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Donnerstag, 28. Januar 2016

Krakatit - der gefährlichste Sprengstoff der Welt!

KRAKATIT
Tschechoslowakei 1948
Regie: Otakar Vávra
Darsteller: Karel Höger (Prokop), Jiří Plachý (d'Hémon), Florence Marly (Prinzessin Wilhelmina), Eduard Linkers (Carson), František Smolík (Dr. Tomeš), Nataša Tanská (Anči Tomeš), Miroslav Homola (Jiří Tomeš), Vlasta Fabianová (verschleierte Frau), Jaroslav Průcha (Kutscher)

Der Protagonist - er hat schon bessere Zeiten gesehen (rechts unten mit Jiří Tomeš)
Ironischerweise gilt Otakar Vávras KRAKATIT als einer seiner besten und das von ihm selbst inszenierte Remake TEMNÉ SLUNCE (DUNKLE SONNE, 1980, auf Video auch als NEUTRONENINFERNO) als einer seiner schlechtesten Filme. Doch der Reihe nach!

Bei Dr. Tomeš auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung - vorerst
Wie eine Einblendung am Anfang des Films ganz überflüssigerweise erklärt, handelt es sich bei der Geschichte um ein Fiebertraumgebilde. - In einem Krankenhaus schwebt ein Unbekannter, der ohne Papiere aufgefunden wurde, an schwerer Meningitis leidend und mit merkwürdigen Verletzungen und Verbrennungen an den Händen, zwischen Leben und Tod. Während sich ein Arzt und eine Krankenschwester um ihn kümmern, dringt die Kamera sozusagen in seinen Kopf ein, und wir erfahren - eben als seinen Fiebertraum - seine Geschichte. Somit bleibt unklar, zu welchen Anteilen die Geschichte eine "echte" Rückblende oder aber ein Wahngebilde ist, und dieser Erzählmodus erlaubt es Vávra, zwischen weitgehend realistischen Passagen immer wieder ohne Erklärungsnot ins Surreale zu gleiten. Der Protagonist ist ein Chemieingenieur namens Prokop, und seine Geschichte beginnt damit, dass er, gesundheitlich schon angeschlagen und halb im Delirium, in Prag auf der Straße umherirrend von seinem Studienkollegen Jiří Tomeš aufgegriffen wird. Dieser nimmt Prokop zu sich in seine Wohnung, steckt ihn ins Bett und erfährt aus Prokops wirren Erzählfetzen den Grund für seinen desolaten Zustand: Prokop hatte in seinem Labor einen gigantisch starken atomaren Sprengstoff namens Krakatit entwickelt, und eine winzige Menge war - aus zunächst völlig unbekanntem Grund - spontan detoniert und hatte Prokop verletzt und kontaminiert. (Der Name des Sprengstoffs leitet sich natürlich vom Krakatau ab, dessen Eruption 1883 einer der stärksten Vulkanausbrüche in historischer Zeit - und im Zeitalter des Telegrafen auch bereits ein weltweites Medienereignis - war.) Tomeš gelingt es, Prokop die Formel für Krakatit zu entlocken, dann packt er seine Sachen und lässt den Studienkollegen zurück, um, wie er auf einem Zettel hinterlässt, seinen Vater auf dem Land zu besuchen.

Noir-typische Gitter
Als Prokop am nächsten Morgen allein in Tomeš' Wohnung erwacht, erscheint dort eine verschleierte, sich mysteriös gebende Frau, die Prokop dringend bittet, Tomeš einen Brief von ihr zu überbringen. Ihren vagen Andeutungen entnimmt Prokop, dass Tomeš in Geldnöten steckt und sich deshalb das Leben nehmen könnte. Obwohl kaum gesünder als am Vortag, erklärt sich Prokop bereit, mit dem Brief in das Dorf zu fahren, wo Tomeš' Vater als Arzt praktiziert. Dort angekommen, erfährt Prokop, dass Tomeš überhaupt nicht hier ist, und kollabiert dann erst mal, wird aber von Dr. Tomeš und seiner Tochter, Jiřís Schwester Anči, wieder hochgepäppelt. Prokop, der sich kaum an die Ereignisse der letzten Wochen erinnern kann, bleibt auf Einladung von Dr. Tomeš erst einmal im Dorf. Der Doktor ist ein sympathischer Humanist, und Anči verliebt sich in Prokop, was der aber, in seine Gedanken versunken, kaum bemerkt. Diese Sequenz im Dorf ist die realistischste im ganzen Film, und die einzige, die keinem Albtraum entspricht. Doch bald ist es damit vorbei. Prokop liest in der Zeitung eine Notiz, in der ein gewisser Carson in Zusammenhang mit Krakatit erwähnt wird. Das Stichwort "Krakatit" bringt Prokops Erinnerung teilweise zurück, und er bricht sofort auf, um in sein Labor zurückzukehren, wo er dem mit einer Pistole bewaffneten Carson in die Arme läuft. Wie sich herausstellt, ist Carson ein Vertreter des ausländischen Kapitalismus. Der englische Name kommt also nicht von ungefähr, er benutzt auch gelegentlich Anglizismen. Derzeit vertritt Carson die Interessen der Balttin-Werke, eines Rüstungskonzerns im fiktiven europäischen Staat Balttin.

Die Exzellenzen von Balttin - in Agonie erstarrt
Wie Carson nun ausführt, hatte sich Tomeš an die Balttin-Werke gewandt, um das Krakatit, das er in Prokops Labor in jener Nacht entwendet hatte, mitsamt der Formel zu verkaufen. Die Versuche damit verliefen erfolgreich, doch die Formel allein genügte nicht, weil es den Chemikern von Balttin nicht gelang, den Sprengstoff selbst herzustellen. Deshalb braucht man nun Prokop, damit er die Details des Herstellungsprozesses herausrückt, und die Zeitungsanzeige diente nur dazu, ihn aus der Reserve zu locken. Carson erzählt auch, dass regelmäßig zweimal pro Woche ein vorerst unbekannter starker Störsender in Aktion tritt, um alle Radiostationen in Europa vorübergehend lahmzulegen, und dass dieser Sender als Nebeneffekt jegliches Krakatit in seiner Reichweite, das nicht in Bleibehältern sicher verwahrt ist, zur Detonation bringt. Das war auch der Grund für die scheinbar spontane Explosion in Prokops Labor, und dafür, dass nur eine kleine Menge, die auf dem Labortisch herumlag, detonierte. Wäre die sicher verstaute Hauptmenge (die später Tomeš mitgehen ließ) betroffen gewesen, wäre nicht nur das Labor, sondern ganz Prag in die Luft geflogen. - Carson macht nun also das Angebot, Prokop 20 Millionen Kronen zu bezahlen, wenn er sein Wissen preisgibt. Doch der lehnt entschieden ab, weil er nicht am zu erwartenden Massenmord eines neuen Krieges mitschuldig werden will. Deshalb entführt Carson ihn kurzerhand nach Balttin.

Prinzessin Wilhelmina
Und nun wird der Film für einige Minuten wieder ziemlich surreal. Balttin ist ein Fürstentum, und der gefangene Prokop wird nun im Palast der Fürstenfamilie vorgestellt. Dabei handelt es sich um lauter ältere bis sehr alte Herrschaften, die alle regungslos auf ihren Stühlen sitzen. Nur die unvermeidlichen ganz minimalen Bewegungen zeigen an, dass es sich überhaupt um Menschen und nicht um Wachsfiguren handelt. Doch die Botschaft ist eindeutig: Es handelt sich um eine in Agonie erstarrte Kaste, die unvermeidlich ihrem endgültigen Aussterben entgegendämmert. Die einzige Ausnahme ist die junge und schöne Prinzessin Wilhelmina, die noch sehr lebendig ist - doch sie ist auch kalt, arrogant, standesbewusst, und sie setzt ihre Reize nicht nur ein, um Prokop zu ihrem persönlichen Vergnügen um den Finger zu wickeln, sondern auch, um ihm aus Gründen der Staatsraison das Geheimnis des Krakatits zu entlocken. Nachdem ihr Prokop kurzzeitig verfallen ist, durchschaut er sie bald, woraufhin sie vor seinen Augen zu einer Statue erstarrt - auch das ein sehr surrealer Moment.

Prokops Bewacher in Balttin - Assoziationen an Wehrmacht und Gestapo
Prokop hält auch in Balttin dem Druck stand und gibt seine Geheimnisse nicht preis. Zwar demonstriert er seine Fähigkeiten, indem er eine Puderdose der Prinzessin in Sprengstoff verwandelt, der jedoch nicht an Krakatit heranreicht. Ansonsten aber wartet er nur auf eine Gelegenheit zur Flucht. Auf dem Gelände der Balttin-Werke ist er von elektrisch gesichertem Stacheldraht eingeschlossen, und er wird von einer ganzen Kompanie Soldaten bewacht, deren Uniformen und Helme stark an die der Wehrmacht erinnern, was gerade mal drei Jahre nach Kriegsende schwerlich irgendwem im Publikum entgangen sein kann. Auch einige deutsche Wortfetzen sind von den Soldaten zu hören, und dass Prokops persönlicher Bewacher in den Balttin-Werken mit seinem schwarzen Ledermantel wie ein Gestapo-Mann aussieht, ist sicher auch kein Zufall. Zusammengenommen präsentiert Vávra hier also eine aristokratisch-kapitalistisch-faschistische Achse des Bösen - eine Tendenz, die den neuen Machthabern im Land wohl nicht schlecht gefallen hat (die Kommunisten hatten im Februar 1948 die vollständige Kontrolle in der Tschechoslowakei übernommen).

Oben die geheimnisvolle verschleierte Frau, unten nochmals die Prinzessin
Noch jemanden hat Prokop im Fürstenpalais kennengelernt, nämlich den sinistren Baron d'Hémon, der nicht zur Fürstenfamilie und zu den Balttin-Werken gehört, sondern der sein eigenes Süppchen kocht. Der verhilft nun Prokop zur Flucht, indem er mit seiner schweren Limousine, Prokop auf dem Beifahrersitz, die Wachsoldaten einfach über den Haufen fährt. Nachdem man Balttin hinter sich gelassen hat, gerät der Film nun in seinen finalen surrealen Taumel. Zunächst erweist sich, dass der Name des Barons Programm ist: d'Hémon = Dämon. Er solle ihn nun "Kamerad Dämon" nennen, meint der Baron zu Prokop, den er seinerseits "Kamerad Krakatit" nennt. Zusammen besuchen sie nun eine wilde, frenetische Versammlung von abgesetzten, vertriebenen, entmachteten Potentaten, Kapitalisten, Raffkes aller Art, die einen neuen großen Krieg fordern, um mit dessen Hilfe wieder an ihre alten Macht- und Vermögenspositionen zu gelangen, und der dämonische Baron stellt Prokop gegen dessen Willen als den Mann vor, der ihnen mit Hilfe des Krakatits dazu verhelfen werde. Doch das ist noch nicht das eigentliche Ziel der Reise. Auf diese Leute sei kein Verlass, meint der Baron, und er gibt sie der Vernichtung preis, indem er einen Restposten Krakatit unter ihnen verteilt.

Carson (links oben) und der dämonische Baron
Und nun zeigt sich die ganze Tragweite seiner Pläne: Mit Prokop fährt er weiter zu einer geheimen Sendestation - kein anderer als der Baron selbst betreibt jenen geheimen Sender, der Krakatit zur Detonation bringen kann. Mit Hilfe des zunächst ahnungslosen Prokop nimmt der Baron den Sender in Betrieb, und in der Raffke-Versammlung, in Balttin, in einer weiteren Fabrik, wo Jiří Tomeš inzwischen auf eigene Faust am Krakatit forscht, sowie an weiteren Orten, wo Flugzeuge im Auftrag des Barons Krakatit abgeworfen haben, detonieren alle noch verbliebenen Reste des Sprengstoffs und lösen ein (wenngleich immer noch begrenztes) atomares Inferno aus. Wenn Prokop nun neues Krakatit produzieren werde, erläutert der Baron, hat dieser mit Sender und Krakatit in einer Hand unbegrenzte Machtmittel zur Verfügung. Mit anderen Worten, der Baron bietet nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Prokop, der das alles überhaupt nicht will, versucht, den Baron zu erwürgen, doch der löst sich vor seinen Augen in Luft auf. Nunmehr allein in desolater Landschaft, torkelt Prokop, dem Delirium nahe, ziellos umher, bis er von einem Kutscher aufgegriffen wird - demselben, der ihn noch vor kurzer Zeit ins Dorf zu Dr. Tomeš gebracht hatte. Doch handelt es sich mittlerweile um einen Fuhrmann des Todes, oder wird er ihn zurück ins Leben bringen?

Das atomare Inferno wird in Gang gesetzt
KRAKATIT ist eine wüste und faszinierende Mischung mehrerer Genres und Stile, mit SciFi mit leichtem Horror-Einschlag und Film Noir als Hauptbestandteilen - und nebenbei gibt es auch noch die politische und pazifistische Botschaft. Otakar Vávra kann mit Hilfe seines Kameramannes Václav Hanuš vor allem im Visuellen punkten. Nicht selten fühlt man sich optisch an klassische Hollywood-Werke erinnert, etwa von Murnau, oder auch von John Ford in den 30er und 40er Jahren. So erinnert etwa die Sequenz am Schluss, als Prokop bei Dunkelheit und Nebel durch die Landschaft irrt, stark an eine Szene in SUNRISE. Die Prinzessin wiederum wird mit ihrem Geschmeide funkelnd und schillernd in Szene gesetzt, wie es einst Sternberg mit Marlene Dietrich gemacht hatte. Und dann gibt es wieder Bilder, wie man sie von Siodmak und anderen Noir-Spezialisten kannte. - Technisch gesehen ist das, was man über Krakatit erfährt, meilenweit von dem entfernt, was 1948 schon in der allgemeinen Öffentlichkeit über Atomwaffen bekannt war. Aber erstens ist das ganze ja, wie schon mehrfach erwähnt, ein Fiebertraum. Und zweitens beruht der Film auf dem gleichnamigem Roman, den Karel Čapek 1922 geschrieben und 1924 veröffentlicht hatte, und natürlich kann man nicht verlangen, dass Čapek damals schon der Realität späterer Atombomben nahe kam (auch wenn Eric Ambler genau das in seinem Debütroman The Dark Frontier von 1936 erstaunlich gut gelang). Čapek war ein durchaus vielseitiger Schriftsteller, aber heute kennt man ihn vor allem als einen Vertreter der Fantastik und Science Fiction (bekanntlich prägte er in einem seiner Werke den Begriff "Roboter").

Der Baron ist zufrieden mit seinem Werk; unten ein etwas merkwürdiger Kutscher
Otakar Vávra (1911-2011) konnte am Ende seines langen Lebens auf rund 50 Filme und zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen zurückblicken. Er hatte auch einige Jahrzehnte als Dozent an der Prager Filmhochschule FAMU gewirkt, die er selbst mitgegründet hatte. Unumstritten war er indes nicht: Man warf ihm gelegentlich vor, er habe sein Fähnlein in den Wind gehängt, um sich mit den jeweiligen Machthabern zu arrangieren. Wenn man sich sein Œuvre ansieht, dann fallen über die Systeme hinweg (Tschechoslowakische Republik der 30er Jahre, Nazi-Okkupation, kommunistische Tschechoslowakei vor und nach dem Prager Frühling) zumindest zahlenmäßig keine Brüche auf. Ob er aber wirklich ein Opportunist war oder nur Selbstschutz in einem legitimen Ausmaß betrieb, das kann und will ich von hier aus nicht beurteilen.


Es gibt KRAKATIT auf zwei verschiedenen tschechischen DVDs. Die eine hat noch einen zweiten Film (von einem anderen Regisseur, aber ebenfalls mit Karel Höger in der Hauptrolle) sowie engl. Untertitel an Bord. Die andere enthält nur KRAKATIT und keine Untertitel (man findet aber engl. Untertitel im Internet zum Download). - Verwirrende Angaben herrschen bezüglich der Laufzeit des Films. Laut engl. Wikipedia und IMDb sollen es 110 Minuten sein, laut tschechischer Wikipedia dagegen nur 106 Minuten. Das Lexikon des internationalen Films nennt eine Laufzeit von 98 Minuten, was sich offenbar auf eine deutsche Fassung bezieht, die erstmals 1974 im DDR-Fernsehen lief. Falls die 98 Minuten die Fernseh-Laufzeit sind, entspricht das im Kino 102 Minuten. Auf meiner DVD wiederum (die zweite der oben erwähnten) dauert der Film nur 96:30 Minuten, was im Kino 100:30 entspricht. Und für die erstgenannte der beiden DVDs habe ich jetzt auf die Schnelle sowohl eine Angabe von 97 Minuten (was natürlich auch aufgerundete 96:30 sein können, womit die beiden Versionen identisch wären) als auch 106 Minuten gefunden. Da soll einer schlau draus werden ...

UPDATE: Mittlerweile ist KRAKATIT in Deutschland beim Label ostalgica auf DVD und Blu-ray erschienen. Eine leicht gekürzte und angepasste Version dieses Artikels findet sich im Bonusmaterial. Schon einige Monate zuvor ist auch eine tschechische Blu-ray erschienen. Beide Editionen beruhen auf einer Restaurierung des Tschechischen Nationalen Filmarchivs. Bei den Blu-rays beträgt die Laufzeit ca. 100:40 min, was ziemlich exakt der umgerechneten Laufzeit meiner alten tschechischen DVD (100:30 min, siehe oben) entspricht, die somit vom Inhalt her identisch ist, und was vermutlich auch die Originallänge des Films ist. Die 106 und 110 min sind wohl irgendjemandes Fantasie entsprungen.

Bilder wie bei Murnau oder Ford

Samstag, 12. März 2011

DER LEICHENVERBRENNER

DER LEICHENVERBRENNER (SPALOVAČ MRTVOL)
Tschechoslowakei 1968
Regie: Juraj Herz
Darsteller: Rudolf Hrušínský (Karel Kopfrkingl), Vlasta Chramostová (Lakmé), Jana Stehnová (Zina), Miloš Vognič (Mili) u.a.

Karel Kopfrkingl ist Leichenverbrenner aus Beruf und Berufung. Um genau zu sein, er ist Angestellter im Krematorium einer tschechischen Stadt in den 1930er Jahren. Als geistige Richtschnur für seine Tätigkeit dient ihm ein Buch über tibetischen Buddhismus. Daraus bezieht er die Überzeugung, dass die Seelen der Toten erst dann in den Äther aufsteigen können und zu einer Wiedergeburt zur Verfügung stehen, wenn der Körper vollständig zerfallen sei. Das aber dauere bei einer Einäscherung 75 Minuten, bei einer Erdbestattung 20 Jahre. Somit sei es ein Gebot der Humanität, die Toten zu verbrennen, und zivilisierte Nationen erkenne man daran, dass sie den Krematorien einen hohen Stellenwert einräumen. Der Tod hat für Karel keinen Schrecken - irdisches Leiden ist ein Übel, der Tod dagegen eine Erlösung. Karel Kopfrkingl ist ein liebevoller Familienvater. Seine Frau heißt eigentlich Maria, doch er nennt sie Lakmé (die indische Titelheldin einer Oper), seine Tochter Zina ist 16. Gewisse Sorgen bereitet ihm sein 14-jähriger Sohn Mili, ein schlaksiger, schwächlicher Typ mit Brille und abstehenden Ohren - nicht ganz das, was sich Karel erhofft hatte! Karel Kopfrkingl ist auch ein guter Patriot. Als er seinen alten Kriegskameraden Walter Reinke, mit dem er einst im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft hatte, wiedertrifft, will ihn dieser für die NSDAP gewinnen. Doch Karel lehnt ab - fließt nicht tschechisches Blut in seinen Adern, spricht die Familie nicht Tschechisch?


Das muss Karel freilich überdenken, als sich die Deutschen zu den neuen Herren in Böhmen machen. Hat Deutschland nicht ein fortschrittliches Krematoriengesetz, ist also ein zivilisiertes Land? Und fließt nicht auch ein Tropfen deutsches Blut in seinen Adern? Karel tritt nun doch in die Partei ein. Das mit dem Blut will Karel genau wissen, und er befragt seinen Arzt Dr. Bettelheim, von dem er sich in zwanghafter Häufigkeit auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lässt. Doch der antwortet nur, Blut sei Blut, und der Rest sei Unsinn. Aber ist Dr. Bettelheim nicht Jude? Überhaupt, die Juden - Karels neue Freunde eröffnen ihm darüber Dinge, die er freilich schon immer geahnt hatte. Für Reinke spioniert er bei einem jüdischen religiösen Fest, doch weil da nichts besonderes passiert, erfindet Karel einfach, was Reinke hören will. Karel weiß auch gewisse Dinge über seinen Chef und seine Kollegen. Dieser hat sich abfällig über die Deutschen geäußert, jener ist morphiumsüchtig, und dergleichen. Es wäre unverantwortlich, solche Tatsachen für sich zu behalten. Ein paar klitzekleine Denunziationen, und Karel ist da, wo er eigentlich schon immer hingehörte - an der Spitze des Krematoriums. Umso schlimmer trifft ihn die Erkenntnis, dass Lakmé eine "Halbjüdin" ist. Karels Parteifreunde machen ihm klar, dass so eine Ehe sein Fortkommen erheblich behindern werde.


Dem Zuschauer ist inzwischen klar, dass Karel nicht nur ein übler Opportunist, sondern auch nicht ganz richtig im Kopf ist. Zu abstrus sind seine Thesen, zu merkwürdig manche seiner Verhaltensweisen. Wenn die Kamera seinen subjektiven Standpunkt einnimmt, ist das Bild oft durch eine Weitwinkeloptik verzerrt, besonders ausgeprägt im Krematorium, Karels Reich. Bald hat er eine Vision: Ein Abgesandter aus Tibet - in Karels eigener Gestalt - erscheint ihm und verkündet, er sei der neue Dalai Lama, ja Buddha selbst, und er werde in Lhasa erwartet, um die Welt zu erlösen. Vorher muss Karel freilich noch einige irdische Dinge regeln. Da ist zunächst Lakmé. Karel erhängt sie im Badezimmer, was sie wie in Trance ohne Widerstand geschehen lässt. Und Mili erst! Ist er nicht ein Weichling? Kein Wunder, bei dieser Mutter! Und hat man nicht in Sparta schwächliche Kinder beizeiten umgebracht, was letztlich auch zu ihrem eigenen Vorteil war, weil sie in der Welt doch nur gelitten hätten? Karel lockt Mili ins Krematorium, schlägt ihm mit einer Eisenstange den Schädel ein und verstaut die Leiche in einem Sarg zur späteren Entsorgung. Dieses Problem wäre zufriedenstellend gelöst. Aber hat Zina nicht auch jüdisches Blut in ihren Adern? Karel bringt auch sie ins Krematorium ... Am Ende des Films geht sein Wahnsinn in einem viel größeren auf: Die Deutschen engagieren ihn, um Verbrennungsöfen für Vernichtungslager zu konstruieren.


DER LEICHENVERBRENNER ist eine abgrundtief morbide und makabre Satire auf den Aufstieg eines Kleinbürgers in einer Diktatur. Mit Hilfe der überragenden Kamera von Stanislav Milota und des wunderbaren Soundtracks von Zdeněk Liška, und mit stilistischen Anleihen bei Expressionismus und Surrealismus, gelang Juraj Herz ein grandioser Film nach einem Roman von Ladislav Fuks, der mit Herz auch das Drehbuch schrieb. Auch der Schnitt ist virtuos. Das Zentrum des Films bildet aber Rudolf Hrušínský, der den Wirrkopf und Opportunisten mit einer bösartig schillernden Beiläufigkeit verkörpert. Das Lachen bleibt einem in diesem Film meist im Halse stecken, doch für etwas Entspannung sorgt ein ständig streitendes Paar, das als running gag immer wieder auftaucht. Ebenfalls immer wieder erscheint eine mysteriöse schwarzhaarige junge Frau, die außer Karel niemand zur Kenntnis nimmt. Ist sie eine Einbildung von ihm? Oder eine allegorische Figur, eine Art Todesengel, die ihn begleitet? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen.


Juraj Herz, der nach wie vor aktiv ist und kürzlich mit HABERMANN Erfolge feierte, aber auch kontroverse Reaktionen hervorrief, gehörte seinerzeit zur "Neuen Welle" im tschechoslowakischen Film der 60er Jahre, die nach dem Vorbild der Nouvelle Vague benannt wurde. Während die meisten Protagonisten der Neuen Welle Tschechen sind und an der Prager Filmhochschule FAMU studiert hatten, ist Herz ein Slowake jüdischer Herkunft, der in Prag Fotografie und Puppentheater studierte, bevor er sich Regie und Schauspielerei zuwandte. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Herz mit seinen Eltern im Konzentrationslager Ravensbrück (zum Glück überlebte die ganze Familie). Seine berufliche Laufbahn begann Herz am Prager Semafor-Theater, wo er mit Jan Švankmajer einen Geistesverwandten traf (beide sind auch am selben Tag geboren). Švankmajer sollte mit seinen surrealen und oft abgründigen Animationsfilmen bekannt werden, und er und Herz arbeiteten bei ihren Filmen gelegentlich zusammen. In den früher 60er Jahren absolvierte Herz eine zusätzliche Ausbildung in den Prager Barrandov-Filmstudios, wo dann auch DER LEICHENVERBRENNER entstand. In dieser Zeit wirkte Herz als Regieassistent und Darsteller in Filmen von Zbyněk Brynych, Vojtěch Jasný und anderen mit, insbesondere bei DAS GESCHÄFT IN DER HAUPTSTRASSE von Ján Kadár und Elmar Klos, einem Klassiker des tschechoslowakischen Films.


DER LEICHENVERBRENNER ist Herz' dritter eigener Spielfilm, und die Dreharbeiten wurden im August 1968 durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts unterbrochen. Die Fortsetzung war gefährdet, weil Rudolf Hrušínský in Südbohmen untertauchte, doch nach einiger Zeit wurde es ihm dort zu langweilig, er kehrte nach Prag zurück, und es konnte weiter gehen. Die Neue Welle wurde nach dem Ende des Prager Frühlings weitgehend abgewürgt - viele Regisseure erhielten mehrjährige Berufsverbote oder gingen ins Ausland. Doch Herz traf es nicht so schlimm, vielleicht, weil er bis zum August 1968 nur einen Kurz- und einen Spielfilm herausbrachte und somit wenig Gelegenheit hatte, sich bei den Machthabern zu diskreditieren. Das hätte aber durchaus passieren können: Herz drehte als Schluss von DER LEICHENVERBRENNER einen Epilog, der 1968 vor den einrückenden russischen Panzern spielt, und in dem Karel Kopfrkingl wieder auftaucht. Doch der Direktor des Barrandov-Studios erhob Einspruch und ließ das Material herausschneiden, das seitdem verschollen ist. Herz vermutete, dass es der Direktor aus Angst vor Konsequenzen verbrennen ließ. Herz konnte seine Karriere jedenfalls relativ problemlos fortsetzen, und er bediente dabei eine Reihe von Genres, wie Horror (MORGIANA und DER AUTOVAMPIR), Musical, und insbesondere Märchenfilme. In MICH ÜBERFIEL DIE NACHT (1986) verarbeitete Herz seine Erfahrungen aus Ravensbrück. Darin gibt es eine Szene in den "Duschräumen" des KZ, bei der sich Steven Spielberg möglicherweise für SCHINDLERS LISTE bedient hat, jedenfalls soll die Übereinstimmung frappierend sein.


DER LEICHENVERBRENNER ist beim englischen Label Second Run auf DVD erschienen (engl. Titel THE CREMATOR).