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Sonntag, 1. April 2012

Die ideale literarische Vorlage

Der junge Törless
(Der junge Törless, Deutschland/Frankreich, 1966)

Regie: Volker Schlöndorff
Darsteller: Mathieu Carrière, Marian Seidowsky, Bernd Tischer, Fred Dietz, Lotte Ledl, Jean Launay, Barbara Steele u.a.

Im Jahre 1902 verfasste Hugo von Hofmannsthal unter dem Titel "Ein Brief" ein Werk, das für die Erzählkunst der Moderne von grösster Bedeutung sein sollte. In diesem Brief beklagt sich ein fiktiver Lord Chandos in allerdings erlesenen Worten über die Unfähigkeit der Sprache, dem Ausdruck zu verleihen, was ihn berührt, was er erzählen möchte. Hinter dem "Brief des Lord Chandos" verbirgt sich eine persönliche Verunsicherung des Autors. Er wurde jedoch von verschiedenen Literaten der Zeit als Aufforderung betrachtet, sich vom traditionellen Erzählen des 19. Jahrhunderts (man sprach gerne vom "Fontaneisierenden Erzählen") zu lösen und eine Sprache zu suchen, die die Schilderung bisher unerzählter Realitäten ermöglichen sollte. So entstanden innerhalb eines Jahrzehnts  Werke, in deren Mittelpunkt diese Suche nach einem neuen Erzählen stand: Robert Walsers "Der Gehülfe" (1908), Rainer Maria Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), in dem sich die Hauptfigur, ein in der Grossstadt seine Identität Verlierender, die Sprache wünscht, die das wiederzugeben vermöchte, was ihm die noch angedeuteten Räume an abgerissenen Häuserwänden mitteilen - und natürlich Robert Musils erster Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" (1906), ein Werk, das sich in die Seele eines Pubertierenden hineinversetzt, der vor der unverständlichen, ihn überfordernden Realität (man sagt oft, die Geschichte habe nur "zufällig" mit Sadismus und Homosexualität zu tun) in eine Welt des Traums flüchtet.

Kaum jemand hätte erwartet, dass eines dieser Werke später nicht nur verfilmt, sondern als Film sogar von beinahe ebenso grosser innovatorischer Kraft sein würde wie als Roman. Doch um 1960 geriet der deutsche Film in eine ähnliche Krise wie das Erzählen um die Jahrhundertwende, und der Rückgriff   auf Musils "Törless" sollte 1966 nicht nur einem begeisterten Cannes zeigen, dass "Papas Kino", lange Jahre eine Peinlichkeit für die Festspiele, tatsächlich tot war. - Volker Schlöndorff gehörte zwar nicht zu den Mitbegründern des "Neuen Deutschen Films": Während eine Reihe von Filmemachern das Oberhausener Manifest verlesend eine Auseinandersetzung des Films mit politischen und gesellschaftskritischen Themen verlangte, besuchte er die Cinémathèque française, um später als Regieassistent bei Louis Malle, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais  zu arbeiten. Seine Robert Musil-Adaption, die etwas wirklich Neues sein wollte, sich auch bewusst von der Nouvelle Vague abhob, sorgte aber international derart für Aufsehen, dass sie heute als erstes erfolgreiches Ergebnis jener Bewegung betrachtet wird, die dem deutschen Film der 70er und 80er Jahre wieder die Bedeutung zu geben vermochte, die ihm bis in die frühen 30er hinein einst zukam.

Schlöndorff bemühte sich – wie schon der Trailer betonte – nicht um eine exakte (man sprach von „akademischer“) Literaturverfilmung. Dies war zum Teil gar nicht möglich, weil das bei Musil offen ausgesprochene homosexuelle Verlangen (Törless lässt sich von Basini, einem betont hübschen, sexuell anziehenden Schüler, während eines im Internat verbrachten Urlaubs verführen) im Deutschland der 60er noch ein heisses Eisen war und nur angetönt werden konnte. Auch das Ende erscheint wesentlich ambivalenter als im Roman, der die „Verwirrungen“ als Bestandteil eines Erwachsenwerdens deklariert. – Stattdessen setzte der junge Filmemacher auf die "Offenheit" des Werks, seine Zeitlosigkeit, die es ihm tatsächlich ermöglichte, einem in unterkühltem Hochglanz gehaltenen Schwarzweiss-Streifen über Geschehnisse in einem Internat der Jahrhundertwende eine bemerkenswerte Brisanz zu verleihen, weil er die Figuren nicht nur als einer untergehenden Kultur angehörende Zöglinge, sondern auch als Wegbereiter des Nationalsozialismus zeichnete. (Es ist, dies nur nebenbei, eigenartig, wie oft literarische Werke, zum Beispiel der dritte Teil der „Schlafwandler-Trilogie“, 1930-1932, von Hermann Broch , die den Untergang der k. und k.-Monarchie beschreiben, den Eindruck erwecken, sie bezögen sich nicht nur auf den Ersten Weltkrieg, sondern nähmen zugleich die Zeit des Nationalsozialismus vorweg. Man kann dies allerdings nicht einer Weitsichtigkeit der Autoren oder einer sich wiederholenden Geschichte zuschreiben, höchstens einer später erfolgten Interpretation, die wie Schlöndorff unliebsame Zusammenhänge betont). Dass aus der Verfilmung von Musils Roman mehr herauszulesen war als die brutalen Vorgänge in einem Kadetten-Internat, dürfte etwa dem Goethe-Institut sauer aufgestossen sein: es verschmähte „Der junge Törless“ noch zehn Jahre nach seinem Entstehen. Vergangenheitsbewältigung war etwas Neues, Unbequemes.


Die Geschichte ist bekannt: Der Bürgersohn Thomas Törless wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von seinen Eltern in ein Elite-Internat an der österreichisch-ungarischen Grenze gebracht, wo er zusammen mit anderen Schülern aus gutem Hause zu Zucht und Ordnung erzogen werden soll. Der nachdenkliche, zunehmend seiner Sinnlichkeit ausgelieferte und dadurch erst recht verunsicherte junge Mann empfindet allerdings nicht nur das Internatsleben als öde; ihm kommt auch die Umgebung mit den arbeitenden Frauen und dem Schlächter fremd und seltsam vor. Er schliesst sich den forschen Mitschülern Reiting und Beineberg an, die ihm aber auch nur eine heruntergekommene Schänke und die Dorfhure Bozena zu bieten haben, ein Weib, das Wien kennt und wegen seiner Schwangerschaft einst von dort verjagt wurde. Es sieht in den Kadetten die Ebenbilder ihrer Eltern: „Ihr seid wie eure Eltern: scheinheilig, feige und verlogen.“ - Basini, ein weiterer Mitschüler, macht sich vor allem durch seine Spendierfreude und seine Angeberei bemerkbar (er schickt sich selber einen Brief mit einem Strumpfband, das er mit den Worten „Von meiner Dulcinea!“ herumreicht). Gleichzeitig leiht sich Basini, der, wie wir später erfahren, von seiner armen Mutter unterstützt wird, bei allen Kameraden Geld aus, das er nicht zurückzahlen kann. 

Als der Angeber von Beineberg und Reiting des Diebstahls überführt wird, melden ihn die zwei Kadetten nicht der Schulleitung, sondern machen ihn zu ihrem Sklaven, für den sie sich immer neue Erniedrigungen ausdenken. Während Reiting  hemmungslos seine sadistischen Triebe auslebt und Beineberg, gern als Kenner der indischen Philosophie auftretend, sich angeblich nur an diesem Fall „schulen“ will, beobachtet Törless – mehr auf der Suche nach einem Halt in dieser seltsamen Welt, in der sich Realität und Irrealität kreuzen –  die zunehmenden Quälereien zuerst arrogant-desinteressiert wirkend, später angewidert. Da aber selbst sein Mathematiklehrer, von dem er sich Antworten auf seine die Realität betreffenden Fragen nach den imaginären Zahlen, die es in Wirklichkeit doch gar nicht gibt, nur mit Ausflüchten reagiert (eine einzigartige, die sich verbergen wollende Unwissenheit der Obrigkeit mit einem „Mein lieber Freund; du musst einfach glauben“ abtuende Szene), begibt er sich in eine Abwesenheit der Hoffnungslosigkeit, die angesichts seiner Unfähigkeit, dem der Klasse ausgelieferten Basini beistehen zu können, in eine wirkliche Flucht mündet. Denn alles, was er dem ihn um Hilfe bittenden Gequälten sagen konnte, war: „Es gibt eben eine schmutzige und eine saubere Welt. Es ist die gleiche, in der beides geschieht. Das ist die ganze Weisheit.“ 


Schlöndorffs Bilder dringen unterstützt von der nicht nur die Zuschauer der 60er Jahre verstörenden Musik Hans Werner Henzes tief in die Seele des Kadetten ein, die wie die karge Landschaft um den Bahnhof in der Einöde noch nicht vollendet ist. Sie lassen uns sein „Manchmal möchte ich am liebsten weglaufen“ als Reaktion auf die Unfähigkeit, die Welt mit ihren abstrakten Vorgängen zu deuten, verstehen, die Suche nach einer eigenen Position auch detailliert miterleben. Der begehrte Hals des Serviermädchens in der Schänke wird mit Törless‘ Augen aufgesogen, das interessierte Rollen einer Zigarette, die sich Beineberg genehmigt, träumerisch verfolgt. Wir erkennen Reitings puren Sadismus an seinem Spiel mit der Fliege, die er während einer langweiligen Unterrichtsstunde genussvoll zu Tode quält. Und diese ständigen Blicke, die sich die Schüler zuwerfen: Wie bist du? Wo stehst du? – So viele Kleinigkeiten weisen darauf hin, dass wir es mit mehr als einer Internatsgeschichte zu tun haben: Die drei kleinen Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!) im Büro des sich windenden Mathematiklehrers, die Pistole, mit der Beineberg Basini während seines „Hypnoseversuchs“ wie ein Nazi bedroht – aber auch Törless‘ „Flucht“ in sein Spiegelbild während der Quälereien, die das Publikum der 60er Jahre nicht nur aller Illusionen über die Donaumonarchie der „Sissi“-Filme beraubten, sondern äusserst schockierend gewirkt haben dürften (obwohl zum Beispiel die Einfachheit, mit der die Lynchszene gegen Ende inszeniert wurde, kaum zu überbieten ist). --- All diese Details weisen zusammen mit dem (gespielten?) Unverständnis des Lehrkörpers darauf hin, dass dieser Film auch die Vorgeschichte des Nationalsozialismus behandelt. Hinzu kommt dieser eigenartige Schluss, von dem man annehmen darf, er stehe für eine Weigerung, sich als erwachsen werdender Mensch der Realität zu stellen, zeige einen Törless, der es vorziehe, Geborgenheit in den Armen seiner Mutter zu suchen. - Nur ein paar britischen Filmen ("If....", 1968, "Another Country", 1984) gelang es, die brutalen Gepflogenheiten im geschlossenen System "Internat" ähnlich eindringlich darzustellen.


Über den Glücksgriff, der Schlöndorff mit dem jungen Mathieu Carrière gelang, ist oft geschrieben worden. Es kommt vielleicht alle Jubeljahre einmal vor, dass ein junger, recht unerfahrener Schauspieler eine derartige Glanzleistung bietet. Carrière lässt sich allerdings nur stellenweise mit dem träumerischen Törless in Musils Roman vergleichen (unter anderem in einer Szene, die ihn allein draussen herumirrend beim Gleiten in seine eigene Welt zeigt). Er tritt vielmehr als überheblich-intellektueller Schüler auf (vielleicht als Alter Ego des Regisseurs, der in Frankreich ein Jesuiten-Internat besucht hatte), was den Eindruck verstärkt, „Der junge Törless“ lehne sich zwar an die Vorlage an, sei jedoch - zum Teil wohl auch wegen der Unfähigkeit der Bilder, Erzähltes detailliert wiederzugeben - um eine eigenständige Interpretation bemüht, die die Dekadenz des frühen 20. Jahrhunderts konsequent zum Vorläufer der Unmenschlichkeit einer späteren Zeit mache. – Aber auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt. Ich möchte hier nur auf Barbara Steele hinweisen, die als Dorfhure Bozena einen kleinen Auftritt hat. Man könnte sie, Musils Text folgend, einfach als billige Schlampe darstellen. Schlöndorff verlieh ihr jedoch das, was sie zur „femme fatale“ und für die jungen Kadetten überhaupt erst verlockend machte. Offenbar steckt doch das in der Figur, was wir ihr in einem Seminar unserem Professor einst energisch absprachen, weil sie sich schlicht nicht in eine Reihe stellen lassen will mit den verführerischen "femmes fatales" der Jahrhundertwende, in Heinrich Manns "Professor Unrat" oder Thomas Manns "Der Zauberberg", der, die Androgynität solcher Figuren auf die Spitze treibend, mit Madame Chauchat die einzige Frau mit Penis (symbolisch!) in der damaligen Literatur präsentierte.


Obwohl ich noch immer auf einen Regisseur warte, der den Mut aufbringt, Rilkes „Malte Laurids Brigge“ (ein durchaus zeitgemässer Stoff!) wenigstens fragmentarisch zu verfilmen, muss Musils „Törless“ als die ideale Vorlage für einen Film betrachtet werden, der den Tod von Papas Kino in den 60ern erst zum internationalen Ereignis zu machen verstand. - Sein mehr als berechtigter Erfolg brachte den jungen Regisseur leider auf die Idee, er sei geradezu prädestiniert, schwierige literarische Stoffe auf brisante Weise für das Kino aufzubereiten. Diese gefährliche, an Hochmut grenzende Vorstellung sollte in einzelnen Fällen wirklich gute Literatur-Verfilmungen hervorbringen („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975), oft aber zeigen, dass auch Schlödorff Bescheidenheit angemessen gewesen wäre. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass der zwar mit einem Auslands-Oscar prämierte „Die Blechtrommel“ (1979) höchstens bewies, wie gefährlich, ja desaströs es sein kann, wenn man sich an den Roman eines sprachlichen Virtuosen wagt. Die Verfilmung von „Die Fälschung“ (1981), einem Roman des jung verstorbenen Nicolas Born, wirkt ebenso unbeteiligt wie die Frisch-Adaption „Homo Faber“ (1991), schon als literarisches Werk ein trockenes Konstrukt, dessen Lektüre man Gymnasiasten nicht mehr zumuten sollte. Und der sowohl blasse als auch schwülstige Versuch, mit „Un amour de Swann“ (1984) sogar Marcel Proust zu verfilmen, lässt höchstens erkennen, dass Volker Schlöndorff ohne diese verbohrte Vorstellung, der Meister der verfilmten Literatur zu sein, nach seinem grandiosen „Törless“ noch eine weitaus beachtlichere Filmographie vorzuweisen hätte.