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Freitag, 21. Februar 2014

Das Salz des Meeres

Margot Benacerraf und ARAYA

REVERÓN
Venezuela 1952
Regie: Margot Benacerraf

ARAYA
Venezuela/Frankreich 1957/59
Regie: Margot Benacerraf
Darsteller: Familie Pereda, Familie Salazar, Familie Ortiz, weitere Laiendarsteller
Sprecher: Laurent Terzieff (franz. Fassung), José Ignacio Cabrujas (span. Fassung)

ARAYA
Das filmische Œuvre der 1926 in Caracas geborenen und dort aufgewachsenen Margot Benacerraf ist ausgesprochen übersichtlich: Gerade mal zwei fertiggestellte, dazu ein unvollendeter und leider verschollener Film, den sie mit Pablo Picasso drehte. Und doch nimmt sie in der venezolanischen - und darüber hinaus in der lateinamerikanischen - Filmgeschichte einen besonderen Rang ein. - Araya ist eine abgelegene Halbinsel im Nordosten Venezuelas, nicht allzu weit von Trinidad entfernt. Doch karibisches Flair gibt es hier nicht. Im Gegenteil - es ist ein öder, von der Sonne ausgedörrter Landstrich, in dem außer Kakteen, harten Gräsern und etwas Gehölz nichts wächst. Doch es gibt einen natürlichen Schatz: In einer flachen Lagune entsteht durch Verdunstung von Meerwasser Salz in rauen Mengen. Die Spanier entdeckten den Ort um 1500, und damals, als Salz mit Gold aufgewogen wurde, wurden hier enorme Reichtümer abtransportiert. Zum Schutz vor Piraten errichteten die Spanier eine gewaltige Festung - angeblich die zweitgrößte in der ganzen Karibik -, und Araya war (als einziger Ort im Gebiet des heutigen Venezuela) auf allen Karten Westindiens verzeichnet. Die Festung ist längst eine Ruine, doch das Salz wird immer noch abgebaut - und zwar 1957, als ARAYA gedreht wurde, mit weitgehend denselben Methoden wie seit 450 Jahren. Margot Benacerraf hat ihren Film über die Menschen und mit den Menschen gedreht, die an diesem unwirtlichen Ort leben, und sie hat ihnen damit ein Denkmal gesetzt.

ARAYA: Wir befinden uns nicht in Gizeh, sondern in Venezuela
Am modernsten war damals noch der Abtransport des Salzes: in Säcken auf den Ladeflächen offener Trucks zu einem nahegelegenen Hafen. Doch der Rest war Handarbeit. Das Salz wurde in Form großer poröser Platten mit den Händen direkt aus dem nicht einmal knietiefen Wasser der Lagune geholt, in kastenförmigen Kähnen verstaut, mit Stangen zu grobkörnigen Kristallen zerstoßen und noch einmal mit Meerwasser überspült, um es zu reinigen. Dann wurde es an Land gebracht und zum Trocknen ausgebreitet. Nach einem Tag schließlich wurde es mit Schubkarren und auf den Köpfen getragenen Körben zu teilweise riesigen Pyramiden aufgeschichtet. Die kleinsten wirtschaftlichen Einheiten dabei waren die Familien der Salzarbeiter (Salineros), die jeweils auf eigene Rechnung arbeiteten. Dabei gab es eine Arbeitsteilung nach verschiedenen Schichten, ein Teil der Arbeit wurde nachts verrichtet.

ARAYA
ARAYA ist keine Dokumentation im engeren Sinn, bei der eine vorgefundene Realität einfach abgefilmt wird, sondern ein nach einem detaillierten Drehbuch sorgfältig inszenierter Film. Schon vor Beginn der Dreharbeiten verbrachte Margot Benacerraf einige Zeit vor Ort, um sich mit den Bedingungen vertraut zu machen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, dann schrieb sie das Drehbuch, das dem Verlauf von 24 Stunden an einem der immer gleichen Tage folgt. Es beginnt mit einer kurzen Exposition, in der die Elemente - Himmel, Meer, die trockene Erde - wortlos vorgestellt werden; in der Mitte des Films (zugleich Mittagszeit des Tages) und am Ende gibt es vergleichbare Sequenzen. Danach folgt eine kurze Einführung in die Geschichte des Ortes, und der Rest des 82-minütigen Films ist einem Tag im Leben der Bewohner gewidmet, von 6 Uhr morgens bis in die Nacht hinein. Benacerraf bedient sich dabei dreier Familien aus drei verschiedenen Dörfern der Halbinsel.

ARAYA
Beltrán Pereda und seine Familie aus Manicuare verrichten die Nachtschicht, die bis 9 Uhr vormittags hinein dauert, tagsüber schlafen sie dann. Die jüngsten Söhne der Familie, die auch schon mitarbeiten müssen, sind noch keine 10 Jahre alt. Beltráns Schwester Luisa ist die beste Töpferin im Ort - und wie die anderen Frauen der Gegend hat sie noch nichts von der Töpferscheibe gehört. Dámaso Salazar und seine Söhne aus dem Dorf Araya am anderen Ufer der Lagune arbeiten tagsüber, von Sonnenauf- bis -untergang; Dámasos Frau Petra ist am Fuß der Pyramiden beschäftigt, wo das Salz mit Schaufeln in die Säcke befördert und abgewogen wird. In El Rincón, das nicht an der Lagune, sondern am offenen Meer liegt, leben keine Salineros, sondern Fischer, darunter Adolfo Ortiz vom Boot La Sensitiva. Auch er arbeitet hauptsächlich nachts. Adolfos Frau Isabel zieht tagsüber in den Dörfern der Salineros von Haus zu Haus, um die gefangenen Fische zu verkaufen; abends muss sie noch ins Gestrüpp, um den knorrigen Bäumen etwas Brennholz abzuringen. Ein unbeschwertes Leben hat (noch) Carmen, die kleine Tochter von Adolfo und Isabel. Sie sammelt am Strand Muscheln und Korallen, um damit mit ihrer Großmutter Gräber auf dem Friedhof zu schmücken - Blumen wachsen hier nirgends. Die Fischer von El Rincón und die Salineros leben in einer Symbiose - die einen beschaffen die Hauptnahrung für alle, die anderen liefern das Salz, mit dem die Fische haltbar gemacht werden. Autark ist die Gemeinschaft dennoch nicht: Trinkwasser wird in regelmäßigen Abständen von einem Tankwagen angeliefert. Verteilt wird es unter Aufsicht der ältesten Frau im Dorf nach einem Schlüssel, der sich nach der Anzahl der Familienmitglieder bemisst. ARAYA folgt in einem sorgfältig abgewogenen Rhythmus dem Lauf des Tages, zwischen den drei Familien wechselnd. Die nötigen Informationen übermittelt der Film nicht durch Dialoge, sondern mittels eines in sehr poetischer Sprache gehaltenen Off-Kommentars.

ARAYA: Petra Salazar beim Wiegen des Salzes
Gegen Ende des Films bricht die Dunkelheit herein. Adolfo Ortiz und die anderen Fischer stechen wieder in See, die Salazars gehen zu Bett, und für die Peredas beginnt eine neue Schicht, wodurch sich der Zyklus schließt. Als Zuschauer zieht man jetzt vielleicht schon ein Fazit dieses wunderbaren Films - da wird man von einer Serie von Sprengungen aus seiner Kontemplation gerissen, und schwere Baumaschinen rücken ins Bild. In Araya wird das Salz zukünftig mit industriellen Methoden abgebaut werden. Wie wird sich das auf die Lebensweise der alteingesessenen Bevölkerung auswirken? Werden die Salineros ein leichteres Leben haben, und werden alte Bräuche und die seit Jahrhunderten tradierten Lieder überleben? Das Voice-over formuliert das am Ende des Films noch als Frage, aber natürlich hat die Geschichte längst die Antwort gegeben: ARAYA beschreibt eine untergegangene Welt. Die Industrialisierung hat der Gegend keinen allgemeinen Wohlstand beschert, nur ein kleiner Teil der Männer wurde weiterhin beschäftigt, und die meisten sind weggezogen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Die Erträge an Salz sind auch nicht so gestiegen wie seinerzeit erhofft: Ein Teil der damals errichteten Maschinen steht längst still und wird vom Salz zerfressen. Allerdings muss man nicht allen Aspekten dieser vergangenen Welt nachtrauern. Der Kommentar des Films mag poetisch sein, aber romantisch verklärend ist er nicht. Es wird sehr deutlich gemacht, dass es sich bei der Arbeit der Salineros um eine nicht endende Plackerei handelt. Der Schweiß floss in Strömen, der intensive Kontakt mit dem Salz führte häufig zu Wunden und Hautgeschwüren, und die Entlohnung war mehr als dürftig. Sozialkritisch im engeren Sinn ist ARAYA aber nicht. Dass es irgendwo auch Großhändler oder Konzerne geben musste, die durch das Schuften der Salineros reich wurden, kann man sich zwar denken, aber zur Sprache gebracht wird es im Film nicht. Es hätte auch schlecht ins Konzept eines poetischen Filmessays gepasst, der vor allem die Würde der Menschen von Araya betont.

ARAYA
Wie schon angemerkt, ist ARAYA ein sorgfältig durchinszenierter Film. Kaum eine Szene wurde "einfach so" abgefilmt, sondern immer gab es Regieanweisungen für die Darsteller. Bei den Familien hat Margot Benacerraf auch ein bisschen manipuliert: So war Carmen nicht wirklich die Enkelin von Großmutter Salazar, und Fortunato Pereda und eine junge Frau, die im Film ein Liebespaar sind, konnten sich in Wirklichkeit nicht ausstehen. ARAYA steht somit ein bisschen zwischen den Genres. An Vorläufern kann man einerseits Dokumentationen wie Luis Buñuels LAS HURDES und die Filme von Robert Flaherty ausmachen, insbesondere Flahertys MAN OF ARAN, andererseits mit Laiendarstellern gedrehte neorealistische Spielfilme wie etwa Viscontis LA TERRA TREMA. Margot Benacerraf hat sich wiederholt dagegen gewehrt, ARAYA als Dokumentation zu bezeichnen. Dem kann man aber nur zustimmen, wenn man diesen Begriff sehr eng definiert. Beispielsweise hat gerade Flaherty, der oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet wird, auch kräftig manipuliert und inszeniert. In MAN OF ARAN etwa hat er aus echten Inselbewohnern eine fiktive Familie zusammengestellt, die nach seinen Regieanweisungen agiert, und er hat die Männer von Aran sogar animiert, eine seit vielen Jahren aufgegebene Tradition (nämlich die Jagd auf Riesenhaie von Ruderbooten aus) für den Film wieder aufzunehmen. In den sich steigernden Spannungsbögen dieses Films ist auch eine sorgsame Konstruktion des Gesamtaufbaus erkennbar. Wenn man akzeptiert, dass Dokumentarfilme immer ein gewisses Maß an Manipulation enthalten, mit einer großen Bandbreite im Ausmaß - Direct Cinema und Cinéma vérité am einen Ende des Spektrums, und Flaherty am anderen -, dann ist auch ARAYA ein Dokumentarfilm, natürlich am Flaherty-Ende. An Nachfolgern von ARAYA ist vor allem Glauber Rochas erster Spielfilm BARRAVENTO zu nennen. Rocha war 1959 als Journalist bei den Festspielen in Cannes, wo ARAYA Premiere hatte, anwesend. Er bewunderte den Film sehr und befreundete sich mit Benacerraf. Später hat Rocha mehrfach betont, dass ARAYA als eine Inspiration für das brasilianische Cinema Novo gedient hat. Ich fühlte mich auch etwas an Kaneto Shindōs DIE NACKTE INSEL erinnert, auch wenn der meines Wissens nicht von ARAYA beeinflusst wurde.

ARAYA
Margot Benacerrafs Eltern waren sephardische Juden aus dem Teil Marokkos, der spanisches Protektorat war. Nicht weniger als drei ihrer Onkel waren mit Französinnen verheiratet, deshalb lebte ein Teil ihrer Verwandtschaft in Frankreich. Der Medizin-Nobelpreisträger Baruj Benacerraf und der Mathematiker und Philosoph Paul Benacerraf waren ihre Cousins aus diesem Zweig der Familie. Wie schon erwähnt, wuchs sie in Caracas auf, wo sie ein Gymnasium und die Universität besuchte. In ihrer Jugend galt ihr Interesse der Literatur. 1944, als sie noch in die Schule ging, gewann sie bei einem staatenübergreifenden lateinamerikanischen Essay-Wettbewerb zum Thema "Einheit Lateinamerikas" den ersten Preis. An der Universität, wo das intellektuelle Klima stark von spanischen Exilanten, die das Land nach dem Bürgerkrieg verlassen hatten, geprägt war, schrieb sie ein Theaterstück mit dem Titel Creciente, das von Federico García Lorca beeinflusst war. Ihre Professoren reichten das Stück ohne ihr Wissen wiederum bei einem Wettbewerb ein, der von einer Regierungsstelle, der Universität und der Columbia University in New York veranstaltet wurde, und wieder gewann sie den ersten Preis. Jetzt hätte das Stück eigentlich in einer Auflage von 5000 Exemplaren veröffentlicht und am Nationaltheater aufgeführt werden sollen, doch das zerschlug sich, weil in Venezuela ein Staatsstreich stattfand und vorübergehend das Chaos ausbrach. Doch die Columbia University hatte als ihren Beitrag zum Preis ein dreimonatiges Stipendium spendiert, das dann sogar noch verlängert wurde. So machte sich Benacerraf also im Frühling 1949 auf nach New York, und ihr dortiger Dozent war kein Geringerer als Erwin Piscator, der an der New School for Social Research einen Dramatic Workshop initiiert hatte. Piscator förderte die gegenseitige Durchdringung von Film und Theater, aber Benacerraf, die aus den Kinos ihrer Heimat nur billige Importware aus Hollywood kannte, blieb zunächst auf Theater fixiert. Als sie aber einer der Filmstudenten, die im Stock über den Dramastudenten untergebracht waren, als Darstellerin für seinen Abschlussfilm requirierte, gab sie ihr Sträuben auf, begann sich für Film zu interessieren und begann auch, die technischen Grundlagen des Filmens aufzuschnappen. Eine Vorführung von Marcel Carnés LES ENFANTS DU PARADIS, die die Filmstudenten organisiert hatten, überzeugte sie schließlich restlos davon, das Filme Kunstwerke sein können.

Margot Benacerraf, l.u. mit Picasso in Vallauris (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Als sie nach Abschluss ihres Studiums mit ihren Eltern auf Verwandtenbesuch in Paris war, wurde Benacerraf auf die dortige Filmhochschule IDHEC aufmerksam, bewarb sich, und wurde nach einer selektiven Aufnahmeprüfung angenommen, als eine von zehn Ausländern und eine von drei Frauen unter lauter Männern. Später bekannte Namen dieses IDHEC-Jahrgangs waren der Regisseur Robert Enrico und der Cutter Henri Lanoë. Das erste Jahr an der Filmhochschule, das vom November 1950 bis Juni 1951 dauerte, verlief enttäuschend, weil es nur Theorie gab - dem finanziell schlecht ausgestatteten Institut fehlten die Mittel zur praktischen Ausbildung der Studenten. Benacerraf, die ja schon eine geisteswissenschaftliche Universitätsausbildung hatte, wollte eigentlich die technischen Grundlagen lernen. So langweilte sie sich und schwänzte oft die Vorlesungen, um sich lieber Filme in den Kinos anzusehen. In den Ferien im Sommer 1951 war sie wieder in Caracas, und dort lief sie dem französischen Kulturattaché Gaston Diehl über den Weg, der ein Freund von Alain Resnais war und an einigen von Resnais' frühen Kurzfilmen über Maler und Bildhauer als Autor und bei VAN GOGH auch als Coproduzent beteiligt war. Nun wollte Diehl einen Film über den exzentrischen venezolanischen Maler Armando Reverón machen lassen, eigentlich von Resnais, aber der war mit einem anderen Projekt beschäftigt und lehnte ab. Und so bot Diehl Margot Benacerraf die Regie an.

ARAYA
REVERÓN ist in mancher Hinsicht schon ein Modell im Kleinen für ARAYA. Armando Reverón, der in seinen späten Jahren psychisch krank war, hatte sich schon in den 20er Jahren mit seinem Modell Juanita, die auch seine Lebensgefährtin und ab 1946 seine Frau war, in eine abgelegene Einsiedelei an der Küste zurückgezogen, um dort zu leben und zu malen. Der Ort war nicht ganz so abgelegen wie Araya, aber von Caracas aus nur umständlich zu erreichen. 1951 hatte Reverón schon einen Ruf als El Loco de Macuto (der Verrückte von Macuto). Wie bei ARAYA verbrachte Benacerraf auch hier zunächst einige Zeit bei Reverón und Juanita, um das Vertrauen des Malers zu gewinnen, dann schrieb sie ein detailliertes Drehbuch für den 23-minütigen Film. Für den Mittelteil des Films, der Reveróns Leben und Werk rekapituliert, fotografierte Benacerraf viele seiner Gemälde, und das war schwieriger, als es sich anhört. Reverón war damals ein bekannter Maler, aber noch kein Klassiker, dessen Werke im Nationalmuseum hingen wie heute. Benacerraf musste die Bilder mühsam bei Privatsammlern ausfindig machen, die sie dem Maler oft für ein Butterbrot abgekauft hatten, und mit deren Einverständnis fotografieren. Reverón identifizierte und datierte dann die Werke anhand der Fotos. Das erste und letzte Drittel des Films kreist Reverón sozusagen ein, indem sich die Kamera in zyklischen Bewegungen an das Anwesen und an den Maler selbst annähert und ihn schließlich beim Anfertigen eines Selbstportraits beobachtet. Auch hier folgt die Handlung (wenn man sie so nennen darf) dem Zyklus eines einzigen Tages, und wie die Salineros nahm auch Reverón, der von Film überhaupt keine konkrete Vorstellung hatte, Benacerrafs Regieanweisungen entgegen (und auch hier besteht Benacerraf darauf, dass es sich um keinen Dokumentarfilm handelt). Die eigentlichen Dreharbeiten, bei denen nur Benacerraf und ihr aus Jugoslawien stammender Kameramann Boris Doroslovacki (oder Doroslawaski - die Quellen sind sich nicht einig) zugange waren, waren in zwei Wochen erledigt, trotz der widrigen logistischen Gegebenheiten an diesem Ort, und obwohl Henry Nadler, der von Diehl vermittelte Produzent des Films, sehr mit Filmmaterial knauserte.

REVERÓN: Der Meister malt ein Selbstportrait. Im linken Spiegel sind zwei der Puppen zu sehen.
REVERÓN ist auch eine essayistische Erkundung des Verhältnisses von Wahn und Kreativität, und dafür war Armando Reverón eine geeignete Wahl. Neben seiner Malerei hatte er auch lebensgroße und für ihn beseelte Puppen angefertigt, und in der letzten Nacht vor der Abreise, nachdem Reverón das Selbstportrait vollendet hatte, kam es zu einer denkwürdigen Begebenheit: Benacerraf sollte nach Reveróns Anleitung im Kostüm einer Priesterin den individuell gestalteten Puppen, die auch jeweils einen Namen hatten, "ihre Sünden vergeben" - eine bizarre Mischung aus Wahngebilde, mystischer Zeremonie und künstlerischer Performance. Und Boris Doroslovacki sollte das alles mitfilmen, nach Reveróns Wunsch hätte das den Schluss des Films bilden sollen - doch auf Benacerrafs Anweisung hin tat der Kameramann nur so, als ob er filmte, weil kaum noch Filmmaterial übrig war und für den nächsten Tag noch ein paar Außenaufnahmen geplant waren, und auch, weil sie nicht selbst in ihrem Film auftreten wollte. Später hat sie bedauert, dass diese surreale nächtliche Zeremonie nicht auf Film gebannt wurde. Immerhin gibt es im Film expressive Aufnahmen der Puppen, die Benacerraf und Doroslovacki in einer der Nächte davor ohne Reveróns Anwesenheit machten. - Es gibt noch eine Parallele zwischen ARAYA und REVERÓN: Auch letzterer Film wurde gerade noch rechtzeitig gedreht. 1952 wurde Armando Reverón mit einem akuten Schub von Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und mit Elektroschocks behandelt, 1954 ist er gestorben.

ARAYA
Das Ende der Dreharbeiten war im Dezember 1951, und Benacerraf stand jetzt unter Zeitdruck, weil das zweite Jahr bei IDHEC bereits begonnen hatte und sie schleunigst zurückkehren musste, um nicht ausgeschlossen zu werden. Sie ging also zurück nach Paris, holte den versäumten Stoff nach und machte ihr Examen, und erst danach ging sie (ebenfalls in Paris) an Schnitt und Vertonung von REVERÓN. Einen wesentlichen Beitrag zur Wirkung des Films leistet der dicht strukturierte Soundtrack, für den Benacerraf den französischen Komponisten Guy Bernard gewinnen konnte. Teils exotische Hintergrundgeräusche, die Benacerraf mit einem tragbaren Tonbandgerät vor Ort aufgenommen hatte, werden sehr geschickt mit Bernards Musik gemischt. Im November 1952, fast ein Jahr nach dem Dreh, hatte REVERÓN schließlich Premiere auf einem Festival für Kunst-Dokumentationen, das Gaston Diehl organisiert hatte, und gewann dort den ersten Preis, und im Juni 1953 lief er unter großem Zuspruch des Publikums auf der 3. Berlinale. Festivalleiter Alfred Bauer konnte kaum glauben, dass diese kleingewachsene Frau diesen Film gedreht hatte - er dachte, sie sei die Tochter des Regisseurs, und er bat nach der Vorstellung "Herrn Benacerraf" auf das Podium. Berlin öffnete viele Türen. Benacerraf hatte nicht nur ihr erstes Fernsehinterview (für den NWDR, der damals auch noch für Berlin zuständig war), es waren auch André Bazin und Lotte Eisner anwesend, die begeisterte Artikel in Le Monde bzw. Cahiers du cinéma schrieben, und durch Eisners Vermittlung lernte Benacerraf Henri Langlois kennen, den Mitgründer und Leiter der Cinémathèque française. Die beiden wurden gute Freunde, und mit Langlois' Hilfe wurde REVERÓN auch in der Belgischen Cinémathèque in Brüssel und bei diversen anderen Gelegenheiten vorgeführt.

ARAYA
1953 erhielt Benacerraf durch ihre vielfältigen Kontakte zu Exilspaniern eine Einladung ins Atelier von Pablo Picasso in Paris, und Picasso wiederum lud sie ins südfranzösische Vallauris in der Nähe von Antibes ein, wo er regelmäßig Zeit mit Malen und Töpfern verbrachte. Picasso organisierte in Vallauris eine Freiluftaufführung von REVERÓN, war begeistert, und lud Benacerraf ein, einige Wochen in dem Ort zu verbringen, um einen Film mit ihm zu drehen. Nachdem es schon einige Filme über ihn gab, sollte es jetzt ein Film mit ihm sein, eine Art filmisches Tagebuch. Die Dreharbeiten im Sommer fanden in sehr lockerer und familiärer Atmosphäre statt und standen kurz vor dem Abschluss, doch dann wurde Picasso im September 1953 von seiner Lebensgefährtin Françoise Gilot mitsamt den gemeinsamen Kindern Claude und Paloma verlassen. Die gute Stimmung war dahin, und Picasso hatte anderes im Sinn als den Film. Nachdem Benacerraf einige Zeit untätig herumsaß, beschloss sie, vorerst nach Paris zurückzukehren, obwohl sie von Guy Bernard, der schon länger mit Picasso befreundet war (er hatte auch Resnais' GUERNICA vertont), gewarnt wurde, dass das das Ende des Films bedeuten könnte - und so kam es dann auch. Die verwendete Kamera hatte Picasso gehört, der auch das Filmmaterial bezahlt hatte, deshalb blieben die Aufnahmen bei ihm. Natürlich hatte Benacerraf vor, in absehbarer Zeit zurückzukommen und den Film fertigzustellen, aber die Gelegenheit dazu ergab sich nicht, und als Picasso im Lauf der Jahre mehrmals umzog, verlor sich irgendwann die Spur der Aufnahmen. Nach dem Selbstmord von Picassos zweiter Frau Jacqueline Roque im Jahr 1986 schwanden die Chancen, das Material doch noch aufzufinden, und es blieb bis heute verschollen.

ARAYA
1954 verbrachte Benacerraf ein halbes Jahr an einem von der UNESCO betriebenen audiovisuellen Zentrum in Mexiko (ihr Vorgänger auf diesem Posten war Chris Marker). Zwar war diese Zeit wegen überbordender Bürokratie wenig produktiv (angeblich musste man sogar wegen eines neuen Bleistifts einen Antrag an das UNESCO-Hauptquartier schicken), aber die Zeit war trotzdem von Bedeutung für sie. Erstens entwickelte sie erst in Mexiko ein Gefühl für eine gemeinsame lateinamerikanische Identität, was vorher aufgrund der Herkunft ihrer Eltern und ihres durch Exilspanier geprägten Studiums nicht der Fall war. Und zweitens konnte sie die Freundschaft zu Buñuel vertiefen, den sie schon in Paris kennengelernt hatte. Jedes Wochenende fuhr sie nach Mexiko City, um Buñuel und seine Freunde, viele davon exilspanische Künstler und Intellektuelle, zu treffen. Wieder in Venezuela, entwickelte Benacerraf Pläne für einen neuen Film. Ursprünglich sollte es ein Triptychon werden, ein Film aus drei jeweils ungefähr halbstündigen Episoden, von denen eine in den venezolanischen Anden, eine in der Ebene und eine an der Küste spielen sollte. Die Schauplätze für die ersten beiden Episoden hatte sie bereits gefunden, den für die Küste suchte sie noch, da stieß sie in einer Zeitschrift auf ein Foto von Araya - ein Ort, von dem sie bisher noch nichts gehört hatte. Sie fuhr hin, und bald war das Triptychon vergessen und ARAYA geboren. Damals bereits wusste sie, dass in einem halben Jahr die Industrialisierung in Araya Einzug halten würde, es bot sich also die einmalige Chance, diese Welt vor ihrem Untergang auf Film zu konservieren. Zunächst studierte Benacerraf die Geschichte der Halbinsel. Weil die Archive in Venezuela nichts Brauchbares hergaben, fuhr sie nach Spanien, und im "Indienarchiv" (Archivo General de Indias) in Sevilla wurde sie fündig und erfuhr alles, was sie wissen wollte.

ARAYA
Nachdem Benacerraf und die Einwohner sich gegenseitig miteinander vertraut gemacht hatten, entstand das Drehbuch, und dann wurde gedreht. Wie schon bei REVERÓN, dauerten auch bei ARAYA die eigentlichen Dreharbeiten deutlich kürzer als die Vorbereitungen - nämlich weniger als vier Wochen, im September und Oktober 1957. Und wie bei REVERÓN bestand das Team aus nur zwei Personen, Benacerraf und ihr Kameramann Giuseppe Nisoli, der für wunderbare Bilder sorgte. Anfangs hatten die beiden noch einen Assistenten dabei, aber der war so unorganisiert, dass er nach einer Woche gefeuert wurde. Wieder waren die logistischen Bedingungen schwierig, und wiederum gab es keine große Hilfe von Seiten der Produzenten. Als der Film in Cannes gezeigt wurde, mochte kaum jemand glauben, dass das Team aus nur zwei Leuten bestand. Insbesondere Kran-Aufnahmen über den Salzpyramiden benötigten einen professionellen Kamerakran mit Bedienmannschaft, so dachte man. Tatsächlich aber standen die Kamera und Nisoli auf einer ungesicherten Plattform, die an einem Kran hing, der von einer der bereits anwesenden Baufirmen entliehen wurde. Jeder Beauftragte für Arbeitsschutz wäre bei dem Anblick wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen. In Anbetracht der Umstände ging die Arbeit gut vonstatten, aber eine größere Panne gab es. Eigentlich sollte die kleine Carmen viel mehr Raum im Film einnehmen, aber durch ein technisches Problem wurde ein Großteil der Aufnahmen mit ihr ruiniert, was erst im Kopierwerk in Paris bemerkt wurde, so dass es nicht mehr korrigiert werden konnte. Ein eher skuriller Vorfall war das unangekündigte Auftauchen der Präsidentenyacht mit Diktator Marcos Pérez Jiménez, seinen Konkubinen und sonstiger Entourage an Bord. Viele der Einwohner von Araya lebten ohne offiziellen Trauschein zusammen, und der Herr Präsident hatte es sich in den Kopf gesetzt, das zu ändern, weshalb er auch einen katholischen Priester im Schlepptau hatte, der nun eine Massenhochzeit veranstaltete. Als der Anhang des Präsidenten die Filmausrüstung entdeckte, wurde Benacerraf aufgefordert, die Veranstaltung zu filmen, aber sie lehnte ab, weil wiederum das Filmmaterial knapp war, und wiederum hat sie das später bedauert. Mehr als zehn Jahre später fand diese leicht surreale Episode Eingang in eine Geschichte von Gabriel García Márquez mit dem etwas länglichen Titel "Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter".

Crane shots - so geht das auch (mit freundl. Genehmigung / courtesy of Milestone)
Weil es in Venezuela nur zweitklassige Filmlabors gab, wurde das ganze Material nach Frankreich geschickt, und Benacerraf wollte bald hinterher reisen. Doch dann kam es zu Unruhen gegen den eben noch heiratsfördernden Diktator (der übrigens 1954 die "Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" - also die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes - erhalten hatte), Chaos brach aus, und viele Freunde von Benacerraf wurden verhaftet. Diese wollte aus Solidarität jetzt das Land nicht verlassen, und so kam es, dass sie erst Mitte 1958, als sich die Lage nach dem Sturz des Diktators beruhigt hatte, nach Paris reiste und die aufwändige Postproduction in Angriff nahm. Wieder war Guy Bernard für den Soundtrack verantworltlich, der wiederum aus mit Tonband aufgenommenen Geräuschen und traditionellen Liedern und neuer Musik von Bernard zusammengemischt wurde. Zunächst fertigten Benacerraf, Bernard und die Cutterin eine dreistündige Fassung, die nach Ansicht der Beteiligten den internen Rhythmus der Handlung optimal unterstützte. Henri Langlois zeigte diese Fassung Jean Renoir, der daraufhin meinte, Benacerraf solle kein einziges Bild davon herausschneiden. Doch ein dreistündiger Film hätte damals im Verleih schlechte Chancen gehabt, und aus Cannes, wo der Film Premiere haben sollte, kam die Weisung, ihn drastisch zu kürzen, sonst würde er abgelehnt. So machte sich das Team also daran, den Film auf weniger als die Hälfte zu kürzen. Aus Zeit- und Kostengründen wurde dazu die dreistündige Fassung herangezogen, ohne eine Kopie anzufertigen, so dass die lange Fassung verloren ist. Benacerraf hat das später als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnet. Weil inzwischen das Geld auszugehen drohte, wurde eine französische Firma als Partner an Bord geholt, so dass ARAYA offiziell eine venezolanisch-französische Produktion ist, obwohl es beim Dreh 1957 noch ein rein venezolanisches Projekt war.

ARAYA
Als letztes wurde der Text zum Voice-over geschrieben und aufgenommen. Den Text verfasste Benacerraf gemeinsam mit dem französischen Dichter Pierre Seghers. Gelegentlich wird Seghers als gleichberechtigter Drehbuchautor bei ARAYA bezeichnet, er war aber nur am Kommentar und nicht am eigentlichen Drehbuch beteiligt. Aus Zeitdruck, um rechtzeitig für Cannes fertig zu werden, wurde nur eine französische Fassung geschrieben und vom Schauspieler Laurent Terzieff gesprochen. Und dann war es schließlich soweit: Im Mai 1959 hatte ARAYA Premiere in Cannes, und er lief gegen Filme wie LES QUATRE CENTS COUPS, ORFEU NEGRO, NAZARIN und HIROSHIMA, MON AMOUR. ARAYA gewann den FIPRESCI-Preis (geteilt mit HIROSHIMA, MON AMOUR) sowie den Grand Prix de la Commission Superieure Technique. Danach lief er 1959 noch mit Besonderen Erwähnungen auf den Festivals von Locarno, Moskau, Edinburgh und Venedig, und es gab noch etliche andere Auszeichnungen. Leider konnte Benacerraf den Schwung der vielen Preise nicht für neue Filmprojekte ausnutzen, denn nach ARAYA wurde sie durch eine mysteriöse Krankheit für eineinhalb Jahre geschwächt und teilweise ans Bett gefesselt. Angebote gab es genug, aber sie musste sie alle ablehnen.

ARAYA
1965, als sie sich gesundheitlich erholt hatte, übernahm Benacerraf widerstrebend die Leitung des gerade gegründeten Venezolanischen Nationalen Instituts für Kultur und Schöne Künste (INCIBA). Sie hatte seit inzwischen sieben Jahren in Paris gelebt und wollte da eigentlich auch bleiben, aber dann ließ sie sich zur Rückkehr nach Venezuela überreden. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Landfahrzeuge und zwei Schiffe mit Filmprojektoren in den kulturell wenig erschlossenen Teil Venezuelas südlich des Orinoco zu entsenden, um der dortigen Bevölkerung Diashows und Filme vorzuführen (von denen etliche in dem UNESCO-Zentrum in Mexiko produziert wurden, in dem sie kurz gearbeitet hatte). Diese Aktion erinnert mich etwas an den Filmzug, mit dem Alexander Medwedkin in den 30er Jahren in der Sowjetunion umherfuhr. Benacerrafs nächster Streich folgte 1966: Nach dem Vorbild der Cinémathèque française gründete sie eine nationale Cinemateca in Caracas. Durch ihre Freundschaft mit Henri Langlois und Teilnahme an etlichen Konferenzen internationaler Cinémathèquen-Betreiber war sie genug mit der Materie vertraut, um diese Aufgabe meistern zu können. 1968 wollte Benacerraf wieder einmal einen Film drehen, und sie traf sich dazu in Barcelona mit Gabriel García Márquez, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Gemeinsam schrieben sie mehrere Drehbuchfassungen zu "Eréndira" (ich beschränke mich jetzt auf die Kurzfassung des Titels), aber nachdem kein Produzent zu Benacerrafs Bedingungen (sie wollte nur in Venezuela oder Kolumbien drehen) den Film finanzieren wollte, veröffentlichte García Márquez den Stoff schließlich 1972 als Kurzgeschichte. Mitte der 70er Jahre schien Carlo Ponti den Film produzieren zu wollen, aber als er wegen eines Devisenvergehens großen Ärger mit der italienischen Justiz bekam, zerschlug sich das Projekt endgültig. In einem neuen Anlauf verfilmte schließlich der Brasilianer Ruy Guerra ohne Benacerrafs Beteiligung den Stoff 1983 in Mexiko (mit deutscher und französischer Beteiligung).

ARAYA: Carmen und ihre Großmutter
Im Lauf der Jahre entfaltete Benacerraf viele weitere film- und kulturpolitische Aktivitäten, die teilweise über Venezuela hinaus in Lateinamerika wirkten. So gründete sie 1991 zusammen mit García Márquez Latin Fundavisual zur Förderung audiovisueller Kunst in Lateinamerika. Für ihre Verdienste erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. ARAYA hatte aber trotz der vielen Preise in vielen Ländern Schwierigkeiten, in den Verleih zu kommen, was an der Schwierigkeit gelegen haben mag, ihn in die richtige Schublade zu stecken. In Venezuela kam er gar erst 1977 in die Kinos, und erst aus diesem Anlass wurde auch eine spanische Version des Voice-over geschrieben und vom Schriftsteller José Ignacio Cabrujas aufgenommen. 2005 wurde ein Versuch unternommen, ARAYA in den USA in die Kinos zu bekommen. Das scheiterte zwar aus finanziellen Gründen, aber die US-Firma Milestone, die auf die Wiederentdeckung alter Filmschätze spezialisiert ist, wurde auf ARAYA aufmerksam und restaurierte ihn aufwändig. Premiere der restaurierten Fassung war im Februar 2009 auf der Berlinale. Und 2011 schließlich erschien diese Fassung bei Milestone auf DVD, mit vorzüglicher Bildqualität, REVERÓN als Bonusfilm, Audiokommentaren (auf Englisch) von Benacerraf zu beiden Filmen und weiterem Bonusmaterial. Und regionalcodefrei ist diese vorbildliche Veröffentlichung auch noch. Hier gibt es eine offizielle Seite zum Film von Milestone mit weiteren Informationen, z.B. ein Press Kit als PDF.

ARAYA: Die Moderne bricht ein

Montag, 27. Januar 2014

Lateinamerika, gegen den Strich gebürstet

Kürzlich habe ich hier anhand dreier Beispiele die spanische DVD-Box "Del Éxtasis Al Arrebato" vorgestellt, die von der Firma Cameo in Zusammenarbeit mit diversen kulturellen und politischen Körperschaften herausgebracht wurde. Dieselben Herausgeber stellten als Nachfolgeprojekt unter dem Titel "Cine A Contracorriente" - was ungefähr "Film gegen den Strom" oder "gegen den Strich" bedeutet (auf Englisch als "against the grain" wiedergegeben) - ein Filmprogramm und eine DVD auf die Beine, die sich dem lateinamerikanischen Avantgardefilm widmen, was der Untertitel "Un recorrido por el otro cine latinoamericano" (A journey through the other Latin American cinema) zum Ausdruck bringt. Wieder ist das Booklet zweisprachig Spanisch/Englisch, und im Menü und bei den Untertiteln ist sogar noch Portugiesisch als weitere Sprache dazugekommen. Hier also nicht zwei, sondern nur eine DVD, aber immerhin fast drei Stunden, die sich auf 19 Filme verteilen. Diesmal will ich nicht einige YouTube-Videos herausgreifen, sondern alle Filme kurz vorstellen. Die Anordnung auf der DVD ist chronologisch, und ich folge diesem Schema.



TRAUM
2:18, 16mm
Deutschland 1933
Regie: Horacio Coppola und Walter Auerbach


Nicht nur der älteste und zweitkürzeste Film in der Kompilation, sondern auch der einzige, der gar nicht in Lateinamerika entstand. Horacio Coppola war ein argentinischer Fotograf und (gelegentlich) Filmemacher, der seinerzeit am Bauhaus in Dessau studierte, und sein Freund und Coregisseur Walter Auerbach (nicht der gleichnamige SPD-Politiker) war ebenfalls am Bauhaus. Coppola heiratete die Fotografin Grete Stern, Auerbach Sterns Freundin und Kollegin Ellen Auerbach (geb. Rosenberg). Noch mehr über das Quartett, vor allem die beiden Frauen, erfährt man hier und hier. - TRAUM ist eine kurze surrealistische Fingerübung. Zwei Männer (vielleicht die Regisseure, aber ich weiß es nicht) begegnen und verfolgen sich, Dinge (darunter Hüte) fliegen durch die Luft, am Ende gibt es eine Serie von Jump Cuts. TRAUM ist sicher von den diversen europäischen surrealistischen Filmen beeinflusst, die es damals schon gab, am meisten vielleicht von Hans Richters VORMITTAGSSPUK, aber wie im Booklet der DVD ganz richtig angemerkt wird, weist er auch schon etwas auf Maya Deren voraus. Die verwendete Kopie ist schon von Zersetzung befallen, die Bildqualität ist also schlecht.



ESTA PARED NO ES MEDIANERA
9:31, 35mm
Peru 1952
Regie: Fernando de Szyszlo


Noch ein surrealistischer Film (der Titel bedeutet wohl ungefähr "Diese Wand ist keine Zwischenwand"). Ein junger Mann, der hinter (symbolischen) Gitterstäben gefangen ist - vielleicht ein Symbol für einen Ehe-Käfig -, bricht aus, trifft an einem Strand eine schöne junge Frau, kämpft mit einem anderen Mann, und am Ende landet er in einem Zirkus wieder hinter Gitterstäben und muss die Frau mit dem anderen Mann davongehen sehen. - Der lange verschollene Film tauchte als Betamax-Kopie wieder auf, die ebenfalls sehr schlechte Bildqualität trägt aber vielleicht gerade zum visuellen Reiz mancher Szenen bei. Fernando de Szyszlo hatte einige Zeit in Paris verbracht, wo er die modernen avantgardistischen Strömungen kennenlernte, bevor er nach Peru zurückging und den Film drehte.



LA CIUDAD EN LA PLAYA
11:52, 16mm
Uruguay 1961
Regie: Ferruccio Musitelli


Veristische bis poetische Impressionen von einem Badestrand bei Montevideo, für die Nationale Tourismuskommission gedreht. Was eine dröge Auftragsarbeit hätte werden können, geriet dem vor einem Jahr mit 85 Jahren verstorbenen Ferruccio Musitelli zu einer gut komponierten und unterhaltsam gefilmten Studie, die den Bogen spannt von der noch menschenleeren Küste im Morgengrauen bis zu Hubschrauberaufnahmen über dem dicht bevölkerten Strand am Nachmittag. Die variable und bisweilen kommentierende Musik von einem Eduardo Gilardoni komplettiert den schönen Film, der wie die beiden vorhergehenden und der nächste ohne Worte auskommt. LA CIUDAD EN LA PLAYA erhielt eine lobende Erwähnung beim Festival in Karlovy Vary.



REVOLUCIÓN
9:10, 16mm
Bolivien 1963
Regie: Jorge Sanjinés


Jorge Sanjinés ist einer der führenden progressiven Regisseure seines Landes, und sein früher Kurzfilm REVOLUCIÓN macht schon im Titel klar, worum es geht. Es beginnt mit Bildern der Armut der (vorwiegend indigenen) Bevölkerung, der Minenarbeiter, Bauern und Bettler, deren Realismus nur durch die Musik abgemildert wird. Aufnahmen aus der Werkstatt eines Sargmachers, der Kindersärge in Serie fertigt, sind ein unmissverständlicher Hinweis auf hohe Kindersterblichkeit. Danach spricht ein Politiker oder Gewerkschaftsführer vor einer jubelnden Masse, doch paramilitärische Polizei schießt die Versammlung zusammen. Man sieht Tote, Inhaftierte, und eine Hinrichtung Gefangener durch ein Erschießungskommando. Aber das ist nicht das Ende: Arbeiter bewaffnen sich, es kommt zum Aufruhr, zur Revolution. Die Armee rückt aus, doch das Ergebnis der Konfrontation wird nicht gezeigt. Am Ende des Films hört man Schüsse fallen, doch die Kamera blickt in die Gesichter von Kindern, die so oder so zu den Opfern gehören. In Bolivien fand 1952 eine Revolution statt, doch gerade die dadurch an die Macht gekommene Regierung war es, die nach einer Vorführung im Präsidentenpalast die öffentliche Aufführung von REVOLUCIÓN untersagte. So kann es gehen. Dafür gewann der Film bei der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche einen nach Joris Ivens benannten Preis.



NOW!
5:27, 35mm
Kuba 1965
Regie: Santiago Álvarez


Nach der Vorspann-Sequenz, die mit einer jazzigen Instrumentalversion von "Hava Nagila" unterlegt ist, besteht der Soundtrack der restlichen gut vier Minuten aus "Now!" von Lena Horne, das auf derselben Melodie beruht. Lena Horne war nicht nur eine große Sängerin und brauchbare Schauspielerin, sondern auch langjährige Bürgerrechtsaktivistin, und passend zum Thema des Songs zeigt der Film dazu Fotos und dokumentarische Filmschnipsel von zeitgenössischen Rassenunruhen in den USA, insbesondere von Polizei, die Demonstranten verprügelt. In einer kurzen und vielleicht allzu polemischen Sequenz ist auch eine Aufnahme von einer Nazi-Parteiveranstaltung eingeschnitten. Am Ende wird der Titel des Songs und des Films mit einer Maschinenpistole in eine Wand geschossen (wie man es ähnlich im einen oder anderen Edgar-Wallace-Film sah). Santiago Álvarez hat mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln eine zornige Anklage gegen den Rassismus in den USA gestaltet. Man könnte kleinlich beanstanden, dass er (im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung) seine Attacke gegen den Klassenfeind aus sicherer Distanz geritten hat, doch andererseits: Welcher US-Regisseur hätte statt seiner diesen tollen Film gemacht? Auch NOW! errang einen Preis in Leipzig, nämlich eine "Goldene Taube". - Hier gibt es noch etwas über Lena Hornes Song, und als Zugabe den kompletten Film.



FOME
5:07, Super 8
Brasilien 1972
Regie: Carlos Vergara


Aus Bohnen ist ein Quadrat und darin in den Ecken die Buchstaben des Filmtitels (Portugiesisch für "Hunger") ausgelegt. Die Bohnen keimen aus, wodurch im Zeitraffer die Buchstaben langsam verschwimmen, dazwischen gibt es Makroaufnahmen der sprießenden Pflänzchen, und am Ende zeigt sich der bärtige Künstler selbst, halb verdeckt von seinem Miniatur-Urwald aus Bohnen. Nette Idee, aber wirklich vom Hocker gerissen hat mich der gänzlich stumme Super-8-Film nicht.



OFRENDA
4:18, Super 8
Argentinien 1978
Regie: Claudio Caldini


In einer Zeit, in der in Argentinien unter der Militärjunta Tausende gefoltert wurden und "verschwanden" (viele wurden aus dem Flugzeug ins offene Meer geworfen), machte Claudio Caldini diesen erstaunlichen Film, dessen Titel "Opfergabe" bedeutet. Man sieht: Gänseblümchen. Genauer gesagt, Blüten von Gänseblümchen vor einem schwarzen Hintergrund, immer mehrere in (scheinbar) willkürlicher Anordnung, schräg oder frontal von oben. Die Bilder wechseln in rasendem Tempo, synchron zur Musik, die von perlenden Harfenklängen dominiert wird (gespielt von Alice Coltrane, Witwe von John Coltrane und eine Pianistin und Harfenistin von Rang). Von hohem ästhetischen Reiz, und zugleich von einer künstlerischen Stringenz, die an Filme von Stan Brakhage erinnert (vergleiche etwa MOTHLIGHT).



AGARRANDO PUEBLO (auch LOS VAMPIROS DE LA MISERIA)
28:33, 16mm
Kolumbien 1978
Regie: Luis Ospina und Carlos Mayolo


Mit einer knappen halben Stunde ist AGARRANDO PUEBLO der deutlich längste Film in der Kompilation, und der erste mit Dialogen. Der Titel bedeutet wörtlich ungefähr "das Volk anfassen" oder "ergreifen", bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1979 lief er als DAS VOLK VERLADEN/VAMPIRE DES ELENDS. Es beginnt wie ein Film der Nouvelle vague: Auf den Straßen der Großstadt Cali dreht ein (fiktives) kleines Filmteam mit mobiler Kamera und rückt einem Bettler auf den Leib, unbeteiligte Passanten schauen zu. Von diesen in Schwarzweiß gedrehten Bildern wechselt es kurz zu Farbe: Die eben vom Team gedrehte Szene mit dem Bettler. So geht es weiter: Lange schwarzweiße Passagen, in denen man dem Filmteam über die Schulter schaut, dazwischen kurze farbige Sequenzen mit dem "dokumentarischen" Material. Aus Unterhaltungen der Teammitglieder erfährt man, dass sie im Auftrag des deutschen Fernsehens unterwegs sind, um möglichst malerisch Not und Elend an diesem Brennpunkt der Armut zu dokumentieren. Dass die Subjekte ihres Interesses gar nicht gefilmt werden wollen, interessiert sie wenig. In einer längeren Passage in ihrem Hotelzimmer beraten die Filmleute mit einem der Geldgeber und untereinander das weitere Vorgehen, dann geht es wieder auf die Straße. Mit einer "Familie" aus bezahlten Komparsen wird eine Szene gespielt, dann spricht der Reporter sein "aufrüttelndes" (und schon im Hotel durchgesprochenes und aufgeschriebenes) Fazit direkt in die Kamera - doch dabei geht etwas gründlich schief ... Und am Ende erklimmt der Film eine weitere Meta-Ebene.

AGARRANDO PUEBLO von Ospina und Mayolo ist eine äußerst sarkastische und gut gemachte Fake Documentary, die sich über Journalisten und Filmemacher echauffiert, die - im übertragenen Sinn natürlich - Vampire sind, die das Elend der Dritten Welt ausbeuten, ohne sich wirklich für die Ursachen und mögliche Lösungen der Probleme zu interessieren. Das Team im Film dreht, wie ein aufgebrachter Passant schimpft, einen "Armutsporno", mißachtet die Würde der Gefilmten aufs Gröbste, inszeniert bei Bedarf auch gefälschte Szenen, ist letzlich nur am Honorar und an möglichen Festivalpreisen im Ausland interessiert. Ironischerweise gewann auch AGARRANDO PUEBLO Preise - neben einem nationalen in Bogotá internationale in Bilbao, Lille, und den evangelischen Interfilm-Preis in Oberhausen (geteilt mit einem indischen Film).



AMA ZONA
10:37, Super 8
Argentinien 1983
Regie: Narcisa Hirsch


Bei dem Titel könnte man zunächst an den Amazonas denken, doch der Film kommt aus Argentinien, das bekanntlich ein gutes Stück vom Strom der Ströme entfernt ist. Tatsächlich geht es um Amazonen - irgendwie jedenfalls. Zur kontemplativen Musik von Stephan Micus gibt es anfangs Bilder von Gewässern und von einem Volleyballspiel auf einem Hof, ohne (für mich erkennbaren) Zusammenhang. In der dann folgenden langen zentralen Sequenz, die bewusst äußerst unscharf gefilmt ist, legt eine Frau langsam ihre Oberkleidung ab und zieht sich etwas, das Klebestreifen sein könnten, sukzessive von der Brust ab. In kurzen Momenten, wenn das Bild etwas schärfer wird, erkennt man, dass eine Flüssigkeit (Blut?) an ihrer rechten Brustseite herabfließt. Das ganze ist wohl eine Anspielung darauf, dass sich Amazonen in manchen Versionen des Mythos die rechte Brust abschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen schießen zu können. Dann folgt eine schwarzweiße und ebenfalls unscharfe Sequenz, in der Trapezkünstler ihre Arbeit ausüben - dieser Abschnitt, der wiederum keinen für mich erkennbaren Zusammenhang mit dem Rest aufweist, hat mich etwas an Jonas Mekas' NOTES ON THE CIRCUS erinnert. Und schließlich wird ein Bogen (kein antikes Gerät und auch keine Indianerwaffe, sondern ein moderner Sportbogen) in Zeitlupe vom Boden aufgenommen, gespannt und in mehrfacher Wiederholung auf eine Zielscheibe abgeschossen. Der Pfeil trifft ins Schwarze, er federt aus, der Film ist zu Ende. AMA ZONA hat mich etwas ratlos zurückgelassen, trotzdem hat mir der Film nicht schlecht gefallen. - Die 1928 in Berlin geborene Narcisa Hirsch war 2012 Gast auf der Viennale, unter den dort gezeigten Filmen von ihr war auch AMA ZONA.



CHAPUCERÍAS
10:46, 35mm
Kuba 1987
Regie: Enrique Colina


CHAPUCERÍAS (was ungefähr "schlampige Arbeit" oder "Pfusch" bedeutet) von Enrique Colina ist eine wilde Collage: Es gibt Ausschnitte aus DR. JEKYLL AND MR. HYDE (die Version von 1931 mit Fredric March), eine Szene mit Laurel & Hardy, immer wieder eine Folge eines kubanisches Fernsehquiz im Stil von WAS BIN ICH, in dem ein Rateteam dem Moderator Ja/Nein-Fragen stellt, um einer Person oder einem Begriff auf die Schliche zu kommen. Und dazwischen ständig dokumentarische Szenen aus der kubanischen Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Im Arbeits- oder Wirtschaftsleben geht etwas gründlich schief, aus Unfähigkeit oder Schlamperei. Da verliert ein LKW mitten in der Fahrt einen Teil der Ladung, da entpuppt sich ein Rohbau als Fehlkonstruktion, und dergleichen mehr. Im vorletzten Ausschnitt aus dem Quiz verrät der Moderator, dass der Gesuchte "schlimmer als AIDS" sei, und im letzten Ausschnitt wird seine Identität enthüllt: "der schlampige Arbeiter". Spätestens beim zweiten Sehen begreift man auch, wie Mr. Hyde da hineinpasst: Auch der Wissenschaftler Dr. Jekyll hat schlampig gearbeitet, schließlich lässt sich nicht bestreiten, dass sein Experiment gründlich in die Hose ging (und Laurel & Hardy versenken einen Wagen in einem großen wassergefüllten Loch in der Straße). Was sich am Anfang des Films schon angedeutet hat, erfüllt sich am Ende: Die Filmemacher werden von ihrer eigenen Inkompetenz eingeholt, und sie verpfuschen den Schluss komplett ... natürlich nicht wirklich, sondern nur inszeniert. Ich bin nicht ganz sicher, wie man CHAPUCERÍAS verstehen soll: Prangert er den Schlendrian an, der sich in vielen Ländern des "real existierenden Sozialismus", offenbar auch in Kuba, im Lauf der Jahrzehnte eingeschlichen hat? Oder gab es staatliche Kampagnen gegen solchen Schlendrian, und der Film macht sich darüber lustig? Das Booklet der DVD legt erstere Variante nahe. Für uns Außenstehende, im zeitlichen Abstand eines Vierteljahrhunderts, spielt es keine große Rolle - CHAPUCERÍAS ist in jeden Fall eine überraschende, witzige und handwerklich kompetente Auseinandersetzung mit der kubanischen Gegenwart der 80er Jahre.



ILHA DAS FLORES
13:13, 35mm
Brasilien 1989
Regie: Jorge Furtado


Der sehr, sehr böse ILHA DAS FLORES von Jorge Furtado beginnt mit drei Texteinblendungen: "Dies ist kein fiktionaler Film", "Es gibt einen Ort namens Ilha das Flores [Blumeninsel]", "Gott existiert nicht". Den ganzen Film hindurch doziert unermüdlich ein Sprecher im trocken-sachlichen Ton einer Lektion des TELEKOLLEG über den Lebensweg einer Tomate: Vom Anbau auf dem Feld eines japanischstämmigen Farmers über den Supermarkt in die Küche einer Mittelstandsfamilie. Doch statt verzehrt zu werden, landet die Tomate im Mülleimer und schließlich in Ilha das Flores - so heißt eine Müllkippe bei Porto Alegre (der Heimatstadt des Regisseurs). Eingestreut in den Text des Sprechers sind immer wieder in diesem Kontext absurde pseudo-formelle Definitionen wie "ein Mensch ist ein Wesen mit Großhirn und opponierbarem Daumen". Gezeigt wird dazu eine ebenso absurde Abfolge an Filmschnipseln, Collagen und Info-Grafiken. Das alles ist recht komisch - bis es in den letzten Minuten gar nicht mehr komisch wird. Wie man vom Sprecher (im selben nüchternen Tonfall wie bisher) nämlich erfährt, ist es mit der Ankunft der Tomate in der Müllkippe noch nicht zu Ende. Denn jetzt dürfen sich Schweine und arme Menschen über den Müll hermachen - und zwar in dieser Reihenfolge. Zwar haben Schweine kein Großhirn und keinen Daumen (wie man erfährt, falls man es noch nicht gewusst hat), doch Schweine haben Besitzer, und diese Besitzer haben nicht nur ein Großhirn und (sogar opponierbare) Daumen, sondern auch Geld. Arme Menschen dagegen haben weder Geld noch Besitzer, und damit sind die Prioritäten festgelegt. Damit das alles geregelt zugeht, werden abgezählte Gruppen von je zehn Menschen für fünf Minuten in die umzäunten Pferche eingelassen, und sie dürfen einsammeln, was die Schweine übriggelassen haben. Fünf Minuten sind 300 Sekunden. Seit 1958 ist eine Sekunde definiert als 9.192.631.770 Schwingungszyklen eines Cäsium-Atoms. Cäsium ist eine anorganische Substanz, die ... wie gesagt, ILHA DAS FLORES ist ein sehr böser Film. Er gewann jede Menge Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



CORAZÓN SANGRANTE
4:18, Video
Mexiko 1993
Regie: Ximena Cuevas


Ximena Cuevas lernte ihr Handwerk in der mexikanischen Filmindustrie, bevor sie sich der Videokunst zuwandte. CORAZÓN SANGRANTE (Blutendes Herz) ist ein Musikvideo, das sie gemeinsam mit der Sängerin und Schauspielerin Astrid Hadad gestaltete. Hadad singt ihr wie der Film betiteltes Lied, in dem es in verschiedenen Bedeutungsebenen um den aztekischen Brauch des Heraustrennens des Herzens und um eine Frau, die ihrer Liebe nachtrauert, geht. Das Video ist farbenfroh, üppig-barock und (vielleicht ironisch gebrochen, aber das ist für mich schwer zu entscheiden) bewusst kitschig-naiv (manche Bilder haben mich an frühe Pathécolor-Filme von Ferdinand Zecca, Segundo de Chomón und Gaston Velle erinnert). CORAZÓN SANGRANTE errang zahlreiche Preise.



HAMACA PARAGUAYA
8:17, Video
Paraguay 2000
Regie: Paz Encina


Irgendwo im Wald, es regnet. Ein älteres Ehepaar geht (in gemäßigter Zeitlupe) auf einem schlammigen Weg auf eine im Bildvordergrund aufgespannte Hängematte zu (der Titel des Films bedeutet "Paraguayanische Hängematte"), setzt sich darauf und beginnt (in der indigenen Sprache Guarani) eine Unterhaltung über belanglose Dinge. Irgendwo im Hintergrund bellt ständig ein Hund. Am Ende der Unterhaltung kommen die beiden auf ihren Sohn zu sprechen, dessen Rückkehr sie erwarten, dann stehen sie auf und gehen den selben Weg zurück. Es donnert einmal kräftig, und eine Einblendung informiert uns darüber, dass jetzt auch der Hund aufgehört hat zu bellen. Aus dem Booklet erfährt man, dass es 1935 ist und der Sohn als Soldat in einen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien gezogen ist. 2005 drehte dieselbe Regisseurin mit denselben beiden Darstellern auf 35mm unter demselben Titel eine 78 Minuten lange Fassung des Stoffes (in dem der Sohn wohl nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrt). Diese Langfassung gewann einen FIPRESCI-Preis in Cannes und den Prix de L'Âge d'Or in Belgien, die kurze Urfassung hat mich jedoch gelangweilt.



CAMAL
15:50, 16mm
Ecuador 2001
Regie: Miguel Alvear


Dokumentarische schwarzweiße Aufnahmen aus dem städtischen Schlachthof von Quito ("camal" heißt in diesem Zusammenhang "Schlachthaus"), ohne Text, nur mit getragener Musik und wenigen dezenten Hintergrundgeräuschen unterlegt. Der Soundtrack besteht aus "Salvation" von Ryūichi Sakamoto - ich wusste nicht, dass Sakamoto, den ich bisher vor allem als Elektropop-Musiker (und als Schauspieler) kannte, auch solche neutönend-ernsten Klänge geschaffen hat. Für westeuropäische Augen befremdlich wirkt die Tatsache, dass auch kleine Kinder ganz unbefangen im Schlachthaus zugange sind. Die Bilder sind weniger krass als in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, empfindsame Tierfreunde seien aber trotzdem gewarnt: Auch bei diesem Film könnte sich ihnen der Magen umdrehen. Doch ebenso wie LE SANG DES BÊTES, übt auch CAMAL einen großen poetischen Reiz auf den Betrachter aus. Inspiriert wurde Alvear aber nicht von Franju, sondern von dem mir unbekannten THE HART OF LONDON des Kanadiers Jack Chambers. Gedreht wurden die Aufnahmen zu CAMAL schon 1991, aber nach Experimenten mit verschiedenen Schnittfassungen wurde er erst 2000 fertiggestellt. Angeblich ist ein Teil der Aufnahmen in Farbe entstanden, auf der DVD ist der Film aber komplett in Schwarzweiß.



JUQUILITA
2:22, 16mm
Mexiko 2004
Regie: Elena Pardo


Semi-abstrakte Stop-Motion-Animation, bunt und funkelnd wie ein Kaleidoskop. Einige kurze Bildfolgen wirken wie ein farbiges Update zu Man Rays LE RETOUR À LA RAISON. Der schöne kurze Film ist Nuestra Señora de Juquila gewidmet, einer regionalen Ausprägung des Madonnenkults im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Der Soundtrack besteht aus der Toccata des holländischen Percussionisten Henk de Vlieger und wurde von der Gruppe Tambuco eingespielt, und er komplettiert JUQUILITA zu einem sehr ansprechenden Werk.



GALLERY DOGS
2:19, Video
Peru 2005
Regie: Diego Lama/Quentin Tarantino


Der Film besteht komplett aus einem Ausschnitt aus Tarantinos RESERVOIR DOGS: Harvey Keitel, Steve Buscemi, Tarantino selbst und noch zwei oder drei weitere Männer sitzen diskutierend an einem Tisch und werden langsam von der Kamera umkreist. Laut Booklet will Lama damit diesen "extrem gewalttätigen Film dekontextualisieren", mit der Rekreation einer Szene, die "eine Gesellschaft, die zu weit gegangen ist, hinterfragt und kritisiert". Was sich mir aber nicht erschlossen hat.



DOCUMENTAL
2:13 (auf DVD 1:06), Video
Venezuela 2005
Regie: Alexander Apóstol


In einem dunklen, in Braun gehaltenen Raum läuft im Fernseher ein Bericht aus den 50er Jahren über den damaligen Bauboom in Caracas, der von den Petrodollars befeuert wurde: Alte Gebäude wurden abgerissen, dafür neue Hochhäuser errichtet. Von der Einrichtung des Raums oder von den Bewohnern bekommt man nicht viel mit (was aber möglicherweise auf einer schlechten Kopie oder schlechtem Mastering beruht, denn auf diesen beiden Screenshots ist das Bild viel heller, und man erkennt alles bestens), aber aus dem Booklet erfährt man, dass es sich um eine Wohnung in den Chabolas handelt, Slum-ähnliche Bezirke am Stadtrand, die gerade in jener Zeit des Baubooms entstanden. Als der Sprecher des Fernsehberichts als Fazit den Fortschritt preist, beginnt die Kamera plötzlich entfesselt und wie im Delirium um den Fernseher zu kreisen. Aus mir unerfindlichen Gründen ist von dem ohnehin sehr kurzen Film nur die Hälfte auf der DVD enthalten. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, dass es die erste Hälfte ist, so dass das visuelle Delirium noch eine Minute weitergehen könnte. Schade, denn vom enthaltenen Ausschnitt sind die letzten Sekunden am interessantesten - davon hätte es noch mehr geben können.



OPUS
4:49, Video
Kuba 2005
Regie: José Ángel Toirac


Man hört die etwas mühsam, machmal fast verzweifelt klingende Stimme eines (vermutlich älteren) Mannes, die Zahlen aufsagt, kleine und große Zahlen, ohne irgendein erkennbares System. Synchron dazu sieht man diese Zahlen in nüchternen weißen Ziffern vor einem schwarzen Hintergrund. So geht das knapp fünf Minuten dahin, und so unvermittelt, wie der Film begonnen hat, hört er auf. Was soll das nun wieder bedeuten? Die äußerst verblüffende Auflösung erfährt man aus dem Booklet: Die Stimme gehört keinem Geringeren als Fidel Castro, und man lauscht einer Rede, die der Comandante zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 auf einem öffentlichen Platz in Havanna gehalten hat. Die Rede wurde nur etwas gekürzt: Alles außer den enthaltenen Zahlwörtern wurde rausgeschnitten. José Ángel Toirac weist so dezent auf die Zahlenhuberei in (nicht nur) Castros Reden hin. Und wenn schon diese eingedampften Zahlen fast fünf Minuten brauchen, dann wird man auch daran erinnert, dass der Máximo Líder für seine oft stundenlangen Reden berüchtigt war.



OJO DE PEZ
15:16, Video
Kolumbien 2008
Regie: Gabriel Enrique Vargas


Vargas' Abschlussfilm an einer Filmschule in Bogotá, dessen Titel "Fischauge" bedeutet. In einem quadratischen Filmformat mit unscharfen Rändern, in kontrastreichem Schwarzweiß, sieht man, wohl in und um einen Bauernhof, Tiere: Nutztiere, eine Katze, Insekten. Und immer wieder einen Fisch, der auf einer Tischplatte liegt und nach Luft schnappt. Dazwischen auch Menschen, die man aber nur in Ausschnitten, in einzelnen Körperteilen sieht. Vor allem eine Frau, die sich die Hände wäscht, Verrichtungen in der Küche ausführt, und dergleichen. Zu so etwas wie einer Handlung verdichtet sich das ganze nicht, was es für mich etwas mühsam machte, bei der Stange zu bleiben. Ebenso prägnant wie die Bilder ist der Soundtrack, der aus Naturgeräuschen besteht: Fließen von Wasser, Zwitschern von Vögeln, Summen von Insekten, das Miauen der Katze. Die als "Appendix" vom Rest abgetrennten letzten zwei Minuten gehören dem (immer noch lebenden) Fisch und einer Biene, die sich auf ihm niederlässt, scheinbar, um interessiert seinen Körper zu untersuchen. Als sie mitten über sein offenes Auge krabbelt, hätte ich dem Fisch einen schnellen, schmerzlosen Tod gewünscht. Diese zwei Minuten waren für mich unangenehmer anzusehen als jede einzelne Szene aus dem Schlachthof von Quito.



Fazit

Für mich eine interessante Exkursion in eine unbekannte Welt - von keinem der Filme oder Regisseure hatte ich zuvor gehört. Meine Favoriten sind LA CIUDAD EN LA PLAYA, REVOLUCIÓN, NOW!, OFRENDA, AGARRANDO PUEBLO, CHAPOCERÍAS, ILHA DAS FLORES, CAMAL und JUQUILITA. Die wenigen Filme, die mir wenig oder gar nicht gefallen haben, konnte ich problemlos verschmerzen. Wie man sich denken kann, findet man etliche der Filme auch auf den üblichen Videoportalen. Aber wer jetzt neugierig geworden ist, sollte in Erwägung ziehen, die durchaus preiswerte DVD zu kaufen.