordnung verfremdet, aber das hat sich dann doch als Täuschung erwiesen. Wer „Kunst aufräumen“ mochte, wird aber auch IN A NUTSHELL toll finden. Ich tat es.



ASFALT („Asphalt“)
Regie: Süleyman Demirel
Türkei 2016, 11 Minuten
Ein Mann und eine Frau sitzen im Taxi, scheinen sich aber nicht zu kennen. Durch einen Anruf kommt heraus, dass die Ehefrau des männlichen Gasts gerade eine Fehlgeburt erlitten hat. Später wird klar, dass der weibliche Taxigast besagte Frau ist.
Ein kurzes Kleinod in Cinemascope! In ausgedehnten Takes erzählt ASFALT nicht von Patriarchat, Familientragödien, Entfremdung in der Ehe, sondern behandelt diese Themen auf einer fast rein visuellen Ebene. Das Cinemascope-Format lässt nämlich sehr, sehr viel Platz zwischen den beiden Passagieren zu. Zwischendurch dreht sich die Kamera zum Fenster, drängt die Köpfe der Protagonisten an den Rand und blickt für etwa eine Minute hinaus: die Landschaft ist leicht verschwommen, weil der Schärfefokus auf die Wassertropfen am Fenster gesetzt ist. Später guckt die Kamera wieder aus dem Fenster und draußen ist mittlerweile der helle Wahnsinn ausgebrochen: in leicht verschwommenen Schemen erkennt man, wie ein Baum niederstürzt, ein Feldbrand beängstigende Ausmaße erreicht und Dutzende abgeschlachtete Kühe in großen Blutpfützen liegen. Familientragödie vermischt sich mit einer schaurigen, apokalyptischen Horror-Atmosphäre. ASFALT dauert nur 11 Minuten, ist aber dennoch großes Kino.


FATIMA MARIE TORRES AND THE INVASION OF SPACE SHUTTLE PINAS 25
Regie: Carlo Francisco Manatad
Philippinen 2016, 16 Minuten
Das philippinische Raumfahrtprogramm schickt zum ersten Mal Astronauten ins All. Das hat Auswirkungen auf das Leben eines älteren Ehepaars. Sie verzehrt sich geradezu vor Lust für ihren neuen Tanztrainer, findet es ganz normal, dass Sachen aus dem All auf ihre Terrasse fallen und hat einen Koffer, der beim Öffnen goldenes Licht ausstrahlt und furchterregende Geräusche macht (KISS ME DEADLY lässt grüßen). Er (der entfernt wie Mr. Miyagi aus THE KARATE KID aussieht) kann Messer schweben lassen, fällt aber zwischendurch auf der Straße in einen offenen Abwasserschacht hinein.
Die Langfilmfassung dieses merkwürdigen, surrealistischen Etwas würde ich mir wohl lieber nicht unbedingt antun wollen. Aber wenn er auch kein Highlight des Abends war: irgendwie mochte ich diesen Film doch ganz gut. Und dass man mit Weihnachtslichterketten nicht nur seine Fenster ausleuchten, sondern auch Schwung ins Ehebett bringen kann, ist doch auch gut zu wissen!


ALCLGLT
Regie: Nick Teplov
Deutschland 2017, 5 Minuten
Eine Art grafisch-elektronische Spurensuche nach der Ursprache der Menschheit.
Der Film beginnt mit einer Texttafel: der Mensch habe vor so und so vielen Jahren angefangen, Sprache zu entwickeln. Dann folgen verzerrte Film-, meist jedoch rein computergenerierte Bilder: ein ununterbrochener Fluss, der sich von rechts nach links bewegt (ein bisschen wie die Stargate-Sequenz von 2001: A SPACE ODYSSEY – bloß mit horizontaler statt vertikaler Bewegung). Dazu gibt es elektronische Musik, teils kakophonische elektronische Rückkoppelungsgeräusche. Ab und zu werden einige fremdartige Worte eingeblendet, die von einem Sprecher vorgelesen werden. Ich glaube, wenn man den Film in Dauerschleife spielen würde, könnte man ihn problemlos als Videoinstallationskunst präsentieren, was ich tatsächlich nicht negativ meine (dem restlichen Publikum schien er aber mehrheitlich nicht zu gefallen). Der Versuch, die Entstehung von Sprache in Urzeiten filmisch darzustellen, ist meiner Meinung nach gar nicht so schlecht gelungen. Trotz der elektronischen Mittel entwickelt der Film rasch eine sehr archaische Kraft: als hätte eine Kamera die Träume eines „Ur-Sprechers“ gefilmt.
Der Regisseur war anwesend und erzählte von dem, wenn man so will, wesentlich trivialeren Entstehungshintergrund. Bei einem Seminar an der Bauhaus-Uni Weimar kamen Dichter und Filmemacher zusammen, um Gedichte audiovisuell zu adaptieren. Nick Teplov visualisierte das Gedicht eines Kaukasiers, das in einer nahezu ausgestorbenen kaukasischen Bergsprache verfasst war.


DIE BRÜCKE ÜBER DEN FLUSS
Regie: Jadwiga Kowalska
Schweiz 2016, 6 Minuten
Ein Mann möchte wegen seines Herzschmerzes von einer Brücke springen. Eine Menschenansammlung auf einer etwas weiter flußaufwärts stehenden Brücke hält ihn durch Zurufen davon ab – und bringt sich selbst in Gefahr.
Ich bin zwiegespalten. Einerseits versprüht dieser animierte Film etwas, was man durchaus als visuelle Poesie bezeichnen könnte. Andererseits hat er etwas von einem nihilistischen Kneipenwitz mit bitterem Beigeschmack.



Freitag 24. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne

Vorfilm
ELASTIC RECURRENCE
Regie: Johan Rijpma
Niederlande 2017, 2 Minuten
Ein Porzellanteller wird fallen gelassen, zerbricht – und die Scherben wiederum entfalten sich zu immer längeren Ketten.
Ein schönes visuelles Gedicht.



Hauptfilm
120 BATTEMENTS PAR MINUTE
Regie: Robin Campillo
Frankreich 2017, 140 Minuten
Anfang der 1990er Jahre: Der Pariser Ableger von Act-Up inszeniert provokante Aktionen, um die politische und gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber AIDS zu bekämpfen und die pharmazeutische Forschung zur Freigabe von Ergebnissen zu bewegen.
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES war von mir als erwarteter Höhepunkt des Tages vorgesehen, aber auch heute kam es anders. Alleine wegen 120 BATTEMENTS PAR MINUTE hat sich meine Reise nach Wiesbaden gelohnt, auch wenn ich in den der ersten Dreiviertelstunde kaum Zeit hatte, das überhaupt zu merken. Mit einem furiosen Tempo stürzt Robin Campillo (selber ein ehemaliger Act-Up-Aktivist) den Zuschauer mitten in die hitzigen Debatten bei den wöchentlichen Meetings, in die aufrührerischen, teilweise eskalierenden Aktionen der Gruppe bei Vorträgen der staatlichen AIDS-Kommission oder in den Büroräumen eines Pharmakonzern, in die stroboskop-beleuchteten Nachtclubs, in denen die Aktivisten nach mehr oder minder gelungenen Aktionen tanzen und feiern.
Etwa zwei Dutzend Figuren werden dabei „nebenbei“ vorgestellt. 120 BATTEMENTS PAR MINUTE interessiert sich nicht für konventionelle Dramaturgie, ist vor allem ein radikal demokratischer Ensemble-Film. In der ersten Hälfte gibt es keine eigentliche Hauptfigur. Im weiteren Verlauf rücken Sean und Nathan etwas mehr in den Fokus: ersterer ein Aktivist, den man wohl dem „ultraradikalen“, eskalationsbereiten Flügel der Gruppe zurechnen könnte, letzterer ein HIV-negativer, eher schüchterner Mann, der Seans neuer Liebhaber wird. Dass die beiden in der zweiten Hälfte etwas mehr in den Mittelpunkt rücken, ist eher strukturell als wirklich dramaturgisch motiviert. Ihre Beziehung, die in einem anderen Film zum Tränendrüsendrücker ausgeschlachtet werden würde, wird zum Kristallisationspunkt der behandelten Themen. In den intimen Zweierszenen der beiden, ihren langen Gesprächen, geht es im Grunde immer um harte politische Fragen. „Das Private ist politisch“ und auch Seans Sterben und schließlich sein Tod gegen Ende des Films ist politisch. Kein Unfall, sondern ein Opfer von Gleichgültigkeit, von politischen Verzögerungstaktiken – auch wenn Sean selbst nach seinem Tod gleichgültigen Versicherungsvertretern ans Bein pinkelt bzw. ihr Essen verdirbt.
So dramaturgisch offen die Struktur, so groß ist die intellektuelle und emotionale Komplexität, die 120 BATTEMENTS PAR MINUTE seinen Zuschauern guten Gewissens zumutet. Die portraitierte Act-Up-Gruppe ist extrem heterogen: HIV-Positive und -Negative, junge, flamboyante linksradikale Schwulen-Aktivisten und unscheinbar, bieder-respektable Mittvierziger-Damen, Alpha-Männchen und stille Teenager. Den erbitterten Grabenkämpfen zwischen Radikalen und Pragmatikern zuzusehen, die auch noch durch ganz persönliche Animositäten genährt werden, ist bisweilen schmerzhaft – und in ihrer durchaus gerechten Sturheit wirken die Radikalen manchmal grenzwertig unsympathisch. In einer Schule, wo die Aktivisten Flyer verteilen: Lehrer, die ihnen Sexualisierung der Jugend vorwerfen, andere die ihnen gerne das freie Wort erteilen, weil die Sache so wichtig ist; Schüler, die bei der Erwähnung von Oralverkehr kichern, andere, die die Aktivisten wie Helden bewundernd anschauen und die nächsten, die sie als Tunten beschimpfen. Nathan erzählt zärtlich von einem vergangenen Geliebten – und davon, dass er sich weigerte, ihn im Krankenhaus zu besuchen, als er dort wahrscheinlich sterbend lag. Der unbändige Zorn der Act-Ups bei der Besetzung des Pharma-Konzerns betrifft zunächst ganz offensichtlich Personen, die mit der Medikamentenzulassungspolitik nichts zu tun haben. Seans Mutter, die den Aktivismus ihres Sohns wohl eher nolens volens tolerierte, verhandelt nach seinem Tod mit dessen Act-Up-Kollegen über die gerechte Verteilung seiner Asche. Kurz: Die Gesellschaft und die Gefühle, die 120 BATTEMENTS PAR MINUTE zeigt, sind gespalten und komplex. Der Film entscheidet sich dagegen, irgendetwas zu vereinfachen.
Robin Campillo hat nicht nur einen sehr demokratischen Film gedreht, sondern auch einen Film, der genauso zornig und bewegt ist wie die Aktivisten, die er portraitiert. Und es ist auch ein Film für das Leben – auch wenn einige der Protagonisten ihren eigenen frühen Tod bereits vor den Augen haben. Spielerische Debatten, lustvoller Sex, größenwahnsinniges Phantasieren über praktisch unrealisierbare Aktionen – 120 BATTEMENTS PAR MINUTE ist auch ein Film von unbändiger Lebensfreude. „Des molécules pour qu‘on s‘encule!“ (Moleküle, damit wir arschficken können) soll das Motto von Act Up bei einer Gay Pride werden – politisch und witzig, nicht resigniert und trist. Die ganze Seine soll blutrot gefärbt werden, so eine der überambitionierten Ideen für eine Aktion. Diese Phantasie kann das Kino (mit ein paar Computereffekten) realisieren. Dieses letzte Bild: vielleicht ein Traum von Seans Seele, dessen Asche in einer herzerwärmenden Szene zuvor von seinen Genossen auf das köstliche Partybüffet eines Pharmaunternehmens geschmissen wird (so etwas in der Art hatte Sean in seinem Testament gewünscht).
Die 120 Schläge pro Minute sind die schnellen Tanzbeats in der Feierabend-Disco; sie sind die Herzfrequenz, wenn man gerade illegal das Büro eines Pharmakonzerns betreten hat und ein Wasserballon mit Kunstblut auf das Logo an der Wand schmeißt; 120 BATTEMENTS PAR MINUTE läuft seit 30. November in einigen deutschen Kinos.



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne

COPA-LOCA
Regie: Christos Massalas
Griechenland 2017, 14 Minuten
Am griechischen Touristenort Copa-Loca ist außerhalb der Touristensaison im Sommer tote Hose. Um das auszugleichen, schläft Paulina gerne mit jedem Mann am Ort, der nicht bei drei auf den Bäumen ist und philosophiert mit ihnen über die Cocktail-Saisonkarte und über Dilemmata à la „Wenn du eine Deformation an der Hand hättest, was wäre dir lieber: vier oder sechs Finger?“
Gezwungen skurril. Irgendwie nicht meins.



SULUKULE MON AMOUR
Regie: Azra Deniz Okyay
Türkei 2016, 6 Minuten
Im Istanbuler Stadtteil Sulukule revoltieren zwei Mädchen gegen ihre patriarchalische Umgbung, indem sie in der Öffentlichkeit tanzen.
Die beiden Hauptfiguren werden dafür angefeindet, begafft, angepöbelt, von Sicherheitskräften vertrieben. Dass sie auch noch keine ethnische Türkinnen, sondern Romnja sind, ist dabei auch keine große Hilfe. SULUKULE MON AMOUR steht aber voll und ganz zu ihnen und in spektakulären Zeitlupenbildern, Untersichten und ausgesuchten Posen vor atemberaubenden Istanbul-Panoramen werden die beiden rein visuell zu verwegenen Heldinnen gemacht.



MANIVALD
Regie: Chintis Lundgren
Estland / Kroatien / Kanada 2017, 13 Minuten
Der 32-jährige, hochgebildete, aber offenbar arbeitslose Manivald lebt bei seiner überdominanten Mutter. Als die heimische Waschmaschine kaputt geht, kommt ein muskulöser, attraktiver Handwerker vorbei. Der lässt sich zunächst bereitwillig von Manivald verführen, schläft aber wenig später auch mit der Mutter. Eine Mutter-Sohn-Krise und ein lange überfälliger Auszug folgen...
...ach ja, und das ganze ist übrigens ein Animationsfilm mit anthropomorphen Füchsen als Figuren! Dass es so gut funktioniert, liegt wohl daran, dass MANIVALD das ganze ohne jegliche Selbstironie vollkommen ernsthaft durchzieht. Ein frecher, frischer und ganz un-jugendfreier Humor durchzieht diesen Film, der genauso als absurde Komödie funktioniert wie auch als kurzes Drama über ein verspätetes Coming-of-Age.


THREE STEPS
Regie: Ioseb Bliadze
Georgien / Deutschland, 19 Minuten
In einem Elendsvorort von Tiflis leben unter anderem Mariam und ihr Vater. Das junge Mädchen hat es da schwer: erste Perioden, latente Gewalt, patriarchalischer Irrsinn, Heuchelei und Väter, die ihre Töchter zum Diebstahl zwingen oder gar prostituieren.
THREE STEPS wurde von der Jury zum Gewinner des internationalen Kurzfilmwettbewerbs gekürt. Für mich persönlich ist dies angesichts der tollen Filme, die da liefen, eine völlig unverständliche Entscheidung. THREE STEPS mag zwar eine „realitätsnahe“ (man könnte auch sagen trostlose) Perspektive auf Elendsviertel bieten, aber diese Mischung aus demonstrativ ausgestellter „Problemorientierung“ und exploitativem (aber dennoch verklemmten) Voyeurismus sagt mir überhaupt nicht zu.



AYNY
Regie: Ahmad Saleh
Deutschland 2016, 11 Minuten
Irgendwo im Nahen Osten: zwei Brüder hören von ihrer Mutter ein Märchen. Wenn Häuser zerstört werden, wachsen Blumen nach, in denen sich wiederum neue Häuser befinden. Eine gute Gelegenheit für die beiden Kinder, diese mysteriöse Welt zu erforschen – doch in der Realität lauern viele Gefahren.
Ein sehr poetischer Stop-Motion-Film mit Puppen, der auf universelle Weise von den Schrecken des Krieges erzählt (auch wenn einem natürlich Syrien in den Sinn kommt). AYNY schafft mühelos den Balanceakt zwischen leiser Verträumtheit und einigen drastischen Bildern.



ORPHAN
Regie: Anna Isabell Matutina
Philippinen 2017, 3 Minuten
Ein kleines Mädchen erinnert sich daran, wie Todesschwadronen des gegenwärtigen philippinischen Präsidenten Duterte (im offiziellen Sprachgebrauch: War on Drugs) ihre Eltern bei einer Razzia hinrichteten.
ORPHAN ist auf eine gewisse Weise der krasse Ergänzungsfilm zu AYNY: ebenfalls ein Stop-Motion-Puppenfilm, der von kriegerischer Gewalt aus kindlicher Perspektive handelt. Wo AYNY poetisch-verträumt ist, wirkt ORPHAN absolut „krude“ (das meine ich analytisch, nicht wertend), wie ein harter Faustschlag in den Magen. Papa ist als Superheld-Spielzeugfigur zu sehen, Mama als Barbie-artige Puppe, der kleine Bruder ist eine wesentlich größere Baby-Figur als das erzählende Mädchen – die ersten beiden werden ohne Vorwarnung „erschossen“, Ketchup-Sauce wird auf die Körper und Gesichter der Puppen geschmiert, und fertig ist ein 3-minütiger Horrorfilm, der zugleich auch das Dokument realer politischer Gewalt aus der Jetzt-Zeit ist, aus einem Land, das im Westen gemeinhin als guter Partner gilt.
Anna Isabell Matutina war bei der Vorführung anwesend und sprach anschließend bei einem Q & A. Sie engagiert sich schon seit Jahren für Menschenrechte. Diesen Film hat sie auch dazu konzipiert, um das philippinische Publikum, dessen Mehrheit mit großer Begeisterung Dutarte gewählt hat und dessen Massaker ausdrücklich befürwortet, aufzurütteln – mit eher gemischten Ergebnissen, wie sie erzählte. ORPHAN darf gezeigt werden, wird aber meist sehr negativ rezipiert. Matutina selbst gilt in ihrem Land als staatsgefährdende Aufrührerin.



LES MISÉRABLES
Regie: Ladj Ly
Frankreich 2017, 16 Minuten
In einem Pariser Elendsvorort: drei Männer befinden sich auf Streifentour. Allmählich wird klar, dass sie Polizisten sind und keine Gangster. Der Neue in der Gruppe tötet bei einer Verhaftung einen jungen Mann und wird bei der Tat von der Drohne eines Teenagers gefilmt. Eine Jagd gegen die Zeit nach dem Besitzer der Drohne beginnt.
Der nächste Schlag in den Magen sitzt wieder und zwar auf ganz eigene Art und Weise. Während ein Teil der Berichterstattung die Probleme der „banlieues“ als kulturelles (heißt: ethnisches) Problem behandelt, sieht LES MISÉRABLES die „Problemvororte“ eher als Orte einer allumfassenden, systematischen Korruption, in denen eine repressiv auftretende Staatsgewalt und kriminell-mafiöse Strukturen nicht diametral gegenüber stehen, sondern eine unheilvolle Symbiose eingehen.
Polizist und Gangster als Spiegelbild – das ist ein total alter Hut, wird aber hier eben nicht als Genre-Stereotyp aufgepropft, sondern tatsächlich quasi als soziologisches Analysemittel genutzt. In den ersten fünf Minuten ist überhaupt nicht klar, wer die drei Männer sind, die in Zivilkleidung, in einem Zivilauto durch die Straßen fahren. Ihre Ausdrucksweise, ihre Verhaltensmuster, ihre demonstrativ ausgestellte Männlichkeit lässt zunächst an Gangster denken. Tatsächlich sind es aber richtige Polizisten, die besonders angesichts ihrer offensichtlich sehr begrenzten intellektuellen, professionellen, emotionalen und allgemein zwischenmenschlichen Kapazitäten mit viel zu viel Exekutivmacht ausgestattet sind – der Ausnahmezustand seit den Terroranschlägen im November 2015 sei Dank. Diese Vollmachten nutzen sie auch reichlich aus, um Passanten zu schikanieren, Teenager-Mädchen an Bushaltestellen sexuell zu belästigen, Verdächtige zu foltern oder sich großzügig „bavures“ zu leisten. Letzteres wird für das unheilvolle Polizeitrio nur durch die Videoaufnahme zum echten Problem. Mit dem inoffiziellen Bürgermeister der „cité“ (man könnte auch sagen: dem örtlichen Mafia-Chef) einigen sich die Polizisten schließlich auf einen kostengünstigen Deal, und zwar so rasch, dass einem kalt der Rücken herunter läuft.
LES MISÉRABLES, so sehr er auch als Diskussionsbeitrag über Polizeigewalt in Elendsviertel gesehen werden kann, ist aber vor allem auch ein ungemein spannender, mitreissender, zackig und effizient inszenierter kleiner Bad-Cop-Thriller. Großes Genre-Kino sozusagen – in knapp einer Viertelstunde!



SILENT LONDON
Regie: Ivelina Ivanova
UK 2017, 3 Minuten
Eindrücke aus dem Londoner Nachtleben...
SILENT LONDON ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen britischen Stummfilmblog, sondern zeigt Szenen der Londoner Straßen und des Nachtlebens in Aquarell-Skizzen. Das klingt banaler, als es ist, denn das Resultat sieht unglaublich gut aus. Das Luftige und Ätherische der Wassermalerei verwandelt den Film in eine Art impressionistisches Bewegtbild: zunächst auf weißem, dann auf schwarzem Hintergrund (letzteres machte auf der großen Leinwand richtig was her!).
Regisseurin Ivelina Ivanova erklärte beim Q & A, dass sie eigentlich einen klassischen Dokumentarfilm über das Londoner Musikclubsterben durch Gentrifizierung drehen wollte. Ihre Recherchemethode bestand zunächst darin, die noch bestehenden Clubs zu besuchen, wo sie allerdings lieber feierte als ernsthaft zu recherchieren. Bald verlor dann die Lust auf einen konventionellen Dokumentarfilm und drehte stattdessen mit ihrer liebsten künstlerischen Ausdrucksform (nämlich Aquarell) lieber dieses wunderschöne Kleinod.


XIAO CHENG ER YUE („A Gentle Night“)
Regie: Qiu Yang
China 2017, 15 Minuten
Ein Elternpaar vermisst in der Nacht zum neuen Jahr seine 13-jährige Tochter. Nach der Aufgabe der Vermisstenmeldung bei der Polizei streift die Frau alleine durch die Stadt auf der Suche nach der verlorenen Tochter.
XIAO CHENG ER YUE bietet in knapp einer Viertelstunde eine übersichtliche Darstellung all der Mittel, die man als „internationale Arthouse-Ästhetik“ bezeichnen könnte: fixe Tableaus, Leute, die wenig reden und ausdruckslos starren, keine intradiegetische Musik, ein bemüht „offenes“ Ende. Das ist in dieser zumal auch noch recht leblosen Form irgendwie ausgelutscht, oft ziemlich austauschbar. Nicht meins.


22.00 Uhr, Caligari Filmbühne


Vorfilm
MARTIEN
Regie: Maxime Pillonel
Schweiz 2016, 9 Minuten
Der taube Tankstellenangestellte Martien ruiniert wieder einmal einen Turm aus Energy-Drink-Dosen und wird gefeuert. Bevor er geht, wechselt er die Batterie seines Hörgeräts aus und merkt dabei (zunächst) nicht, dass die Tankstelle überfallen wird.
In seiner sehr geradlinigen Eskalationslogik ist MARTIEN etwas simpel gestrickt, aber das ganze wird so schnörkellos durchgezogen, dass es kurzweilig bleibt. Nett für zwischendurch.



Hauptfilm
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES
Regie: John Cameron Mitchell
UK / USA 2016, 102 Minuten
1977, im Londoner Stadtteil Croydon. Die Queen feiert ihr silbernes Thronjubiläum, die Punk-Jugend probt den Aufstand bzw. feiert auf ihre Weise. So auch Henry, der mit zwei Kumpels eines Nachts auf einer mysteriösen Party mit merkwürdigen Gästen landet. Handelt es sich um eine radikale, kannibalistische Selbstmörder-Sekte oder um Außerirdische, die die Erde erforschen? Zan, Angehörige dieser Sekte/Außerirdischengruppe, rebelliert gerade selbst gegen die ihren und schließt sich den jungen Punks an.
Slight auteurism disappointment no 2... John Cameron Mitchell ist mir als Regisseur von SHORTBUS bekant, diesem Ensemblefilm um einige frustrierte und depressive Menschen aller sexueller Orientierungen, die die Lösung ihrer Probleme in einem Swingerclub namens „Shortbus“ finden. SHORTBUS wurde berühmt-berüchtigt für seine expliziten, teils nicht-simulierten Sexszenen, ließ allerdings diesen „Tabubruch“ im Angesicht seiner humanistischen Perspektive und schieren Lebensfreude völlig vergessen. HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES war daher mein erwarteter Höhepunkt des Freitags und fiel dann vergleichweise mild enttäuschend aus.
Die radikal-demokratische Herangehensweise in SHORTBUS, wo jeder Charakter wichtig ist, weicht in HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES wieder klassischeren Gefilden, in denen viele Figuren eben auch reine Klischees sind und bleiben. Als Genre-Hybrid zwischen Retro-Punk-Komödie, Science-Fiction, Liebesfilm und Coming-of-Age hat der Film zwar durchaus seine Berechtigung, aber immer wieder wirkt der Film von seinem eigenen Drehbuch und seinen vielen, nicht immer ganz so originellen Einfällen gehetzt. Dadurch erscheint er gleichzeitig zu lang(wierig) und zu kurz. Ich hätte mir viel mehr ruhige, zweisame Momente mit Henry und Zan gewünscht. „Do more punk to me!“ fordert sie ihn am Anfang auf – viel davon kommt dann allerdings nicht. Die Liebe zwischen den beiden Figuren, also das eigentliche Herz des Films, bleibt stets mehr Behauptung als dass da wirklich eine Chemie fühlbar wäre. Am ehesten gibt es das in einer ausgedehnten, videoclip-artigen Szene, die man wohl als die „Stargate-Sequenz“ von HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES bezeichnen könnte.
Ansonsten huscht der Film von kleinen Einfällen, Plotpoints, uninteressanten Nebenfiguren zu den nächsten. Das Schild „Clapton‘s bin here“ auf Henrys Zimmermülleimer wird mir mehr im Gedächtnis bleiben als vieles andere. Als einer von Henrys Kumpels von einer Außerirdischen offenbar gefistet wird und sie sich dabei selbst klont, ist das eher wie ein Outtake von MR. BEAN gefilmt als wie „body horror“ à la Cronenberg und die „Ruckel-Zeitluppen“, mit denen der Film immer wieder arbeitet, sehen schlichtweg fürchterlich aus. Eine weitere maßgebliche Schwäche liegt meiner Meinung auch darin, dass die merkwürdige Gruppe rasch eindeutig als Außerirdische identifiziert werden: die Unsicherheit, dass es sich vielleicht um gehirngewaschene Mitglieder einer Selbstmord-Sekte handeln könnte, war wohl doch zu unbequem – zum Punk-Motto „No Future“ hätte das allerdings schmerzhaft treffend gepasst und dem Film auch eine weitaus größere emotionale Fallhöhe gegeben.
Allerdings muss ich auch zugeben, dass es spät war, und dass ich immer wieder große Mühe hatte, bei der reinen OV-Vorstellung dem extremen englischen Slang der Dialoge ohne Untertitel zu folgen. Gerade beim Epilog habe ich wortwörtlich kein einziges Wort verstanden und ich frage mich, wie dieser Film in den USA laufen wird. Und Nicole Kidman in ihrer, nennen wir sie mal „mittleren“ Karrierephase gefällt mir immer besser. Hier ist sie als eine Art Vivienne-Westwood-Wiedergängerin zu bewundern.



Samstag 25. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne

Vorfilm
UND WAS SAGST DU...
Regie: Schülerkollektiv der Heinrich-von-Kleist-Schule Wiesbaden
Deutschland 2017, 13 Minuten
Einige Schüler der Heinricht-von-Kleist Schule in Wiesbaden werden zum Thema Mitbestimmung befragt.
Eindeutig eher ein pädagogisches als ein cineastisches Projekt.



Hauptfilm
ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW
Regie: Claus Withopf
Deutschland 2017, 80 Minuten
Ein Portrait der Punk-/Post-Punk-/New-Wave-/Spoken-Word-Sängerin, -Autorin und -Künstlerin Anne Clark – erzählt von ihr selbst und ihrer Musik.
Anne Clark war für mich eine vollkommene Neuentdeckung. Ich habe von ihr bisher noch niemals in meinem Leben gehört. Nach diesem Dokumentarfilm weiß ich allerdings, dass sie eine extrem interessante Künstlerin ist: einige der gezeigten/abgespielten Songs bzw. Auftritte fand ich sehr interessant, einiges war nicht so meins – ihr Werk ist jedenfalls so eigensinnig wie vielfältig. Außerdem ist sie ein sehr sympathischer Mensch und eine echte Humanistin.
Die Form dieses Dokumentarfilms hat sich mit zunehmender Laufzeit immer mehr als  interessant und erfrischend anders erwiesen. Es gibt wohl wenige Film-Genres, die ich so sehr verabscheue wie der abendfüllende Talking-Head-Dokumentarfilm. Tatsächlich war Anne Clark die einzige sprechende Protagonistin von ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW: Anne Clark spricht, Anne Clark singt, Anne Clark trägt ihre Lyrik vor, Anne Clark tritt beim Konzert auf – niemand sonst, der ständig dazwischen quasselt und selbstgefällig über sie spricht. Wenn Musik lief, gab es manchmal statt Anne Clark grafische Elemente zu sehen: Texteinblendungen der Songtexte bzw. Lyrik oder auch „impressionistische“ Naturbilder (aufgenommen mit einer 16mm-Kamera, wie ich beim Q & A erfuhr). Das war zunächst gewöhnungsbedürftig, doch schließlich stellte sich ein ganz eigener Rhythmus aus Anne Clark in verschiedenen Vortrags-Modi und visuellen „Impressionen“ ein.
Die Überraschung des Abends (die allerdings schon bei einer Vorführung am Vortag angekündigt worden war): Anne Clark erschien selbst zur Vorführung, zusammen mit dem Regisseur, vier Kamerapersonen sowie einer Schriftdesignerin. Einen der Kameramänner der Second Unit erkannte ich als einen Co-Zuschauer des diesjährigen Terza-Visione-Festivals, der bei fast allen Filmen anwesend war und bei DIABOLIK gar mein direkter Sitznachbar war. So klein ist die Welt!



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne


ALBÜM
Regie: Mehmet Can Mertoğlu
Türkei / Frankreich / Rumänien 2016, 104 Minuten
Ein gutbürgerliches Ehepaar ist schwanger... Nun, nicht ganz: ihr Bauch ist eine Attrappe. Denn niemand darf erfahren, dass Cüneyt und Bahar eigentlich keine Kinder bekommen können und im Geheimen eine Adoption planen. Mit dem erfolgreich adoptierten Kind zieht das Paar schließlich in eine neue Stadt, wo ihn eine bessere Stellung erwartet, während sie den neuen Freunden stolz ihr Kind präsentieren kann. Mehrere Zwischenfälle bringen das „Projekt eigenes Kind“ aber in Gefahr...
ALBÜM ist Gift und Galle und absolut gnadenlos. Mit der Türkei kenn ich mich persönlich nicht so aus, aber das Portrait, das Mehmet Can Mertoğlu von dem kleinkarriert-spießigen Ehepaar zeichnet, das seine Kinder in der Öffentlichkeit aggressiv als Status- und Prestigesymbol präsentiert und hinter unter einem freundlichen Gebaren eine gärende, stinkende Brühe aus Klassendünkel, sozialer Geltungs- und Aufmerksamkeitssucht, Rassismus, Sexismus und purer Heuchelei deckelt – das ist durchaus sehr universell. Auf eine gewisse Weise könnte der Film genauso gut in Deutschland anno 2017 spielen: Kinder sind Kinder, syrische Flüchtlinge bleiben syrische Flüchtlinge, Kurden aus dem Osten können auch durch Polen aus dem Osten ersetzt werden – und was heißt „besorgte Bürger“ auf Türkisch?
Gefilmt ist ALBÜM größtenteils in statischen Tableaus, die allerdings keine Ideenlosigkeit kaschieren, sondern visuell extrem spannend sind. Das beginnt schon mit dem ersten Bild: wir befinden uns in einem Kuhstall, und angesichts des lauten Muhens könnte man denken, dass sich daneben eine Schlachterei befindet. Auftritt des Bullen, der abgeführt wird – ein kleiner Schwenk zeigt uns dann, dass er zur Begattung einer Kuh geführt wird. Der Akt ist so kurz wie unspektakulär – nach dem Schwenk zurück: Abgang Bulle.
Wie meisterhaft Mertoğlu den filmischen Raum beherrscht, zeigt sich bei den Audienzen der Adoptionsbeamten. Cüneyt und Bahar sitzen auf Stühlen etwas tiefer als der auf dem Bürosessel thronenden Beamten (der allerdings selbst einem obligaten Atatürk-Portrait an der Wand hinter ihm überragt wird). Nachdem das Paar ein Kind „besichtigt“ hat und es ablehnt, weil es ein Mädchen ist und die Kleine wie eine Kurdin (wie er meint) oder wie ein syrischer Flüchtling (so sie) aussähe, wechselt die Kamera, als wir im Büro zurück sind, die Perspektive und befindet sich hinter dem Beamten. Im Gespräch mit den beiden Adoptionswilligen sucht der Beamte konzentriert nach Daten auf seinem Computer – spielt also Karten. Hinter einer „objektiven“ Realität steckt oft eine andere „objektive“ Realität. Wie die Bilder, die Cüneyt während Bahars „Schwangerschaft“ immer wieder von ihr und ihrem „Babybauch“ schießt: „Du schläfst gerade, mach den Mund etwas auf [Pause] Nicht so weit, du bist hier nicht beim Zahnarzt!“.
Mit „klassischem“ Realismus hat ALBÜM wenig am Hut. Die Orte der Macht, der Bürokratie, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wirken immer leicht grotesk verzerrt. Eine scheinbar endlos lange Kamerafahrt durch eine tobende Schulklasse erinnert möglicherweise nicht ganz umsonst an den Stau in Godards WEEKEND. Eine ähnlich aufgebaute Fahrt führt uns durch das Finanzamt, in dem Bahar arbeitet, wo sämtliche Mitarbeiter mit dem Gesicht auf der Tischplatte tief schlafen.
Beim Q & A mit dem Regisseur Mehmet Can Mertoğlu und dem Second Unit Director Mustafa Emin Büyükcoşkun wurde nicht nur unter anderem Jacques Tati, sondern besonders die „Neue Rumänische Welle“ der letzten Jahre als Inspirationsquelle genannt. Die Inspiration wirkte bis zur personellen Besetzung der Crew: als Director of Photography arbeitete der Rumäne Marius Panduru, der einige Filme der „Welle“ fotografiert hat. Auch wenn ALBÜM durch zahlreiche internationale Filmfestivals tourt: in der Türkei selbst haben viele Zuschauer den Film gehasst (aber einige auch sehr geliebt), so Mertoğlu. In Wiesbaden war das Verhältnis nicht völlig anders. Vielleicht sind ganz viele Leute während des Q & A gegangen, aber vom Gefühl her hat ALBÜM etwa zwei Drittel des Saals während der Vorführung leer gefegt. Auch zwei Zuschauerinnen, die neben mir saßen, gingen etwa zur Hälfte des Films. Auf ihre ausgesucht klugen Kommentare (à la „Das ist aber ein hässlicher Mann!“ für den wunderbaren, sehr expressiven Nebendarsteller eines stocksteifen Adoptionsbeamten) musste ich in der zweiten Hälfte leider verzichten.



22.00 Uhr Caligari Filmbühne

Vorfilm
APOLLO 11 1/2
Regie: Olaf Held
Deutschland 2016, 6 Minuten
Die US-Flagge auf dem Mond hat sich aus unerfindlichen Gründen bewegt, verdeckt deshalb durch den Schatten, den sie wirft, ganz Wyoming und taucht den Bundesstaat in tiefe Finsternis. Die geheime Mondmission „Apollo 11 1/2“ wird geschickt, um die Flagge wieder zu verrücken.
Mit Archivbildern montiert, jedoch einem eigenen Off-Kommentar versehen, präsentiert sich der Film wie ein Wochenschau-Film. Nicht schlecht, aber letztlich einer dieser etwas zu ausgedehnten One-Joke-Kurzfilme.



Hauptfilm
ALIVE IN FRANCE
Regie: Abel Ferrara
Frankreich 2017, 79 Minuten
Abel Ferrara wird in Frankreich eine tourende Retrospektive gewidmet. Passend dazu organisiert er eine Reihe von Konzerten, bei denen er mit seinem langjährigen Filmkomponisten Joe Delia und dem Schauspieler Paul Hipp zusammen Songs aus seinen Filmen spielt.
Im Grunde ist ALIVE IN FRANCE ein Heimvideo von Abel Ferrara. Mit Frau, Kind, Familienangehörigen und Kumpels wird durch Hotelfoyers und Straßen flaniert, dann bei einem Q & A einige Zuschauerfragen beantwortet (Nein, für Gangster und Polizisten interessiere er sich nicht mehr, es wird also kein BAD LIEUTENANT 2 oder KING OF NEW YORK 2 geben), später die Bühne aufgebaut und schließlich (mit oder ohne Zuschauer, das scheint egal zu sein) gespielt, gejammt, gesungen, gerappt. Zwischendurch breitet Ferrara ein paar Konzertflyer auf einen Tisch aus und legt noch eine Mappe dazu, die er mit „That‘s my next movie“ kommentiert. Mehr passiert dann auch nicht, aber das muss ja auch nicht... Dafür gibt es Abel Ferrara zu sehen, der immer wieder ein bisschen wie ein Außerirdischer in menschlichem Kostüm wirkt und so fürchterlich nuschelt, dass man kaum ein Wort versteht (cool klingt es trotzdem); und Joe Delia, der wie der vergessene Zwillingsbruder von Mick Jagger aussieht; und Paul Hipp, der so was wie der Gute-Laune-Motor der Veranstaltung ist. Man möchte nicht unbedingt mit diesen Personen ein Bier trinken (besonders Ferrara scheint doch ein schwieriger Mensch zu sein), aber ihnen beim Musizieren, Plaudern und Flanieren zuzuschauen und dabei ein Bier zu trinken, das ist nicht die allerschlechteste Beschäftigung für einen Samstagabend.
Ich war aber nur eine von ganz wenigen Personen, die das so sehen. Zunächst völlig unglaublich und verwunderlich, dann enttäuschend und schließlich auch irgendwie traurig ist die Tatsache, dass nach meiner Zählung inklusive meiner Wenigkeit gerade mal 14 (vierzehn) Zuschauer anwesend waren. Darunter befanden sich eine Co-Organisatorin des Festivals, zwei Filmregisseure (von Kurzfilmen) und mindestens ein Pressemensch (ich). Also nicht mehr als zehn „normale“ Zuschauer, wenn überhaupt. In so einem großen Kinosaal wie dem Caligari wirken 14 Leute echt mickrig. Meine Güte! Abel Ferrara! An einem Samstag Abend, wenn also schon nur durch die Laufkundschaft der Saal halb gefüllt sein sollte. Und ich hatte vorher Angst, keinen guten Platz zu bekommen, weil der Saal krachend voll sein könnte – denkst du!
Ein Glück, dass Paul Hipp, der eigentlich nach Wiesbaden kommen wollte, es doch nicht geschafft hat und stattdessen eine herzallerliebste Videobotschaft geschickt hat, mit seinem Hund Django als Komparsen und einigen 100%-ig richtigen Deutsch-Versuchen.