Samstag, 19. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 1: Juan Antonio Bardem

Teil 2: Luis García Berlanga

DER TOD EINES RADFAHRERS (span. MUERTE DE UN CICLISTA, ital. GLI EGOISTI)
Spanien/Italien 1955
Regie: Juan Antonio Bardem
Darsteller:
  • Lucia Bosé (María José)
  • Alberto Closas (Juan)
  • Bruna Corrà (Matilde)
  • Carlos Casaravilla (Rafa)
  • Otello Toso (Miguel)
  • Julia Delgado Caro (Juans Mutter)
  • Matilde Muñoz Sampedro (Nachbarin des Radfahrers)

Eine einsame Landstraße, irgendwo außerhalb von Madrid, im Morgengrauen. Eine Limousine braust durch den Regen - und fährt einen einsamen Radfahrer über den Haufen. Am Steuer sitzt María José de Castro, die Frau des reichen Industriellen Miguel Castro, neben ihr Juan Fernandez Soler, ihr Geliebter. Die beiden haben die Nacht irgendwo miteinander verbracht, und nun haben sie es eilig, wieder in die Stadt zu kommen. Juan steigt aus, um sich den bewusstlosen Radfahrer anzusehen, doch María José ruft ihn zum Wagen zurück. Niemand ist weit und breit zu sehen. Die beiden lassen den Verletzten liegen und fahren weiter. Am nächsten Tag macht auf einer Gesellschaft der geistreiche und etwas schmierige Kunstkritiker Rafa, der sich auf den Partys der High Society aushalten lässt, María José gegenüber Andeutungen, dass er sie am vorigen Tag gesehen habe, und dass er für sein Schweigen gewisse Gegenleistungen erwarte, was sie in Panik geraten lässt. Juan, ein Assistenzprofessor für Mathematik - eine Stellung, die er seinem einflussreichen Schwager verdankt -, liest unterdessen während der mündlichen Prüfung einer Studentin in der Zeitung, dass der Radfahrer gestorben ist. Gedankenabwesend bricht er die Prüfung ab, was dazu führt, dass Matilde Luque, die Studentin, durchfällt.


Juan, der seit dem Unfall aus dem Grübeln nicht mehr herauskommt, sucht die Wohnung des Radfahrers, eines einfachen Fabrikarbeiters, in einer schäbigen Mietskaserne auf. Er gibt sich als Reporter aus, um einerseits etwas über den Toten und seine Familie zu erfahren, und um andererseits herauszufinden, ob die Polizei etwas weiß. Er trifft die Witwe nicht an, aber eine Nachbarin erzählt ihm alles, was er wissen will. Die Polizei weiß nichts und glaubt nicht, den Unfall jemals aufzuklären. Doch beruhigt ist Juan nicht - es arbeitet in ihm. Rafa stellt unterdessen María José seine Forderungen: Er will nicht nur Geld, sondern auch sie, was sie angewidert zurückweist. Betrunken erzählt Rafa María Josés Mann Miguel daraufhin, was er weiß. Doch der ist gewillt, die ehrbare Fassade der Familie aufrechtzuerhalten, und bügelt Rafa ab. Und María José erkennt, dass Rafa nur von ihrem Verhältnis weiß, aber vom Unfall keine Ahnung hat. Nach Miguels Reaktion auf Rafa ist sie ihre Sorgen weitgehend los. Matilde stellt Juan wegen der Prüfung zur Rede, und sie wirft ihm vor, dass er selbstsüchtig sei und sich das nur wegen der Protektion durch seinen Schwager leisten könne. Juan kann nicht anders, als ihr recht zu geben, und er ist von ihrer Courage und Ehrlichkeit beeindruckt. Er war mit seinem bisherigen Leben ohnehin nicht zufrieden, insbesondere mit seiner Stellung an der Universität, die er nur seinen verwandtschaftlichen Beziehungen verdankte. Als aufgebrachte Studenten wegen seines Verhaltens eine gewalttätige Demonstration durchführen und seine Absetzung fordern, zieht er die Konsequenzen und tritt zurück. Und er spricht María José gegenüber aus, was sich in seinem Verhalten bereits andeutete: Er will sich der Polizei stellen, und er fordert sie auf, ihn zu begleiten ...


DER TOD EINES RADFAHRERS vereint Stilmittel des Film noir mit denen des Neorealismus, mit der von Lucia Bosé (alternative Schreibweise Bosè) gespielten María José als femme fatale. Die in Mailand geborene Bosé, die "Miss Italy" von 1947, stieg 1948 in die Schauspielerei ein. Hierzulande ist sie am besten durch ihre Hauptrollen in CHRONIK EINER LIEBE (1950) und DIE DAME OHNE KAMELIEN (1953), zwei Frühwerke von Michelangelo Antonioni, in Erinnerung. Bei ihrer Ankunft zu den Dreharbeiten in Madrid lernte sie den berühmten Stierkämpfer Luis Miguel Dominguín kennen, den sie wenig später heiratete. Die Ehe und die drei Kinder, die daraus hervorgingen, führten zu einer rund zehnjährigen Unterbrechung ihrer Karriere, doch nach ihrer Scheidung 1967 setzte sie ihre Laufbahn fort (ihre bislang letzte Rolle spielte sie 2007). Die anderen Darsteller in DER TOD EINES RADFAHRERS waren mir alle unbekannt, doch sie machen ihre Sache durchweg gut. Neben Bosé stellen Bruna Corrà (Matilde) und Otello Toso (Miguel) - sowie natürlich ein Teil der Finanzierung - den italienischen Anteil an der Coproduktion dar.


Die Welt der reichen Oberschicht und die proletarische Mietskaserne, die Juan aufsucht, bilden einen grellen Kontrast, doch im Vordergrund des Films stehen nicht die materiellen Klassengegensätze, sondern die Geisteshaltung des Vergessens und Verdrängens, der Flucht aus der Verantwortung. Man kann DER TOD EINES RADFAHRERS allegorisch verstehen: Der tote Radfahrer steht danach für die Klasse der Arbeiter und Bauern, die im Spanischen Bürgerkrieg und auch in den ersten Jahren danach zu Hunderttausenden interniert, gefoltert und ermordet wurden. Juan repräsentiert dann die Mittelschicht, die das siegreiche Regime mittragen muss, ob sie will oder nicht, und die zum Schweigen über die Verbrechen der Vergangenheit verurteilt ist. María José schließlich repräsentiert die Oberschicht, die Stützen des Systems, die von der Situation profitieren und ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen. Es gibt einige mehr oder weniger offene Hinweise auf die spanische Vergangenheit, auf den Bürgerkrieg. Die Stelle, an der der Radfahrer überfahren wird, und an der gegen Schluss des Films eine weitere entscheidende Szene stattfindet, war zugleich eines der Schlachtfelder im Krieg, wo Juan selbst in den Schützengräben lag, wie er María José erzählt. Juans Mutter sagt einmal: "Ich schaue oft in dieses Fotoalbum. Ich sehe meine Kinder aufwachsen. Die erste Kommunion, Schule, Militärdienst, Politik, der Krieg, der Tod." Kirche, Schule, Militär, Politik, Krieg, Tod - eine bemerkenswerte Reihe. Es gibt auch noch subtilere Hinweise, und vermutlich einige, die mir entgangen sind.


DER TOD EINES RADFAHRERS lief 1955 bei den Filmfestspielen in Cannes, jedoch nicht im Wettbewerb um die Goldene Palme, weil Bardem selbst in der Jury saß. Doch der Film gewann in Cannes den Preis der internationalen Filmkritiker (FIPRESCI-Preis). Juan Antonio Bardem (1922-2002) und sein Freund und Kollege Luis García Berlanga (1921-2010) gelten als die wichtigsten spanischen Regisseure der 50er und 60er Jahre (wenn man den Exilanten und mexikanischen Staatsbürger Luis Buñuel nicht berücksichtigt). Bardem entstammte einer Schauspielerfamilie. Sein Vater Rafael Bardem und seine Mutter Matilde Muñoz Sampedro spielten in fünf bzw. sieben seiner Filme mit, seine jüngere Schwester Pilar Bardem, ebenfalls Schauspielerin (vier Einsätze in Bardem-Filmen), ist die Mutter von Javier Bardem, inzwischen bekanntester Spross der Familie. J.A. Bardem war zeitlebens Kommunist und ab 1943 Mitglied der unter dem Franco-Regime verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Er machte einen Abschluss als Landwirtschaftsingenieur und trat eine Stelle in der Filmabteilung des Landwirtschaftsministeriums an, doch 1947 wechselte er an die Madrider Filmhochschule IIEC, die gerade erst nach dem Vorbild des italienischen CSC gegründet worden war, machte dort jedoch keinen Abschluss. Die Filmhochschule sollte eigentlich den staatlichen Einfluss auf das Filmwesen stärken, brachte jedoch (ähnlich wie das italienische Vorbild, das von Mussolini ins Leben gerufen wurde) eine Reihe von begabten und kritischen Geistern hervor. Am IIEC befreundete sich Bardem mit seinem Mitstudenten Berlanga, mit dem zusammen er 1949 den stummen Kurzfilm PASEO POR UNA GUERRA ANTIGUA schrieb und inszenierte. 1950 folgte ein Kurzfilm über den Madrider Flughafen, den Bardem allein drehte.

Das Filmschaffen im repressiven Spanien der 40er Jahre war von Belanglosigkeit und Mittelmäßigkeit geprägt - Musicals, Flamenco-Folklore, seichte Melodramen und Komödien. Bardem und seine Mitstreiter wollten das ändern. Ein Schlüsselereignis für den spanischen Film der 50er Jahre war eine Woche des Italienischen Films, die 1951 in Madrid stattfand, und in der vor allem die Hauptwerke des Neorealismus gezeigt wurden. (Ebenfalls gezeigt wurde Antonionis CHRONIK EINER LIEBE mit Lucia Bosé.) Bardem, Berlanga und andere bezogen ihre Inspiration daraus, ohne den Neorealismus direkt zu kopieren. In seiner Zeit am IIEC hatte Bardem auch die Montagetheorien des sowjetischen Stummfilms studiert - zeitweise trug er den Spitznamen "Bardemstein", obwohl er mehr Wsewolod Pudowkin als Eisenstein zuneigte.


Das franquistische Regime kam den Bestrebungen nach besseren Filmen etwas entgegen. Man wollte die internationale Isolierung durchbrechen und nicht ewig das Schmuddelkind unter den westlichen Staaten bleiben, deshalb gab man sich ein etwas liberaleres Antlitz (mit Erfolg: 1953 wurde ein Truppenstationierungsabkommen mit den USA geschlossen, und 1955 trat Spanien der UNO bei) und versuchte, mit kulturellen Leistungen international zu punkten. Das Spanische Filminstitut, das dem Tourismus- und Informationsministerium unterstand, war teilweise mit relativ gemäßigten und fachkundigen Leuten besetzt und bildete bisweilen ein Gegengewicht zur von der katholischen Kirche dominierten allgegenwärtigen Zensur (viele der Zensoren waren Priester). Andererseits wurde der Film als ein Propagandamittel betrachtet, mit dessen Hilfe die Bevölkerung auf die nationale Einheit getrimmt werden sollte, und dementsprechend gab es eine Reihe von Vorschriften, die beachtet werden mussten. Beispielsweise durfte in spanischen Filmen nur Spanisch gesprochen werden, und nicht etwa Katalanisch, Galicisch oder gar Baskisch.


Bardem und Berlanga schlossen sich 1951 wieder zusammen und schrieben und inszenierten gemeinsam ESA PAREJA FELIZ (übersetzt "Dieses glückliche Paar"). Berlanga konzentrierte sich dabei auf die mise-en-scène, Bardem auf die Schauspielerführung. Der Film war nicht nur vom Neorealismus beeinflusst, sondern auch von Jacques Beckers ZWEI IN PARIS (1947), der eine ähnliche Handlung aufweist. Der für seine Zeit in Spanien ungewöhnliche ESA PAREJA FELIZ fand zunächst keinen Verleih und kam erst 1953 heraus. 1952 schrieben Bardem und Berlanga das Drehbuch zu WILLKOMMEN, MR. MARSHALL, bei dem Berlanga allein Regie führte, und 1954 arbeitete Bardem am Script von Berlangas NOVIO A LA VISTA mit. Danach entwickelten sich die beiden filmisch etwas auseinander, blieben jedoch befreundet. Während Bardem einem geradlinigen, politisch engagiertem Stil verpflichtet blieb, benutzte Berlanga meist das Mittel der Farce, um menschliche und gesellschaftliche Schwächen offenzulegen. Ich werde im zweiten Teil des Artikels auf Berlanga zurückkommen.

Die ersten von Bardem allein inszenierten Spielfilme, CÓMICOS und FELICES PASCUAS, entstanden 1953 bzw. 1954, dann folgte DER TOD EINES RADFAHRERS. 1956 erschien HAUPTSTRASSE (CALLE MAYOR), der neben DER TOD EINES RADFAHRERS als Bardems bester Film gilt. Eine Gruppe von Taugenichtsen bringt einen gutaussehenden Trottel dazu, einer schüchternen Einzelgängerin einen üblen Streich zu spielen, indem er ihr schöne Augen macht. Wider Erwarten verlieben sich die beiden. Wie in DER TOD EINES RADFAHRERS, vereint auch HAUPTSTRASSE die präzise Schilderung psychologischer Vorgänge mit subtiler Gesellschaftskritik. Die Hauptrolle spielte die Amerikanerin Betsy Blair, die ein Jahr zuvor in MARTY von Delbert Mann eine ähnliche Rolle hatte und dafür für den Oscar nominiert wurde (MARTY gewann auch die Goldene Palme in Cannes, als Bardem in der Jury saß). DIE RACHE (LA VENGANZA) von 1958, ein Drama um Rache und Vergebung mit Raf Vallone in der Hauptrolle, war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Während der Dreharbeiten zu HAUPTSTRASSE, kurz nachdem DER TOD EINES RADFAHRERS den Kritikerpreis in Cannes erhalten hatte, wurde Bardem erstmals inhaftiert, aufgrund internationaler Proteste jedoch nach zwei Wochen wieder freigelassen (unter den Protestierenden befanden sich beispielsweise Charlie Chaplin und Albert Schweitzer). Es blieb nicht sein letzter Gefängnisaufenthalt: Insgesamt war Bardem siebenmal in Haft. Es versteht sich auch von selbst, dass viele seiner Filme von der Zensur gebeutelt wurden. Oft musste er umfangreiche Änderungen an den Drehbüchern und Schnittauflagen hinnehmen, und auch der Schluss von DER TOD EINES RADFAHRERS machte Konzessionen an die Zensur. Nach seiner ersten Verhaftung erwog Bardem die Emigration, wurde aber zum Bleiben überredet.


Bardem versuchte nicht nur durch seine Arbeit als Regisseur, die Qualität des spanischen Films zu heben. 1953 gründete er die Filmzeitschrift Objetivo, die das Niveau der Filmkritik in Spanien verbessern sollte, und die auch über von der Zensur verbotene Filme berichtete. Nach zwei Jahren und neun Ausgaben wurde die Zeitschrift von den Behörden selbst verboten. 1955 beteiligte sich Bardem an einer Filmkonferenz, die als Conversaciones de Salamanca bekannt wurde. Als einer der Wortführer auf der Konferenz hielt er eine Brandrede, in der er das traditionelle spanische Kino in Grund und Boden verdammte. Am wichtigsten war jedoch Bardems Engagement in der kommunistisch beeinflussten Filmproduktionsfirma Unión Industrial Cinematográfica (UNINCI), die von 1949 bis 1962 existierte. Ab 1958 war Bardem Präsident dieser Firma, die bereits Berlangas WILLKOMMEN, MR. MARSHALL produziert hatte. Zu seinen Mitstreitern in dieser Phase gehörten Berlanga, Ricardo Muñoz Suay, Carlos Saura und der Stierkämpfer Domingo Dominguín (der weniger berühmte Bruder des bereits erwähnten Luis Miguel Dominguín). Auch progressive Schauspieler wie Francisco (Paco) Rabal, Fernando Fernán Gómez und Fernando Rey gehörten zum Dunstkreis von UNINCI. Der größte Triumph der Firma führte zugleich zu ihrem Untergang. 1961 produzierte UNINCI auf spanischer Seite Luis Buñuels VIRIDIANA, mit ausdrücklicher Billigung des Spanischen Filminstituts unter seinem damaligen Leiter José María Muñoz Fontán. Bardem mochte Buñuels Drehbuch nicht - es war ihm zu unpolitisch -, und er bezeichnete es Saura, Buñuels größtem Fan und Fürsprecher innerhalb UNINCI, gegenüber sogar als "Schwachsinn" und Buñuel selbst als "Rechtsanarchisten". Doch der Film wurde gemacht, auch deshalb, weil der mexikanische Coproduzent Gustavo Alatriste fast die gesamten Kosten trug, und mit ein paar Tricks und Protektion durch Muñoz Fontán durch die Zensur gebracht. VIRIDIANA lief 1961 als offizieller spanischer Wettbewerbsbeitrag in Cannes, wo er in letzter Minute eintraf, und gewann die Goldene Palme (gemeinsam mit einem Film von Henri Colpi). José Maria Muñoz Fontán persönlich nahm freudestrahlend die Trophäe entgegen, doch bald verging ihm das Lachen. In der Vatikan-Postille L'Osservatore Romano erschien unmittelbar nach dem Festival ein Artikel, der VIRIDIANA als Blasphemie verdammte, und der katholische Klerus in Spanien und anderswo stimmte in den Chor ein. Die Franquisten fielen aus allen Wolken. Muñoz Fontán und die Mitglieder seiner Delegation in Cannes wurden noch während der Heimreise gefeuert, VIRIDIANA wurde in Spanien verboten und alle greifbaren Kopien eingezogen und vernichtet, und die Medien mussten den Film totschweigen. Doch es war alles umsonst: Buñuel, Alatriste und eine Kopie des Films waren längst wieder in Mexiko, von wo aus VIRIDIANA weltweit vermarktet wurde. Das Regime rächte sich, indem die Behörden und die Justiz UNINCI soweit behinderten, dass die Firma keinen einzigen Film mehr drehen konnte und bald bankrott war.


Das war für den progressiven Film in Spanien ein herber Schlag, insbesondere für junge, noch nicht arrivierte Regisseure wie Saura, der nach seinem ersten Spielfilm DIE STRASSENJUNGEN von 1960 den nächsten erst 1964 drehen konnte. Bardem selbst konnte in den 60er und 70er Jahren weiterarbeiten, aber die Qualität und der Erfolg seiner Filme nahmen langsam ab. DIE VERSUCHUNG HEISST JENNY (1965) mit Melina Mercouri, James Mason und Hardy Krüger war eine uninspirierte internationale Coproduktion, DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL (1973) eine Jules-Verne-Verfilmung mit Omar Sharif als Kapitän Nemo, die sowohl als Spielfilm wie auch als TV-Miniserie erschien. Doch dazwischen gab es immer noch Filme, in denen anhand der Widersprüche und Entfremdung einzelner Protagonisten (die überdurchschnittlich oft Juan hießen) das nach wie vor repressive System unterschwellig attackiert wurde. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 genoss Bardem natürlich weit mehr Freiheiten als zuvor, und sein kreatives Potential war noch nicht erschöpft, und auch seine politische Einstellung hatte er sich bewahrt. SIEBEN TAGE IM JANUAR (1979) erzählt die wahre Geschichte der Ermordung einiger Kommunisten durch eine faschistische Untergrundorganisation im Jahr 1977, und DIE MAHNUNG (1982), eine Coproduktion verschiedener Ostblockstaaten, handelt von den Aktivitäten eines bulgarischen Widerstandskämpfers gegen die Nazis in den 30er Jahren. Nach einigen Fernseharbeiten folgte 1998 ein mit RESULTADO FINAL passend betitelter letzter Spielfilm. Der 2002 verstorbene Bardem war einige Jahre der Vorsitzende der spanischen Regisseursvereinigung, und er erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Im Jahr seines Todes erschien seine Autobiographie.


DER TOD EINES RADFAHRERS ist in den USA bei Criterion und in Hongkong bei Bo Ying (in guter Qualität) auf DVD erschienen (engl. Titel DEATH OF A CYCLIST).

Mittwoch, 16. Februar 2011

Oh, mein Quax-Papa!

Feuerwerk
(Feuerwerk,  Deutschland 1954)

Regie: Kurt Hoffmann
Darsteller: Lilli Palmer, Karl Schönböck, Romy Schneider, Claus Biederstaedt, Werner Hinz, Rudolf Vogel, Margarete Haagen, Ernst Waldow, Liesl Karlstadt, Lina Carstens u.a.

"Und Kinder haben wir auch; ich sorge schon dafür", singt Claus Biederstaedt, Biedermann der fünfziger Jahre, der blutjungen Romy Schneider mit einem Blick zu, wie man ihm in den Filmen von Ernst Hofbauer sicher nicht mehr begegnen sollte. Und Hofbauer war natürlich auch nicht der Regisseur des musikalischen Machwerks, das man sonst  als typisches Produkt der Zeit in Ruhe seinen Weg gehen liesse. Hinter "Feuerwerk" steht vielmehr der Mann, der für Goebbles 1941 den "lustigen" Propagandastreifen "Quax, der Bruchpilot" gedreht hatte und das Publikum der Adenauer-Zeit mit seichten, gelegentlich leicht  im Sinne der Epoche moralisierenden Filmchen  bediente, die es vergessen lassen sollten, was für Zeitgenossen noch unter ihm lebten - vor allem aber auch, dass selbst "lustige" Propagandafilme alles andere als lustig waren: Kurt Hoffmann.

Hoffmann,  bekannt für musikalische Tändeleien wie den später dank Billy Wilder's Remake "Some Like It Hot" (1959) zu Ruhm gelangtem "Fanfaren der Liebe" (1951), "Königin einer Nacht" (1951) und "Das Wirtshaus im Spessart" (1957), ergriff jede  sich ihm bietende Gelegenheit, um von der unmittelbaren Vergangenheit abzulenken und biedere Gemütlichkeit zu verbreiten, während Regisseure wie Wolfgang Staudte und Helmut Käutner schon kurz nach Kriegsende mit dem begonnen hatten, was als Vergangenheitsbewältigung bezeichnet wird. Als es ihm dann endlich, endlich an der Zeit erschien, einen eigenen Beitrag zu dieser leidigen Angelegenheit zu liefern, drehte er seinen vielleicht verlogensten, vor allem vom ausländischen Publikum leider lange überschätzten Streifen "Wir Wunderkinder" (1958), der - obwohl gut gespielt (sogar die Satiriker Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller gaben sich für die Rahmenhandlung her!) - noch immer mit gemütlichen, verharmlosenden Witzchen aufwartete, während Staudte mit "Rosen für den Staatsanwalt" (1959) eine der boshaftesten Satiren über die verschont gebliebenen Alt-Nazis der 50er lieferte. - Ich verachte Kurt Hoffmann wie keinen anderen Regisseur seiner Zeit, lasse auch jede "Grosse Starparade" (1954) und sämtliche "Mädels vom Immenhof" (1955)  gerne durchgehen, während ich bei ihm immer nur Heuchelei entdecke. Und hier zeigt sich eben, wie sehr der Filmfreund grundsätzlich einen Kontext  in seine Betrachtung miteinbezieht, ihm bis zu einem gewissen Grad unterworfen ist - dass eine "immanente" Analyse (seit Derrida gern in eine bestimmte Richtung  erweitert und mit dem schmückenden Begriff "Dekonstruktion" versehen) sogar wohl letztlich als Illusion betrachtet werden muss, zu der man sich höchstens aus modischen Gründen bekennen mag.

1939  vertonte der Schweizer Komponist Paul Burkhard (1911-1977) ein Lustspiel von Jürg Amstein, das  sich - wie brisant! - über die Moral des Bürgertums der Jahrhundertwende lustig machte. Nun ist es sicher nicht edelste Pflicht eines Musicals, sich aktueller Themen mit gesellschaftskritischer Absicht anzunehmen; entscheidend sind eher die eingängigen Melodien, die es uns liefert. - Und Burkhard hatte Talent: sein Stück "Der Schwarze Hecht" wurde zu einem riesigen Erfolg, der in der Schweiz noch heute gern vor allem von Laienbühnen einem begeisterten Publikum zugänglich gemacht wird. Einer seiner Songs, "Oh, mein Papa", wurde sogar zu einem Welthit, nachdem ihn die Sängerin Lys Assia nach Deutschland ex- und Eddie Fisher in die USA importiert hatten.



Jetzt bedurfte es nur noch des jüdischen Regisseurs und Produzenten Erik Charell, der Burkhards Musical  nach seiner Rückkehr aus den Staaten in München unter dem Titel "Feuerwerk" erfolgreich herausbrachte -  schon witterte Hoffmann, der Regisseur des guten (er legte Wert auf die Spezifizierung!) Unterhaltungsfilms, eine weitere Möglichkeit, seine "blütenreine" Adenauer-Weste noch weisser zu waschen. Er bot sich als Regisseur für die Filmfassung  des biederen Stücks förmlich an und durfte sich sogar darüber freuen, dass Charell  als Co-Produzent Lilli Palmer für die Rolle der Iduna nach Deutschland zurückholte. - Lilli Palmer, auch wegen ihrer jüdischen Herkunft ausgewandert, hatte Hollywood nach dem Skandal um den Suizid der Geliebten ihres damaligen Gatten Rex Harrison ohnehin den Rücken gekehrt, feierte jedoch am Broadway Triumphe (unter anderem mit dem Stück "Bell , Book and Candle", das 1958 mit Kim Novak in der Hauptrolle verfilmt werden sollte). Es zeugt vom eigenartigen, gar unschuldigen Wegblicken ihrer Generation, dass sie die verschlungenen Wege ihrer Flucht ins Exil und die keineswegs immer angenehme Arbeit in Hollywood (etwa mit dem Tyrannen Fritz Lang) in ihren Memoiren "Dicke Lilli - gutes Kind" (1974) zwar ausführlich beschreibt, jedoch kein negatives Wort über die ungeläuterte Vergangenheit des Regisseurs  verliert, mit dem sie den ersten deutschen Film nach ihrer Rückkehr drehte.

Zur recht substanzlosen Handlung: Der Fabrikant Oberholzer lädt zur Feier seines 60. Gebutstags die brave Verwandtschaft ein. Als jedoch der Zirkusdirektor Obloski mit seiner polnischen Frau Iduna mitten in das verkrampfte Fest platzt und sich als Enfant terrible der Familie, Oberholzers vor vielen Jahren verschwundener Bruder, zu erkennen gibt, lässt sich die bürgerliche Fassade nicht länger aufrecht erhalten: Die Männer sind sehr zum Ärger ihrer Gattinnen augenblicklich fasziniert von Idunas Charme, und Anna, Oberholzers Tochter, lässt sich von den Erzählungen des Onkels begeistert in eine ihr bislang fremde Welt entführen. Während sich die junge Anna im zweiten Akt der ursprünglichen (schweizerischen) Fassung des Theaterstücks lediglich in eine Zirkuswelt, in der ihre biederen Onkel sich in Clowns verwandeln, hineinträumt, benötigten das Münchner Publikum und der Film natürlich die von Iduna mit Sorge beobachtete Flucht in den richtigen Zirkus und das vorübergehende Verlassen des jungen Gärtners (die ideale Gelegenheit für Hoffmann, den Gartenzwerg, Inbegriff des Kitschs, ins Bild zu bringen), der sie liebt - und schon in den 50er Jahren (!) dafür sorgen kann, dass man Kinder hat. Was für ein höchst bürgerliches Happy End  dem Zuschauer blüht, kann man sich leicht ausmalen.

Die Palmer darf mit den beiden Hits "Oh, mein Papa" und "Das Lied vom Pony" brillieren, ein paar weitere, dem deutschen Theater- und Filmpublikum der  Zeit "angemessene" Songs (u.a. "Ein Leben lang verliebt") wurden von Paul Burkhard für Charell extra komponiert, weil sich nicht das ganze Musical ins Hochdeutsche transformieren liess - und man sich wohl auch kaum einen Rudolf Vogel vorstellen kann, der seiner Frau ein "Ich wott hüt nit vernünftig si!" entgegenschmettert. - Romy Schneider, die als Anna erst ihre zweite Filmrolle spielte, sollte noch einige Deutschmeister und Franzls über sich ergehen lassen müssen, bevor sie aus Frankreich Angebote erhielt, die ihrer würdig waren. --- Und "Quax, der Bruchpilot", der "lustige" Propagandafilm, den der sich ein Leben lang durchmogelnde Regisseur mit dem sich ebenfalls ein Leben lang durchmogelnden Schauspieler Heinz Rühmann zur Freude des Führers gedreht hatte, wird vom Fernsehen noch heute regelmässig in aller Unschuld ausgestrahlt. Nicht immer vergeht, hélas, der - zweifelhafte! - Ruhm der Welt! Vielleicht sollte man deshalb Hoffmanns billiges Verdrängungsfilmchen, das wegen seines für die damalige Zeit farbenprächtigen Tempos (welche Auszeichnung!) immer wieder gelobt wird, resignierend links liegen lassen und sich gelegentlich eine grundsätzlich süffigere Theatervorstellung des "Schwarzen Hechts" in der Schweiz genehmigen, möge sie nun von der "Emmentaler Liebhaberbühne" oder einem "Profi"-Theater angeboten werden.

Donnerstag, 10. Februar 2011

Das vom kichernden Clown verdrängte Meisterwerk

Es gibt Filme, von deren Besprechung man wohl besser die Finger lassen sollte, weil man ihnen auch nicht ansatzweise gerecht zu werden vermag. Andererseits sieht man sich gelegentlich genötigt, seine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen - und sucht nach Ausreden (ein Wort, dem wir später erneut begegnen werden) dafür. Ich schiebe hiermit die Schuld auf Alex ("hypnosemaschinen"), der mich dank seines "Weihnachtsfilms" wieder einmal mit den einzigartigen Bildern konfrontiert hat, die David Lean zu erschaffen vermochte. Aber wie schon der Titel dieses Eintrags andeutet, hat mein Wunsch, mich Lean's letztem Film zuzuwenden, vor allem mit dessen eigenartiger Rezeption, auch mit einer persönlichen Betroffenheit, zu tun - liess ich mich damals doch selber  willig zum Opfer des "Zeitgeists" machen.

Reise nach Indien
(A Passage to India, Grossbritannien/USA 1984)

Regie: David  Lean
Darsteller:   Judy Davis, Victor Banerjee, Peggy Ashcroft, James Fox, Alec Guinness, Nigel Havers, Richard Wilson, Antonia Pemberton, Sandra Hotz u.a.

Der Misserfolg von “Ryan’s Daughter” (1970) erschütterte David Lean so sehr, dass der Eindruck entstand, er werde nie wieder ein Kinoprojekt in Angriff nehmen. Als aber die Produzenten Brabourne und Goodwin auf der Suche nach einem Regisseur für die Verfilmung von E.M. Forster’s Roman “A Passage to India” waren, stand er, der sich schon in den 60ern vergeblich um die Filmrechte bemüht hatte,  noch einmal zur Verfügung. - Leider sollte auch sein letzter Film, der 1984 in die Kinos kam, nicht gebührend gewürdigt werden, stampfte doch das kindische Wiehern eines zum Clown mutierten Komponisten aus Salzburg alles, was ihm in den Weg kam, gnadenlos in den Boden. Miloš Forman’s “Amadeus”, die Verfilmung eines Bühnenstücks von Peter Shaffer, in dem Antonio Salieri indirekt zum Mörder Mozarts gemacht wird, sicherte sich jene schwer zu greifende Macht, die nicht nur Falco zu einem Welthit verhalf, sondern  zur Begeisterung eines in Trance versetzten Publikums kreischend durch sämtliche Kinosäle dieser Welt wirbelte, um alle wichtigen Preise abzuräumen. Lean’s monumentale Romanverfilmung, von der man annehmen durfte, dass sie seine letzte Arbeit sein würde, erschien hingegen --- altmodisch!

Heute hat, dies darf man guten Gewissens behaupten, der Zahn der Zeit an diesem Ding, das uns seinerzeit so “hip” vorkam, genagt - ein Phänomen, das sich bei derart umjubelten Modefilmen (und nicht zuletzt bei  einigen Arbeiten von Forman) immer wieder bemerkbar macht. Wir kennen mittlerweile auch die sich zwar äusserst "britisch" gebenden, aber gepflegt langweiligen und eher einem John Galsworthy als der elegant-schlanken Sprache Forsters angemessenen Verfilmungen aus der Merchant/Ivory-Küche (“Room With a View”, 1985, “Maurice”, 1987, “Howards End”, 1991).   Dennoch wollen viele Kritiker von “A Passage to India” noch immer nicht zugeben, damals aus vielleicht verständlichen Gründen ein zeitloses Meisterwerk verkannt zu haben, einen gewaltigen Film, der wohl nur wenig hinter “The Bridge on the River Kwai” (1957) und “Lawrence of Arabia” (1962) zurückstehen muss. - Ausreden werden immer wieder gefunden: So “stört” man sich am altmodischen Soundtrack von Maurice Jarre, obwohl sich dieser schelmisch dem vom “British Empire” so geliebten Marschrhythmus unterwirft und bewusst zurückhaltend eingesetzt wird. Es wird auch behauptet, Lean habe keine Beziehung zum “Östlichen” gehabt und  in Indien vergeblich nach jenen vor Schönheit schmerzenden Bildern gesucht, die einen “Lawrence of Arabia” auszeichnen - und man fragt sich: Haben diese Kritiker die Augen vor all dem Reichtum an Farben verschlossen, gar den im ehemaligen Kaschmir spielenden Schluss verschlafen?

Für die boshafteste Anschuldigung ist vielleicht Alec Guinness, der Lean so grosse Rollen verdankte, zuständig: Der Regisseur eines Films, der sich nicht zuletzt gegen den Rassismus unter der Kolonialherrschaft  wendet, soll Inder für “minderwertige” Schauspieler gehalten und deshalb ihn, Guinness, dazu überredet haben, den Philosophen Godbole zu spielen, der als lächerlich geschminkte Figur zur schlechtesten Rolle seines Lebens geworden sei (ob der Mime Filme wie “The Scapegoat”, 1957, wohl bei dieser Gelegenheit aus seiner Filmographie verbannte?). In Wirklichkeit ärgerte sich Guinness, weil ein grosser Teil seines Parts um der Wirkung willen dem Schnitt zum Opfer fiel - obwohl er sich darüber hätte freuen dürfen. Denn dieser Godbole, der die fragende Bemerkung der englischen Damen, es müsse doch einen Grund für den Ruf der Höhlen von Marabar geben, mit einem abschliessenden “Indeed!” beantwortet, ist die Personifizierung jener Kluft, die zwischen zwei Kulturen besteht, jedoch  im entscheidenden Augenblick von Mrs. Moore, “a very old soul”, überwunden wird: als sie versteht, dass der Weise sie auf dem Bahnhof zur Reise in ihren Tod verabschiedet.


Es fällt einem bedeutenden Regisseur nicht unbedingt schwer, aus einem durchschnittlichen Roman einen guten Film zu machen; die Verfilmung von Weltliteratur ist hingegen - wer wusste dies besser als David Lean, der sich zweier Charles Dickens-Romane angenommen und  - pardon! - Boris Pasternaks “Doktor Schiwago” 1965 um des Kitschs willen vergeigt hatte? - eine höchst diffizile Angelegenheit. Einerseits muss man der Grösse eines solchen Werks gerecht werden, es auch möglichst “getreu” und umfassend wiedergeben. Andererseits genügt es nicht, einfach dem Plot und den Dialogen zu folgen; denn: “I think people remember pictures, not dialogue." (Lean) - Es geht also um die filmische Erfassung des oft beschworenen “Geists” eines Werks, dessen Umsetzung in ein anderes Medium. Dies erfordert gelegentliche Freiheiten: So kommt etwa die grossartige Szene, in der Adela auf ihrer Fahrradtour dem Erotischen begegnet, im Roman nicht vor, erweist sich aber als unumgänglich, wenn man aufzeigen will, was in der jungen Frau vorgeht.  - Und wer  eine Liste mit bedeutenden Verfilmungen von Weltliteratur anzufertigen versucht, stellt bald einmal fest, dass er um Lean, auch um seinen letzten Film, nicht herumkommt.

Etliche Leser werden Forster’s Roman aus ihrem Englischunterricht kennen. Ich begnüge mich deshalb mit einer Beschreibung der Filmhandlung: Im unwirtlichen, regnerischen England der 20er Jahre steht die junge Adela Quested vor dem Schaufenster eines Reisebüros, wo sie für sich und die ältere Mrs. Moore eine Überfahrt nach Indien buchen will. Mrs. Moore will dort ihren Sohn Ronny, der in der Provinzstadt Chandrapore Friedensrichter ist, besuchen, Adela begleitet sie als dessen zukünftige Verlobte. Die beiden Frauen, die ein ihnen fremdes Indien und seine Leute kennen lernen möchten, begegnen schon anlässlich der Ankunft des Vizekönigs einem - arroganten - Kolonialismus auf seinem Höhepunkt, entdecken auch das Brodeln in der Menge der Unterdrückten, das im Verlauf der Geschichte in einen Aufruhr umzuschlagen droht. Statt den Indern zu begegnen, begegnen sie dem Club, Inbegriff des Englischen, englischen Strassennamen - und einem Ronny, der zum karrieresüchtigen, rassistischen Schleimer geworden ist. Ihr Wunsch, mit Indern in Kontakt zu kommen, wird mit einer “Garden Party” erfüllt, auf der ein dressiertes indisches Orchester flotte englische Märsche spielt, die eingeladenen  Inder herablassend begrüsst und anschliessend gemieden werden. Lediglich der Hochschulleiter Richard Fielding tritt gegenüber der indischen Bevölkerung aufgeschlossen auf, vermag er ihr Wesen letztlich auch nicht ganz zu verstehen. Er bietet den beiden Damen eine Begegnung mit dem kauzigen Philosophen Godbole an, zu der auch der von den Briten ausgenutzte Arzt Dr. Aziz eingeladen werden soll (Mrs. Moore war ihm an ihrem ersten Abend in einer Moschee am Ganges begegnet und freundlich als Mensch mit einem guten Gesicht wahrgenommen worden).  - Während sich Godbole in mancherlei Hinsicht reserviert gibt, den Damen aber immerhin seine Reinkarnations-Philosophie und den Glauben an die Vorbestimmung (“My philosophy is you can do what you like... but the outcome will be the same.”) erläutert, lässt sich Aziz voreilig zu einer Einladung hinreissen: Er bietet Adela und Mrs. Moore an, ihnen die berühmten Höhlen von Marabar zu zeigen...


Aziz’ Freunde tragen mit Mühe und Not zusammen, was für einen Ausflug mit englischen Ladies benötigt wird (sogar Tische, Stühle und Portwein werden besorgt). Unterdessen entdeckt Adela auf einer Fahrradtour eine alte Tempelstätte mit Figuren, die sich offen liebend umschlingen. Zum ersten Mal wird ihre Neugier auf etwas geweckt, was sie bis jetzt unterdrückte: die hemmungslose Erotik, die sich zugleich als animalisch erweist (die Stätte dient als Fels für Affen, die die flüchtende junge Frau verfolgen) - und sie nachts nicht mehr schlafen lässt.

Als man sich am frühen Morgen am Bahnhof trifft, stellt sich heraus, dass Fielding, der ebenfalls eingeladen war, später nachkommen muss, weil Godbole zu lange gebetet hat. Und spätestens jetzt erkennt der Zuschauer das den ganzen Film durchdringende Vorbestimmte, die Vorahnungen des Unausweichlichen, die von beiden Kulturen - wenn auch unterschiedlich - wahrgenommen werden: Schon im Reisebüro zu Beginn des Films fühlte sich Adela auf seltsame Weise von einem Bild mit den Höhlen angezogen; Mrs. Moore empfand den vom Mond beschienenen nächtlichen Ganges, den sie in der Moschee erblickte, als schrecklich und wunderbar zugleich, weil sie ahnte, dass das Wasser zu ihrem Grab werden sollte...

Trotzdem scheint der Ausflug zu einem Erfolg zu werden: Die Fahrt mit dem Zug und der farbenprächtige Ritt auf einem Elefanten mit grosser Begleitung befremden und beeindrucken die Damen. -  In der ersten Höhle erleidet die klaustrophobische Mrs. Moore jedoch wegen des ungewöhnlichen Echos einen Schwächeanfall und fordert Adela und Aziz auf, die weiter oben gelegenen Höhlen alleine zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin werden seltsame “Grenzen” überschritten: Aziz reicht der Engländerin beim Aufstieg die Hand, Adela lässt sich - die Ferne ihres Verlobten, für den sie im Grunde gar nichts empfindet, erkennend - zu persönlichen Fragen über seine Beziehung zur verstorbenen Frau und die Liebe hinreissen.  - Und dann geschieht etwas, was dem Zuschauer wohl ebenso bruchstückhaft und zusammenhangslos  vorkommt wie den involvierten Figuren im Rückblick: Aziz, sich des Überschreitens der "Kluft" nur allzu bewusst, entfernt sich, um eine Zigarette zu rauchen, Adela betritt unterdessen eine der Höhlen, zündet ein Streichholz an, bläst es aber ängstlich aus, als sie bemerkt, dass der Inder nach ihr suchend vor dem Eingang steht. Kurz darauf sieht man sie völlig entgeistert den Hang hinunterrennen und in ein Auto steigen. - Als der mittlerweile nachgekommene Fielding mit Mrs. Moore und Aziz wieder in Chandrapore eintrifft, wird der Arzt beschuldigt, er habe Adela Quested in den Höhlen von Marabar zu vergewaltigen versucht...

Was geschah wirklich in den Höhlen? - Vergewaltigt wurde Adela auf jeden Fall: weil ihr niemand zu diesem “Only Connect” zwischen den Kulturen verhelfen konnte, das Forster zum Motto seines Romans “Howards End” machte - und das ihre später verwirrte Persönlichkeit vervollständigt hätte.  Man wird sie auch weiter vergewaltigen, dient sie doch von jetzt an nur als Spielball in einem Prozess, in dem die englische Kolonialmacht nahezu verzweifelt gegen aufbegehrende Unterworfene antritt.

Im Gegensatz zum monumentalen “Lawrence of Arabia” ist “A Passage to India” (die Mehrdeutigkeit des Titels erschliesst sich nach und nach, geht es doch keineswegs nur um eine Reise, sondern vor allem um eine Überbrückung respektive den Versuch) sowohl monumental als auch höchst intim, Details sorgfältig auslotend, zugleich - was durchaus dem erwähnten “Geist” des Romans entspricht. Und während die  Merchant/Ivory-Verfilmungen vor allem mit einer etwas schwülstigen, aber dennoch merkwürdig sterilen Atmosphäre aufwarteten, sind die Bilder schlank und edel, selbst in ihren monumentalsten Momenten nie überladen. Man möchte Szene für Szene wegen ihrer erlesenen Schönheit hervorheben, muss sich aber doch auf die nächtliche Begegnung zwischen der englischen Lady und dem Inder  in der  Moschee, Adelas Treffen auf die in ihr schlummernde sexuelle Lust, den Ausflug mit seiner zunehmend ersichtlich werdenden Vorbestimmung oder die prachtvoll-erschütternde Abfahrt des Zugs, in dem eine Mrs. Moore, die man loswerden wollte, weil sie Aziz für unschuldig hält, sitzt - und von einem die Zukunft erfassenden Godbole verabschiedet wird, beschränken. - Wer auch könnte sagen, je solche Bilder von der abgeschiedenen Welt nahe des Himalayas gesehen zu haben, in die sich ein mit den Briten hadernder Aziz als Leiter einer Klinik zurückzieht - um sich doch noch (Vorbestimmung!) mit seinem Freund Fielding auszusöhnen, der entgegen seiner Erwartungen eine andere Frau als Adela geheiratet hat? --- Solche Szenen erkannten wir seinerzeit auf der grossen Leinwand nicht als einzigartig, weil uns das Kreischen des Forman-Clowns die Ohren volldröhnte. Heute treiben sie mir Tränen in die Augen, wenn ich sie auf dem viel kleineren Bildschirm sehe. Was um alles in der Welt liessen wir uns entgehen?

Es soll im Vorfeld einige Probleme mit der Besetzung gegeben haben. Lean wollte Peter O’Toole für die Rolle des Fielding gewinnen, Celia Johnson war seine ursprüngliche Wahl für Mrs. Moore - und die Suche nach der passenden Schauspielerin für den Part der Adela Quested habe sich als schwierig erwiesen. Wer sich den Film heute anschaut, entdeckt schlicht Perfektion: James Fox ist ein herausragender Fielding und die grosse Dame Peggy Ashcroft wurde als dem Tode geweihte Mrs. Moore höchst verdient mit einem Oscar für die Beste Nebenrolle ausgezeichnet.


Ich konnte “A Passage to India” natürlich nicht gerecht werden, vermochte jedoch vielleicht wenigstens meine persönliche - leider späte! - Begeisterung halbwegs in Worte zu fassen. Und ich wünsche mir, dass jeder Filmfreund sich dieses Alterswerk des grossen  Regisseurs eines Tages im Kino anschauen und seine  Meisterschaft erfassen darf.

Montag, 7. Februar 2011

Stroboskopische Erscheinungen und Final Frontier Film

Heute gibts mal Werbung für zwei neue Blogs, auf die ich nicht von alleine gestossen bin, die aber an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden sollen - verdienen sie doch möglichst viele Leser!

1.) Stroboskopische Erscheinungen ist ein regelrechter Senkrechtstarter und schon in diversen Blogrolls zu finden. Hinter den erst wenigen Texten, die sich vor allem der Filmästhetik und Bildsprache annehmen, gibt sich mit Samsa ein engagierter Filmfreund zu erkennen, der es versteht, seine Anliegen dem Leser auf spannende Weise zu vermitteln und der - davon zeugt schon das höchst ansprechende Layout - auf Niveau achtet. Leuten wie ihm gehört die Zukunft! Das sollten sich diverse "Alteingesessene", die von einer  arrogante Oberflächlichkeiten goutierenden Jüngerschaft  vorläufig noch für das Mass  aller Dinge gehalten werden, mal gesagt sein lassen. - Es war mein alter Freund  mono.micha ("Schneeland", "nachtsichtgeräte"), der mich auf "Stroboskopische Erscheinungen" hinwies, und ich bin stolz, den jungen Blogger in meiner Blogroll vorweisen zu können.

2.) Hinter Final Frontier Film steckt ein alter Bekannter, dessen Rückkehr in die virtuelle Welt mich regelrecht umhaute. Der Außenseiter, einer der beiden Bestandteile des Klassikers Sauft Benzin, ihr Himmelhunde!,  schrieb schon über Filme, als ich noch nicht mal einen PC besass und dürfte den meisten von euch ein Begriff sein. Dass er sich nun mit einem eigenen Blog der "letzten Grenze im  Kampf mit der Wirklichkeit" annimmt, klingt mehr als vielversprechend. Ich freue mich riesig auf seine Beiträge und bin froh, ihn wieder unter den engagierten Bloggern zu wissen. - Dieses Mal war es der Ape-Man von Intergalaktische Filmreisen, auch ein verhältnismässig Neuer im Geschäft, aber bereits etabliert, der mir zuvor kam. Ich danke ihm für den Hinweis.

Auch hier meine bekannte Bitte: Lest die Jungs, gebt ihnen mit euren Kommentaren zu erkennen, dass sie wahrgenommen werden - und sucht in eurer Blogroll ein Plätzchen für sie! Sie verdienen es.

Donnerstag, 3. Februar 2011

FLÜGEL

FLÜGEL (KRYLJA)
UdSSR 1966
Regie: Larissa Schepitko (engl. Transliteration: Larissa oder Larisa Shepitko)
Darsteller:
  • Maja Bulgakowa (Nadeshda Stepanowa)
  • Pantelejmon Krymow (Pawel Wassiljewitsch)
  • Shanna Bolotowa (Tanja)
  • Leonid Djatschkow (Mitja)
  • Sergej Nikonenko (Sergej Bystrjakow)

Eine russische Provinzstadt, Mitte der 60er Jahre. Nadeshda Stepanowa Petruchina, eine Frau in den 40ern, ist Direktorin einer Schule, außerdem ist sie Mitglied im Stadtrat und weiteren Gremien. Sie ist "gut vernetzt", wie man heute sagen würde, und sie hat gerade eine Auszeichnung für ihre Arbeit an der Schule erhalten, deren Verleihung sogar im Fernsehen übertragen wurde. Aber glücklich ist sie nicht. Ihre erwachsene Adoptivtochter Tanja, die kürzlich geheiratet hat, lebt ihr eigenes Leben, aus dem sie ihre Mutter herauszuhalten sucht. Nadeshda muss sich quasi selbst einladen, um den neuen Schwiegersohn überhaupt kennenzulernen. Ihre Verbitterung darüber überspielt sie bei dem Besuch mit aufgesetzter Fröhlichkeit, aber später offenbart sie ihrem Freund Pawel, dem Leiter des städtischen Museums, ihre wahren Gefühle. Dazu kommen die Widrigkeiten des schulischen Alltags: Probleme mit einem Schüler, der sich (nicht zu Unrecht) ungerecht behandelt fühlt; ein nicht übermäßig befähigter und motivierter Stellvertreter; und dergleichen mehr. Nadeshda, die allein lebt, droht langsam aber sicher zu versauern; während sie subjektiv ihr Bestes gibt, halten ihre Schüler sie für verknöchert.


Nadeshdas Sehnsucht gilt der Vergangenheit, als sie eine erfolgreiche Kampfpilotin im Zweiten Weltkrieg war. Damals, den Nöten des Alltags enthoben, genoss sie die "Freiheit über den Wolken", die Reinhard Mey einst besang. Natürlich hatte der Krieg auch seine üblen Seiten: In einem ihrer Tagträume denkt sie an ihren Geliebten Mitja zurück, Kampfpilot wie sie. Er wurde abgeschossen und starb. In der Gegenwart fühlt sie sich auf einem Flugfeld außerhalb der Stadt noch am wohlsten, wo einer ihrer alten Kameraden mit jungen Piloten in den alten Propellermaschinen für Flugwettbewerbe trainiert. Aufgrund ihrer Vergangenheit ist sie hier nicht nur respektiert, sondern beliebt - aber dennoch nur Zuschauerin. Im Museum gibt es eine Schautafel, die an ihre eigenen und Mitjas Heldentaten im Krieg erinnert, und an der Schulkinder vorbeigeschleust werden. Sie sei eines seiner Ausstellungsstücke, sagt sie in einem Anflug von Sarkasmus und Bitterkeit zu Pawel, dem Museumsdirektor. Doch eines Tages wagt sie einen Neuanfang. Ob er langfristig gelingt, bleibt offen, doch die symbolbefrachteten Schlussbilder lassen es hoffen.


FLÜGEL folgt keinem großen Spannungsbogen, sondern entfaltet in weitgehend unabhängigen und unspektakulären Episoden ein Bild von Nadeshdas Leben, das in der Vergangenheit feststeckt. In einer Schlüsselszene wird sie von Tanja ermutigt, sich den Ärger mit den Schülern und ihren Verpflichtungen - die für sie keine Privilegien, sondern nur Arbeit bringen - zu ersparen und lieber zu heiraten und das Leben zu genießen. Doch das könne sie überhaupt nicht, antwortet sie, weil sie es viel zu sehr verinnerlicht habe, für andere da zu sein und ihre Pflicht zu erfüllen. Sie sagt es nicht wörtlich, aber es ist klar, dass es die militärischen Tugenden der Kriegszeit sind, die sie geprägt haben. Schepitko hat das so ausgedrückt:
"Ich will von der Generation der Sieger erzählen, der Männer und Frauen, die die Last des Krieges trugen, und will durch eine Person den schwierigen Weg aufzeigen, den diese gingen, die moralischen und ethischen Fehler, die sie begingen, und wie sie sie korrigierten. [...] Der Krieg hat ihrem Denken seinen Stempel aufgedrückt. In Kriegszeiten ist alles brutal, eindeutig und klar - der Feind ist der Feind, ein Feigling ist ein Feigling. Sie hat diese kategorischen Urteile in ihr ziviles Leben übernommen und nicht realisiert, dass aus ihren raschen Entscheidungen oberflächliche Entscheidungen wurden. [...] Sie versucht verbissen, sich zu rechtfertigen und zu verteidigen, und erreicht als Resultat, dass sie die Zuwendung ihrer Familie und Freunde verliert; sie findet sich allein vor. Der Zuschauer wird kein reumütiges Bekenntnis von ihren Lippen hören, aber am Ende bemerkt er, dass die Krise vorbei ist und sich Nadeshdas Einstellung geändert hat."


Nebenbei und ganz zwanglos ist FLÜGEL ein Gesellschaftportrait der Sowjetunion in der 60er Jahren - eine Zeit, in der meist der Alltagstrott das Leben bestimmt, und in der sich langsam, aber sicher eine Kluft auftut zwischen der Kriegsgeneration und der nachrückenden Jugend, die ihr eigenes Leben lebt und an den Heldentaten der Vergangenheit nicht interessiert ist. Dieser Aspekt des Films hat Schepitko Kritik eingetragen. Es gebe keinen solchen Generationenkonflikt, bemängelte ein Teil der sowjetischen Kritiker, und Schepitko habe ihrem Land einen schlechten Dienst erwiesen, indem sie die Kriegshelden schlecht mache. Insgesamt war die Aufnahme des Films kontrovers. Neben der erwähnten Kritik gab es auch Lob, so spendierte eine Filmzeitschrift FLÜGEL gleich einen 20-seitigen Artikel. Aus heutiger Sicht ist FLÜGEL vor allem ein subtiles und differenziertes Frauenportrait, das von Maja Bulgakowa souverän gemeistert wird. Die Charakterdarstellerin - die wie die Regisseurin bei einem Verkehrsunfall starb - dominiert alle ihre Szenen, und sie schafft es mühelos, trotz ihrer Unzulänglichkeiten Sympathie für Nadeshda zu erwecken.


Larissa Schepitko (1938-1979) war in den 60er und 70er Jahren eine der großen Regie-Hoffnungen des sowjetischen Films. Sie stammte aus der Ukraine, ging aber schon als Jugendliche allein nach Moskau, wo sie an der renommierten Filmhochschule WGIK studierte. Ihr wichtigster Lehrer und Mentor war Alexander Dowschenko (ARSENAL, ERDE), der Altmeister des ukrainischen Films. Schepitkos Abschlussfilm SCHWÜLE (1963) entstand unter sehr schwierigen klimatischen Bedingungen in der kirgisischen Steppe. Er handelt vom Aufeinandertreffen alter Traditionen mit neuen Werten, wobei Schepitko nicht einseitig Stellung bezog, sondern beiden Seiten Gerechtigkeit angedeihen ließ. Der Film wurde ein Überraschungserfolg und bescherte Schepitko einen Vertrag mit dem großen Studio Mosfilm, für das sie alle ihre weiteren Spielfilme drehte. FLÜGEL war der erste davon. Nach der gemischten Aufnahme des Films hatte Schepitkos Karriere einen ersten Durchhänger, der zum Teil auch politische Gründe hatte. Die Breschnew'sche Restauration hatte 1964 das "Tauwetter" unter Chruschtschow abgelöst, und es wehte ein schärferer Wind. 1967 drehte Schepitko die eine Hälfte des aus zwei Episoden bestehenden DER BEGINN EINES UNBEKANNTEN JAHRHUNDERTS (die andere Episode steuerte Schepitkos Kollege Andrej Smirnow bei). Der Film war als Beitrag zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution in Auftrag gegeben worden, und Schepitkos Teil behandelt Probleme bei der Elektrifizierung in einem rückständigen Dorf in den 20er Jahren. Doch die Darstellung der damaligen Bolschewiki gefiel den Behörden nicht. Der Film wurde zwar fertiggestellt, aber auf Eis gelegt und erst 20 Jahre später freigegeben. Nach einem 70-minütigen Fernsehfilm von 1969 folgte 1971, fünf Jahre nach FLÜGEL, mit DU UND ICH Schepitkos nächster Spielfilm und einziger Farbfilm. Ein Hirnchirurg ist von seiner Arbeit und seiner Ehe angeödet und geht für einige Monate nach Sibirien, um mit sich ins Reine zu kommen. Der Film ist eine kritische Bestandsaufnahme von Schepitkos eigener Generation, der damals 30-jährigen Intelligenzija (Akademiker, Künstler, Intellektuelle). Schepitko sagte dazu:
"Der Film ist wirklich über uns. Deshalb heißt er DU UND ICH. [...] Im Alter von 30 erlangt man eine gewisse Klarheit über viele Dinge, die einem geschahen oder geschehen. 30 ist ein Gipfelpunkt des Lebens. [...] Drei Jahre früher hätte ich so einen Film nicht machen können. Und wahrscheinlich werde ich in ein paar Jahren einen anderen Blick auf diese Periode haben."

DU UND ICH wurde in der Sowjetunion weitgehend negativ aufgenommen. Im Ausland war die Reaktion gemischt. Ein Teil der Kritiker war von der elliptischen und nichtchronologischen Struktur des Films verwirrt, andererseits gewann er einen Preis bei den Filmfestspielen in Venedig. Es dauerte bis 1977, bis Schepitkos nächster und letzter Film AUFSTIEG (auch DIE ERHÖHUNG) folgte. AUFSTIEG gewann 1977 den Goldenen Bären in Berlin und einige kleinere Festivalpreise. 1978 war Schepitko Mitglied der Jury in Berlin, und es gab eine Retrospektive ihrer vier Spielfilme. Der internationale Durchbruch war geschafft. Doch während der Arbeit an ihrem nächsten Film ABSCHIED VON MATJORA starben Larissa Schepitko und vier ihrer Mitarbeiter bei einem Verkehrsunfall. Schepitko war mit dem Regisseur Elem Klimow (bekannt durch AGONIA und KOMM UND SIEH) verheiratet und hatte einen Sohn. Nach ihrem Tod sprang Klimow bei ABSCHIED VON MATJORA ein und machte ihn zu seinem eigenen Film. 1980 drehte er mit LARISSA einen filmischen Nachruf.


FLÜGEL und AUFSTIEG sind zusammen in einer Eclipse-Box von Criterion in den USA erhältlich.

Dienstag, 1. Februar 2011

Whoknows Presents begrüsst einen Gastautor

Es freut mich, einen Gastautor willkommen heissen zu dürfen, der “Whoknows Presents” mit hoffentlich mehr als gelegentlichen Beiträgen bereichern wird. Selbstverständlich wurde er nicht nur den üblichen Tests unterzogen; ich bat sogar die NASA, ihn ein halbes Jahr lang am Ausbildungsprogramm für Astronauten teilnehmen zu lassen. Bereits nach zwei Monaten kehrte er  aus Cape Canaveral mit einem Brief zurück, dem ich entnehmen durfte, man hätte ihn am liebsten auf den Mond geschossen. Daraus lässt sich wohl schliessen, dass er die Ausbildung nicht nur zügig, sondern auch höchst erfolgreich absolvierte. - Aber er stellt sich euch am besten selber vor:

Das Filmprogramm auf dem Mond hat mir nicht zugesagt, und so habe ich bei der NASA den Hut genommen, und Whoknows hat mir Unterschlupf gewährt. Da ich hier und in anderen Blogs schon einige Kommentare hinterlassen habe, kann ich die Vorstellung kurz halten. Ich bin im real existierenden Bayern aufgewachsen, bin 48 Jahre alt und lebe in München. Mit Filmen habe ich nur als Fan zu tun. Mein erster Artikel hier wird demnächst erscheinen, und ich freue mich über Kommentare aller Art.

Manfred

Samstag, 29. Januar 2011

Whoknows Discriminator

- definitely not starring Arnold Pleitenegger - 

Hallo Meute!

Wie euch ein Blick auf meine Sidebar zeigt, habe ich eine neue Blogroll hinzugefügt. Sie enthält Blogs, die seit vier Monaten oder länger nicht aktiv waren und nun abgestraft werden. - Ist ja auch eine Frechheit, der  man mit apokalyptischen Drohbebärden (Ritter, Tod und Teufel) beikommen muss. Grrr...

In Wirklichkeit ist es natürlich so: Eine Blogroll wächst mit der Zeit, da ich mich für zufällig entdeckte Links zu meinem Blog meist gern revanchiere  -  und der eventuelle Leser (ihr trudelt ja selten genug ein, Bande!) soll ein wenig den Überblick über aktive und nicht aktive Blogs behalten. Andererseits möchte ich Blogger, die so lieb waren, mir einst Herberge zu gewähren, nicht einfach rauswerfen, auch wenn sie zwischenzeitlich anderen Interessen frönen (der Eintritt in Swingerclubs im EU-Raum ist zumindest für Schweizer gerade erschwinglich). Aus diesem Grund entschloss ich mich zu einer Aufteilung, die die faulen Säcke ein wenig zum Weitermachen ermuntern soll. - Denn nach einiger Zeit in der Blogroll der Schande fliegt ihr raus!!! Also macht euch an die Arbeit, damit ihr wieder nach oben zurückkehrt!

Mittlerweile trage ich mich mit dem Gedanken, weitere Unterteilungen vorzunehmen: Blogs, deren Betreiber an die Jungfrauengeburt glauben, Blogger, die mich nicht inbrünstig begehren, Porno-Blogs (betrifft Seiten, die über Filme schreiben, welche die FSK erst ab 12 freigegeben hat), Blogs, die ich aus meiner Blogroll geschmissen habe oder gar nie aufnähme etc. --- Weitere Vorschläge, so sie denn nicht der Eigenwerbung dienen, werden gerne entgegengenommen und mit Sicherheit nicht verwirklicht. - Oder, um einen ehemaligen Gouverneur von Kalifornien zu bemühen, der vermutlich manche seiner "Quotes" gerne ungesagt machen würde: "Failure is not an option. Everyone has to succeed." Äh - ja. - Vermutlich bringt mich dieser Eintrag direkt in die Hölle...

Montag, 24. Januar 2011

Kurzbesprechung: Sunshine State


Land des Sonnenscheins
(Sunshine State,  USA 2002)

Regie: John Sayles

Es ist in den letzten Jahren zumindest hierzulande erstaunlich still geworden um John Sayles, den wohl bedeutendsten Independent-Filmer der 90er Jahre (“Passion Fish”, 1992, “Lone Star”, 1996). Obwohl er munter weiter Filme drehte, gelangte in Deutschland nach “Limbo” (1999) nur noch der von Schweizer Kritikern schon früh gelobte “Casa de los babys” (2003) mit grosser Verspätung in die deutschen Kinos. Könnte es daran liegen, dass sich Sayles auf  uramerikanische Themen beschränkt - und dass er diese mit einem Ernst angeht, der den Europäern nicht so liegt?

“Sunshine State”, ein Film, der seine Weltpremiere immerhin noch an den Internationalen Filmfestspielen von Cannes feiern durfte, beschäftigt sich mit den verlockenden Versuchen hinterhältiger Bodenspekulanten, in Florida den alteingesessenen Küstenbewohnern ihr Land abzuluchsen, um es in Golfplätze und Nobelvillen-Parzellen zu verwandeln. - Die Einwohner von Delrona Beach, einst ein exklusives Seebad für die afroamerikanische Bevölkerung, heute ein Symbol für die real existierende Rassentrennung im Süden der USA, sind hin- und hergerissen zwischen familiären Verpflichtungen und der Aussicht auf Gewinn: Mary, die das Motel und Restaurant ihres beinahe erblindeten Vaters führt, möchte gerne verkaufen und einen Strich unter ihre Probleme mit Männern ziehen. Der alte Dr. Elton Lloyd, ein Mann, der die Vergangenheit heraufbeschwört, leistet heftig Widerstand gegen die Pläne der Immobilienhaie. - Unterdessen findet in Delrona Beach das alljährliche Seeräuber-Fest statt, dem sich die “typische Amerikanerin” Francine (eine Glanzrolle für Mary Steenburgen) mit Inbrunst widmet, obwohl das Prunkstück des Fests, ein Schiff, in Flammen aufgegangen ist - während sich ihr wettsüchtiger Ehemann vergeblich das Leben zu nehmen versucht. --- Und in diese Situation hinein platzt die schwarze Schauspielerin Desiree, die  einst von ihrer Mutter fortgeschickt wurde, weil sie sich in der High School schwängern liess...

Dies sind nur einige Figuren, denen wir in John Sayles’ hervorragend besetztem und fotografiertem Ensemble-Film begegnen. Und alle diese Figuren wollen sich aussprechen, wollen abrechnen, finden oft gar nicht einmal die richtigen Worte für ihre Gefühle, was “Sunshine State” zu einem ausserordentlich beredten, um nicht zu sagen: geschwätzigen Film macht. Obwohl einige snobbististische Golfspieler zu Beginn und in der Mitte des Films auf dessen eigentliches Thema und die (mögliche?) Zukunft von Delrona Beach hinweisen, beschwört der Regisseur derart viele gesellschaftskritische Elemente und Einzelschicksale, die im Gegensatz zum Problem der grenzüberschreitenden Adoption in “Casa de los babys” höchstens angetippt, jedoch nie wirklich stimmig ausgelotet werden, herauf, dass der Zuschauer sich oft nicht mehr einzufühlen oder die schönen Bilder zu würdigen vermag - und 134 sich in die Länge ziehende, leider etwas leere und poesielose Minuten hinter sich bringt. Schade! Aus “Sunshine State” hätte sich durchaus ein die Situation eines in sich zerrissenen Städtchens spannend wiedergebendes Erlebnis machen lassen.

Mittwoch, 19. Januar 2011

Her mit der deutschen DVD! - die Sechste

Judex
(Judex, Frankreich/Italien 1963)

Regie: Georges Franju
Darsteller: Channing Pollock, Francine Bergé, Edith Scob, Michel Vitold, Jacques Jouanneau, Théo Sarapo, Sylva Koscina u.a.

Während die Engländer eine Vorliebe für skurrile, aber rechtschaffene und mit Ausnahme von Sherlock Holmes (er käme heute wegen seines Kokain-Konsums in Schwierigkeiten) gesetzestreue Detektive hatten, die jeden noch so kniffligen Fall mit unerbittlicher Logik lösten, zogen die Franzosen für ihre Krimis eine andere Art von Helden vor. Es handelte sich um dunkle, zwiespältige Gestalten, von denen man nie so recht wusste, ob nun das Gute oder das sie verlockende Verbrecherische in ihrer Seele am Ende obsiegen würde. Und mit Ausnahme des Meisterdiebs Arsène Lupin, dessen Erschaffung wir dem Schriftsteller Maurice Leblanc verdanken, gingen alle, möge es sich nun um reine Erfindungen oder historische Gestalten wie Louis Mandrin und Eugène François Vidocq, einst Krimineller, später Kriminalist, gehandelt haben, durch die Feder von Arthur Bernède (1871-1937), der auch den Roman “Belphégor” schrieb. - Diese “Nationalheiligen” des französischen düsteren Krimis wurden selbstverständlich  in Filmen verewigt, manche bereits im Stummfilm,  andere in den 50er- oder 60er Jahren. Sogar das neue Millenium entdeckte für sich den Reiz jener  zwielichtigen Aura, die solche Helden umgab (“Vidocq”, 2001, “Arsène Lupin”, 2004).


Eine der von Bernède erfundenen Figuren ist zumindest hierzulande in Vergessenheit geraten, obwohl ihr bereits der Stummfilm-Regisseur Louis Feuillade zwischen 1914 und 1918 eine ganze Serie gewidmet hatte: Judex, der geheimnisvolle, stets in Schwarz gekleidete Rächer, Meister der Verwandlungskunst, der sich in unterirdischen Gängen bewegt und von ihm nahezu ebenbürtigen Bösewichten verfolgt wird, jedoch immer auf ein ganzes Netzwerk an Helfershelfern bauen kann. - Dieses Vorläufers der amerikanischen Superhelden nahm sich 1963 der französische Regisseur Georges Franju (“Les yeux sans visage”, 1960) an und drehte einen Film, der als regelrechtes Tribut  an die episodische Stummfilmversion betrachtet werden kann, jedoch eine eigene Handschrift aufweist, und den  Kritik und Publikum damals höchstens lauwarm aufnahmen, weil er so gar nicht in die Zeit zu passen schien. - Heute wird er jedoch im französischen und angelsächsischen Raum als Meisterwerk gewürdigt.

Georges Franju war ein Regisseur, der im Gegensatz zu René Clair nicht der “Nouvelle Vague” wich, sondern eigentlich zusammen mit ihrem Aufkommen erst seine grossen Filme zu drehen begann, die ihren eigenen Weg gingen, sich einem Stil verpflichtet sahen, der als “magischer Realismus” bezeichnet wird, und die mit ihren Fabelwesen und einer höchst detaillierten Ausstattung, in die das Unwirkliche, Gespenstische umso überraschender einbricht, sowohl an Jean Cocteau als auch an Surrealisten wie Salvador Dalí und Luis Buñuel erinnern.

Die Geschichte, die “Judex” erzählt, ist denkbar einfach und geradlinig, gewinnt jedoch durch die eigenwillige Gestaltung an Komplexität. Sie umfasst einen korrupten Bankier und dessen schöne unschuldige Tochter Jacqueline, in die sich der Rächer verliebt, die eigentliche Gegenspielerin Diana Monti, ebenfalls eine Meisterin der Verkleidung, einen falschen Vater auf der Suche nach seinem Sohn und einen völlig inkompetenten Detektiv, der nebenbei im ebenfalls von Feuillade verfilmten Roman “Fantômas” (eines jener Elemente des hintergründigen Humors, die den Film auflockern) liest: Eines Tages erhält der Bankier Favraux den Brief eines ihm unbekannten Mannes, der sich Judex nennt und damit droht, ihn umzubringen, wenn er sein zu Unrecht erworbenes Vermögen nicht den betrogenen Besitzern zurückzahle. Tatsächlich erscheint an einem Maskenball zu Ehren der Verlobung von Favraux’ Tochter ein Fremder, der sich einen überdimensionalen Vogelkopf übergestülpt hat, eine scheinbar (der Schein spielt im Film eine bedeutende Rolle) tote Möwe in der Hand hält und die Gäste mit seinen Zaubertricks überrascht. Plötzlich fällt Favraux scheinbar (!) tot um, wurde jedoch von Judex nur betäubt und entführt, damit er ihn unter Druck setzen kann. Mittlerweile kehrt die frühere Angestellte des Bankiers, Diana Monti, in dessen Schloss zurück, um sich sein Vermögen anzueignen. Als sie bemerkt, dass er noch lebt, entführt sie Jacqueline, die gar keinen Anspruch auf das Geld erhebt. Von nun an beginnt ein eigenartiges Katz und Maus-Spiel, innerhalb dessen der Zuschauer unfreiwillig immer wieder Partei für den weiblichen Bösewicht ergreift, weil ihr Judex mit seinem aus Zirkusartisten und anderen vermummten Gestalten bestehenden Netzwerk stets einen Schritt voraus ist, ohne selber kaum je wirklich in Gefahr zu geraten.

Was Franjus Film auszeichnet, ist nicht zuletzt die oft verblüffende Langsamkeit, die ein Grauen ohne Blutvergiessen erzeugt, weil man nie so recht voraussagen kann, wie eine seiner unheimlichen Szenen enden wird. Bezeichnend dafür sind etwa das von Maurice Jarres effektvoller Musik begleitete Auftauchen des Rächers am Maskenball, sein mehrere Minuten andauerndes Durchschreiten des Saals, oder die Szene, in der sich die als Nonne verkleidete Maria Monti  in einer Mühle über die bewusstlose Jacqueline beugt, sich gemütlich eine Zigarette anzündet und dann eine Nadel aus ihrem Kleid holt, mit der sie sie umbringen will. Nichts geschieht hektisch, selbst Marias Verwandlung von einer Nonne in eine katzenhafte “Lederbraut”, die boshafte Version von Emma Peel, verläuft langsam - obwohl sie doch auf der Flucht ist. Und als - eines der bezeichnenden “Deus ex machina”-Elemente gegen das Ende hin - die Artistin Daisy auftaucht, die den für einmal gefesselten Helden befreien soll, erklettert sie gemütlich die Hausfassade und bleibt vor dem Balkon für einen Augenblick lächelnd stehen (als führe sie ihre Nummer vor einem Publikum auf), bevor sie das Zimmer betritt. - Die häufig in der Dunkelheit spielenden Szenen (Strassen, durch die vermummte Gestalten eilen) werden gelegentlich von Bildern abgelöst, deren Helligkeit beinahe beängstigend wirkt. Und das Abheben der Silhouetten vom Hintergrund (die Artistin im weissen Kleid etc.) zeugt vom Willen, das Schwarweiss-Spektrum zur Gänze auszunutzen. - Unvergesslich die Szene, in der der leblose Körper von Jacqueline den Fluss hinunter getrieben wird - oder der wie ein Tanz arrangierte Kampf zwischen der "Damsel in distress" und Diana Monti.

Für die Besetzung der Hauptfigur erlaubte sich Franju einen ganz besonderen Coup: Er engagierte den amerikanischen Magier Channing Pollock, der bis anhin nur in wenigen Filmen mitgespielt hatte. Pollock galt damals als der berühmteste Magier der Welt, der überdies für sein gutes Aussehen bekannt war (er war eine Art Vorläufer von David Copperfield mit dem Gesicht von Rudolpho Valentino). Der Amerikaner bewältigt die Rolle erstaunlich gut, darf sogar einige seiner berühmten Zaubertricks zum Besten geben. - Maria Monti sollte ursprünglich mit Brigitte Bardot besetzt werden; Françine Bergé erweist sich jedoch als Idealbesetzung und vermag trotz ihrer Boshaftigkeit in ihrer Todesszene das Mitleid des Zuschauers zu erwecken.

Ich erinnere mich, als Junge eine Ausstrahlung von “Judex” im deutschen Fernsehen verfolgt zu haben. Später geriet der Film in Vergessenheit. Mittlerweile wird der vielen kaum bekannte Name des grossen Regisseurs von Kennern immer wieder lobend erwähnt; sein Weg zwischen den zum Teil seichten französischen Komödien der 60er Jahre, denen man auch die Neuverfilmungen von “Fantômas” zuordnen möchte, und der oft nur ein intellektuelles Publikum ansprechenden “Nouvelle Vague”  als künstlerisch überragend betrachtet. “Judex” ist im französischen und englischsprachigen Raum als DVD erhältlich. Es scheint mir an der Zeit, ihm auch hier endlich eine Chance zu geben.

Freitag, 14. Januar 2011

Die glückliche Hure

Sonntags... nie!
(Pote tin Kyriaki, Griechenland/USA 1960)

Regie: Jules Dassin
Darsteller: Melina Mercouri, Jules Dassin, Giorgos Foundas, Titos Vandis, Mitsos Ligizos u.a.

“Pote tin Kyriaki” veränderte in den 60er Jahren mimisch-affektives Verhalten und Begriffskonnotationen diverser schwer arbeitender Hausfrauen, die sich nach dem Schrubben des Holzbodens neidisch die weiblichen Stars auf den Titelblättern von Boulevardzeitschriften anschauten, auf eigenartige Weise. So pflegte etwa meine Mutter gegenüber dem fragenden Sohn Liz Taylor als “Metze” zu bezeichnen; Gina Lollobrigida war ein “Luder”, Brigitte Bardot gar eine “Schnalle”. Erblickte sie jedoch Melina Mercouri, erhellte sich ihr Gesicht augenblicklich, und ihre Augen begannen zu leuchten. Dann sagte sie freudig-erregt: “Das da ist eine Hure!” - So wurde mein Interesse an der Wortfeldtheorie geweckt...

Ja, Melina Mercouri war in “Pote tin Kyriaki” tatsächlich eine Hure, und was für eine. Sie war Ilya, ein lebensfrohes und herzensgutes Mädchen, das im Hafen von Piräus mit Begeisterung anschafft, sich darüber freut, dass ihm alle Männer nachschauen, wenn es zum Schwimmen im Meer eilt - und das sich seine Freier (jeden Tag einen anderen) selber aussuchen kann - eine Regel aber einhält: Sonntags... nie! Diesen Tag will der Star unter den Prostituierten für sich allein.

Das beneidenswerte Leben voller Leichtigkeit nimmt ein jähes Ende, als der ebenso gebildete wie verklemmte amerikanische Tourist Homer Thrace, der sich auf der Suche nach der ewig gültigen Wahrheit befindet, in Ilya die Verkörperung klassischer Schönheit zu entdecken glaubt, sich aber am Bildungsniveau der Frau, die jede griechische Tragödie so umdichtet, dass sie ein glückliches Ende nimmt (“and they all go to the seaside”), stört. Als er hören muss, wie sie Medea zu einer Geschichte macht, in der die Männer nicht gut wegkommen (Medea ist eine süsse Frau, die eben ihre Launen hat, aber der Nebenbuhlerin sogar einen Kuchen bäckt und ihre Kinder vor dem Mann versteckt, bis er zu ihr zurückkehrt!), kauft er sich ihre Gunst für zwei Wochen, die er allerdings nicht mit Sex vergeuden, sondern als Gelegenheit nutzen will, der Schönheit seine Vorstellungen von klassischer Kultur zu vermitteln. Dass der Möchtegern-Pygmalion Ilya mit seinem “Wissen”, der klassischen Musik und den Gemälden, die ihre Fussballclub-Poster ersetzen, nur unglücklich macht, erkennt er erst, als er mit Gewalt auf die wirklichen Probleme von Prostituierten aufmerksam gemacht wird. Und am Ende seiner denkwürdigen “Suche nach der Wahrheit” ist es Homer, der mit einer nicht mit Geld aufzuwiegenden Bereicherung nach Hause fahren darf: Er hat nicht nur das Tanzen, sondern das Fühlen des Sirthakis erlernt.


Was machte diesen Film über eine Prostituierte so “hausfrauentauglich”, während etwa Billy Wilder im prüden Amerika noch 1964 mit “Kiss Me, Stupid!” die Karriere von Kim Novak so gut wie zerstörte? - Es war wohl vor allem seine noch heute faszinierende Leichtigkeit, die das frivole Sujet recht harmlos erscheinen lässt; und es dürfte an der grossen Mercouri gelegen haben, die die Rolle der Ilya im Alter von 40 Jahren (!) annahm und aus ihr keine geschminkte Erotik-Bombe, sondern ein unbeschwertes Wesen machte, dessen herbe, natürliche Schönheit ganz andere Vorstellungen weckte als die der gestylten Hollywood-Stars oder von Brigitte Bardot, die 1956 mit dem ziemlich substanzlosen “Et Dieu créa la femme” noch für ein Skandälchen gesorgt hatte. - Dassins folkloristische Hymne auf den Süden wirkt zwar auch reichlich harmlos-verklärend und erreicht in technischer Hinsicht nicht annähernd die “Qualität” der zu jener Zeit gedrehten Hollywood-Gähner, wartet aber neben dem berühmten, mit rauher Stimme vorgetragenen Titelsong “Ta Pedia tou Pirea”, der von Sängerinnen aus der ganzen Welt gecovert wurde, mit höchst einfallsreichen Bildern und Szenen (man sieht die im Gleichschritt marschierenden Beine der Prostituierten, die gegen ihren Zuhälter demonstrieren; Ilyas Reaktion, nachdem sie mit dem Fernglas ein Schiff mit neuen Freiern erspäht hat, ist von herrlicher Kindlichkeit durchdrungen) auf. --- “Pote tin Kyriaki” wurde erstaunlicherweise für mehrere Oscars nominiert (Regie, Drehbuch, weibliche Hauptdarstellerin) und erhielt die Trophäe für die Titelmusik. Melina Mercouri wurde an den Internationalen Filmfestspielen von Cannes zur besten Darstellerin gekürt.


Mit seinem Film über die glückliche Hure und den verklemmten Amerikaner vermochte Jules Dassin, der in den Staaten zum Opfer des McCarthyismus geworden (Edward Dmytryk hatte ihn 1951 - sicher auch nicht freiwillig! - vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe verpfiffen) und nach Frankreich ausgewandert war, seinen ehemaligen Landsleuten zu zeigen, wozu es ein Vertriebener in Europa bringen konnte. Zwar hatte auch er einige Jahre in Armut verbracht; mit “Du rififi chez les hommes” (1955) war ihm jedoch ein Klassiker gelungen, der ihm den Weg zu weiteren erfolgreichen Filmen ebnete. Mit der Griechin Melina Mercouri, die er 1966 heiratete, drehte er noch andere Filme, darunter den berühmten “Topkapi” (1964), in dem u.a. Maximilian Schell und Peter Ustinov erneut auf “Rififi” machen durften, “Promise at dawn” (1970) und “A Dream of Passion” (1978). Zusammen mit seiner Frau setzte er sich engagiert für die Rückkehr Griechenlands zur Demokratie ein und liess sich nach dem Sturz der Militärjunta 1974 in seiner Wahlheimat nieder. Melina Mercouri (“Ich bin als Griechin geboren und werde als Griechin sterben!”) betätigte sich zunehmend politisch und wurde von Papandreou als Kulturministerin in sein Kabinett berufen (sie verstarb 1994 an Lungenkrebs). - Hinter der scheinbar so leichten, sehenswerten Geschichte über die Hure Ilya und den Amerikaner Homer, der die Freude am Leben lernen muss, versteckt sich also auch ein Teil der Geschichte jenes Phänomens, das Wallraff/Spoo als “unseren Faschismus nebenan” bezeichneten - und des Kampfs um seine Überwindung!

Samstag, 8. Januar 2011

Kurzbesprechung: Die Frau in Weiss


Die Frau in Weiss
(Die  Frau in Weiss, Deutschland 1971)

Regie: Wilhelm Semmelroth

In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vermochte das Deutsche Fernsehen gelegentlich noch eine ganze Nation vor die - wesentlich weniger - Bildschirme zu locken. Dafür zuständig waren nicht unbedingt Olympische Spiele oder königliche Hochzeiten, sondern die Mehrteiler des britischen Krimischriftstellers Francis Durbridge (u.a. “Das Halstuch”, 1962, “Melissa”, 1966), die am Arbeitsplatz, beim Friseur oder am Stammtisch diskutiert wurden, kurz: identitätsstiftend waren. Mit der Zeit begann die Qualität der “Strassenfeger” von Durbridge jedoch merklich nachzulassen, obwohl sie jetzt in Farbe und mit wesentlich grösserem Aufwand gedreht wurden; und spätestens “Das Messer” (1971) kündigte mit seinen billigen Spannungselementen das Ende jener Zeit an, als es der ARD noch gelang, sich bis zu 90% der Zuschauer zu sichern.

In diesem kritischen Augenblick entdeckten Drehbuchautor Herbert Asmodi und Regisseur Wilhelm Semmelroth, Chef der Fernsehspielabteilung des WDR, einen Autor für sich, der in England als kleiner Klassiker galt, im deutschsprachigen Raum aber offensichtlich wenig bekannt war: Wilkie Collins (1824-1889), Freund von Charles Dickens, für dessen Zeitschrift “All The Year Round” er “Mystery Novels” schrieb, die in Fortsetzungen abgedruckt wurden und die Leser begeisterten. Die äusserst komplex konstruierten Romane (sie bestanden aus Tagebucheinträgen, Briefen und Geständnissen mehrer Personen, gaben die Ereignisse also aus verschiedenen Blickwinkeln wieder) schienen sich wenig für Verfilmungen zu eignen. Dennoch hatte man gerade “The Woman in White” (1860) schon mehrfach - auch als Stummfilm - auf die Leinwand gebannt.

Und so sassen denn auch 1971 an drei Sonntagabenden noch einmal unzählige deutsche Zuschauer vor ihren Fernsehern und verfolgten eine im viktorianischen England spielende Geschichte, hinter deren gepflegtem Grusel  schon bald ein finsteres, möglicherweise perfektes Verbrechen vermutet werden durfte, dessen Auflösung man gespannt entgegenfieberte: Der junge Maler Walter Hartright soll auf einem abgeschiedenen Landsitz die beiden Halbschwestern Marian und Laura im Zeichnen unterrichten. Auf dem Weg dorthin begegnet ihm nachts eine unheimliche, offensichtlich verwirrte Frau in Weiss, der, wie Walter bald feststellen muss, die schöne Laura zum Verwechseln ähnlich sieht. Laura wiederum, in die er sich augenblicklich verliebt, ist dem jähzornigen Sir Percival Glyde versprochen, der es zusammen mit seinem Freund, dem schleimigen Conte Fosco, lediglich auf ihr Vermögen abgesehen hat. - Die deutschen Schauspieler, neben Heidelinde Weis, der die Doppelrolle sichtlich Spass bereitete, Christian Bantzer, Pinkas Braun und Eva Christian auch schrullige Nebenfiguren darstellende Künstler wie Helmut Käutner als hypochondrischer Sir Frederic Fairlie oder Jennie Thelen als eisige Frau Catherick schreiten überzeugend über die knarrenden Holzböden englischer Häuser und durch die Landschaft Cornwalls, wo der Dreiteiler gedreht wurde.

Wer wissen möchte, welcher “Plüschkrimi” uns seinerzeit das Nägelkauen lehrte, kann sich “Die Frau in Weiss” zusammen mit dem weniger gelungenen Nachfolger “Der rote Schal” (1973) auf DVD anschauen (er wurde in der Reihe “Strassenfeger” veröffentlicht). Die Romanverfilmung ist ein beeindruckendes  und noch immer grosses Vergnügen bereitendes Dokument deutscher Fernsehgeschichte.

Der zweite Teil enthält übrigens einen Anachronismus, auf den Fernsehansagerinnen (auch das gab es mal!) anlässlich von Wiederholungen immer wieder aufmerksam machen mussten: Während eines Spaziergangs summt der Conte eine Opernarie (es war Verdi, wenn ich mich recht entsinne) vor sich hin, die zur Zeit, in der die Geschichte spielt, noch gar nicht komponiert war.

Dienstag, 4. Januar 2011

Dies nur nebenbei






Samstag, 1. Januar 2011

Ein unterschätzter Regisseur oder "He didn't know a sh-t about construction"?

Midnight - Enthüllung um Mitternacht
(Midnight, USA 1939)

Regie: Mitchell Leisen
Darsteller: Claudette Colbert, Don Ameche, John Barrymore, Francis Lederer, Mary Astor, Hedda Hopper u.a.

1939 gilt als das “Goldene Jahr” der amerikanischen Filmindustrie, das Jahr, in dem die Traumfabrik am Vorabend einer durch den  Zweiten Weltkrieg verursachten Zeitenwende in verschiedenen Genres  Höchstleistungen hervorbrachte, von denen wir noch heute sprechen und die in ihrer Art nie wieder auch nur annähernd überboten wurden. Darf man es deshalb einem Film als Schande anrechnen, weil er - obwohl damals finanziell erfolgreich - zwischen “Gone With the Wind”, “Wuthering Heights”, “Destry Rides Again”, “Ninotchka”, “The Wizard of Oz”, “Stagecoach” und anderen Meisterwerken etwas unterging, mittlerweile sogar weitgehend in Vergessenheit geraten ist? Dies insbesondere, wenn er in jedem anderen Jahr als glanzvoller Höhepunkt der Screwball-Comedy gefeiert worden wäre?

Letzteres behaupten zumindest Fans von “Midnight”, dessen Regisseur Mitchell Leisen in diesem Zusammenhang auch als der am meisten unterschätzte Regisseur seiner Zeit bezeichnet wird. - Billy Wilder, der zusammen mit Charles Bracket das Drehbuch zum Film geschrieben hatte, sah die Sache allerdings ein wenig anders: Er war überzeugt, eine perfekte Vorlage geliefert zu haben, die Leisen, der offenbar einer schön arrangierten Vase mit weissen Lilien grössere Aufmerksamkeit schenkte als dem Dialog, regelrecht zerstörte. Mitchell Leisen, der Aesthet, der, den Launen seiner Hauptdarstellerinnen gehorchend, ganze Seiten aus einem Script herauszureissen pflegte, blieb für ihn denn auch zeit seines Lebens nichts anderes als “a window dresser”. Ähnlich äusserte sich Steven Bach, ein intimer Kenner der Filmwelt: “Leisen ... could always make a picture look better than it was, but never play better, for he had no sense of material.” Ein hartes Urteil, das da über einen Mann gefällt wurde, der seine Karriere als Dekorateur und Kostümdesigner unter dem Despoten Cecil B. DeMille begonnen hatte und Mitte der 30er Jahre langsam zum gefragten Frauenregisseur (ein Etikett, das er mit anderen schwulen* Regisseuren wie George Cukor und Vincent Sherman teilte) aufstieg, Filme wie “Frenchman’s Creek” (1944) oder “To Each His Own” (1946) drehte - und vielleicht berechtigterweise nur als Mann der alten Schule, der seinen Schauspielerinnen jeden Wunsch von den Augen ablas, sie aber nicht zu führen verstand, in Erinnerung bleibt.


“Midnight”, der ursprüngliche Titel lautete - die Essenz von “Screwball” betonend - “Careless Rapture”, erzählt tatsächlich eine Geschichte, von der man annehmen darf, sie sei in den Händen von Wilder und Bracket gut aufgehoben gewesen: Eve Peabody, ein abgebranntes amerikanisches Showgirl, landet mitten in einer regnerischen Nacht mit dem Zug aus Monte Carlo in Paris, wo sie eine “Karriere” beginnen, sprich: einen reichen Mann finden will. Der freundliche Taxifahrer Tibor Czerny erklärt sich bereit, das Mädchen, das nichts ausser seinem Abendkleid bei sich hat, von einem Nachtclub zum anderen zu fahren, um ihm ein Vorsingen zu ermöglichen. Als er ihr sogar anbietet, sie bei sich übernachten zu lassen, ergreift die nach mehr dürstende Eve die Flucht und landet mithilfe  eines Pfandscheins in einer Veranstaltung der gehobenen Gesellschaft, wo sie sich als Baronin Czerny ausgibt. Der exzentrische Millionär Flammarion entdeckt rasch, dass sie eine Hochstaplerin ist, bringt sie jedoch im Ritz unter und bietet ihr eine beachtliche Belohnung, wenn es ihr gelingt, seiner Frau den Liebhaber, einen  stadtbekannten Playboy, auszuspannen. Eve lässt sich auf den Deal ein, und das Cinderella-Abenteuer, auf das der endgültige Titel anspielt (“Don’t forget, every Cinderella has her midnight.”), nimmt seinen Lauf. - Als die Millionärsgattin Helene bemerkt, dass ihr Liebhaber tatsächlich der angeblichen Baronin verfällt, überkommt sie die Eifersucht und es gelingt ihr beinahe, Eve als Betrügerin zu entlarven. Doch dann erscheint Eves Gatte, Baron Czerni, unter der Tür. Es handelt sich natürlich um den Taxifahrer, der sich in das undankbare Wesen verliebt und sie zusammen mit seinen Freunden unaufhörlich gesucht hat...

Die Produktion war von Anfang an vom Pech verfolgt (ich übernehme die folgenden Informationen von Wikipedia und anderen Seiten, die sich mit dem Film beschäftigen): Ursprünglich sollte “Midnight” als Vehikel für Marlene Dietrich dienen, als Regisseur war Fritz Lang vorgesehen, für die männliche Hauptrolle Ray Milland. Später kam Barbara Stanwyck ins Gespräch; sie musste aber wegen anderer Verpflichtungen absagen. - Als nach schier endlosem Hin und Her Mitchell Leisen, der sich mit “Easy Living” (1937) als Komödien-Regisseur empfohlen hatte, verpflichtet wurde, sah er sich mit einem regelrechten Problemhaufen konfrontiert: Ein als Taxifahrer Czerny erstaunlich blass agierender Don Ameche stand nur gelegentlich zur Verfügung, weil er neben “Midnight” noch “The Story of Alexander Graham Bell” drehen musste; Mary Astor, die die Helene spielte, war unübersehbar schwanger, was man auf alle möglichen Arten verbergen musste (sie trägt stets weite Kleider und versteckt den Unterleib hinter Requisiten; dies ändert freilich nichts daran, dass sie eher schwanger als eifersüchtig oder gewohnt “bitchy” wirkt); und letztlich hatte das Alkoholproblem des berühmten “Saufkopps” John Barrymore mittlerweile dazu geführt, dass er seinen Text als Georges Flammarion nicht mehr beherrschte und so genannte Cue Cards benötigte. Francis Lederer, einst eine nicht unbedeutende Hoffnung des deutschen Stummfilms, wiederum erweckt den Eindruck, er sei nur  als dümmlich vor sich hingrinsender Schönling (ein Vorgänger von Louis Jourdan), nicht als sich glaubhaft verliebender Playboy zu gebrauchen gewesen. - Mit Claudette Colbert, der Neurotikerin, die nur ihre linke Gesichtshälfte in Profilaufnahmen zeigen wollte, soll Leisen hingegen vorzüglich ausgekommen sein: Manche behaupten, er habe ihr zu einer der besten Leistungen in ihrer Karriere verholfen; meines Erachtens gab er ihren eigenartigen Wünschen so sehr nach, dass der Zuschauer gelegentlich den Eindruck erhält, er bekomme über weite Strecken vor allem eine Wange in Grossaufnahme zu sehen - und dem schrecklichen Akzent nach zu schliessen handle es sich um die Wange einer Kuh aus einem  billigen Western. Welch ein Abfall nach “It Happened One Night” (1934) oder “Bluebeard’s Eighth Wife” (1938)!

Was aber macht Leisen aus der reizvollen Geschichte? -  Nach einem charmanten Anfang im nächtlichen Paris hangelt sich “Midnight” von einem seltenen Höhepunkt zum nächsten. Wirkliche Lacher verdanken wir Tratschtante und Teilzeit-Schauspielerin Hedda Hopper, die als unterbrochene Gastgeberin des Galaabends, in den sich Eve einschleicht, mehrmals das vom Pianisten erwartete elfte Prelude von Chopin ankündigt, bis dieser - völlig in Rage geraten - ein “It is the twelth, and it is an etude!” brüllt. Ein weiterer kleiner Glanzpunkt: Tibor versammelt sich mit sämtlichen Taxis seiner Freunde vor dem Ritz, und als man dort die Adresse von Eve nicht preisgeben will, beginnen diese gnadenlos zu hupen. - Vor allem aber reisst noch immer der grosse John Barrymore einen seiner letzten Filme an sich: Schon die Blicke, mit denen er jede Bewegung einer sich verunsichert gebenden Eve kommentiert, zeugen von dem Witz, der "Midnight" zustünde, sein hinterhältig-freundliches Auftreten in jeder Szene ist ein Genuss - und zum wahrhaften Brüller wird sein “Fake”-Telefonanruf, der ihm Gelegenheit bietet, sowohl die angebliche Mutter von Baron Czerny als auch dessen an Masern erkranktes Töchterchen zu mimen. --- Dies sind sie, die wenigen Szenen, die eine Sichtung überhaupt lohnen, wenn man sich nicht gerade mit wunderschönen Dekors und Abendkleidern (die Leisen natürlich selber entwarf) zufrieden geben mag. Denn der aufmüpfige Humor, den man von einer Screwball-Comedy erwartet, verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes hinter den - erschlagenden! - Kulissen: Pointen, aus denen sich etwas machen liesse, sind eine Rarität (etwa Colberts offensichtlich sexuelle Anspielung, sie sei “certainly not looking for needlework at this time at night”, oder ihre Bemerkung, als Flammarion ihr sein Anwesen zeigt: “Nice little bungalow you’ve got here. I wish I’d brought my rollerskates.”). - Vor allem artet der Schluss zum billigen Schwank aus. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Drehbuchautoren von “Ninotchka” und “Ball of Fire” (1941) tatsächlich einen solchen Mist geliefert haben sollten.


Verteidiger von “Midnight” haben - was ihr gutes Recht ist - eine Begründung für ihre Begeisterung: Allein schon die Änderung des Titels zeige, dass der Film das Ende jener durch die Depressionszeit hervorgerufenen eskapistischen Phase ankündige, welche die Screwball-Comedy erst möglich und nötig gemacht habe. “Midnight” nehme sogar den Skeptizismus vorweg, der die Nachkriegszeit prägen sollte. - Nun bin ich - vermutlich wiederhole ich mich - wirklich für jede nicht allzu abwegige Interpretation zu haben. Aber ein Regisseur, der vor lauter Interesse an Nebensächlichkeiten die Bedeutung des Dialogs für eine Screwball-Comedy gar nicht erkannte, als Wegbereiter einer neuen Ära, einer Ära, die aus der Komödie erst noch für längere Zeit ein oft gezähmtes, biederes Lustspielchen machte? Begegnen wir da nicht einigen  -  Lobhudeleien gar nicht rechtfertigenden - Ungereimtheiten? Und hätte Billy Wilder, zwar berühmt für seine giftigen Bemerkungen, aber doch offensichtlich das nie vergessend, was aus einem nahezu perfekten Drehbuch gemacht worden war, dann Worte für Mitchell Leisen gefunden wie: “He didn’t know a sh-t about construction”?


*Was Vincnet Sherman anbelangt: möglicherweise ein Irrtum meinerseits (siehe Kommentar von Manfred Polak!)