Dienstag, 6. November 2012

Eine Weimarer Pizza geht nach Wien oder zur Psychopathologie österreichischer Toiletten: Bericht von der Viennale 2012



Am Donnerstag, den 25. Oktober, bin ich in Richtung Österreich gereist, um dem 50. Internationalen Filmfestival Wien (25. Oktober bis 7. November 2012), auch als Viennale bekannt, einen Besuch abzustatten. Der Weg führte mich von Weimar, über Jena, Leipzig, Dresden, Prag bis in die ehemals kaiserliche Hauptstadt. Drei Tage voller Filme erwarteten mich: neue, alte, gute und nicht so gute. Und extrem gute Kaffees. Und merkwürdige Bekanntschaften mit österreichischen Toiletten. Und nasse Füsse. Und eine hirnverbrannte Festival-Organisation... aber dazu später.

Donnerstag 25. Oktober 2012

Bei einem dreistündigen Halt in Leipzig stimmte ich mich Kino-technisch etwas auf die Viennale ein und ließ mich in einer Pressevorführung vom neuen James-Bond-Film begeistern. Diese hatte zwar nichts mit dem österreichischen Filmfestival zu tun, wird in meinem Gedächtnis aber immer mit meiner ersten Viennale-Reise verbunden sein. An anderer Stelle habe ich mich schon etwas über den nunmehr 23. (bzw. je nach Perspektive 24., 25., 26.) Bond-Film ausgelassen. Hier also eine Zusammenfassung meiner durch und durch positiven Eindrücke in freier Assoziation.

10.00 Uhr, Cinestar Leipzig
Skyfall
UK/USA 2012, 143 Minuten
Regie: Sam Mendes

James Bond goes Apocalypse Now. James Bond goes art house. James Bond goes avant garde. James Bond goes back to childhood. James Bond goes back to the roots. James Bond goes bi (maybe). James Bond goes Caspar David Friedrich. James Bond goes crazy deadly drinking games. James Bond goes dada. James Bond goes expressionistic. James Bond goes for a swim. James Bond goes Freudian. James Bond goes Gothic. James Bond goes Greek tragedy. James Bond goes greyish. James Bond goes Heineken. James Bond goes hunting knife. James Bond goes introspective. James Bond goes James Bond. James Bond goes meta. James Bond goes neon signs. James Bond goes Oedipus. James Bond goes Oskar Fischinger. James Bond goes sawed-off shotgun. James Bond goes self-aware. James Bond goes shadow play. James Bond goes sicko. James Bond goes vintage. James Bond goes weirdo.
James Bond goes Skyfall!
P.S.: „Q“ goes hipster-nerd. Bond villain goes Hannibal Lecter. Bond side villain goes Stromberg.


Nach einer sehr langen Reise (Start: 07:20 Uhr in Weimar) kam ich also kurz nach 22.00 Uhr in Wien an. Nach einem Bier und einem Wodka mit meinem Gastgeber, dem ich vom neuen Bond-Film und von der kommenden Fritz-Lang-Retrospektive vorschwärmte, ging es zur Eröffnungsparty der Viennale. Zu der Eröffnungsparty oder vielleicht auch zu einer Eröffnungsparty. Mehr noch als die fürchterliche Musik, die Kälte und die horrenden Bierpreise brachten mich die Toiletten zur rasenden Verzweiflung. Vor ihnen stand eine gefühlt vierzig Meter lange Schlange. Dixie-Klos im Innenhof waren die Alternative. Sie waren zwar nicht beleuchtet, aber hier konnte ich mich zum letzten Mal während meines Wien-Aufenthalts ohne Klaustrophobie-Anfall erleichtern...


Freitag 26. Oktober 2012

Nach vierstündigem Schlaf ging es weiter. Zunächst durch die Innenstadt etwas spazieren. Beim Stephansdom einen Cappuccino to go genommen, der mich bei der ersten Berührung mit meinen Geschmacksknospen in den Himmel geführt hat. Was ich letztes Jahr in Graz erlebt hatte, wiederholte sich nun in Wien: österreichischer Kaffee ist der beste der Welt, oder zumindest der beste, den ich kenne. Die Österreicher haben Mut zur Bohne, und das ist gut so!
Weiter zum Hilton Hotel Wien, wo die Presse-Karte abgeholt wurde. Die Freude über das kostenlose Festivalkatalog, das kostenlose Fritz-Lang-Buch und über die Viennale-Umhängetasche verflog zunächst angesichts des Info-Blattes für „Teilnehmer“. Irgendetwas von 4,50 Euro pro Film stand da. Es stellte sich später glücklicherweise heraus, dass auch die niedrige Journaille kostenlos in die Filme gehen durfte. Als schwerwiegenderes Problem stellte sich später allerdings das ineffiziente Reservierungs-System für Pressekarten heraus.
Schwer bepackt ging ich zusammen mit meinem lieben Mitreisenden, luzifus von the-gaffer.de, zum Metro-Kino, wo um 11 Uhr unser erster Festivalfilm begann. Wir hatten nicht „reserviert“ und mussten deshalb über die „Warteliste“ rein, bekamen dann aber trotzdem Karten.
An den Kino-Toiletten hing ein stolzes Schild über den gelungenen Umbau des Örtchens zu einer behinderten-gerechten Einrichtung. Diesen Wienerischen Witz habe ich leider nicht verstanden, denn eine Warnung für Klaustrophobiker wäre angesichts der unglaublichen Enge der Örtlichkeit angemessener gewesen. Ein Ort, der wirklich nur in einem sehr basisch-physischen Sinne Erleichterung brachte.
Der Kino-Saal jedoch war prunkvoll, mit schönen roten Sitzen und Seitenlogen ausgestattet. Die eher mäßige Beinfreiheit stellte sich später als für Wienerische Verhältnisse absolut extravagant heraus...


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
Vous n‘avez encore rien vu
Frankreich/Deutschland 2012, 115 Minuten
Regie: Alain Resnais

Ein Theater-Regisseur stirbt. Sein Butler ruft eine ganze Horde an berühmten Schauspielern an (Michel Piccoli, Pierre Arditi, Sabine Azéma, Lambert Wilson, Mathieu Amalric, Anny Duperey, Hippolyte Girardot etc.), um sie zur Trauerfeierlichkeit und Nachlass-Erklärung einzuladen. Der letzte Wunsch: die Geladenen mögen bitte das Probevideo einer unbekannten Theatergruppe, die das berühmteste Stück des Regisseurs spielt, bewerten und eine Empfehlung geben. Während das Video abgespielt wird, erinnern sich die anwesenden Schauspieler – die wohlgemerkt alle sich selbst spielen – an ihre respektiven Rollen in dieser Adaption der griechischen Sage um Orpheus und Eurydike und beginnen, selbst das Stück im Austausch mit der Leinwand zu spielen.
Was als spannender Film über die Interaktion von Kino mit dem „wahren“ Leben erscheint, entpuppt sich als eine brachiale Tortur von einem „Film“, der über das Niveau eines abgefilmten (schlechten) Theaterstücks nicht hinausreicht. Der Genuss, so viele tolle französische Schauspieler auf einem Haufen zu sehen, wird einem gründlich verdorben. Grottenschlechte CGI-Effekte widerspiegeln entweder den Wunsch des nunmehr 90-jährigen Regisseurs, auch mal moderne Technologie zu nutzen, oder sollen wohl zweck Verfremdungs-Effekt absichtlich „beschissen“ aussehen. Nur mäßig verklausuliert erschien der Film auch als eine völlig ungehemmte und neunmalkluge Selbstbeweihräucherung Resnais‘. Nach gefühlten zwei Stunden lud der Film zum Sekundenschlaf ein, obwohl noch über eine halbe Stunde übrig blieb. Kein schönes Festivaleröffnungs-Erlebnis.


Zwanzig Meter vom Metro-Kino entfernt befand sich eine Imbissbude, bei der der hungrige Festival-Besucher einen ganz ausgezeichneten Dürum (u. a. mit einer scharfen Sauce aus frischen Chillies) genießen konnte. Gleich daneben die Café-Version eines internationalen Fastfood-Konzerns, dessen doppelter Espresso jedoch durchaus „österreichisch“ schmeckte und den Verfasser dieser Zeilen noch vor gar zu schlimmen Sekundenschlaf-Anfällen retten sollte.
In der Zwischenzeit kam heraus, dass die Journaille ausschließlich Wartelisten-Plätze erhält, wenn sie nicht vorher ihre Karten bei der zentralen telefonischen Presse-Reservierung bestellt. Dies sollte sich später noch als echtes Problem erweisen.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
Pearblossom Highway
USA 2012, 80 Minuten
Regie: Mike Ott

Mit einem nunmehr etwas günstigeren Platz begann der zweite Film in Anwesenheit des überaus sympathischen Regisseurs. Plakate habe er mitgebracht, und wer den Film möge, könne sich im Anschluss eins bei ihm holen. Wer den Film nicht möge, könne sich aber ebenfalls eins holen.
Zwei junge Menschen am Wüstenrand von Los Angeles stehen im Mittelpunkt dieses kleinen Independent-Films. Cory redet ständig und filmt ein Videotagebuch, das er gerne einmal zu einer Reality-Show ausbauen möchte. Atsuko bzw. Anna, eine immigrierte Japanerin, spricht hingegen kaum und bereitet sich auf ihren Einbürgerungs-Test vor. Außer ihrem besten Freund Cory, dessen geistige Gesundheit fraglich und soziale Kompetenz gänzlich unausgeprägt ist, ist die junge Frau völlig von ihrer Umwelt entfremdet. Ihr Nebenjob als Prostituierte verbessert diese soziale Isolation nicht gerade. Erleichterung findet sie nur in den Telefongesprächen mit ihrer Großmutter in Japan, die jedoch zunehmend erkrankt. Derweilen hat Cory immer größere Probleme mit seinem älteren Bruder, einem Armee-Veteranen.
Die scheinbar absolute Loslösung dieses größtenteils eher still vor sich hinplätschernden Films erklärte sich im nachhinein daraus, dass er ein Sequel zu Mike Otts „Littlerock“ ist, der die Figuren Cory und Anna übernimmt. Der Film plätscherte in der Tat: Langweilig, rührend, lustig, emotional, nervig, öde, quicklebendig – all dies war „Pearblossom Highway“, und manchmal sogar gleichzeitig. Nervend waren die immer wiederkehrenden, von einem verfremdeten Polaroidkamera-Klickgeräusch begleiteten Montage-Verdichtungen, die etwas übermäßig bemüht den ansonsten eher realistischen Stil des Films konterkarieren wollten. Atsuko Okatsuka (auch Drehbuchautorin des Films) als Atsuko-Anna bot hingegen eine sehr überzeugende minimalistische Darstellung der entfremdeten Japanerin.
Auch wenn ich mich stellenweise schwer gelangweilt habe, so bleibt im Nachhinein doch ein tendenziell eher netter Eindruck. Das liegt vielleicht am unterhaltsamen Q & A mit dem Regisseur, der sich ganz natürlich, völlig unprätentiös und absolut sympathisch mit dem Publikum austauschte. Ott versprach etwa einer Zuschauerin, die nach einer DVD-Veröffentlichung von „Littlerock“ gefragt hatte, einen Link zu einem Download zu geben.


Nach dem dritten Kaffee des Tages ging ich ins Wiener Filmmuseum, um meinen ersten Film der Fritz-Lang-Retrospektive zu schauen. Luzifus ging derweilen – am 26. Oktober ist österreichischer Nationalfeiertag – zu irgendeinem feierlichen Empfang in der österreichischen Nationalbibliothek, wo der Bundespräsident dem anwesenden Pöbel die Hand schütteln sollte... Gähn! Langweilig! Wer will schon dem österreichischen Staatsoberhaupt die Hand schütteln, wenn er stattdessen einen Fritz-Lang-Film in Kino sehen kann?
Vor „Hangmen Also Die!“ trank ich im Filmmuseum den größten und teuersten und schmackhaftesten doppelten Espresso meines Lebens. Doch auch in diesem Kino spielten mir die Toiletten einen bösen Streich: sie hatten nur eine winzige Kabine und drei Pissoirs, die so eng nebeneinander gestellt waren, dass Mann sie alle gleichzeitig hätte nutzen können. Ein sehr junger Zuschauer besetzte eine halbe Stunde lang die Kabine unter der Aufsicht seines Vaters, der den Rest der Örtlichkeit blockierte. Natürliche Bedürfnisse werden angesichts eines Filmfestivals selbstverständlich völlig überschätzt, aber trotzdem...


16.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Hangmen Also Die!
USA 1943, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

„Hangmen Also Die!“ ist einer der drei offenen Anti-Nazi-Filme, die der Emigrant Lang in den USA drehte und basiert auf einem Drehbuch von Bertolt Brecht, der sich wenig später vom Film distanzierte. Er ist eine Hommage an den tschechoslowakischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation und behandelt die Ermordung des „Henkers von Prag“ Reinhard Heydrich.
Jeder Film verlangt natürlich eine filmhistorisch kontextualisierte Sichtung, doch „Hangmen Also Die!“ sicherlich in einem ganz besonderen Maße. Wir kennen alle das Klischee des überbösen und dämonischen Nazis bis zum Überdruss. Dieses wurde unter anderem gerade hier „erfunden“ und ikonographisch in Zelluloid gebrannt – wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als eben die Nazis noch an der Macht waren und halb Europa besetzten und terrorisierten! Langs Nazis sind mit ihren Pickeln im Gesicht wirklich hässlich. Sie verhalten sich ur-“deutsch“, wenn sie zum Kaffee eine Wurst essen und diese in zwei Hälften so knacken, dass Fleisch und Fett durch das ganze Zimmer fliegen. Sie sind gnadenlos grausam, etwa in Prügelszenen, die selbst mit heutigen Zuschauergewohnheiten noch äußerst brutal wirken. Sie tragen (ironischerweise) Monokel. Zugleich sind sie feige, verantwortungslos und kriecherisch, womit Lang im Prinzip auch das spätere reale „Ich habe nur Befehle ausgeführt“-Narrativ cinematographisch vorweggenommen hat.
Den „Lang im Film“ erkennt man durch die subtile Psychologisierung der Figuren: Schuldgefühle, moralische Dilemmata und Rachegelüste. Der Attentäter Svoboda lebt mit dem unlösbaren moralischen Dilemma, sein Leben zu retten und dabei unschuldige Menschen (Geiseln der Nazis) auf dem Gewissen zu haben oder aber sich zu ergeben und damit zugleich die Widerstandsbewegung in Gefahr zu bringen. Gerade das Thema des Unschuldigen, der in die Knochenmühle der Gewalt gerät, wird hier vielfältig variiert. Lang geht schließlich so weit, dass ein tschechischer Kollaborateur für seine Sünden damit bezahlt, dass er durch eine Verschwörung des Widerstands für ein Verbrechen gerichtet wird, das er nicht begangen hat!


Nach drei Filmen völlig erschöpft und kaum noch fähig, einen verständlichen Satz zu verstehen oder gar selbst zu formulieren, entließ ich mich in eine Dinier-Pause mit einem originalen Wiener Schnitzel und einem Gespräch mit Einheimischen über die Bedeutung des Nationalfeiertages und der österreichischen Neutralität. Gestärkt und mit einem leichteren Geldbeutel ausgestattet kehrte ich, diesmal mit luzifus, in das Wiener Filmmuseum zurück.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
You Only Live Once
USA 1937, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

Langs zweiter US-amerikanischer Film um einen ehemaligen Kleinkriminellen (ein junger Henry Fonda), der nach drei Jahren Gefängnis nach kurzer Zeit des Glücks zu Tode verurteilt wird, schwankt zwischen einem “amerikanischen“, kontroversen Thema und einer „deutschen“ Ästhetik.
Gerade die barock-expressionistischen Momente wirken auf einer Kino-Leinwand großartig. Nachdem die Hauptfigur Eddie seine Geliebte Joan geheiratet hat, spricht er über seine Kindheitserlebnisse. Dazwischen geschnitten werden Nah- und Extremnahaufnahmen von Fröschen in einem kleinen Gartenteich (vielleicht ein visuelles Vorbild für das spätere „Night Of The Hunter“?), während das Paar durch gebrochenes Wasser umgekehrt gespiegelt wird. Auch die Isolations-Todeszelle, deren Gitterschatten sich in alle Richtungen ausbreiten, markieren visuell beeindruckend die Verlorenheit der Hauptfigur. Als Eddie kurz vor seiner Hinrichtung ausbricht, flieht er durch ein dichtes, atmosphärisches Nebelmeer mit seiner Geisel in Richtung Ausgangstor. Die Flucht des Paares endet in einem offensichtlich im Studio nachgebauten und deshalb so hochstilisierten Wald: eine schöne und hoffnungsvolle Idylle, aber letztlich ein Trugschluss.
Auch wenn das persönliche Schicksal eines Außenseiters im Mittelpunkt steht, so lässt sich „You Only Live Once“ auch als sehr starkes und nicht wenig subversives Plädoyer gegen die Todesstrafe in den USA sehen: Verbrechen entstehen aus sozialen Ursachen, über Schuld besteht keine Garantie, es gibt keine Gerechtigkeit (daher die anfänglich deplatziert wirkende Figur des italienischen Obsthändlers, der sich darüber beklagt, dass patrouillierende Polizisten ihm Äpfel klauen), und die Todesstrafe zerstört nicht nur Leben, sondern auch das gesellschaftliche Gefüge. Die drückende, fast nihilistische Atmosphäre wird schließlich mit einer christlichen Erlösung gedämpft, die jedoch keine richtige Erleichterung zu bringen vermag.
Fritz Lang war die wichtigste Vermittlungsfigur zwischen dem deutschen (expressionistischen) Stummfilm und dem US-amerikanischen film noir. „You Only Live Once“ ist dabei eines der wichtigsten Glieder dieser Verbindungskette, ein spätes strukturelles Sequel zu „M“, ein Vorläufer des Schuld-und-Reue-Melodrams „Scarlet Street“, und dabei doch ein eigenständiges Meisterwerk. Eindeutig ein Höhepunkt der Viennale.


Mittlerweile nicht mehr ganz so frisch erfolgte der Umzug zum Gartenbau-Kino am Stubenring, wo mich erwartete:


23.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Double Feature Room 237 & The Shining

Bereits kurz nach 23.00 Uhr traf ich im Gartenbau ein und holte mir meine (reservierte) Pressekarte für das große Shining-Double-Feature. Das Foyer des Kinos füllte sich immer mehr mit Zuschauern, es wurde immer enger, und schließlich so eng, dass jemand, der ob der schlechten Luft ohnmächtig geworden wäre, nicht hätte auf den Boden fallen können. 23.40 Uhr kündete ein Mitarbeiter an, dass sich der Einlass wegen der vorherigen Veranstaltung noch um zehn Minuten verzögern würde. Bis zum Einlass 20 Minuten später also weiter klaustrophobische Unruhe und Ströme an Schweiß...


23.30 Uhr (faktisch etwa um 00.15 Uhr), Gartenbau-Kino Wien
Room 237
USA 2012, 102 Minuten
Regie: Rodney Ascher

„The Shining“ ist zwar ein Kultfilm eigenen Rechts, aber er wäre vielleicht nicht das Werk des Stanley Kubrick, das einem als erstes für eine abendfüllende Dokumentation einfallen würde... zu unrecht, wie sich herausstellte.
Der anwesende Regisseur Rodney Ascher hat mehrere Leute – dass man nicht erfährt, wen genau, kann man je nach dem als irrelevant oder als Schwäche sehen – zur Verfilmung von Stephen Kings Roman befragt und dabei Erstaunliches erfahren: von Kleindetails bis zu umfassenden Interpretationen.
Eine mögliche Sichtweise auf „The Shining“ wäre zum Beispiel, dass es sich um Kubricks allegorische Verarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den amerikanischen Ureinwohnern handelt. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass das „Overlook“ auf einem Indianerfriedhof gebaut wurde. Während des ganzen Films im Hintergrund verteilte Regalien (Calumet-Backpulverdosen, ausgestopfte Büffel-Köpfe, Häuptling-Portraits, Teppichkunst etc.) lassen diese Interpretation in Ansätzen plausibel wirken.
Stanley Kubrick hatte in den frühen 1990ern bekanntermaßen angefangen, mit „Aryan Papers“ einen Film über den Holocaust zu drehen. Mit „Schindler‘s List“ ließ er sein Projekt als obsolet fallen. Möglich wäre auch – so einer der Interviewten –, dass Kubrick mit „The Shining“ seinen Holocaust-Film bereits gedreht hatte: die apokalyptischen Blutfluten sprechen am offensichtlichsten dafür. Mehrere Überblenden von Personen auf Reisekoffer-Haufen (eine der vielen Holocaust-Ikonographien) und umgekehrt an einer und derselben Stelle weisen subtiler auf eine solche potentielle Interpretation. Dass die riesigen Büchsen „kosher dill“ in der Speisekammer oder das Arrangement der Fleischhaufen im Kühlraum (das tatsächlich an Lager-Schlafbarracken-Bilder erinnerte) keinem Interviewten aufgefallen ist, scheint überaus verwunderlich.

Erheblich abstruser scheint die Interpretation von „The Shining“ als Kubricks persönliche Bewältigung seiner Beteiligung an der Fälschung der Mondlandungs-Bilder, wozu man über Dannys Apollo-Pullover und diverse Zahlenspielereien mit der Raumnummer 237 kommt. Lacher waren hier garantiert.
Mehrere Interpretationen waren zumindest sehr viel ergebnisoffener. Kubrick sei als Mensch mit überdurchschnittlichen intellektuellen Kapazitäten seit Anfang der 1970er Jahre zutiefst gelangweilt gewesen und habe daher angefangen, seine Filme mit noch erheblich mehr mit elaborierten, geradezu manischen Details zu spicken. „The Shining“ sei in diesem Sinne ein strukturelles Sequel von „Barry Lyndon“: ein Meta-Film über ein gelangweiltes, weil intellektuell unterfordertes Genie. Deshalb gäbe es auch in der Szene des Vorstellungsgesprächs einfach mal eine Phallus-Konstruktion, die sich aus dem Kamerawinkel in Verbindung mit einer dunklen Papierablage ergäbe. Auch relativ ergebnisoffen ist die Deutung von „The Shining“ als philosophisches Essay über Vergangenheit.
Wenngleich „Room 237“ vielleicht 20 Minuten weniger ganz gut getan hätten, so war er doch eine schöne Erfahrung. Zunächst hat er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen Film gelenkt, der manchmal wohl etwas zu schnell als „Kubricks Horrorfilm“ abgetan wird und ihm damit eine schöne Hommage geschenkt. Zweitens hat er auch gezeigt, dass ein gutes Kunstwerk in seiner Ausdeutung sich immer sehr schnell von den möglichen Intentionen des Künstlers freimachen kann. Genauso, wie Kubrick den King-Stoff auf persönliche Weise verarbeitet hat, eignet sich der Zuschauer den Film in ganz eigener Art an... Der Beweis erfolgte in einem Q & A mit dem vielleicht großartigsten Zuschauerkommentar aller Zeiten: ob Rodney Ascher bemerkt habe, dass die Deckenverzierung des Kinosaals den Teppichmustern in „The Shining“ ähnlich sei...


Nach spätestens einer halben Stunde bemerkte nicht nur ich, sondern auch luzifus und mein lieber Wien-Gastgeber, dass die Sitze des Gartenbau-Kinos zu streng quadratisch geformt (und daher sehr unbequem) sind und dass Füße und Knie sich permanent an den Vordersitz anstoßen. Länger als anderthalb Stunden hier zu sitzen, sollte sich also theoretisch als die reinste Tortur erweisen. Wir haben aber zu diesem Zeitpunkt noch über drei Stunden vor uns! Dosenbier kann vielleicht etwas Erleichterung schaffen (was sich später als Illusion erweist).


etwa um 02.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
The Shining
UK/USA 1980, 119 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Die ganzen Lacher und Ahas und Ohhs, die während der Vorführung durch das Publikum gingen, wenn eine in „Room 237“ prominent besprochene Stelle kam, waren sicherlich besonders bemerkenswert und der Beweis, dass Filme im Kino geschaut werden sollten. Doch erst richtig einmalig war die 35-mm-Filmkopie: vollkommen ausgewaschen, rotstichig, mit permanenten tiefen Kratzern und teils so schweren Beschädigungen, dass man in manchen Momenten einen Filmriss erwartete.
Meine zweite Sichtung von „The Shining“ war also ein großartiges, einmaliges, und wirklich niemals wiederholbares Erlebnis. Manch Schock-Effekt wurde zwar dank der Verfremdung der schlechten Kopie minimal gedämpft, doch nur im Kino kann man wohl erleben, was für ein PHÄNOMENAL LAUTER Film „The Shining“ eigentlich ist.
Mir ist übrigens aufgefallen, dass auf der roten Männer-Toilette eine Toilettenschüssel im Hintergrund viel zu nahe an der Trennwand der Kabine montiert ist, und daher – zumindest für große Geschäfte – unmöglich nutzbar wäre. Sehr irritierend! Sehr beunruhigend!



... ... zum ersten Mal in meinem Leben das Kino um vier Uhr morgens verlassen. Gehirn fühlt sich wie Matschepampe an. Füße und Knie ebenso. Ins Bett gekommen um 04.30 Uhr, jedoch noch eine Stunde gebraucht, um einzuschlafen...


Samstag 27. Oktober 2012

Das diesjährige Viennale-Tribute befasste sich mit Michael Caine und zeigte zehn Filme des charismatischen britischen Schauspielers. Zwei von ihnen sollten jeweils den Einstieg in den Tag bilden.


12.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Hannah And Her Sisters
USA 1986, 105 Minuten
Regie: Woody Allen

Ein typischer 1970er- und 1980er-Jahre Woody-Allen-Film: es wird massenweise geredet (über Sex, Neurosen und den ganzen üblichen Rest), zwischendurch die Bettpartner gewechselt, es gibt ein bisschen Lustiges, ein bisschen Trauriges, und das ganze plätschert in kleinen Episoden nett vor sich hin. Manch begeistertes und überschwängliches Kritikerlob für Woody Allen kann ich nicht so recht nachvollziehen. Im Kino „Hannah And Her Sisters“ auf einer 35-mm-Kopie zu sehen, war nichtsdestotrotz ein nettes Erlebnis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!


Club-Mate wird auch in Österreich verkauft, wenngleich etwas überteuert. Eine willkommene Pause zu den ganzen üblichen doppelten Espressi.


14.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Sinapupunan (Thy Womb)
Philippinen 2012, 106 Minuten
Regie: Brillante Mendoza

Eine nicht mehr blutjunge Geburtshelferin in einem philippinischen Fischerdorf ist selbst unfruchtbar und fordert ihren Mann dazu auf, sich eine neue Ehefrau zu suchen, die ihm Nachwuchs gebären kann.
Was zunächst narrativ, atmosphärisch und ästhetisch eher wackelig beginnt, entwickelt sich nach einiger Zeit zu einem exzellenten ethnographischen Tableau über Glück und Mühen des Lebens in einem isolierten Fischerdorf. Man könnte, wie etwa mein lieber Kollege luzifus, bedauern, dass der Film über weite Strecken und ganz besonders im Mittelteil seine „eigentliche Story“ und sogar seine beiden Hauptfiguren vergisst. Dieser Verlust des Fokus kann aber auch als große Chance begriffen werden, als Möglichkeit, ein umfassendes Panorama dörflichen Lebens in Südostasien in sorgfältig komponierten Weitwinkelbildern zu entfalten. Den Höhepunkt bildet die lange Vorbereitung einer Hochzeitsfeier (wohlgemerkt: nicht der männlichen Hauptfigur, sondern eines unbekannten jungen Paars) und ihre Durchführung: Einkaufen am Markt, Schlachtung der Tiere, Kochen, die religiöse Vermählung, Baderitual im Meer, die Tanz- und Sing-Zeremonie... Entrückt schöne Bilder aus einer anderen Welt. Ganz ruhig nimmt dann der Film seinen „eigentlichen“ roten Faden wieder auf.
Nebst der wunderbaren Photographie, deren zeitweilige Wackelästhetik allein der Tatsache geschuldet ist, dass der Film entweder in Booten oder auf wackligen Pfahlhütten spielt, sei hier besonders die großartige Darstellung der berühmten philippinischen Schauspielerin Nora Aunor erwähnt. Sie verleiht mit ihrem differenzierten Spiel der Figur der kinderlosen Geburtshelferin und Fischerin eine besondere Würde und Willensstärke. Ein sehr sperriger, aber schöner Film.


Dank der unbequemen Sitze herrscht kurz nach dem Film eine gewisse Unsicherheit darüber, ob ich überhaupt noch Knie und Beine besitze. In die Pause raustorkelnd lässt sich die Frage knapp bejahen. Wir nehmen uns vor, den nächsten Film mit Beinfreiheit in der ganz ersten Reihe zu sehen.


17.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Meanwhile
USA 2011, 60 Minuten
Regie: Hal Hartley

Ups! Wenn man ganz vorne sitzt, ist die Leinwand wirklich riesig. Dürfte aber zu einem kurzen Film passen.
Hal Hartley, eine Gallionsfigur des US-amerikanischen Independent-Kinos der 1990er Jahre, zeigt knapp 24 Stunden im Leben eines End-Dreißiger New Yorkers. Er fliegt aus der Wohnung seiner erheblich jüngeren Freundin raus, unterhält sich an der Brooklyn Bridge mit einer möglicherweise suizid-gefährdeten Frau, kann aufgrund einer Kontensperrung kein Geld abheben und streitet sich deshalb mit einer Gläubigerin, repariert die Schreibmaschine eines Schriftstellers in einer Bar, plant ein großes Geschäft um den Import europäischer Isolierfenster, bietet chiropraktische Hilfestellung an, tritt als Schlagzeuger bei einer Band-Audienz auf und macht noch diverse andere Sachen. Einen Roman mit dem Titel „Meanwhile“, der mindestens um die 700 Seiten hat, hat er auch schon geschrieben.
„Meanwhile“ war gewissermaßen das Gegenstück zu „Vous n‘avez encore rien vu“, der alles verkörperte, was man an Kunstkino hasst. Hartley Film hat hingegen vieles, was wir an Kunstkino mögen: eine augenzwinkernde Leichtigkeit, eine Freude am Filmemachen und an skurrilen Figuren sowie eine Bereitschaft, die Dinge einfach mal assoziativ geschehen zu lassen. Das wirkte nicht zuletzt deshalb erfrischend, weil der Film sich selbst nicht allzu ernst nimmt, und dem Zuschauer gerade deshalb erlaubt, ihn für voll zu nehmen. Vom Mut, nach einer Stunde einfach mal fertig zu sein, könnte sich manch Film eine Scheibe abschneiden. Kein unvergessliches Meisterwerk, sondern eher der nette kleine Indie-Film von nebenan (und mit nebenan meine ich natürlich: New York).


Die Beine und die Knie sind für die tolle Idee, mich in der ersten Reihe hinzusetzen, höchst dankbar. Der Nacken möchte mich hingegen am liebsten umbringen. So was nennt man wohl ausgleichende Ungerechtigkeit.
Auf dem Weg zum bislang noch unbekannten Stadtkino habe ich auf Anraten von luzifus eine Käsekrainer gegessen. Dazu ein Gösser getrunken. Es stellte sich als eine gute Möglichkeit heraus, sich für den nächsten Film zu stärken. Getrübt wurde diese Erhebung lediglich durch den wieder einmal völlig depperten Preis für Wurst und Bier und durch die Tatsache, dass Löcher in meinen Sohlen der Trockenheit meiner Füße in einem überaus regnerischen Wien nicht gerade zuträglich waren.
Auch das Stadtkino drückte mit seinen sanitären Einrichtungen das psychopathologische Malaise der Österreicher gegenüber ihren Toiletten aus, der dem demonstrativen Wienerischen Prunk diametral entgegensteht.


20.30 Uhr, Stadtkino Wien
Student
Kasachstan 2012, 90 Minuten
Regie: Darezhan Omirbayev

Es lässt sich nicht leugnen. Sowjetisches bzw. postsowjetisches Kino hat eine komplett eigene Ästhetik, die sich nur schwer erklären lässt. Verzicht auf Dialoge, absurde Situationen, unverständliche Handlungen ohne Motive und eine Kadrierung, die nur selten das zeigt, was man zu sehen erwartet...
Auch „Student“, der sechste Film des Kasachen Darezhan Omirbayev, weist diese Merkmale auf. Sein Anspruch war es, Dostoevsjkijs „Schuld und Sühne“ auf das moderne Kasachstan zu übertragen. Der titelgebende Student ist von der Transformation der Gesellschaft angeekelt: sozialdarwinistischer Egoismus wird in den Vorlesungen gepredigt, bullige Mafiosi prügeln sich herbei, was sie wollen, während Dichter und Denker in Sozialwohnungen am Rande des Existenzminimums darben. Dass der Student ausgerechnet einen unbedeutenden Kleinladen-Verkäufer und eine junge Kundin erschießt, erscheint völlig sinnlos. Von seinen Motiven erfahren wir nichts, da er von seiner Umwelt so stark entfremdet ist, dass er kaum mit ihr spricht – tatsächlich dürfte der Hauptdarsteller in 90 Minuten vielleicht allerhöchstens zwei mit Großbuchstaben bedruckte A4-Seiten an Dialogzeilen haben. Ein bizarrer und teils verstörender Film: eine Szene, in der ein Gangster mit einem Golfschläger einen Esel erschlägt, der sein Auto aus einem Flussbett gezogen hat, mutet wie viele andere wie absurdes Theater an. Trotzdem vermag „Student“ es nicht, einen mit ungebrochener Anspannung durch die ganzen 90 Minuten hindurch zu fesseln.


Auf dem Weg zum Gartenbau-Kino zurück geht der ohnehin feuchte Regen in ekelhaft matschig-nassen Schneeregen über. Die nassen Füße sorgen für eine entsprechende Stimmung und für die schlechteste Vorbereitung zum Abschlussfilm des Tages.


23.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Che Sau (Motorway)
Hongkong 2012, 90 Minuten
Regie: Soi Cheang

Ein Gangster spielt gerne mit Autos rum. Ein Polizist spielt ebenfalls gerne mit Autos rum, und sein älterer Streifendienst-Partner hat das früher auch gemacht. Dann gibt es irgendeine Flucht aus dem Gefängnis, bei der irgendein geklauter Diamant auch noch eine Rolle spielt.
Mit anderen Worten: das Drehbuch von „Che Sau“ kann man getrost in die Tonne kloppen. Auch die Figuren sind nur holzschnittartige Klischees und daher nur wenig interessant. Bleibt also die Autoverfolgungsjagd-Action. Tatsächlich stellt sich heraus, dass auch da der Regisseur keinen richtigen Bock hatte und die Arbeit einfach seiner anscheinend hyperaktiven Cutter-Crew überlassen hat. Der „Höhepunkt“ des Films ist die wahrscheinlich lächerlichste, dämlichste, bescheuerteste, unansehnlichste, unvisuellste und vor allen Dingen unübersichtlichste Autoverfolgungsjagd aller Zeiten. Ein völlig konsternierender Tagesabschluss. Dabei hatte ich mich so auf einen Autoverfolgungsjagd-Hongkong-Actioner gefreut...


Sonntag 28. Oktober 2012

Die Zeit habe ich umgestellt und wollte anschließend meinen Tagesplan über die Presse-Reservierungshotline zusammenstellen. Von 10.00 Uhr bis kurz vor 11.00 Uhr habe ich wohl mindestens ein Dutzend mal angerufen, nur um das Besetzt-Zeichen zu hören. Und genau an diesem Morgen ist mir aufgefallen, wie absurd schlecht die Viennale organisiert ist. Sogar der City-Pizza-Lieferdienst in Weimar ist mit zwei Nummern besser aufgestellt als der Presse-Service des Internationalen Filmfestivals Wien. Dies sollte sich später am Tag noch an mir rächen.


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
The Quiet American
USA/UK/Australien/Deutschland/Frankreich 2002, 101 Minuten
Regie: Phillip Noyce

Trotz zweier Kaffees intus schaute ich diesen Film mehr in einem dauerhaften Dämmerzustand als wirklich wach. Vielleicht angesichts der tropischen Hitze, des permanenten Saufens, der schwülen Liebesgeschichte und der bedrückenden politischen Lage gar nicht so unpassend. Ein Film, der meiner Meinung nach aus seinem Setting durchaus mehr hätte tun können und letztlich vor allem von der exzellenten Darstellung und der Dynamik seiner beiden Hauptdarsteller Michael Caine und Brendan Fraser lebt.


Ein Dürum-Döner, anschließend ein doppelter Espresso. Hunger gestillt. Müdigkeit nur oberflächlich angekratzt.
„They Wanted To See Something Different. Eine kleine Geschichte des Unheimlichen“ hieß bei der diesjährigen Viennale ein Spezialprogramm mit Retrospektiven-Charakter, der vom deutschen Horrorfilm-Regisseur und Filmkritiker Jörg Buttgereit vorbereitet worden ist. Unter anderem sollten Beispiele des „Kinos des Abseitigen“ wie „Cannibal Holocaust“, „The Hills Have Eyes“, „The Texas Chain Saw Massacre“ und andere gezeigt werden, die in der ganzen Welt als Klassiker gelten, in Deutschland aber teils indiziert bzw. beschlagnahmt sind. Die Terminplanung brachte uns zu einem anderen Film.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
The Thing From Another World
USA 1951, 87 Minuten
Regie: Christian Nyby

John Carpenters Splatter-Horror „The Thing“ von 1982 ist das Remake dieser Howard-Hawks-Produktion. Die Geschichte ist bekannt: ein komischer Außerirdischer taucht in einer Eisstation auf und randaliert rum.
Angeblich ist der Film deshalb so berühmt, weil man das Monster kaum je sieht. Tatsächlich taucht der Mann im lächerlichen Kostüm etwas zu oft auf. Der Rest des Films sieht bzw. hört sich wie die Adaption eines Hörspiels. So unfassbar dialoglastig und unvisuell er war, lud er dazu ein, seine Augen zu schließen und dem Sekundenschlaf nachzugeben. Ed Wood-Filme sind vielleicht noch erheblich unkohärenter, aber wenigstens sehr viel unterhaltsamer!


„Was hätte sein können, Teil 1“: nach „The Quiet American“ wäre wahrscheinlich für ein Dürum und ein Espresso keine Zeit mehr geblieben, da wir zum Gartenbau-Kino hätten rennen müssen, um folgendes zu sehen:


13.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Donovan‘s Reef
USA 1963, 109 Minuten
Regie: John Ford

Die Vorstellung, einen John-Wayne-Film von John Ford auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino zu sehen, entbehrt nicht eines gewissen Reizes... um es mal im Sinne eines Understatements auszudrücken. Nicht zuletzt terminliche Gesichtspunkte haben für „The Thing From Another World“ gesprochen, aber auch natürlich die relative Bequemlichkeit der Sitze im Metro-Kino und der ganz eigene Reiz, einen Sci-Fi-Klassiker mit Trash-Elementen auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino sehen zu können. Im Nachhinein ist man immer klüger!


Aufgrund der vorher geschilderten Reservierungsprobleme kamen wir für eine geplante Vorstellung im Urania-Kino um 16.00 Uhr nur auf die Warteliste. Ich war die Nummer 6, luzifus die Nummer 7. Um 15.55 wurde die Liste aufgerufen und die Tickets verteilt... und zwar bis zur Nummer... 5! Die beiläufige Bemerkung der Mitarbeiterin, dass wir hätten reservieren müssen, führte fast zum Amoklauf: unter Schlafmangel leidende Filmfreaks, die durch einen Overkill an Filmen und einer Überdosis an starkem Kaffee völlig zugedröhnt sind, sollte man eigentlich nicht so freimütig provozieren. Das Niederbrennen des Urania-Kinos erschien uns als Rache zwar ganz sinnvoll, zumal hier völlig überdimensionierte, ewig lange und verschwenderisch prunkvolle Treppen wieder einmal zu Toiletten führten, die das Wort Klaustrophobie neu definiert haben. Wir suchten dann aber doch nach weniger gewalttätigen Alternativen. Während luzifus für Fäkalstreiche optierte, entschied ich mich für die dadaistische Variante: ich überlegte, bei City Pizza Weimar eine Bestellung für das Urania-Kino in Wien aufzugeben. Was schließlich folgte, war ein Aufenthalt in unserem Lieblingscafé bei starkem Kaffee und leckerem Kuchen. Leider auch keine richtige Alternative zu „Was hätte sein können, Teil 2“:


16.00 Uhr, Urania-Kino Wien
Killer Joe
USA 2011, 103 Minuten
Regie: William Friedkin

Am 2. November erscheint der Film in Deutschland auf DVD und Blu-Ray. Insofern zeugt auch „Killer Joe“ davon, dass die Viennale nicht immer das Allerfrischeste an Filmen präsentiert. Eine überaus sprachgewaltige, metaphernreiche  und lustmachende Kritik, die wir im Zug in Richtung Wien gelesen hatten, versprach jedoch ein lustig-durchgeknallt-krankes Kinovergnügen. Stattdessen also: bis bald auf DVD.


18.30 Uhr, Filmmuseum Wien
Man Hunt
USA 1941, 100 Minuten
Regie: Fritz Lang

Noch einmal etwas mit Lang und Nazis. Diesmal dreht sich die Geschichte um den Briten Thorndike, der an der deutsch-österreichischen Grenze mit einem Zielfernrohr-Jagdgewehr unterwegs ist und Adolf Hitler ins Visier nimmt (ein früher und spannender POV durch ein Fernrohr mit Fadenkreuz). In Gefangenschaft geraten, wird der Jäger gefoltert und dazu animiert, ein Geständnis zu unterschreiben, wonach er im Auftrag der britischen Regierung Hitler ermorden sollte. Dies lehnt er ab und kann schließlich fliehen. Doch die Nazis heften sich dicht an seine Fersen.

Ein eher unbekannterer Film des Meisters, der wegen seiner eindeutigen Anti-Nazi-Haltung in den damals noch neutralen USA nur ungern gesehen wurde, zumal auch noch das Production Code Office an der Figur der Prostituierten, die Thorndike bei der Flucht hilft und sich in ihn verliebt, Anstoß nahm. Eine Nähmaschine musste also in ihr Zimmer gestellt werden, damit der Zuschauer sie für eine Näherin hielt!
Ganz ohne die großen Ambitionen von „Hangmen Also Die!“, der vergleichsweise sperriger ist, inszenierte Fritz Lang hier einen überaus spannenden Hetzjagd-Thriller, der von den herrlichen komödiantischen und romantischen Szenen mit der Cockney-sprechenden Prostituierten aufgelockert wird – teilweise gar zu stark. Was an psychologischen Tiefgang fehlt, macht Lang mit seinen kontrastreichen Hell-Dunkel-Kompositionen wieder wett. Der Action-Höhepunkt ist eine Verfolgungsjagd in der Londoner U-Bahn, die mit einem tödlichen Kampf auf der Fahrtbahn endet. „Man Hunt“ ähnelt ein wenig dem ein Jahr zuvor präsentierten „Foreign Correspondent“ Alfred Hitchcocks, und sollte den Vergleich keineswegs scheuen.


Vor dem nächsten Fritz-Lang-Film mit Hitchcock-Vergleichs-Potential ging es in eine eisige Kälte raus, um bei einer Würstchen-Bude um die Ecke den cinephilen Hunger zu stillen. Ein Filmmuseum-Espresso später konnte es dann auch weiter gehen.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Secret Beyond The Door
USA 1947, 99 Minuten
Regie: Fritz Lang

Blaubart trifft auf Fritz Lang trifft auf Hitchcocks „Rebecca“: Eine junge Frau in Trauer namens Celia – sie hat gerade ihren Bruder verloren – heiratet Hals über Kopf den dahergelaufenen Architekten Mark. Schnell merkt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist: die Hochzeitsnacht läuft im weitesten Sinne „unbefriedigend“, Mark verheimlicht seine geschäftlichen Probleme, in seinem Anwesen tauchen plötzlich skurrile Figuren wie eine überaus dominante Schwester, ein nicht erwähnter Sohn aus erster Ehe, eine Sekretärin mit entstelltem Gesicht sowie der Geist einer wohl nicht ganz natürlich verstorbenen ersten Ehefrau auf und der Ehemann sammelt gerne Zimmer, in denen berühmte Morde stattgefunden haben. Kein Wunder, dass in jeder Szene mindestens einmal ein Schatten Joan Bennetts Gesicht verdeckt.

„Secret Beyond The Door“ ist ein Film, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass mehr dahinterstecken könnte oder sollte. Tatsächlich sollte ursprünglich das Voice-Over von Celias innerer Stimme nicht von der Celia-Darstellerin Joan Bennett gesprochen werden, sondern von einer anderen Frau, um damit die Zerrissenheit der Hauptfigur auf beunruhigendere Weise deutlich zu machen. Auch der Schluss vermag angesichts seiner fast konsternierenden Banalität kaum zu überzeugen. Dies wiegt umso mehr, als dass der konsequent aus der Sicht Celias erzählte Film etwa 20 Minuten vor Schluss – nach einer Bedrohungssituation mit offenem Ende – die Perspektive radikal ändert und Mark zum Erzähler macht. Für einige wahrhaftig großartige Minuten verläuft „Secret Beyond The Door“ in einer Art schlafwandlerischen und verrückten Autopilot voller Ambivalenzen, löst sich dann aber leider wieder in Wohlgefallen auf, statt konsequenter und mutiger im kompletten Wahnsinn zu enden.
Aus dem Vergleich mit dem thematisch und atmosphärisch sehr ähnlichen „Rebecca“ (der sich freilich ebenso am Schluss in Wohlgefallen auflöst) geht „Secret Beyond The Door“ eindeutig als Verlierer hervor. Zurück bleibt kein schlechter Film, aber einer, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass er sein Potential nicht ausgenutzt hat. 


Antriebslos und müde raus. Was nun?


23.30 Uhr, Urbania-Kino Wien
Gimme The Loot
USA 2012, 81 Minuten
Regie: Adam Leon

Was es so mit „Gimme The Loot“ auf sich hat, habe ich vorerst nicht erfahren. Er hätte als letzte Spätvorstellung noch gut gepasst. Müdigkeit und unsichere U-Bahn-Pläne haben letztlich dazu geführt, dass die letzten physischen Ressourcen für die Suche nach einer Kneipe verwendet wurden... für ein überteures und nicht übermäßig gutes Bier... Gute Nacht und wieder aufstehen um 07.00 Uhr, diesmal für die Heimfahrt.


Fazit
Insgesamt hatte ich ein bisschen mehr von der Viennale erwartet. Richtige Knaller jenseits der Retrospektiven sind im Grunde ausgeblieben und irgendwie blieb das unangenehme Gefühl, dass der beste aktuelle Film dieser Reise... „Skyfall“ war. „Sinapupunan“, „Meanwhile“ und „Student“ waren bestimmt sehr interessante Filme, die jedoch eine Reise von über 700 Kilometern (bzw. über 1500 Kilometern mit Rückfahrt) nicht vollends zu rechtfertigen vermögen. Der Anteil der absoluten Totalgurken war mit einem Film pro Tag gut sichtbar, während das wohlige Gefühl, mehrere Filme auf 35-mm-Kopien zu sehen, meine subjektive Bewertung der Filme selbst oft übertraf – von „The Shining“ abgesehen. Ich kann mich jedoch sehr über meine Fortschritte im Bereich des „Amerikaners Fritz Lang“ freuen. Vor drei Jahren hätte ich mich wohl noch zu der blödsinnigen, banausigen und vorurteilsbeladenen Aussage verführen lassen, dass Fritz Lang in den USA nur noch Grütze inszeniert hat. Im Rahmen einer persönlichen film noir-Retrospektive habe ich dieses Jahr mit „Scarlet Street“ und „The Big Heat“ einen überaus interessanten und spannenden Fritz Lang jenseits von „Metropolis“ und „M“ entdeckt. Die vier bei der Viennale gesichteten Langs haben meine Absicht bekräftigt, mich mehr mit seinen „Amerikanern“ zu beschäftigen, die schließlich quantitativ fast zwei Drittel seines Oeuvres umfassen. Das ist immerhin etwas. Eine Wiederholung der Reise dürfte also vom Retrospektiven-Programm abhängen... denn Wien wird bis dahin nicht günstiger werden und seine Toiletten wahrscheinlich nicht geräumiger.

Donnerstag, 1. November 2012

"Whoknows" Bruno Vögelin ist tot

Leider muss ich euch mitteilen, dass Bruno, der in der Blogger-Szene als "Whoknows" auftrat, am letzten Sonntag gestorben ist. Er hatte vor ungefähr einem Monat einen Schlaganfall und lag seitdem im Krankenhaus. David und ich hatten nur indirekt über Telefonate mit seiner Mutter, die er hier gelegentlich als "Splatter-Mutti" vorstellte, Informationen über seine Lage. Besserung war nicht in Sicht, aber er war bei klarem Verstand, und sein Zustand schien stabil, aber heute habe ich wieder angerufen und musste erfahren, dass er nach Komplikationen gestorben ist. Die meisten von euch haben ja schon seinen Bericht über seine letzte größere Krise gelesen und wussten, dass er gesundheitlich angeschlagen war. Schon zuvor hatte sich abgezeichnet, dass er vielleicht bald keine Artikel mehr schreiben würde, weil er durch seine Krankheit und die Medikamente, die er nehmen musste, die nötige Energie und Konzentration nicht mehr aufbrachte. Aber dass es jetzt so kam, war vor ein paar Wochen noch nicht absehbar.

Im Dashboard stehen schon seit längerem zwei fertige Artikel von Bruno. Die wollte er eigentlich erst nach einem Text über einen Film von Buñuel bringen, den er begonnen hatte, aber nicht mehr fertigstellen konnte. Ich denke, es ist in seinem Sinn, wenn diese beiden Artikel noch veröffentlicht werden, deshalb werde ich sie in nächster Zeit reinstellen.

Tja, was soll ich noch sagen? Ich habe Bruno nicht persönlich gekannt, die Kommunikation verlief per Email. Meine Aufnahme hier Anfang letzten Jahres war sehr herzlich und verlief völlig problemlos. Meinungsverschiedenheiten hatten wir eigentlich nie. So kann ich mich nur nachträglich für die gute Zusammenarbeit bedanken.

Samstag, 20. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 2: Madrid Machete Massacre

BALADA TRISTE DE TROMPETA (Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod)
Spanien/Frankreich 2010
Regie: Álex de la Iglesia
Darsteller: Carlos Areces (Javier, der traurige Clown), Antonio de la Torre (Sergio, der lustige Clown), Carolina Bang (Natalia)


Ein Soldat tötet mehrere Dutzend gegnerische Krieger in einem Gefecht – in einem entfesselten und gnadenlosen Bürgerkrieg keine wirklich bemerkenswerte Tatsache. Eher außergewöhnlich ist jedoch, dass es sich um einen lustigen Clown in einem Frauenkleid handelt, der sein blutiges Handwerk mit einer Machete verrichtet. Wenige Minuten zuvor hatte er noch kleine Kinder mit einer etwas traditionelleren Clowns-Aufführung unterhalten. Die republikanische Einheit, die ihn rekrutiert hatte, verliert das Gefecht und der Clown wird von den Faschisten gefangen genommen. Seinen kleinen Sohn schwört er darauf ein, sein Dasein fortan als traurigen Clown zu fristen und ihn zu rächen. Jahrzehnte nach der Etablierung der franquistischen Diktatur heuert der nun erwachsene und leicht pummelige Javier bei einem Wanderzirkus als trauriger Clown an. Sein Vorgesetzter, der lustige Clown Sergio, entpuppt sich als unberechenbarer Psychopath, der seine Umgebung und ganz besonders seine Freundin, die Trapez-Künstlerin Natalia, mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen terrorisiert. Natalia erträgt den Zirkus-Tyrannen mit geradezu stoischer, sogar latent masochistischer Gelassenheit, versucht aber auch offen mit Javier anzubandeln. Der lustige Clown findet dies alles andere als lustig und bearbeitet den traurigen Clown mit einem Vorschlaghammer. In dem Moment, wo er wieder auf zwei Beinen stehen kann, flüchtet Javier (in einem Hinten-Ohne-Krankenhaushemd) aus dem Hospital. Er überrascht Sergio und Natalia beim Liebesspiel (oder bei einer Vergewaltigung) und bearbeitet wiederum seinen Vorgesetzten mit einer Trompete.


Dies ist der Moment, wo es erst richtig absurd wird. Nach dem Angriff auf Sergio flieht Javier in den Wald und lebt von da an monatelang völlig nackt, wie ein Urmensch, in einer Jägerhöhle. Hier wird er von einem Oberst aus dem direkten Umfeld des Diktators Franco bei der Jagd entdeckt. Javier wird zum Jagdhund degradiert, der das geschossene Wild in seinem Maul apportieren soll. Doch er rebelliert und beisst dem Caudillo höchstpersönlich in die Hand. Er schmeckt Blut und nach einer Halluzination, in der Natalia ihn auffordert, zum Todesengel zu werden, verpasst er sich ein schickes „permanent make up“, schlüpft in ein karnevaleskes Bischofskostüm und zieht schwer bewaffnet und wild um sich ballernd durch die Straßen Madrids.

„Balada triste de trompeta“ ist keineswegs ein Meisterwerk, aber sowohl als künstlerisch anspruchsvoller Film wie auch als Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit Spaniens sollte man den Film jedoch ernst nehmen. Gerade die Opening Credits (hier zu sehen) erscheinen als ein Manifest für einen kreativen cinematographischen Umgang mit Geschichte, der auch aus der Perspektive der Erinnerungskultur absolut sinnvoll erscheinen kann. Die Vermengung von verfremdeten Fotografien aus dem Bürgerkrieg und der franquistischen Zeitgeschichte mit faschistischen Insignien, Darstellungen des katholischen Klerus sowie spanischer Kulturpersönlichkeiten, Fahndungsfotos von ETA-Terroristen, Werbebilder für Strandurlaub und nicht zuletzt Screenshots angelsächsischer Horrorfilme in einer Montage-Sequenz ist zwar oberflächlich gesehen geschmacklos, provozierend, und politisch unkorrekt. Der Zeitzeuge Iglesia kann sich aber gut daran erinnern, dass er als Kind an einem Abend eine Komödie und einen Horrorfilm im Fernsehen sah, mit dazwischen ausgestrahlten Nachrichten, ohne, dass er diese Eindrücke analytisch ordnen und filtern konnte. Die Horrorfratze von Frankensteins Monster neben das Antlitz Francos zu stellen erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur aus künstlerischer Perspektive anregend. Iglesia hat eben nicht „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen, weil er überhaupt nicht nach Authentizität sucht, sondern zutiefst persönliche Erinnerungen, Visionen und Obsessionen cinematographisch umsetzt – damit versucht eben nicht wie manch anderer, seinen Film als „authentisch“ zu legitimieren und zu adeln. Davon abgesehen weist der Regisseur in den Opening Credits auf sehr provokante Art und Weise auf die enge Verflechtung der katholischen Kirche mit dem Franco-Regime.


Nichtsdestotrotz liegt natürlich die Allegorie auf die Diktatur Francos auf der Hand: das franquistische Spanien erscheint hier als chaotischer Zirkus, das von einem tyrannischen lustigen Clown regiert wird – eine Vorstellung, die Menschen mit akuter Coulrophobie wohl ganz besonders beunruhigend finden dürften. Dieses System erscheint als die Hölle auf Erden: die Untertanen, die alle wie kleine Kinder behandelt werden, sind gezwungen, die ganze Zeit über die schlechten Witze des Oberclowns lachen. Das Nichtlachen erscheint dabei als Akt radikalen Widerstandes. Javier ist beim ersten auswärtigen Essen mit seinen neuen Arbeitskollegen der einzige, der über Sergios Witz mit dem zermatschten Kind nicht loslacht. „Ein Volltrottel versaut uns den Abend, weil er den Witz nicht versteht“, meint der lustige Clown daraufhin und verprügelt vor den Augen aller anwesenden Zirkuskollegen seine Freundin Natalia. Über die Mechanismen passiver Akzeptanz gegenüber einer Diktatur durch Gruppendynamik, ja gar über den Rückhalt oder die Massenbasis des Franquismus in der spanischen Gesellschaft ist diese schockierende Szene wahrscheinlich sehr viel aussagekräftiger, als man auf den ersten Blick denken könnte – auf jeden Fall aussagekräftiger als so „realistische“ „Das Leben der Anderen“, in dem es keinerlei Gesellschaft gibt, sondern nur böse Individuen und gute Individuen.

Die gemarterte Natalia drängt sich geradezu als Inkarnation der spanischen Nation auf. Regelmäßig wird sie von Sergio verprügelt und vergewaltigt. Ihre Reaktionen auf die Gewalttaten sind ambivalent. Sie nimmt ihren brutalen Freund in Schutz: er würde nur unter Alkoholeinfluss gewalttätig (dabei trinkt er natürlich jeden Tag). Sie scheint auf fast masochistische Weise die Gewalt zu genießen, leckt ihr eigenes Blut. Und doch rennt sie immer wieder vor dem Gewalttäter weg, zu Javier: „Bei dir fühl ich mich anders, so geborgen.“ Javier selbst ist schließlich das ungerade Element, das in einem Iglesia-Film natürlich nicht fehlen kann. Vielleicht ist gerade er noch mehr die Verkörperung Spaniens als Natalia, da er im Film nacheinander multiple Rollen ausfüllt: Bürgerkriegs-Waise, resignierter Untertan, politischer Oppositioneller, Öko-Eskapist, Terrorist, Faschist, Pieta der Nation.

„Balada triste de trompeta“ kann auch als Rache- bzw. Amoklauf-Thriller gesehen werden, geht es doch letztlich auch um einen Mann, der unter den Bedingungen der Diktatur seine Trauer, seinen Zorn und seine Frustrationen in sich fressen musste und zur tickenden Zeitbombe wurde. Und der schlußendlich mit einem Schlag wirklich explodiert und fürchterliche Gewalttaten begeht. In seinem Blutrausch wird Javier selbst zum Faschisten und er gibt dies schließlich Natalia gegen Ende des Films offen zu: er wolle wie Sergio werden, auf dass sie ihn, den traurigen Clown, begehre. Im Gegensatz zu Gerd Wiesler wird Javier für seine Sünden vom Regisseur auf eine fast klassisch moralische Art zur Verantwortung gezogen: er wird zum ewigen Traurigsein verurteilt. Dem Schlachtfeld, das Javier und Sergio in ihrem Endkampf (hochsymbolisch: auf dem Heiligen Kreuz beim "Tal der Gefallenen") gegeneinander gelassen haben, ist schlussendlich auch Natalia/Spanien zum Opfer gefallen: durch eine Zweiteilung. In der erschütternden finalen Filmszene sitzen sich die beiden völlig entstellten Clowns in einem Polizeiwagen gegenüber. Der arg entstellte Leichnam Natalias wird vor ihnen Augen abtransportiert. Sergio fängt an zu lachen, während Javier bitter zu weinen beginnt. Lachen und Weinen können aber nahe beieinander liegen: bei der Erstsichtung schien mir, dass beide lachten. Erst die Zweitsichtung machte deutlich, dass Javier von einem hysterischen Lachen in ein verbittertes Weinen gleitet. Wie diese ambivalente Schlussszene auch immer zu interpretieren ist – vielleicht als zynischer Kommentar darüber, dass sich die führenden Franquisten lachend vor der Verantwortung für ihre Massenverbrechen entziehen konnten –, sie entlässt den Zuschauer mit einem höchst unguten Gefühl aus dem Film. Dieses extreme Unbehagen ist ein weiterer Punkt, der „Balada triste de trompeta“ emotional radikaler und intellektuell anregender macht als „Das Leben der Anderen“.


Vielleicht ist aber Iglesia trotzdem mit der Transition zufrieden – nicht in allen Aspekten, jedoch in ihrer grundlegenden, friedlichen Form. Sein Film lässt sich schließlich auch als ein kontrafaktisches Experiment sehen: was, wenn es einen zweiten Bürgerkrieg gegeben hätte? „Balada triste de trompeta“ spielt dabei auch sehr direkt auf den urbanen Terrorismus der baskischen ETA an (Iglesia ist übrigens selbst baskischer Herkunft). Diese wählte einen gewaltsamen Weg des Widerstandes gegen den Franquismus. Ihr berühmtestes Attentat in der Franco-Zeit war die Ermordung des Regierungspräsidenten und informellen Stellvertreter Francos, Luis Carrero Blanco. Das Bombenattentat auf seine Limousine wird im Film auch dargestellt und bildet einen Hintergrund für den urbanen Amoklauf Javiers. Während dieser zum Titelthema aller Medien avanciert, wird Sergio zu einer fast bemitleidenswerten Figur. Die Bearbeitung seines Gesichts mittels einer Trompete hat eine erstaunliche Wandlung herbeigeführt. Sie hat ihm die hübsche Maske des lustigen Verführer-Playboys und Alpha-Männchens entrissen. Übrig geblieben ist ein hässlicher Freak, der kleine Kinder mit seinem entstellten Gesicht zwar erschrecken kann, von den Erwachsenen jedoch ausgelacht und gemieden wird. Dies ist ein überaus interessanter Kommentar des Zeitzeugen Iglesia auf den seit Anfang der 1970er Jahre immer offensichtlicheren körperlichen Verfall Francos, der sich vor allem gegen Ende zunehmend als geradezu groteskes und latent peinliches öffentliches Spektakel gestaltete. Der Clown hatte ausgedient, der Clown ging.

Die Gewalt im Film ist omnipräsent, extrem, unberechenbar und zerstört manchmal jäh Momente des Lachens oder der Rührung. Was manch Zuschauer als unnötige Übertreibungen ansieht, fängt im Grunde sehr viel ein über die latente Gewalt des Franquismus, einem Regime, das zwar ab den 1950er Jahren individuellere Formen der Repression ausübte, dessen Gründungsjahre jedoch von Massenterror geprägt waren. Subtil ist eine solche Darstellung nicht, doch sie drückt wahrscheinlich einiges über die Traumatisierungen der spanischen Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg aus.

Wie eingangs erwähnt ist „Balada triste de trompeta“ keineswegs ein Meisterwerk. Das liegt vor allem an einem sehr grundlegenden Problem seiner Machart – der Film leidet an einer Wohlstandskrankheit, die seit mehreren Jahren vor allem in Actionfilmen grassiert: Shakycameritis. Die Wackelkamera wird ja immer wieder gerne zwecks „Realismus“ oder „Immersion“ herangezogen („als wäre man mittendrin im Geschehen“). Dabei wird gerne übersehen, dass es für die meisten Menschen nicht sehr realistisch ist, mit drei Promille Blutalkoholkonzentration durch die Gegend zu torkeln (das Gefühl, dem die ausgerechnet dafür von Karl Freund und Friedrich Wilhelm Murnau erfundene Shakycam wohl am nächsten kommt). Richtig unerträglich, mittlerweile aber von manchen Kritikern gar als „state of art“ bezeichnet, wird die Wackelkamera in Kombination mit Nah- bzw. Extremnahaufnahmen und Stakkato-Schnitt im Dreiviertelsekunden-Takt. Leider sabotiert sich „Balada triste de trompeta“ selbst, indem er diesem völlig lächerlichen und nervenden Trend immer wieder nachgibt. Das führt dazu, dass die Eingangs-Szene mit dem Macheten-Clown ein unübersichtliches Misch-Misch aus zittrig-unfokussierten Bildern ist, statt eine gute Action-Sequenz, die der Absurdität ihres Inhalts entsprechen würde. Immer wieder dringt diese Tendenz durch, und zerstört damit sowohl jegliche plastische Räumlichkeit der Bilder wie auch Entfaltungsmöglichkeiten für die durchgehend überzeugenden Darsteller.

Nicht zuletzt verlängert Shakycameritis auch die gefühlte Länge des Films massiv. Wer vor einer Leinwand voller Bilder sitzt, deren visueller Informationsgehalt gegen Null tendiert, langweilt sich tendenziell schneller. Das liegt aber sicherlich auch daran, dass dem Film eine gewisse Straffung des Drehbuchs gegen Ende wohl gut getan hätte. Was die Bilder an Emotionen jedoch nicht einfangen können, kann die absolut großartige Musik Roque Baños‘ zum Teil wieder wettmachen (hier ein Hörbeispiel). Sie etabliert sich mit ihrem einfachen Leitmotiv als ruhigen, melancholischen und nachdenklichen Kontrapunkt gegen den grotesken Gehalt der Handlung.

„Balada triste de trompeta“ spielt auf das Lied „Balada de la trompeta“ aus dem spanischen Musical-Film „Sin un adios“ aus dem Jahre 1970 an (hier der Ausschnitt). Dieser Film läuft in einem Kino, das Javier während seines Amoklaufes besucht. Der Ausschnitt des Films, den er sieht, rührt ihn zu Tränen: seit seiner Verwandlung der einzige Moment, in dem er kurz innehält – bevor er wenige Sekunden später freilich einem anderen Kinozuschauer die halbe Hand wegreisst. Der deutsche Verleihtitel ist vielleicht griffiger und kürzer als der Originaltitel, dieser jedoch fängt die tiefe Grundmelancholie und die Traurigkeit – die immer wieder von Groteske und Gewalt unterbrochen werden – des Films sehr viel passender ein. Endet „Balada triste de trompeta“ doch schließlich damit, dass eine Figur weint, wie vielleicht noch nie jemand in einem Film geweint hat...

Freitag, 12. Oktober 2012

Ditte - Neorealismus auf Dänisch

DITTE MENNESKEBARN (BRD-Titel DITTE - EIN MENSCHENKIND, DDR-Titel DITTE MENSCHENKIND)
Dänemark 1946
Regie: Bjarne Henning-Jensen
Darsteller: Tove Maës (Ditte), Edvin Tiemroth (Lars Peter Hansen), Karen Lykkehus (Sørine), Karen Poulsen (Maren), Rasmus Ottesen (Søren), Ebbe Rode (Johannes), Maria Garland (Karen), Preben Neergard (Karl), Kai Holm (Wirt), Jette Kehlet (= Jette Ziegler, Ditte als Kind)


Das mit dem Neorealismus sollte man nicht zu wörtlich nehmen: DITTE MENNESKEBARN ist keine Kopie italienischer Klassiker wie OSSESSIONE oder ROM, OFFENE STADT; andere Hauptwerke des Neorealismus wie FAHRRADDIEBE oder BITTERER REIS entstanden ohnehin etwas später. (Wenn ich überhaupt irgendeinen italienischen Film als Vergleich heranziehen müsste, dann vielleicht am ehesten LA STRADA.) Aber DITTE MENNESKEBARN durchzieht in Handlung und Bildsprache ein realistischer Gestus; der Film reiht sich damit nahtlos ein in die realistische Strömung, die in etlichen europäischen Ländern, vor allem eben in Italien, den Film der Nachkriegszeit prägte - laut dem Filmhistoriker Ib Monty ist DITTE MENNESKEBARN der erste dänische Film, für den das zutrifft. Einzelne Szenen scheinen dem zuwiderzulaufen, vor allem eine kurze Traumsequenz, in der sich Ditte als Aschenputtel sieht, die vom Prinzen erwählt wird. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch: Es ist gerade die im Film geschilderte bittere soziale Not, die solche Träume gebiert. Es gibt keinen einzelnen großen Spannungsbogen, sondern der episodisch aufgebaute Film folgt dem Leben seiner Heldin von der Geburt bis zum Alter von vielleicht 16 oder 17 Jahren.

Mit Geld regelt sich alles
DITTE MENNESKEBARN ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Andersen Nexø (gelegentlich auch Nexö geschrieben), des bedeutendsten dänischen Arbeiterschriftstellers, von dem auch die Romanvorlage zu Bille Augusts PELLE, DER EROBERER stammt. Um genau zu sein, der Film beruht auf den ersten drei Bänden des Romans, der von 1917 bis 1921 in fünf Bänden erschien. Andersen Nexø war zunächst Sozialdemokrat, nach dem ersten Weltkrieg dann Kommunist (er verbrachte seine letzten Jahre in der DDR, wo er etliche Ehrungen erhielt), und er schildert in seinen Romanzyklen die harschen Lebensbedingungen der dänischen Arbeiter, Bauern und Fischer und die krassen Klassengegensätze in den Zeiten vor und nach der vorletzten Jahrhunderwende. Während etwa seine Romanhelden Pelle oder Morten Kämpfernaturen sind, übernimmt Ditte die Opferrolle, mit der sie alle Unbill klaglos erträgt.

Klein-Ditte und ihre Großmutter
Der humanistische Geist, der Martin Andersen Nexøs Romane durchzieht, wurde von den Henning-Jensens souverän auf den Film übertragen. DITTE MENNESKEBARN ist ein Familienunternehmen: Bjarnes Frau Astrid Henning-Jensen, seit 1938 mit ihm verheiratet, war Regieassistentin. Beim nächsten und drei weiteren Spielfilmen des Paars fungierte Astrid als gleichberechtigte Co-Regisseurin, wie schon zuvor bei einigen Dokumentarfilmen, und auch bei DITTE MENNESKEBARN dürfte ihr Anteil an der Inszenierung größer gewesen sein, als es der offizielle Titel der Regieassistentin nahelegt. DITTE MENNESKEBARN machte das Paar auch international bekannt, und Astrid überflügelte Bjarne bald an Bedeutung. Während er sich nach den gemeinsamen Filmen mit Astrid in den 50er Jahren wieder dem Dokumentarfilm zuwandte, mit dem er Anfang der 40er Jahre begonnen hatte, inszenierte sie seitdem ihre Spielfilme alleine, und sie wurde die bekannteste dänische Regisseurin ihrer Zeit. Nach einigen Flops in den 60er Jahren sank ihr Stern, aber mit Alterswerken wie VINTERBØRN (dt. WINTERKINDER) lief sie wieder zu großer Form auf. Für diesen Film gewann sie 1979 bei der Berlinale einen Silbernen Bären für die beste Regie, und 1981 saß sie in Berlin in der Jury.

Ditte bekommt einen Papa
DITTE MENNESKEBARN beginnt mit Dittes Geburt. Ihre Mutter Sørine, die Tochter eines armen Fischers, ist nicht verheiratet. Der Vater des Kindes ist der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, und er denkt nicht daran, Sørine zu ehelichen. Ihr Vater Søren bricht entschlossen zum Gutshof auf, um den Kindsvater zur Hochzeit mit seiner Tochter aufzufordern, aber als er kleinlaut zurückkehrt, hat er nur ein Bündel Geldscheine in der Hand, mit dem er abgespeist wurde, und damit ist die Sache erledigt. Die uneheliche Geburt wird auch offiziell in der Geburtsurkunde festgehalten - ein Stigma, das Sørine und Ditte ein Leben lang anhaften wird. Um die 200 Kronen vom Gutsbesitzer nicht vorschnell aufzubrauchen, werden sie in eine Bettdecke eingenäht, und Søren, der sich eigentlich schon aufs Altenteil zurückgezogen hat, beginnt wieder als Fischer zu arbeiten. Doch die schwere Arbeit zehrt an seinen Kräften, und nach einigen Jahren stirbt er an Erschöpfung. Ditte, jetzt ca. vier oder fünf Jahre alt, lebt nun allein bei ihrer Großmutter Maren, der Witwe von Søren. Sørine lebt und arbeitet anderswo, um dem Gerede im Dorf zu entgehen, und hat kaum Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Tochter. Ditte und Maren stützen sich im schweren Alltag gegenseitig und haben ein inniges Verhältnis zueinander, aber Ditte leidet darunter, dass sie keinen Vater hat wie all die anderen Kinder. Umso mehr freut sie sich, als der Fisch- und Lumpenverkäufer Lars Peter Hansen bei Maren auftaucht und erzählt, dass er mit Sørine zusammenlebt und sie heiraten will. Lars Peter ist ein einfacher, aber ungemein liebenswerter Mann, der sich sofort mit Maren und Ditte versteht. Etwas später will Sørine Ditte zu sich holen. Lars Peter ist der Meinung, dass sie eigentlich bei Maren besser aufgehoben ist, aber Sørine setzt sich durch, und so zieht Ditte zu Lars Peter und ihrer durch die lange Trennung entfremdeten Mutter.

Familienleben im Krähennest
Einige Jahre später. Lars Peter und Sørine, inzwischen verheiratet, haben drei weitere Kinder bekommen, und Ditte muss bei der Versorgung ihrer Stiefgeschwister mithelfen, was sie aber gerne übernimmt. Sørine ist durch die Arbeit und die Armut permanent überlastet, durch den niedrigen sozialen Status ihrer Familie verbittert, und ihr Verhältnis zu Ditte bleibt unterkühlt. Als sie Ditte wegen einer Lappalie übel verprügelt, verhindert Lars Peters energisches Eingreifen weitere derartige Exzesse. Eines Tages erinnert sich Sørine an die 200 Kronen, die noch immer in der Bettdecke eingenäht sind, und teils aus Not, teils aus Gier fordert sie von Maren die Herausgabe. Diese weigert sich, weil sie das Geld erst der erwachsenen Ditte als eine Art Mitgift aushändigen will. Es kommt zum Kampf um das Geld, und im Tumult erwürgt Sørine die eigene Mutter, mit Ditte als unfreiwilliger Zeugin. Ditte sagt zu niemandem etwas, und Sørine tut so, als ob nichts gewesen sei. Aber Nachbarn haben ihre Anwesenheit bemerkt, und bald wird Sørine von der Polizei abgeholt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.

Sørine; neues Familienmitglied: Johannes
Ditte muss jetzt vollends die Mutterrolle für ihre Geschwister ausfüllen. Im bescheidenen Anwesen der Hansens, das von den Nachbarn abfällig "Krähennest" genannt wird, taucht ein viriler und flamboyanter Scherenschleifer auf. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Lars Peters Bruder Johannes, zu dem er schon sehr lange keinen Kontakt mehr gehabt hat. Johannes wird zum Bleiben eingeladen, und er revanchiert sich mit der Geschäftsidee, sich zusammen mit Lars Peter als Abdecker und Pferdemetzger für die reicheren Bauern der Gegend zu betätigen. Zunächst kommt dadurch tatsächlich Geld herein, doch der unstete Johannes bringt letztlich kein Glück. Durch das Hantieren mit den stinkenden Tierkadavern sinkt das ohnehin schon sehr niedrige Prestige von Lars Peter und seiner Familie noch weiter ab, und als Johannes betrunken Lars Peters Pferd schlägt, kommt es zum Kampf und fast zur Messerstecherei zwischen den Brüdern. Johannes wird fortgejagt, und dabei stellt sich auch heraus, dass er die gemeinsamen Einnahmen aus dem Geschäft durchgebracht hat.

Dänische Landschaften
Lars Peter steht jetzt vor dem Ruin, und er lässt das Krähennest und einen Teil der Einrichtung versteigern. Mit den Habseligkeiten, die auf seinen Pferdewagen passen, zieht er mit seinen Kindern in ein Dorf an der Küste. Dort verdingt er sich als Fischer bei einem reichen und schmierigen alten Gastwirt, den alle in der Gegend nur "Menschenfresser" nennen. Ditte, inzwischen eine Jugendliche, muss nun auch Geld verdienen. Nach ihrer Konfirmation geht sie als Dienstmädchen auf den Bakkegård-Hof, der von der rustikalen Witwe Karen geführt wird. Deren Sohn Karl ist ein sensibler und nicht unsympathischer junger Mann, aber auch ein frömmelnder Schwächling, der sich in keiner Weise gegen seine Mutter durchsetzen kann. Eines Tages taucht auf dem Hof Johannes auf, macht Karen schöne Augen, und die lässt sich auf ihn ein. Nach einem Fress- und Saufgelage der beiden gibt es eine Fortsetzung im Schlafzimmer. Karl ist wegen des "sündhaften" Verhaltens seiner Mutter aufs äußerste deprimiert und zerknirscht. Ditte versucht, ihn zu trösten, und daraus ergibt sich, dass sie mit ihm schläft. Karls schwache Stunde bleibt nicht ohne Folgen: Ditte wird schwanger. Und nun zeigt sich, dass diejenigen, die das Geld haben, auch bestimmen, was "Moral" ist: Ditte wird wegen ihrer "Sünde" von Karen mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt, und Karl sieht nur tatenlos zu.

Ditte badet nackt - 1946 in Dänemark kein Skandal
Ditte bleibt nichts anderes übrig, als zu Lars Peter zurückzugehen, wo sie immer willkommen ist und auch jetzt Verständnis findet. Dort ist inzwischen auch Sørine angekommen, die kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das Wiedersehen von Mutter und Tochter verläuft zunächst kühl, aber dann gibt es doch spröde Signale einer Wiederannäherung zwischen Ditte und der durch die Haft sichtlich gealterten und geschwächten Sørine. Vielleicht wird aus den Hansens wieder eine richtige Familie - und damit endet der Film. (Dieser verhalten positive Ausblick wird im Roman nicht eingelöst. Im 4. und 5. Band muss Ditte ihr erstes Kind an eine Pflegefamilie abgeben. Sie geht nach Kopenhagen, wo sie zum Lumpenproletariat gehört, und nach viel Mühsal und Entbehrungen stirbt sie schon mit 25 Jahren.)


Wie oben schon geschrieben, ist DITTE MENNESKEBARN trotz mancher poetischen Verzierung ein durchweg realistischer Film. Überzeugend gefilmte Schauplätze, authentische Ausstattung und glaubwürdig und natürlich agierende Darsteller tragen dazu bei, dass der Film im Trend der damaligen Zeit lag und in Dänemark ebenso wie im Ausland Erfolg hatte. Einige Quellen berichten, dass er 1946 bei den Festspielen in Venedig einen Preis gewonnen hat, aber das könnte eine Ente sein. Laut ital. Wikipedia lief er nicht 1946, sondern 1947, zusammen mit DE POKKERS UNGER (VERFLIXTE RANGEN), dem gemeinsam inszenierten nächsten Film der Henning-Jensens, und letzterer gewann dort einen Regie-Preis, DITTE MENNESKEBARN dagegen nicht. Unbestritten ist dagegen eine andere Ehrung: In einem vom dänischen Kultusministerium erstellten "Kulturkanon", der herausragende nationale Kulturleistungen ehren soll, ist DITTE MENNESKEBARN einer der zwölf enthaltenen Filme.

Karen und Johannes; Wiedersehen mit Sørine
DITTE MENNESKEBARN ist in Dänemark auf einer DVD mit engl. Untertiteln erschienen. - Kuriosum am Rande: Ein Asteroid, der 1979 von einem russischen Astronomen entdeckt wurde, wurde von diesem zu Ehren von Martin Andersen Nexø und seiner Heldin auf den Namen Ditte getauft.

Samstag, 6. Oktober 2012

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 1: Vom Destillieren des Arschschweißes

DAS LEBEN DER ANDEREN
Deutschland 2006
Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Darsteller: Ulrich Mühe (Gerd Wiesler), Sebastian Koch (Sebastian Koch/Georg Dreyman), Martina Gedeck (Martina Gedeck/Christa-Maria Sieland), Ulrich Tukur (Ulrich Tukur/Anton Grubitz)


Ich mag „Das Leben der Anderen“ nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Von der Hauptrolle abgesehen sind die Schauspieler im allerbesten Fall mittelmäßig und der Film strotzt nur so vor kitschigen Klischees, auch wenn er das kläglich zu verbergen versucht. Er ist mindestens zwanzig Minuten, wenn nicht gar eine halbe oder dreiviertel Stunde zu lang und seine geradezu verkrampfte Bierernstigkeit lässt ihn fast wie ein bildungspolitischer Lehrfilm aussehen – oder wie eine schlecht gemachte Parodie davon. Nicht zuletzt ist er in seiner Verknüpfung von geschichtspolitischem Statement und Filmkunst grandios gescheitert, was mich dazu verführt hat, ihn neben Andrzej Wajdas „Katyń“ zu meinem Lieblings-Beispiel für schlechte „Vergangenheitsbewältigungs“-Filme zu ernennen – und ihn in einigen Texten auch als solches zu gebrauchen.

Als positive Gegenbeispiele nannte ich einmal „Gomarët e kufirit“ (Der Grenzesel, Kosovo 2010), eine absurde Komödie über Sex- und Politik-Intrigen an der jugoslawisch-albanischen Grenze; „Churgoschin“ (Blei, Uzbekistan 2011), eine Mischung aus expressionistischem film noir, romantischem Liebesfilm und experimentellem Theater über den stalinistischen Terror in Uzbekistan; und nicht zuletzt „Balada triste de trompeta“ (Mad Circus, Spanien 2010), ein groteskes Splatterhorror-Komödien-Liebesmelodrama über die Franco-Diktatur. Keiner der drei Filme ist ein Meisterwerk oder perfekt. Aber alle drei zeigen, dass kryptische Genre-Verwirrungen und absurder und politisch garantiert unkorrekter Humor eine ernsthafte intellektuelle Beschäftigung mit problematischer Diktaturgeschichte keinesfalls behindern, sondern dieser sogar sehr viel förderlicher sein können als ein (meist nur oberflächlich) „ernster“ Zugang – und letztlich Werke schaffen, die cinematographisch weitaus interessanter und geglückter sind. Aus diesen Motiven und aufgrund der verfügbaren Recherche-Materialien werde ich also den bissigen „Balada triste de trompeta“ „Das Leben der Anderen“ gegenüberstellen.

Florian Henckel von Donnersmarck Debütfilm wurde bekanntlich vielseitig gelobt. In einem kollektiven „Wir sind Oscar“-Rausch konnte „man“ in Deutschland froh sein, dass endlich sich jemand jenseits von so genannter Spreewaldgurken-Ostalgie „ernsthaft“ mit der DDR und ihren politischen Repressionsmechanismen beschäftigte. Da war von „Geschmackssicherheit“ die Rede, von „Perfektion, ein „schauspielerischer Glamour“ wurde ausgemacht, Donnersmarck hätte seinen Film „wie ein Historiker recherchiert“ und ihn „authentisch“ – „als wäre er selber dabei gewesen“ –, „mit großem Gespür für Spannungsdramaturgie“, „wie ein Musikstück“ und ohne „die üblichen Klischees“ inszeniert. Ihm sei „großes Kino, wie man es hierzulande nur selten hinbekommt“ und ein „emotional erschütternder DDR-Geheimdienst-Thriller“ gelungen. Ach ja: und in dem Film gäbe es „keine Spreewaldgurken“.

„Authentizität“: ein sehr schönes Wort. Auf Filme angewendet jedoch auch ein sehr dünnes Kleid, das sich sehr schnell Risse einfangen und beim geringsten Luftzug rasch zu Staub zerbröseln kann. Wer wie Donnersmarck „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen hat, muss sich nun einmal die Frage gefallen lassen, warum die ostdeutsche Staatssicherheit wie ein Ein-Mann-Unternehmen dargestellt wird, dessen primäre Existenzberechtigung darin besteht, fetten Klischee-Parteibonzen sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Gerade der dargestellte „OV“ (nur um Verwechslungen vorzubeugen, hier: Operativer Vorgang), den die Hauptfigur Gerd-„Ich bin die Super-Stasi“-Wiesler organisiert, sieht sehr verdächtig aus: der Hauptmann richtet sich mit seiner Hightech-Anlage im Dachboden über seinem Observierungsziel, dem Schriftsteller Georg Dreymann, ein. Tage- und nächtelang hört Wiesler ihn und seine Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland, ab, postiert sich stundenlang vor deren Wohnung, rennt durch die Treppen des Hauses hoch und runter und tippt mit einer guten, alten und tönenden Schreibmaschine seine Berichte knapp drei Meter über den Köpfen seiner Observierungsobjekte. Konspirativer hätte es selbst Lenin nicht hinbekommen!


Nebenbei muss Wiesler aber auch noch Nachwuchs-Stasis darin unterrichten, wie man „Feinde des Sozialismus“ im Verhör so kleinkriegt, bis nur noch Arschschweiß von ihnen übrig bleibt und seinem Vorgesetzten in der Kantine Bericht erstatten. Bei einem solch dichten Terminplan grenzt es an ein Wunder, dass da noch Zeit übrig bleibt, um Brecht-Gedichte zu lesen und volkeigene Huren zu vögeln. Angesichts der Arbeitsbelastung hätte der Stasi-Hauptmann also die Pillen, mit denen sich sein weibliches Neben-Observierungsobjekt „CMS“ volldröhnt, wohl irgendwie dringender nötig gehabt.

Eine etwas klischeebeladene Darstellung der Berliner Stasi also, in der solche Dinge wie Arbeitsteilung anscheinend nicht existiert haben sollen! Nebenbei verwechselt „Das Leben der Anderen“ auch Ursache und Wirkung in der Beziehung zwischen Ideologie, Opportunismus und sexueller (Selbst-)Befriedigung. Zur mangelnden Arbeitsteilung und völligen Überbelastung materieller Ressourcen und mittlerer Offiziere kommt hinzu, dass die Stasi keineswegs als das bürokratische Repressionsorgan dargestellt wird, die sie in den 1980er Jahre war, sondern als ein Ersatz-Hofstaat für Samenstau-geplagte Parteibonzen. Mit anderen Worten: das Politische ist privat, und politische Repression in der DDR wird im Grunde genommen auf das Niveau einer Sexkomödie heruntergebrochen. Die Stasi-Unterdrückung als erotischen Klamauk zu inszenieren, ist an und für sich keine schlechte Grundidee, hätte aber besser zu einem Film gepasst, der auf FSK-12-Kennzeichnung, Lobhudelei der Bundeszentrale für politische Bildung, den Oscar und nicht zuletzt auf „Authentizitäts“-Anspruch verzichtet.

„Das Leben der Anderen“ scheitert aber nicht nur an seinen eigenen geschichtspolitischen Ansprüchen, sondern auch als figuren-zentriertes Drama. Das in der zeitgenössischen Kritiker-Publizistik immer wieder als Negativfolie genutzte „Good Bye, Lenin“ bringt im Vergleich zu „Das Leben der Anderen“ hochgradig komplexe Figuren mit vielschichtigen Problemen hervor. Denn Donnersmarcks Debüt erstickt den Zuschauer geradezu mit ganzen Lastwagenladungen an Klischees, auch wenn viele das gar nicht gemerkt haben – „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ müsste man wohl sagen. Da ist zunächst Dreymann: ein zweifelndes Weichei ohne großes Talent, das keine eigene Meinung hat, bei niemandem anecken will, sondern es vielmehr allen recht machen möchte (und dadurch letztlich niemandem!). Kein Wunder, dass er nach der Wende so erfolgreich ist: sagt die Figur doch mehr über die entideologisierte, entpolitisierte und „alternativlose“ Schröder-Merkel-Große-Koalitions-Ära aus, als über die DDR. Warum Dreymann doch noch ein Paar Eier in seiner Hose findet (wenngleich nicht seine ganze Potenz), muss hingegen ein Rätsel bleiben. Sebastian Koch spielt ihn konsequent, „alternativlos“ und zum Gähnen langweilig mit genau einem einzigen Gesichtsausdruck und dem immerzu gleichen Dackelblick.

Ganz im Gegensatz zu Dreymann steht sein Schriftsteller-Kollege Hauser: geradezu eine Karikatur des idealistischen, strengen und asketischen Dissidenten, der ganz genau weiß, dass er immer recht hat und die anderen nicht. Dieser wahrscheinlich unfreiwillige „comic-relief“ wird hingegen von Hans-Uwe Bauer ganz passabel dargestellt. Martina Gedeck spielt jedoch Martina Gedeck, gemäß Drehbuch aber Christa-Maria Sieland: die geile, künstlerisch und promiskuitiv veranlagte Liebhaberin mit einem viel zu schwachen Charakter und einem viel zu starken Drogenproblem, die den Mitleid der Zuschauer erregen soll, aufgrund ihrer Verfehlungen aber natürlich am Ende sterben muss. Nicht zuletzt, weil sie sich vom fetten, altersgeilen und sexbesessenen Kulturminister besteigen lässt, dessen narrative Funktion im Film hauptsächlich darin besteht, fett, altersgeil und sexbesessen zu sein. Und ab und zu noch seinen Hofstaat rumzukommandieren. Hier kommt Ulrich Tukur als Ulri... als Anton Grubitz ins Spiel: ein Typus des prinzipienlosen, prollig-dumpfbackigen und im Grunde völlig unfähigen Karriere-Opportunisten. Er soll deutlich machen, dass es in der – hier so „authentisch“ dargestellten – Stasi keine „gewöhnlichen“ Menschen gab, sondern, na ja, nur Dumpfbacken und leblose Berufspedanten.

Es ist paradox, dass Ulrich Mühe mit seiner tatsächlich großartigen schauspielerischen Leistung (das Interessanteste am ganzen Film) das größte Klischee des Films darstellen muss: ein kaltes, pflichtbewusstes, gefühlloses, pedantisches, blind gehorchendes Repressionsinstrument ohne eigenes Privatleben, das doch noch sein goldenes Herz entdeckt und zum Menschen wird. Damit gerät nicht nur die Figur grob holzschnittartig, sondern damit wird politische Repression in der DDR entpolitisiert, entbürokratisiert sowie jeglichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entrissen: Das Böse war böse weil es böse war. Und plötzlich wurde es doch gut. Andreas Dresen meinte dazu einmal, dass die Darstellung eines „normalen“ Stasi-Beamten mit Frau und Kindern und einem „normalen“ Arbeitsalltag sehr viel lohnender gewesen wäre; und sehr viel schmerzhafter. Da der Böse am Schluss ja nicht mehr der Böse ist, sondern der Gute, braucht er sich hingegen nicht mehr mit seinen früheren Taten auseinander zu setzen: CMS ist dann eh schon lange tot!


Auch die hochgelobte Inszenierung von „Das Leben der Anderen“ entpuppt sich bei genauer Betrachtung als Mogelpackung. Was sich als „subtil“ geben möchte, fühlt sich an manchen Stellen wie ein in den Rachen geschobener Mastschlauch an. Die DDR war ganz unlustig: deshalb wird der ganze Film von „dezenten“ Grau- und Brauntönen so „durchherrscht“, wie es sich die SED von ihrem Staat nur träumen konnte. Der Stasi-Mann ist böse: deshalb ist seine Wohnung auch grau-braun und ungemütlich. Der nette Schriftsteller mit dem Dackelblick ist gut: deshalb sind seine vier Wände gemütlich eingerichtet, mit wärmerem Licht und wärmeren Brauntönen. Die Zwischeneinblendungen, Straßen- und Gebäudeschilder, Zeitungsausschnitte, die eingangs und besonders in der letzten Viertelstunde gehäuft auftreten, um Ort und Zeit der Handlung zu definieren, sollen die tiefe Verwurzelung der Handlung in deutsch-deutsche Historie „dezent“ aufzeigen, demonstrieren aber vor allem Unfähigkeit Donnersmarcks, dies über das rein Visuelle zu vermitteln.

An manchen Stellen zerplatzt die „subtile Un-Subtilität“ jedoch regelrecht und legt einen geradezu unfassbaren Klamauk an den Tag. Wenn CMS auf die Straße rennt, direkt in den einzigen Lastwagen, der durch die sonst während des ganzen Films völlig verkehrsfreie Straße fährt. Wenn Herbert Knaup auftaucht und aussieht, als würde Heiner Lauterbach einen Spiegel-Redakteur spielen (oder war es ein anderer? Jedenfalls irgendeines der Gesichter, die die deutsche Fernseh- und Kinolandschaft bevölkern wie groteske, fast unbewegliche Figuren den Hintergrund von David-Lynch-Filmen). Wenn Volker Michalowski als Zack, der sächsische Stasi-Schreibmaschinenexperte von nebenan bzw. aus der Sat.1-Sendung „Zack! Comedy nach Maß“ auftaucht. Diese Momente wirken unglaublich befreiend, beseitigen sie doch jeglichen Zweifel daran, dass man „Das Leben der Anderen“ einfach in keiner Weise Ernst nehmen kann.


Ja: es gibt keine Spreewaldgurken in „Das Leben der Anderen“. Doch in einem Punkt unterschiedet sich dieser Film nicht besonders grundlegend von „Good Bye, Lenin!“ oder „Sonnenallee“: auch hier wird die DDR nicht als „Normalität“, sondern als Märchen dargestellt, als „Märchen vom guten Menschen“. Nur, dass Donnersmarcks Debüt aufgrund seiner Authentizitäts-Aura sehr viel heuchlerischer ist.

„Das Leben der Anderen“ scheitert kläglich an seinem Wunsch, ein ambitionierter Film zu sein: es sei denn, er wollte von Anfang an ein für Schüler ab der 10. Klasse produzierter „pädagogisch wertvoller“ Streifen sein, der sich auf seinen auf nationale und internationale Preisverleihungen ausgerichteten glattgebügelten Look mächtig einen runter... ähm, was einbildet. Ein Look, der übrigens auch nicht mehr bietet als TV-Niveau (die entsprechenden Schauspieler hat er ja). Einen Vorteil gängiger Fernsehfilme hätte sich „Das Leben der Anderen“ jedoch gerne zum Vorbild nehmen können: die Dauer von 90 Minuten. Selbst die Überlänge soll Seriosität vorgaukeln...

Zwei psychotische Clowns versuchen, sich gegenseitig mit Fäusten, Fleischerhaken, Vorschlaghämmern, Maschinenpistolen und Trompeten zu massakrieren. Warum der groteske Splatter-Rachethriller „Balada triste de trompeta“ als Kino-Film besser und interessanter ist als "Das Leben der Anderen" und diesen als künstlerische Beschäftigung mit Diktaturgeschichte bei weitem schlägt, folgt in Kürze im zweiten Teil des Beitrags „Diktaturgeschichte für Cinephile“...