Mittwoch, 28. Mai 2014

Ere erera baleibu izik subua aruaren

...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... (ursprünglich: ERE ERERA BALEIBU ICIK SUBUA ARUAREN)
Spanien 1968-70
Regie: José Antonio Sistiaga


Was ist das denn für ein Titel? Baskisch? Damit liegt man nicht weit daneben, denn der 1932 in San Sebastián geborene José Antonio Sistiaga ist in der Tat Baske. Doch der Titel bedeutet überhaupt nichts - er besteht aus Fantasiewörtern, die nur baskisch klingen sollen, und die Sistiagas Freund und Kollege Rafael Ruiz Balerdi für ihn erfand. Mehr dazu weiter unten.


...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... ist ein abstrakter Film, den Sistiaga direkt, also ohne Kamera, auf 35mm-Film malte. Das ist eine Technik mit langer Tradition. Schon um 1912 schufen die beiden italienischen Brüder Arnaldo Ginna und Bruno Corra, die dem Futurismus nahestanden, einige abstrakte handgemalte Filme, die von Prinzipien der chromatischen Musik inspiriert waren. Besonders elaboriert waren die Filme wohl noch nicht (sie sind nicht erhalten, es existieren nur verbale Beschreibungen von Corra). Das änderte sich in den 30er Jahren, als mit dem damals in England tätigen Neuseeländer Len Lye und mit Norman McLaren, der direkt von Lye inspiriert wurde, zwei Großmeister des handgemalten abstrakten Films die Szene betraten (wobei McLaren dann auch viele andere Techniken verwandte und z.T. selbst erfand). Len Lye war es wohl auch, der für handgemalte und andere kameralose Filme den Terminus direct film prägte (in diesen Zusammenhang gehören auch LE RETOUR À LA RAISON und EMAK-BAKIA von Man Ray, in denen wenigstens zum Teil die Technik der Rayographie auf den Film erweitert wurde). Nach Lye und McLaren arbeiteten beispielsweise Harry Smith, Stan Brakhage und in Deutschland Bärbel Neubauer mit dieser Technik, und fast immer entstanden dabei abstrakte Filme.


...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... zeichnet sich, abgesehen von seiner handwerklichen und künstlerischen Qualität, durch ein besonderes Merkmal aus: Er dauert 75 Minuten, und er ist damit mit Abstand sowohl der längste handgemalte als auch der längste abstrakte Film, den ich kenne. Man muss sich das vorstellen: 75 Minuten, das sind bei 35mm über zwei Kilometer Filmstreifen, es sind vor allem 108.000 einzelne Frames. Um das zu bewerkstelligen, arbeitete Sistiaga von 1968 bis 1970 17 Monate lang wie ein Besessener: Täglich 10 oder 12 Stunden. Zeitweise schlief er sogar neben dem entstehenden Film, er reduzierte seine Mahlzeiten auf das Nötigste, und er rasierte sich nicht, um keine Zeit zu verschwenden. Der Großteil des Films entstand im baskischen Hondarribia, aber eines Tages fiel ein Sonnenstrahl durch ein offenes Fenster auf den trocknenden Abschnitt des Filmstreifens, und da fasste Sistiaga den Entschluss, den Film unter freiem Himmel zu vollenden, und so übersiedelte er nach Ibiza, wo er schon 1961/62 ein Jahr gelebt hatte, und schuf dort den Schluss des Films. Das war, wie er selbst mehrfach in Interviews sagte, typisch für ihn: Immer wachsam und offen für Zufälle, für Chancen, für plötzliche Eingebungen.


Sistiaga - der Wert darauf legt, nicht Spanier, sondern Baske zu sein - entwickelte schon als Kind eine Abneigung gegen den franquistischen Staat und zwei seiner Hauptstützen, Kirche und Militär, nachdem sein Vater durch einen Priester und Soldaten zweimal denunziert und inhaftiert worden war. In Interviews betont Sistiaga immer wieder den Wert des Individuums und sein Misstrauen gegenüber Organisationen, Behörden, Parteien. Ebenfalls schon als Kind verspürte Sistiage das Talent und das Interesse für die Malerei, und so wurde er denn auch Maler. 1955-61 verbrachte er in Paris, und dort sah er 1958 einen Film von McLaren, was in ihm den Grundstein zu dem Plan legte, selbst einmal einen derartigen Film zu machen. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich lebte er, wie erwähnt, ein Jahr auf Ibiza, dann wieder im Baskenland, wo er zu den jungen Avantgarde-Künstlern zählte, die gegen die vom Staat protegierte akademische Kunst aufbegehrten. In den 60er Jahren entfaltete er neben der Malerei weitere Aktivitäten. Gemeinsam mit dem Beuys-Schüler Bernd Lohaus und dem aus Uruguay stammenden experimentellen Poeten Julio Campal veranstaltete Sistiaga 1964 in Madrid eine öffentliche Performance. Im Jahr darauf gründete er mit dem befreundeten Bildhauer Jorge Oteiza und ungefähr einem halben Dutzend weiteren baskischen Malern und Bildhauern eine Künstlergruppe namens "Gaur". Sistiaga war auch daran beteiligt, neutönende Musik - von Stravinsky und Schönberg über Edgard Varèse und Pierre Schaeffer bis zu Boulez, Xenakis und Stockhausen - erstmals ins Baskenland zu bringen. Mitte der 60er Jahre betätigte sich Sistiaga auch als Lehrer, und zwar, gemeinsam mit der befreundeten baskischen Künstlerkollegin Esther Ferrer, nach den antiautoritären und kreativitätsfördernden Maximen des französischen Pädagogen Célestin Freinet. Dagegen gab es aber erhebliche Widerstände - im Franco-Spanien nicht weiter verwunderlich -, und schließlich gab Sistiaga frustriert seine Verpflichtungen auf - um einen Film zu machen.


Wie schon erwähnt, stammte der Keim der Idee von der Sichtung eines Films von Norman McLaren, aber der unmittelbare Anstoß kam von Rafael Ruiz Balerdi. Ruiz Balerdi war ein Mitglied von Gaur, aber Sistiaga kannte ihn schon seit seiner Jugend, als beide in einem Museum in San Sebastián zu Übungszwecken Gemälde kopierten. Ruiz Balerdi hatte mit der Arbeit an einem handgemalten Film mit dem Titel HOMENAJE A TARZÁN begonnen, und er versorgte Sistiaga mit 35mm-Material, so dass dieser nun auch loslegen konnte. Nach den Querelen um seine schulischen Aktivitäten (und immer wieder mal mit dem etablierten Kulturbetrieb und den Kulturbehörden) empfand es Sistiaga als Befreiung, sich losgelöst von seinen bisherigen Aktivitäten in etwas Neues stürzen zu können. In einem Interview mit der Zeitschrift L'Art Vivant sagte er einige Monate nach Fertigstellung des Films auf die Frage, was er damit erreichen wollte, sogar folgendes: "Zunächst fühlte ich die Notwendigkeit, mich an allen zu rächen, an all den Organisationen und Leuten, die mir Hindernisse in den kreativen Weg geworfen hatten; ich wollte mich rächen für ihren Mangel an Sensitivität und Liebe, für ihre Feigheit und Angst vor allem, das kein Konsumprodukt ist oder unmittelbaren materiellen oder politischen Gewinn verspricht, alles, das ihrer Kontrolle der Ökonomie entgeht. Ich fühlte mich gründlich unterdrückt. Ich hatte keine ökonomischen Ressourcen. Ich fühlte mich verzweifelt, nach einer langen Schlacht auf dem Feld des Unterrichts, wo ich versucht hatte, andere, humanere und kreativere Erziehungsansätze durch ihre Anwendung zu etablieren. Im Mai 1968 übertrug ich alle meine direkten Aktivitäten und Verantwortlichkeiten an Andere und begann noch einmal, mit Farbe zu experimentieren, nur diesmal auf Film."


Der Film, der nun zunächst entstand, dauerte nur acht Minuten, und er vereinte abstrakte und erzählende Sequenzen. Die Handlung besteht darin, dass sich ein Kirchturm in eine Rakete verwandelt, im Weltraum Hammer und Sichel sowie dem Dollarzeichen begegnet, dann hat die Rakete (oder ist es wieder die Kirche?) Sex mit dem Dollar. Es hätte noch etwas weitergehen sollen, aber Sistiaga lief die Zeit weg, weil er den Film beim Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmfestival Bilbao einreichen wollte. Dort gewann er 1968 den Preis für den besten experimentellen Film. Wenn es nach Sistiaga gegangen wäre, hätte der Film überhaupt keinen Titel haben müssen, aber da es nun mal Usus ist, dass es einen Titel gibt, und weil Baskisch damals im öffentlichen Leben praktisch verboten war, rief Sistiaga Ruiz Balerdi an, der offenbar Talent für das Erfinden sinnloser Wörter hatte, und bat ihn, einen Titel zu nennen, der baskisch klingen sollte, und der "weder zu kurz noch zu lang war". Und so kam der Film zu seinem Titel ERE ERERA BALEIBU ICIK SUBUA ARUAREN (und zwar in dieser Schreibweise). Nach dem erfolgreichen Auftakt war Sistiaga auf den Geschmack gekommen, und er wollte den Film zu einem viel längeren erweitern. Dazu brauchte es einen Geldgeber, und den fand er in Juan Huarte Beaumont, einen großzügigen Kunstsammler und Mäzen, der in vielfältigen Projekten zeitgenössische Künstler aller Art förderte. Unter anderem hatte Huarte in Madrid X Films gegründet, eine Firma, die ohne Gewinnabsicht Avantgardefilme produzierte (auch HOMENAJE A TARZÁN wurde von X Films produziert). Nachdem Sistiaga Huarte seine Idee erläutert hatte, übernahm X Films die Kosten, und zwar nicht nur die Materialkosten, sondern auch Sistiagas Lebensunterhalt während der 17 Monate Arbeit am Film.


Sistiagas ursprüngliches Konzept, den Kurzfilm auszubauen, änderte sich schnell: Er warf die erzählenden Partien hinaus und wollte nun einen rein abstrakten Film machen, der mit dem in Bilbao ausgezeichneten Film nicht mehr viel zu tun hatte. Deshalb wurde der Erstling nachträglich in DE LA LUNA A EUSKADI (was "Vom Mond ins Baskenland" bedeutet) umbenannt, während Ruiz Balerdis enigmatisches Wortgebilde für das nun entstehende opus magnum reserviert wurde. Doch das war noch nicht der Endpunkt. Baskisch war zwar Sistiagas Muttersprache, aber durch das weitgehende Verbot hatte er die Sprache im Lauf der Zeit mehr oder weniger verlernt. Und so bedachte er nicht, dass im Baskischen das "c" nicht üblich ist, als ihm Ruiz Balerdi am Telefon den Titelvorschlag durchgab. Irgendwann später korrigierte Sistiaga diesen Lapsus und ersetzte das ICIK durch das noch "baskischere" IZIK (und die Punkte am Anfang und Ende des Titels kamen auch noch hinzu). Aber der Titel in seiner ursprünglichen Form hatte längst seinen Einzug in die Presse und Bücher gehalten, so dass heute beide Fassungen kursieren, teilweise sogar nebeneinander in ein und derselben Publikation. - Der fertige Film musste (wie jeder Film damals) der Zensur vorgelegt werden, in diesem Fall einem Gremium aus 12 Personen, darunter zwei Priestern, und er erhielt die Freigabe, nachdem Sistiaga die (nicht vorhandene) Bedeutung des vermeintlich baskischen Titels erläutert hatte. Weil man nicht wusste, in welche Schublade man ihn einsortieren sollte, wurde er als Kurzfilm klassifiziert. Es gab sogar, den Regularien entsprechend, eine nachträgliche finanzielle Förderung vom Staat, aufgrund der Einstufung als Kurzfilm allerdings weniger, als Sistiaga eigentlich zugestanden hätte.


Was ist ...ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN... nun eigentlich für ein Film? Zunächst mal: Er hat keine Ähnlichkeit mit den Filmen von McLaren. (Im Gegensatz zu den drei Filmen EXP. NO.1 bis EXP. III, die der katalanische Apotheker und Freizeit-Regisseur Joaquim Puigvert zwischen 1958 und 1960 machte, und die stark von McLaren beeinflusst sind. Zumindest die ersten beiden (den dritten kenne ich nicht) erinnern insbesondere an BLINKITY BLANK.) Während bei McLarens abstrakten Filmen geometrische Formen dominieren, sind es bei Sistiaga organische. Und während McLaren meist viel Mühe darauf verwandte, identifizierbare Objekte mit möglichst wenig von dem unvermeidbaren Ruckeln und Zittern über die Leinwand zu bewegen oder stillstehen zu lassen, gibt es bei Sistiaga solche identifizierbaren Objekte fast überhaupt nicht, weil die Bilder in rasendem Rhythmus wechseln. Nur in einer wenige Minuten langen Sequenz bleibt ein kreisförmigen Objekt mit Oberflächentextur (in dem man, wenn man mag, einen Planeten mit Kontinenten sehen kann), an Ort und Stelle. Tatsächlich hat sich Sistiaga über weite Strecken des Films überhaupt nicht an die Grenzen der einzelnen Frames gehalten, sondern einfach darüber hinweggemalt. Übrigens entspricht die Anordnung des Films exakt der chronologischen Reihenfolge seiner Entstehung, mit anderen Worten, es gibt keinen einzigen Schnitt. Der deutlich überwiegende Teil des Films ist sehr farbig, es gibt aber auch eine längere Sequenz mit herumwuselnden filigranen weißen Mustern auf schwarzem Grund, in denen man vielleicht zuerst Insekten und dann, wenn die Muster etwas kräftiger werden, einen Schwarm Fledermäuse sehen mag, der nächtens von einem Scheinwerfer angestrahlt wird. Auch diese schwarzweisse Sequenz ist übrigens gemalt und nicht etwa in schwarzes Filmmaterial eingeritzt (wie das McLaren bei BLINKITY BLANK und im Mittelteil von BEGONE DULL CARE oder Len Lye bei FREE RADICALS gemacht haben). Wie ich schon mit Planeten und Fledermäusen andeutete, ist es praktisch unvermeidlich, beim Ansehen eines solchen Films Assoziationen zu bilden. Hier sind es bei mir und Anderen Bilder auf allen mikro- und makroskopischen Größenordnungen, von Elementarteilchen über Einzeller bis zu Galaxien, von blubbernder Lava über ein Asteroidenfeld, das man durchrast bis zu einem Kaleidoskop, das seine geometrische Form überwunden hat und in eine organische Existenz hinein wuchert. Unnötig zu erwähnen, dass solche Metaphern rein subjektiv sind. Man sollte übrigens beachten, dass sich der Eindruck des Films in Bewegung teilweise stark vom Eindruck der einzelnen Screenshots unterscheidet, die ich hier präsentiere. - Wenn man nach einem Vergleich mit anderen Schöpfern von abstrakten und/oder handgemalten Filmen sucht, dann erinnert mich ...ERE ERERA... (wie ich ihn ab jetzt abkürzen werde) am stärksten an die abstrakten Filme von Stan Brakhage. Das gilt nicht nur für die Bilder: Ebenso wie die abstrakten (und auch fast alle sonstigen) Filme Brakhages ist auch ...ERE ERERA... komplett stumm. Einen direkten Einfluss gibt es aber vermutlich nicht. Sistiaga sah seinen ersten und bislang einzigen Brakhage-Film 1995, und von einem Einfluss von ...ERE ERERA... auf Brakhage ist mir zumindest nichts bekannt.


...ERE ERERA... hatte 1970 in Madrid Premiere, und er lief noch im selben Jahr bei verschiedenen Gelegenheiten im Ausland, u.a. beim Kurzfilmfestival in Oberhausen und beim London Underground Film Festival. Seitdem läuft ...ERE ERERA... in unregelmäßigen Abständen irgendwo auf der Welt, auf Festivals, in Museen und dergleichen, z.B. 1979 im Berliner Arsenal, 1982 im Museum Ludwig in Köln und 1986 im Frankfurter Filmmuseum, und erst vor ein paar Monaten in Hanover (New Hampshire). Es besteht also die theoretische Möglichkeit, den Film irgendwann mal auf Leinwand zu sehen. 2007 wurde als Höhepunkt einer Ausstellung in der Tabacalera Donostia, einem Kulturzentrum in San Sebastián (Donostia ist der baskische Name der Stadt), ...ERE ERERA... auf die Wände, Böden und Decken des Gebäudes projiziert, und aus diesem Anlass wurde ein viersprachiges Buch (Baskisch/Spanisch/Englisch/Französisch) mit dem Titel "...ere erera baleibu izik subua aruaren..." herausgegeben, das auf einer beiliegenden DVD den kompletten Film enthält (allerdings ist das Bild an den Rändern beschnitten). Das ist offenbar die einzige Möglichkeit, zu einem vernünftigen Preis an ...ERE ERERA... auf einem digitalen Datenträger zu kommen (bei Sistiagas Distributor in Paris kann man ebenfalls eine DVD bestellen, aber zu einem Preis jenseits von gut und böse). 2011 erschien (ohne DVD) ein weiteres Buch in denselben vier Sprachen mit dem Titel "José Antonio Sistiaga. Lorategi irudikatu bateko islak". Daneben gibt es auch noch weitere Bücher sowie Ausstellungskataloge seiner Gemälde in Spanisch und/oder Baskisch.


Sistiaga hat nach ...ERE ERERA... weitere Filme gemacht, auf die ich hier aber nicht eingehen will. Fast wäre ihm übrigens sein Meisterwerk abhanden gekommen. Bei X Films war für die geschäftlichen Belange ein gewisser Gonzalez Sinde zuständig, und der beanspruchte ...ERE ERERA... als sein Eigentum. Zwar war der von Sistiaga hinzugezogene Juan Huarte auf seiner Seite, doch die Witwe des mittlerweile verstorbenen Gonzalez Sinde hatte seinen Nachlass, und darunter auch ...ERE ERERA..., an einen Filmproduzenten verkauft. Der konnte dann überredet werden, den Film im Austausch gegen zwei von Sistiagas Gemälden herauszurücken.


Einige Informationen für den Artikel habe ich von Sistiaga selbst bekommen, wofür ich ihm herzlich danke. Für die Vermittlung des Kontakts und die Übersetzung der Fragen und Antworten danke ich Nere Pagola und Maider Zendoia von der Baskischen Filmothek (Euskadiko Filmategia / Filmoteca Vasca) in San Sebastián.

Sonntag, 11. Mai 2014

Kurzbesprechung IDA


IDA
Polen / Dänemark 2013
Regie: Paweł Pawlikowski
Darsteller: Agata Kulesza (Wanda Gruz), Agata Trzebuchowska (Anna / Ida Lebenstein), Dawid Ogrodnik (Lis), Adam Szyszkowski (Feliks Skiba), Jerzy Trela (Szymon Skiba)



Polen, Anfang der 1960er Jahre. Die Novizin Anna, die in einem Kloster aufgewachsen ist, steht kurz davor, ihr Gelübde abzulegen. Die Äbtissin fordert sie dazu auf, vorher noch ihre einzige lebende Verwandte, nämlich ihre Tante Wanda Gruz zu besuchen. Die Tante entpuppt sich als Frau mit einem starken Alkoholproblem und einem Geschmack für schnelle Affären, die als aktive Staatsanwältin noch von ihrem Ruf als „blutige Wanda“ zehrt: in den frühen 1950er Jahren war sie an stalinistischen Prozessen beteiligt, in denen sie  gegen „Volksfeinde“ Todesurteile aussprach. Die forsche Mittvierzigerin zögert nicht lange, Anna ins Gesicht zu sagen, dass sie eine „jüdische Nonne“ ist, eigentlich Ida Lebenstein heißt und ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden. Die beiden unterschiedlichen Frauen machen sich auf, das Grab der Schwester bzw. Mutter und ihres Ehemanns zu suchen. Der Roadtrip des merkwürdigen Frauenduos durch eine marode und trostlose polnische Provinz entwickelt sich nicht nur zu einer Suche nach den Mördern, sondern auch zu einem Herantasten an die eigene Identität...

Die Bauernhöfe, die Wanda und Ida besuchen, sind verfallen, aber dennoch irgendwie idyllisch. Die Bevölkerung lebt ein einfaches, aber zufriedenes und frommes Leben und im nahe gelegenen Wäldchen liegen die Gebeine ihrer jüdischen Nachbarn begraben, die sie vor knapp zwanzig Jahren ermordeten und in deren Häuser sie heute wohnen. Wie bereits Władysław Pasikowskis POKŁOSIE im letzten Jahr greift auch IDA die innerpolnische Debatte um die Beteiligung von Polen am Holocaust wieder auf, die Jan Tomasz Gross‘ Buch „Neighbors: The Destruction Of The Jewish Community In Jedwabne, Poland“ 2001 angestossen hatte und bis heute noch nachhallt. Wanda und Anna/Ida treffen im ehemaligen Haus der Lebensteins die Skibas. Das Familienoberhaupt Feliks verweist die beiden Frauen schroff an seinen Vater Szymon, mit dem er nichts mehr zu tun hat. Später kommt heraus, dass Szymon die Lebensteins (darunter auch Idas älteren Bruder) versteckte, Feliks sie dann aber ermordete. Von Deutschen, die hier nur an einer Stelle in einem Nebensatz erwähnt werden, fehlt jede Spur: die Lebensteins fielen einem polnischen Antisemiten zum Opfer.

Von seiner Machart her ist IDA ein ruhigeres, mehr nach innen gerichtetes Gegenstück zum explosiven POKŁOSIE, der durchaus Backwood-Thriller-Elemente aufwies. Obwohl jedoch Pawlikowskis Film ein „period“-Film ist, thematisiert auch er das Verschwinden jüdischer Identität aus Polen: durch den Holocaust, durch Emigration, durch einen dezidierten, exklusiven und katholisch gefärbten Nationalismus, durch zunehmenden Antisemitismus. Am Ende verschwinden beide Protagonistinnen selbst auf verschiedene Arten. Wanda begeht Selbstmord – und kommt ihrer Degradierung zuvor, die während der antisemitischen Hetz-Kampagnen von 1968 höchstwahrscheinlich erfolgt wäre. Im Zuge der „anti-zionistischen“ Politik wurden von 1968 bis 1971 Polen jüdischer Herkunft mit Berufsverboten belegt, schikaniert, aus Partei-, Staats-, Justiz- und Armee-Ämter entfernt und zur Emigration „ermutigt“. Möglicherweise ist Wanda Gruz teilweise nach Helena Wolińska-Brus modelliert worden, die Anfang der 1950er Jahre als Militäranklägerin stalinistische Prozesse gegen Angehörige der Polnischen Heimatarmee leitete. Die jüdisch-stämmig Wolińska-Brus beging im Gegensatz zu Wanda jedoch nicht Selbstmord, sondern emigrierte 1968 nach Großbritannien, und steht stellvertretend für eine bestimmte Spielart der Entstalinisierung, bei der Juden zu Sündenböcken vergangener stalinistischer Verbrechen gemacht wurden (ein Phänomen, das auch in Ungarn ähnlich zu beobachten war). Auch Ida verschwindet am Ende des Films, um wieder Anna zu werden und sich an das Kloster-Leben zu assimilieren. Dieses Leben im Nonnenkloster kann man denke ich in IDA nicht als Gegenwelt zum realsozialistischen Polen lesen, sondern als andere Seite derselben Medaille. „Keuschheit, Armut und Gehorsam“, das Motto, unter das sich die Novizinnen zu unterwerfen haben, erscheint nicht gerade als Alternative oder als besonders verschiedenartig zum Leben „draußen“ in Volkspolen.

Die eine Protagonistin ist eine depressive Alkoholikerin, die sich selbst praktisch aufgegeben hat, die andere ist eine junge Frau, die kurz davor steht, dem Leben zu entsagen: IDA ist ein durch und durch bedrückender Film. Es ist auch ein kalter Film, ein Film, der in vielen seiner Bilder den Tod atmet (was letztlich zu einem Holocaust-Drama nicht völlig unpassend ist). Auffallend ist, wie distanziert die Kamera mit den Figuren umgeht, wie sie in den exzentrischen und asymmetrischen Bildkompositionen an den Bildrand gedrängt werden, oft nach unten – eine Inszenierungsstrategie, die in Cinemascope natürlich schwer funktioniert, weshalb das „Academy ratio“ (1:1,37) geradezu zwingend scheint. Im Bild-Mittelpunkt stehen meistens nackte Wände, trostlose Schneematsch-Winterlandschaften, marode Treppenhäuser, heruntergekommene Flure, oder aber auch das filigrane Gittermuster einer Fensterfront. Die extreme Einsamkeit der beiden Hauptfiguren wird damit noch expliziter und bedrückender in kunstvollen Schwarzweiß-Bildern visualisiert.

IDA ist aber nicht nur ein Drama über den Holocaust und den Antisemitismus in Polen, sondern ein Film der kulturellen Verweise. Wie bereits andere Besprechungen vermerkten, weist IDA sehr deutlich auf die Filme der Neuen Polnischen Welle. In den Schluss-Credits wird in der Dankesliste etwa Jerzy Skolimowski aufgeführt (als einer von vielen Namen, unter denen auch Alfonso Cuarón auftaucht). Die Szenen in der Tanzhalle, in der Wanda und Ida der Band des trampenden Jazzsaxofonisten Lis‘ zuhören, erinnerte mich etwas an einige Momente in  Andrzej Wajdas POPIÓŁ I DIAMENT („Asche und Diamant“) – wo auch eine Feierlichkeit in einem trostlosen und etwas heruntergekommenen Tanzsaal in der polnischen Provinz stattfindet. Am eindeutigsten dürften jedoch die Bezüge zu MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW („Mutter Johanna von den Engeln“) von Jerzy Kawalerowicz sein, der hier schon in diesem Blog besprochen wurde. Gerade die Gelübde-Zeremonie, bei der sich die Novizinnen in voller Tracht, mit dem Gesicht zum Boden und mit ausgestreckten Armen hinlegen, dürfte maßgeblich von Kawalerowicz‘ Film inspiriert sein. Der Subplot der Nonne, die kurzzeitig ihre Tracht ablegt und eine Affäre mit einem Auswärtigen beginnt, dürfte auch auf IDA abgefärbt haben.

Ebenso ist IDA aber auch eine Hommage an Polen als Jazz-Land – was angesichts der Tatsache, dass der Film primär ein Holocaust-Drama ist, zunächst überraschen mag, aber unter einem bestimmten Blickwinkel auch eine gewisse Logik hat. In keinem realsozialistischen Land entwickelte sich eine derartig innige Liebe zum Jazz und eine solch lebendige Szene wie in Polen. Das „Jazz Jamboree“, also das Ende der 1950er Jahre etablierte Internationale Jazz Festival Warschau, wurde zu einer regelrechten Pilgerstätte für Jazz-Liebhaber hinter dem Eisernen Vorhang. Miles Davis, der in den 1980er Jahren mehrmals in Warschau spielte, sagte einmal, dass er nirgendwo auf der Welt so herzlich empfangen wurde wie in Polen. Die polnische Jazz-Szene pflegte einen intensiven Ideen-Transfer mit der internationalen Musik-Szene. In IDA spielt Lis‘ Band etwa nach den eher „leichteren“ Tanznummern eine eigene Version von John Coltranes „Naima“. Polen war auch das europäische Land, in dem die vielleicht experimentellsten Ausdrucksformen von Jazz ab den späten 1960er Jahren geprobt wurden: „Die Polen fingen da an, wo John Coltrane aufgehört hatte.“ – sagte mir ein Kommilitone und ausgewiesener Spezialist der osteuropäischen Jazz-Kultur einmal bei einem Gespräch über das Spätwerk John Coltranes. Worauf ich hinaus will: IDA präsentiert die polnische Jazz-Welt als Fenster des Lebens und der Hoffnung, als eine utopische Alternative zu den beiden anderen Welten, die im Film dominieren, nämlich der sozialistischen und katholischen. In vielerlei Hinsicht gleichen sich letztere in ihrer biederen und grauen Geschlossenheit. Wenn jedoch die Jazz-Musiker spielen, füllen sie die trostlose Tanzhalle mit Leben. Sie sind wahrhaftig internationalistisch und wahrhaftig nächstenliebend und reichen sowohl Wanda als auch Anna über alle Differenzen hinweg eine Hand. Anna/Ida ergreift diese kurzfristig auch, als sie eine Affäre mit Lis beginnt. Als dieser ihr vorschlägt, mit ihm auf die Konzerttour zu reisen und zu leben, lehnt sie dieses „Leben“ ab, begeht in einer gewissen Weise auch „Selbstmord“ – eine melodramatische und vor allen Dingen hochgradig symbolische Wendung: das Jazz-Polen als mögliche Alternative bleibt Utopie.


IDA hatte seine Deutschland-Premiere am 9. April beim 14. goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films, erhielt dort den Hauptpreis des Wettbewerbs und läuft derzeit noch in einigen deutschen Kinos.

Freitag, 25. April 2014

Kurzbesprechung: Die schönste Soiree meines Lebens

LA PIÙ BELLA SERATA DELLA MIA VITA
Italien/Frankreich 1972
Regie: Ettore Scola
Darsteller: Alberto Sordi (Alfredo Rossi), Pierre Brasseur (Graf De La Brunetière/Verteidiger), Michel Simon (Herr Zorn/Staatsanwalt), Charles Vanel (Herr Dutz/Richter), Claude Dauphin (Herr Bouisson/Schriftführer), Janet Agren (Simonetta), Giuseppe Maffioli (Kutscher/Henker)

"Dottore" Alfredo Rossi fährt von Mailand aus über die Grenze, um ein Köfferchen voll Schwarzgeld auf einer Schweizer Bank zu deponieren. Doch er trifft erst nach Schalterschluss ein, und so muss er einen Tag zuwarten und erst einmal die Zeit totschlagen. Da trifft es sich gut, dass ihn eine Motorradfahrerin, die auch mit aufgesetztem Helm einen attraktiven Eindruck macht, offenbar auffordert, ihr zu folgen. Da geht etwas, denkt sich der Dottore, und fährt ihr hinterher, auf zunehmend einsamen Straßen in die Tessiner Berge. Bis unversehens sein Maserati den Geist aufgibt und das Motorrad seinen Blicken entschwindet. Zum Glück kommt bald ein Pferdefuhrwerk vorbei und nimmt ihn mit zu einem abgelegenen Bergschlößchen, von wo telefonisch eine Autowerkstatt verständigt werden kann. Der Hausherr des Schlößchens, der letzte Graf De La Brunetière, begrüßt Rossi persönlich und lädt ihn zum Verweilen ein. Als bald darauf der Maserati wieder fahrtüchtig vorbeigebracht wird, will Rossi eigentlich gleich wieder aufbrechen, doch er ändert seine Meinung und nimmt die Einladung des Grafen an, als er durch eine halb geöffnete Tür einen Blick auf das wohlproportionierte Zimmermädchen Simonetta erhascht, das sich gerade umzieht - auch hier könnte ja etwas gehen ... Signor Rossi lernt drei alte Freunde des Grafen kennen, die Herren Zorn, Dutz und Bouisson. Wie es sich erweist, handelt es sich bei allen vieren um pensionierte Juristen, die ein eigenwilliges Hobby pflegen: Sie spielen im Schlößchen Prozesse nach, wobei sie ihre früheren Rollen vor Gericht wieder übernehmen. Weil man dafür auch Angeklagte braucht, wird der Gast gebeten, diesmal diese Rolle auszufüllen, und Rossi nimmt amüsiert an. Und wie lautet die Anklage? Irgendetwas wird sich schon finden, meint der "Staatsanwalt" ...

Bei einem üppigen Abendessen in mehreren Gängen wird aus der Unterhaltung schnell ein Verhör, bei dem der selbstbewusste und joviale Rossi bereitwillig Auskunft über sich gibt. Den Warnungen seines "Verteidigers" zum Trotz, vorsichtig mit seinen Äußerungen zu sein, gibt der aus einfachen Verhältnissen stammende Rossi unverhohlen preis, zu welchen Tricks er gegriffen hat, um beim sozialen Aufstieg nicht in der Mittelschicht hängenzubleiben. So hat er, um schneller voranzukommen, seinen Vorgesetzten in den Tod durch Herzinfarkt getrieben, indem er mit dessen Frau schlief und es ihn durch eine gezielte Indiskretion wissen ließ. Als später der "Verteidiger" in seinem Plädoyer versucht, Rossi als harmlosen Kleinbürger hinzustellen, der seine Geschichte maßlos übertreibt, protestiert Rossi, vom eigenen Geltungsdrang getrieben, heftig. Dagegen stimmt er dem "Staatsanwalt" ausdrücklich zu, der ihn als den maß- und skrupellosen Tatmenschen präsentiert, der er ja tatsächlich ist. Für den "Mord" am Vorgesetzten fordert der "Staatsanwalt" die Todesstrafe - im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten in der Schweiz verhängt dieses besondere Gericht auch die Höchststrafe. Und tatsächlich wird Rossi zum Tod verurteilt - und er amüsiert sich dabei prächtig, denn es ist ja alles nur ein Spiel. Oder etwa doch nicht? Von reichlich Speis' und Trank ermattet, und gleichzeitig aufgekratzt, weil er mit Simonetta noch ein Rendezvous vereinbart hat, sinkt Rossi spät abends ins "Napoleon-Bett", und er fällt in einen unruhigen Schlaf mit einem bizarren Albtraum. Und am nächsten Morgen erwartet ihn eine unliebsame Überraschung ...

DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS, eine Mischung aus Tragikomödie, Kammerspiel und Groteske, beruht auf Friedrich Dürrenmatts 1956 erschienener Erzählung "Die Panne". Neben oberflächlichen Änderungen wie bei Namen und Schauplätzen gibt es auch größere Abweichungen, vor allem beim Schluss. Aber auch bei Dürrenmatt selbst war der Schluss nicht in Stein gemeißelt: Eine ebenfalls 1956 entstandene Hörspielfassung und eine auch schon in den 50er Jahren geschriebene, aber erst 1979 veröffentlichte Bühnenversion verfügen jeweils über ein anderes Ende. Dürrenmatts schweizerischer Stoff wirkt in Ettore Scolas Anverwandlung wie maßgeschneidert für italienische Verhältnisse (das Drehbuch schrieb Scola gemeinsam mit Sergio Amidei) - der satirische Biss ergibt sich zwanglos wie von selbst. 1972 war Scola kein Unbekannter mehr - er war schon seit den 50er Jahren vor allem als Drehbuchautor aktiv, und er hatte 1970 mit EIFERSUCHT AUF ITALIENISCH einen Erfolg errungen -, aber er besaß noch nicht die Prominenz, die er sich mit Filmen wie DIE SCHMUTZIGEN, DIE HÄSSLICHEN UND DIE GEMEINEN, FLUCHT NACH VARENNES oder LE BAL - DER TANZPALAST erarbeiten sollte. DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS wird vor allem von seinem grandiosen Ensemble getragen. Alberto Sordi brilliert als berlusconiesker Geschäfts- und Lebemann, der wie selbstverständlich einen falschen Doktortitel führt, der sein Schwarzgeld in die Schweiz transferiert, und der mit seiner Frau telefoniert, während er gleichzeitig den Seitensprung mit dem Zimmermädchen plant. Zur Seite stehen Sordi die illustren französischen Altstars Pierre Brasseur, Michel Simon und Charles Vanel (sowie der etwas weniger charismatische Claude Dauphin) als juristische Altherrenrunde. Der blonden Schwedin Janet Agren wird in ihrer Rolle als doppelbödiges Zimmermädchen schauspielerisch nicht allzuviel abverlangt, aber optisch ist sie eine Augenweide. - DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS läuft am 29.04. um 14:05 Uhr sowie am 08.05. um 2:10 Uhr auf arte. Es gibt auch eine italienische DVD, offenbar ohne Untertitel.

Freitag, 18. April 2014

Herk Harvey: Betrunkene Laborratten, tanzende Seelen und defekte Bagger



Auf den ersten Blick würde man Herk Harvey mit seinem CARNIVAL OF SOULS in eine Reihe von Regisseuren einordnen, die lediglich einen Film gedreht haben: Peter Lorre (DER VERLORENE), Charles Laughton (THE NIGHT OF THE HUNTER), Aleksandr Askol‘dov (KOMISSAR), Leonard Kastle (THE HONEYMOON KILLERS), Dalton Trumbo (JOHNNY GOT HIS GUN), Saul Bass (PHASE IV).
Auf die Frage, warum er nur einen einzigen Film gedreht habe, antwortete Harvey in den späten 1980er Jahren gereizt: „Verdammt, ich habe über 400 Filme gedreht!“ Richtig ist, dass CARNIVAL OF SOULS sein einziger abendfüllender kommerzieller Spielfilm ist. Des weiteren hat er aber etwa drei Jahrzehnte lang am laufenden Band Industrie-, Bildungs-, Lehr- und Dokumentarfilme gedreht. Ob es 400 waren, sei dahingestellt. Es dürften wahrscheinlich wesentlich mehr sein als die weiteren 45 director-Credits (also 46 inklusive CARNIVAL OF SOULS), die der Regisseur bei imdb hat.

Harold Arnold Harvey wurde 1924 in Windsor, Colorado geboren, aber nach seinem Dienst als Quartiermeister während des Zweiten Weltkriegs verlegte er seinen Lebensschwerpunkt nach Lawrence, Kansas, um Theater und Schauspiel zu studieren. Er debütierte als Theaterregisseur und stand auch selbst auf der Bühne, zum Beispiel in der Rolle des Stanley Kowalski bei einer örtlichen Aufführung von „A Streetcar Named Desire“. Harvey machte noch Abschlüsse in Schauspiel und Drama an anderen Hochschulen, bevor er nach Lawrence zurückkehrte, um an der University of Kansas als Dozent für Theater tätig zu sein. Neben seiner Dozententätigkeit spielte er auch als Darsteller in einigen Filmen der Centron Corporation mit, einer in Lawrence ansässigen, unabhängigen Produktionsfirma für Industrie- und Bildungsfilme. Ab 1952 war Harvey Festangestellter bei Centron. Von da an wurde er zu einem der wichtigsten Regisseure, Autoren und Produzenten der Firma für über drei Jahrzehnte. Harvey war renommiert dafür, dass er über ein großes organisatorisches und logistisches Talent verfügte und die beauftragten Filme überpünktlich und meist unter Budget lieferte.
Herk Harvey genehmigt sich eine Zigarre und einen
Cameo-Auftritt in seinem Syphilis-Aufklärungsfilm
DANCE, LITTLE CHILDREN
1985 zog sich Harvey von Centron zurück, war aber weiterhin als Dozent an der University Of Kansas sowie als Regisseur und Schauspieler am Lawrence Community Theatre tätig. Etwa in dieser Zeit begann auch das Interesse an CARNIVAL OF SOULS zu steigen. Dank TV-Ausstrahlungen und Videoveröffentlichungen avancierte der Film zu einem Kultklassiker unter Cinephilen. Das war eine Entwicklung, die Harvey selbst interessanterweise mit gemischten Gefühlen aufnahm. Der Regisseur war vom ursprünglichen kommerziellen Misserfolg seines Horrorfilms zwar enttäuscht, ihm wäre es aber nie in den Sinn gekommen, sich auch nur annähernd als „auteur maudit“ zu sehen. Vielmehr war er überaus glücklich mit seiner Tätigkeit als Industrie-, Bildungs- und Dokumentarfilmemacher bei Centron und sagte (vage), dass er auf einige seiner Centron-Industriefilme stolzer denn auf CARNIVAL OF SOULS sei. Er störte sich daran, dass ein Filmprojekt, das er mal im Urlaub in nur fünf Wochen fertig stellte, seine restliche, über 30-jährige Karriere in den Schatten stellte.
Inwiefern das Koketterie war, sei dahin gestellt. CARNIVAL OF SOULS ist und bleibt dennoch ein beeindruckender und vor allem auch beeindruckend gruseliger Horrorfilm. Ein Film, der so unterschiedliche Regisseure wie George A. Romero, David Lynch und Christian Petzold beeinflusste. Die Besprechung von CARNIVAL OF SOULS soll deshalb von Kurzbesprechungen einiger seiner Centron-Filme flankiert werden. Der Einfachheit halber werde ich einfach chronologisch vorgehen.


HEALTH. YOUR POSTURE (1953)

Das Mädchen Adralene passt nicht in ihre Umgebung. Sie sitzt bei Feiern immer alleine in einer Ecke und hat auch keine Ahnung, warum die anderen Kinder immer wieder über sie lachen. Ihr Spiegelbild klärt sie eines Abends auf: sie hat eine schlechte Haltung. Adralene möchte das sogleich ändern. Der Biologielehrer wird angesprochen, und dieser lädt einen Professor in die Klasse ein, der über Gesundheitsprobleme infolge schlechter Haltung spricht. Er empfiehlt den Kindern, Sport zu treiben, oder sonstigen physischen Aktivitäten nachzugehen – Jungs können zum Beispiel den Rasen mähen und Mädels die Wäsche zum Trocknen aufhängen. Aber bitte nicht zu viel, denn sonst droht Ermüdung und infolge dessen dann auch eine Hängehaltung! Es folgen dann noch Ausführungen über die Auswahl gesunder Schuhe und über die richtige Sitzposition.
CARNIVAL OF SOULS schafft wohliges Unbehagen. Das Unbehagen, das HEALTH. YOUR POSTURE gleich zu Beginn kreiert, ist allerdings ganz und gar verstörend. Der Aufhänger des Films zeigt ein junges Mädchen, das von ihren Mitschülern (und sogar ihrem eigenen Spiegelbild!) gemobbt wird und macht auch schnell den Schuldigen aus: sie selbst. Ein beängstigendes „Die-Opfer-sind-selbst-schuld“-Narrativ, das zumal auch vollkommen beiläufig wieder fallengelassen wird. Die Klischeehaftigkeit der Geschlechterrollen wirkt im Vergleich fast schon putzig.
HEALTH. YOUR POSTURE wurde für „Young Amerca Films Inc.“ gedreht und wurde vermutlich in Schulen gezeigt. Er ist hier bei youtube zu sehen.


STAR 34 (1954)

Bill (Herk Harvey) und Mary Asher, die offenbar in einer großen US-Stadt (New York? Chicago?) wohnen, gehen zum Notar, um vom Inhalt des Testament von Bills kürzlich verstorbener Mutter zu erfahren. Bill wird eine Farm in Kansas erben, muss allerdings eine Klausel erfüllen: nämlich von seiner Mutter festgelegte Orte in Kansas besuchen, um sich mit dem Bundesstaat vertraut zu machen, der ihr so viel bedeutet hat. Wenig begeistert – Kansas sei ja schließlich „nowhere“ – bricht das Ehepaar auf. Sie packt die Reisetaschen (weil der Mann solchen „Frauen-Kram“ offenbar nicht kann), er hebt die Reisetaschen in den Kofferraum (weil er als Mann ja für Auto-Angelegenheiten zuständig ist). Dann steht dem Trip zur Erfüllung der Testament-Klausel nichts mehr im Wege. Das Paar reist durch den „Sunflower State“ und besucht alle möglichen Sehenswürdigkeiten: Museen, historisch markante Orte, das Indianerreservat, Hütten der frontier-Siedler, spektakuläre Gebirgsformationen, Büffelherden, das mit einem Markstein gekennzeichnete geografische Zentrum der USA und viele weite Getreidefelder. Ein Erzähler kommentiert pathetisch und nachdrücklich die Bilder: von „with the riffle in one hand, and a bible in the other, man brought faith to Kansas“ bis zu stolzen Kommentaren über „some of the largest outdoor swimming pools ever constructed“. Völlig begeistert kehrt das Ehepaar in der Rahmenhandlung dann zum Notar zurück, um ihm zu verkünden, den restlichen Papierkram dann postalisch nach „Star 34“ zu schicken – Kansas wurde als 34. Staat in die Union aufgenommen und war zugleich die Heimat des (damaligen) 34. US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower.
STAR 34 entstand im Auftrag der „Kansas Industrial Development Commission“. Dem Namen dieser Kommission nach zu urteilen, diente dieser „short“ wahrscheinlich als Image-Film für eine Infrastruktur-Kampagne des Staates Kansas. Der Film ist im Bonus-Teil der deutschen Doppel-DVD-Edition von CARNIVAL OF SOULS enthalten.


NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING (1957)

Hochdramatische Musik schwillt in den Anfang-Credits an. Dr. Charles Wentworth (gemimt von einem Schauspieler), der in einer Laborumgebung sitzt und sich als Biologe vorstellt, möchte gerne eine Geschichte erzählen, die von einem Glücksbringer-Schlüsselanhänger (mit einem vierblättrigen Kleeblatt) und einer farblosen Flüssigkeit handelt. Die Flüssigkeit heißt Alkohol. Der Forscher rezitiert dessen physische Formel und erklärt, dass nicht alle Experimente im Labor stattfinden.
Schnitt zu einer Schüler-Party. Drei prototypische junge Männer werden vorgestellt. Da ist der schwere Trinker Jerry Lyndon, der moderate Trinker Keith Stevens und der Abstinenzler Dan Parker.

Schwer betrunkene Laborratte
Gegenschnitt zurück ins Labor, wo Dr. Wentworth anhand dreier Laborratten erklärt, wie sich Alkohol auswirkt. Die erste ist nüchtern („the ginger-ale-type“), der zweiten wurde ein bisschen Alkohol eingeflösst (soll einigen wenigen Bieren entsprechen), und die dritte hat proportional so viel Alkohol bekommen wie jemand, der den ganzen Abend lang ununterbrochen getrunken hat. Der Forscher hebt die Ratten auf eine Metallstange, wo diese balancieren sollen (heute würde man das wohl nicht zu unrecht Tierquälerei nennen). Natürlich kommt heraus: die erste balanciert geschickt auf der Stange, die zweite hält sich gerade so, die dritte plumpst sofort herunter (wer gut aufpasst, merkt, dass die erste vom „Forscher“ auch etwas vorteilhafter auf die Stange platziert wird als die zwei restlichen). Für die Leute, die das noch nicht verstanden haben oder vielleicht, um eine sanfte Rückkehr in die Welt der Menschen zu gewährleisten, gibt es noch eine Labor-Fahrsimulation mit den drei verschiedenen Alkoholpegeln, bei der ein Milchlieferant, der aus seinem Wagen in Richtung Straße aussteigt, am Ende dran glauben muss.
Dann kehren wir zur Party zurück. Jerry, der schwere Trinker, ist inzwischen alleine weggefahren. Keith, der moderate Trinker, weiß, dass Jerry Hilfe braucht und fährt ihm nach. Dan, der gar nichts getrunken hat, fährt seine Freundin und auch Jerrys alleingelassene Freundin zurück. Beim Nachhauseweg kommen sie an einer Unfallstelle vorbei und halten an. Sie denken, dass der schwere Trinker Jerry verunglückt ist. Doch der wurde wegen seines auffälligen Fahrstils von der Polizei aufgeschnappt. Nein, ein Glücksbringer-Schlüsselanhänger, der am Unfallort gefunden wird, beweist, dass Keith, „the conservative type who did some drinking“, tot im verunglückten Auto sitzt. Lektion gelernt: schon geringe Mengen Alkohol am Steuer sind gefährlich. Die Wendung der Rahmenhandlung ist zugegebenermaßen trotzdem erstaunlich.
NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING sieht in vielerlei Hinsicht so aus, wie man sich gemeinhin einen Aufklärungsfilm über die Gefahren des Alkohols aus den 1950er Jahren vorstellt: wissende Wissenschaftler, die ihre Weisheiten in weißen Laborkitteln unter die Menschen bringen und tumbe Teenager, die wilde Party-Musik (sprich: ziemlich gediegenen Jazz) hören und dabei zu viel trinken. Zumindest unwillkürlich musste ich bei der Demonstration an den Ratten an die Rock‘N‘Roll-Mäuse in ROCK‘N‘ROLL HIGH SCHOOL denken. Ob einer der Beteiligten Harveys Film in der Schule mal gucken musste? NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING wurde unter der Beratung von Biologen der Yale University für „Young America Films Inc.“ produziert und ist hier bei youtube zu sehen.


MANNERS IN SCHOOL (1958)

Larry ist ein ziemlich frecher Schuljunge, der immer wieder patzig antwortet. Am Schluss der Stunde muss er die Tafel abwischen, und malt stattdessen ein Strichmännchen. Dieser wird lebendig und fängt an, mit Larry zu reden, der ihn erst einmal am liebsten wegwischen möchte. Nur mit viel Geschick kann „Chalky“ dem tödlichen Schwamm entkommen und redet schließlich erfolgreich auf Larry ein, um ihm in Ruhe etwas über Manieren beibringen zu können. Denn der Schüler benimmt sich schrecklich: spielt Baseball und will den Schläger nicht an seine Mitspieler weiterreichen, kommt zu spät zur Klasse (und verführt seine Spielkameraden dazu, zu spät kommen), passt in der Stunde nicht auf, wirft mit Papierfliegern, macht sich über das gemalte Elefanten-Bild einer Mitschülerin lustig.
„Chalky“ erklärt Larry gute Manieren. Im Dialog mit der animierten Strichfigur kommt der patzige Schüler langsam zur Erkenntnis, dass gute Manieren wichtig sind und erarbeitet dann mit ihr eine Regelliste (von „aufpassen in der Klasse“ bis zu „pünktlich sein“). Damit alles sitzt, wiederholt „Chalky“ die Liste noch einmal. Da seine Arbeit getan ist, und Larry auch bei seinen Eltern und Lehrer nachfragen kann, kann er am Schluss mit einem Schwammwisch verschwinden.
MANNERS IN SCHOOL wurde offensichtlich für ein jüngeres Zielpublikum als das von NONE FOR THE ROAD. TEEN-AGE DRINKING AND DRIVING gedreht und vermischt reelle Figuren mit einer einfach animierten Zeichentrick-Figur, die sowohl kumpelhaft als auch süß rüberkommen soll – was eigentlich ganz nett gelingt. Der Film wurde für McGraw-Hill Book, einem Subunternehmen des großen Medienkonzerns McGraw-Hill produziert. Dieser war übrigens ein regelmäßiger Kunde von Centron Corporation (und Harvey).
MANNERS IN SCHOOL ist hier bei youtube zu sehen. Es gibt auch ein „Sequel“ mit dem Titel MANNERS IN PUBLIC, das ich allerdings nicht gefunden habe: den gibt es auf einem US-Kompilationsvideo mit dem klangvollen Namen „Campy Classroom Classics Vol. 2“.


WHAT ABOUT PREJUDICE? (1959)

Keiner an der Schule kann Bruce Jones leiden. Jede und jeder fragt sich, wie man nur „so jemanden“ überhaupt in den Unterricht lässt. Er wird gemobbt, beleidigt, und jedes Mal, wenn irgendetwas passiert, „wissen“ alle, dass er der Schuldige sein muss. Bei einer Schülerparty sind alle froh, dass Bruce Jones nicht da ist, um mit seiner schieren Anwesenheit zu irritieren. Kann er auch nicht: zufälligerweise hat er eine Mitschülerin unter Gefährdung seines eigenen Lebens aus einem verunglückten Auto gerettet, und sich dabei schwer verletzt. Die anderen Teenager fahren ins Krankenhaus und beginnen ihre Vorurteile zu hinterfragen.
WHAT ABOUT PREJUDICE? ist ein moralischer Lehrfilm, der sich gegen Vorurteile gegenüber Minderheiten positioniert („racial, socio-economic or religious“). Bruce Jones‘ Hintergrund bleibt unbekannt. Im Vorspann heißt es, dass er ein Symbol ist, der für alle Minderheitengruppen steht, und deshalb nicht im Film repräsentiert wird – sondern nur in den Gedanken der Zuschauer. Man weiß nur, dass er männlich ist, und sieht zu Beginn lediglich seine Beine (in ausgebeulten und fleckigen Hosen – was zumindest Armut vermuten lässt). Der Rest des Films dreht sich dann nur noch um die Mitschüler und ihre verachtungsvollen Äußerungen über Bruce Jones. Ihm kein Gesicht zu geben, geht sicherlich von einer guten und humanistischen Idee aus. Die Thematisierung von Vorurteilen bleibt dadurch aber auch gezwungenermaßen stets im nebulösen Unkonkreten – und dürfte tendenziell sogar niemanden wirklich angesprochen haben. Dass Vorurteile gegenüber einem Angehörigen einer Minderheit erst hinterfragt werden, wenn dieser „Heldentaten“ vollführt, hat ebenfalls einen etwas komischen Beigeschmack.
Dem Drehbuch der Centron-Stammautorin Margaret Travis entsprechend ist WHAT ABOUT PREJUDICE? vor allem ein dialog- und holzhammerpädagogik-lastiger Film. Er wurde von der „Young America Films Inc.“ in Zusammenarbeit mit McGraw-Hill Book für die Reihe „Discussion Problems in Group Living“ produziert. Diese präsentierte ein soziales Problem in der Schule und endete stets mit der Frage „What do YOU think?“. Harvey drehte ein gutes Dutzend Filme für diese Reihe. WHAT ABOUT PREJUDICE? ist hier bei youtube zu sehen.


THE INNOCENT PARTY (1959)

Zwei Jungs sind in der Stadt unterwegs und wollen Spaß haben. Sie stellen sich an der Kinokasse an, aber dann kommen zwei hübsche Mädchen vorbei, denen sie nachstellen. Mit ihnen fahren sie durch die Gegend, und der Abend endet mit... „Küssen“.
Wenig später fährt einer der beiden Jungs, Don, seine Freundin Betty von einer Party nach Hause. Da sie noch fast eine halbe Stunde Zeit bis zur elterlichen Sperrstunde haben, schlägt er vor, am Straßenrand zu halten, um sich etwas ausgiebiger... „küssen“ zu können. Danach fühlen sich beide schlecht, und in der Schule mag Betty nicht mehr wirklich mit Don reden. Seinem Kollegen Nick, mit dem er neulich unterwegs war, beichtet er außerdem folgendes: „I‘ve got some sort of sore, down there.“ Das bekommt er mit einem nonchalanten „Oh, don‘t worry about it, it‘s probably just a pimple or something.“
Don ist trotzdem beunruhigt, und geht zum Arzt. Es stellt sich heraus, dass das „or something“ in Wirklichkeit die Syphilis ist. Verständnisvoll klärt der Arzt seinen Patienten über die Krankheit auf, zeigt ihm dabei noch ein paar unschöne Bilder, und bittet ihn, ihm die Namen seiner Sexualpartnerinnen zu nennen. „Barbara Meyer“, das Mädchen vom eingangs gezeigten Abend (wahrscheinlich ein falscher Name, wie Don selbst bemerkt) wird gebeichtet. Doch Bettys Namen mag er nicht nennen – auch nicht nach einer zusätzlichen unappetitlichen Bilderreihe. Schlussendlich knickt Don doch ein, und findet sich mit Betty beim Arzt zusammen wieder. Ihre Krankheit wird geheilt werden, aber ihre Beziehung dürfte dennoch zerstört bleiben.

Don & Betty: vor und nach dem vorehelichen Sex
Anrüchige Mädchen / Syphilis
THE INNOCENT PARTY ist ein Aufklärungsfilm, den Harvey für das Kansas State Board of Health und dem U.S. Public Health Service drehte. Gerade sein Aufklärungsteil ist relativ klassisch gehalten, doch die ersten zwei Minuten sind schlichtweg großartig. Harvey schafft es, in nur wenigen Sekunden, eine ausgelassene Freitagabend-Ausgeh-Stimmung zu etablieren: die Jungs laufen durch eine belebte Straße, überall Lichter, Passanten. Sie gehen am Kino vorbei. Dort wird RIO BRAVO gezeigt. John Wayne, Dean Martin und Ricky Nelson blicken die Jungs von ihren Aushangs-Fotos aus an. Karten zu diesem hypermaskulinen Film wollen gekauft werden, aber dann erscheinen die beiden Mädchen, die man sofort als „unartig“ identifizieren kann: sie tragen Hosen statt Röcke, sie rauchen und sie blicken kokett rein. Nichts wie hinterher! Nick ist Feuer und Flamme, Don folgt eher passiv hinterher. Als sie zu viert ins Auto steigen, folgt ein kurzer Schnitt auf Dons Gesichtsausdruck: irgendwie scheint er Zweifel zu haben, nickt diese aber weg. Das alles ist komplett stumm, nur mit einer urbanen Geräuschkulisse und einem Duo aus Bass und Saxofon unterlegt. Im Auto legt die Musik einen Schritt zu: Don und die Unbekannte sitzen auf der Rückbank und beginnen sich zu küssen (unter den Credits). Schnitt: auf den Vordersitzen ist niemand mehr (Nick und die andere sind wohl weg), doch Don und die Unbekannte küssen sich, nun am Straßenrand, weiter. Wie in diesen knapp zwei Minuten so viele Informationen und Eindrücke so kompakt und trotzdem so unbeschwert untergebracht werden, ist schlicht bemerkenswert!
Der Titel von THE INNOCENT PARTY kann man zweideutig lesen: er ironisiert den gefährlichen spontanen Seitensprung mit den anrüchigen Mädchen, und charakterisiert zugleich Betty, die „unschuldige Partei“, mit deren Leben Don spielt, als er zögert, dem Arzt ihren Namen zu nennen – ein übrigens ebenfalls sehr spannend inszenierter Konflikt, der aus dem kranken jungen Mann für einige Zeit implizit in einen regelrechten „Bösewicht“ verwandelt.
THE INNOCENT PARTY ist hier bei youtube zu sehen.


DANCE, LITTLE CHILDREN (1961)

Trotzdem THE INNOCENT PARTY hervorragend inszeniert war, schien er offenbar den Auftragsgebern recht schnell veraltet. Denn zwei Jahre später drehte Harvey erneut für das Kansas State Board of Health und das U.S. Public Health Service einen Aufklärungsfilm über die Gefahr der Syphilis. Diesmal geht es um einen „outbreak“, der augenscheinlich die ganze Jugend einer Kleinstadt infiziert. Die Schuldigen dafür sind schnell ausgemacht: natürlich die Medien, die sexualisierte Bilder verbreiten, der Rock‘n‘Roll und Brigitte Bardot! Die Epidemie droht, sich in den ganzen USA und sogar bis nach Mexiko auszubreiten, aber ein Beamter des Kansas State Board of Health bringt die Situation unter Kontrolle, in dem er ausgiebig mit den Jugendlichen spricht (und ihnen – wie in THE INNOCENT PARTY – die Legende der Toilettensitz-Infizierung ausredet). Am Schluss ist die Epidemie eingedämmt. Nur die „tall aggressive blonde“, die auf Autorennstrecken unschuldige junge Männer verführt und wohl hauptverantwortlich für einen Teil der Infizierungen ist, wird nicht geschnappt.
Falls das alles sehr (unfreiwillig) komisch klingt: das ist es nicht. DANCE, LITTLE CHILDREN ist dramaturgisch holprig und unübersichtlich, führt viel zu viele Figuren parallel ein und wird von einem unangenehm moralinsauren Ton beherrscht, der in THE INNOCENT PARTY weitestgehend fehlte.


TO TOUCH A CHILD (1962)

TO TOUCH A CHILD zeigt, wie das Konzept der „community school“ in Flint, Michigan eingeführt worden ist. Die Stadt war damals noch ein prosperierendes Autoindustrie-Zentrum. Erst ab den späten 1960er erlebte sie ihren Niedergang – der später auch vom gebürtigen Flinter Michael Moore immer wieder thematisiert wurde.
Am Anfang präsentiert der Film eine suboptimale Situation: Schulgebäude stehen halbtägig und in den Ferien leer, die Schüler bringen Belastungen von zuhause mit in die Schule mit (exemplifiziert an einigen Einzelschicksalen, darunter auch eines schwarzen Mädchens), und wenn die Schule zu Ende ist, spielen sie auf der Straße oder werden zu Kleinkriminellen.
Die Implementierung des „community school“-Konzepts schafft Abhilfe. Es ist die Idee eines Sportlehrers, der sich der finanziellen Unterstützung eines reichen Industriellen sicher sein kann. Nunmehr werden die Schulgebäude aktiv für Gemeine-Aktivitäten genutzt. Für die Erwachsenen gibt es Volkshochschulkurse und Weiterbildungsangebote, für die älteren unter ihnen gibt es Senioren-Versammlungen. Und auch für die Schüler wird ein umfangreicheres außerschulisches Programm implementiert: Jugendclubs, Sportkurse, musikalische Aktivitäten. Das „community school“-Konzept gewinnt an Momentum. Die Gemeinde, früher politisch passiv, stimmt für den Bau neuer Schulen.

Am Ende steht die „community school as a place for shared activities“, und zwar für alle. Die Schüler, die Anfangs ihre Probleme hatten, haben nun eine bessere Zukunftsaussicht  – etwa dadurch, dass der Arbeiter-Vater des einen Kindes durch eine Weiterbildung (durchgeführt Abends in der Schule) beruflich aufsteigen wird. Eine harmonische Montage zu den Klängen von „America the Beautiful“ beendet den etwa halbstündigen Film.
John Clifford, der Centron-Mitarbeiter, der für CARNIVAL OF SOULS das Drehbuch geschrieben hatte, äußerte sich später mit bewundernden Worten über TO TOUCH A CHILD. Seiner Aussage nach wurde der Film lediglich von einem Zweimann-Team aus Harvey selbst und dem Kameramann Bob Rose gedreht. Der Rest entstand dann am Schneidetisch und im Tonstudio beim Nachsynchronisieren (der Film wurde offensichtlich stumm gedreht). Die Narration von TO TOUCH A CHILD wird massgeblich durch die schnelle Montage vorangetrieben. Die Kameraschwenks sind meist kurz und einfach. Häufiger sind Reisszooms (meistens rauszoomen) – denkwürdig: ein zoom-out durch das Loch eines zerbrochenen Fensters, das der Sportlehrer vor dem Gebäude stehend bemerkt. 
Interessant am Film ist aber vor allem die absolute Selbstverständlichkeit, mit der schwarze und weiße Menschen gleichberechtigt und integriert gezeigt werden – ohne, dass es explizit thematisiert wird. Eines der „community school“-Programme richtet sich an die Kinder alleinerziehender Mütter, bei denen Männer aus der Gemeinde eine Patenschaft übernehmen: exemplifiziert wird dies mit dem Bild eines weißen Jungen, der von einem schwarzen Mann väterlich an die Hand genommen wird.
TO TOUCH A CHILD war eine Auftragsarbeit der in Flint angesiedelten philanthropischen Charles Stewart Mott Foundation (die im Film auch explizit genannt wird) und des Flint Board Of Education. Nach Aussage der Mott-Foundation sorgte die Verbreitung ihres Films für eine Verbreitung des Konzepts der „community school“ in den USA.
TO TOUCH A CHILD ist auf der Bonus-DVD der Doppel-Edition von CARNIVAL OF SOULS enthalten, allerdings nur in einer gekürzten (und arg rotstichigen) Version von 12 Minuten. Das ist auch die Dauer, die bei imdb angegeben ist. Hier bei youtube findet sich eine 29-minütige Fassung des Films (allerdings im falschen Bildformat). Inwiefern die gekürzte Fassung eine Version ist, die ebenfalls 1962 im Umlauf gebracht worden ist, oder aber nur für den Bonusteil gekürzt wurde, kann ich nicht abschätzen.


CARNIVAL OF SOULS (1962)

Darsteller: Candace Hilligoss (Mary Henry), Herk Harvey (The Man), Sidney Berger (John Linden), Frances Feist (Mrs. Thomas), Stan Levitt (Dr. Samuels), Art Ellison (Priester)


In einer der kürzesten Filmexpositionen der Kinogeschichte stacheln zwei Männer in einem Auto drei Frauen in einem anderen Auto zu einem kleinen Rennen an. Die Fahrerin sagt zu, eine Kollegin schaut skeptisch rein. Das Auto der Frauen landet bei der Überquerung einer Brücke im Fluss, und nur die Frau, die skeptisch war, kann sich mysteriöserweise aus dem Wagen retten, der auch gar nicht mehr gefunden wird. Sie ist heißt Mary Henry, ist Organistin, und reist bald zu ihrer neuen Arbeitsstelle, einer Kirche. Auf dem Weg fährt sie an einem verlassenen Pavillon vorbei, und plötzlich erscheint am Wagenfenster ein bleicher Mann, der sie fürchterlich erschrickt.
Sie checkt in einer Pension ein, wo sie den Mann erneut an ihrem Fenster sieht, sich aber sicher ist, dass es nur eine Vision ist. Am nächsten Tag tritt sie ihre Arbeit in der Kirche an, wo der mysteriöse Mann während ihres Spiels – diesmal ohne ihr Wissen – auftaucht. Später fährt Mary zusammen mit dem Priester zu dem verlassenen Pavillon außerhalb der Stadt, und scheint stark zu diesem Ort angezogen zu sein. Zurück in der Pension wird alles turbulent: der einzige andere Pensionsgast, ein Mann namens Linden, belästigt sie, der bleiche Mann taucht wieder auf und Mrs. Thomas, die die Pension führt, hält sie für verrückt. Am nächsten Morgen frühstückt Mary, nolens volens, mit dem aufdringlichen Nachbarn, der sich als Alkoholiker entpuppt.
Als Mary sich ein Kleid kauft, hat sie einen unerklärlichen Anfall: sie hört nichts mehr, und die Menschen um sie herum nehmen sie nicht mehr wahr. Panik erfasst sie, bis sie wieder hört und in die Arme eines Dr. Samuels rennt. Bei ihm in der Praxis spricht sie über ihren Anfall und über den Mann, den sie immer wieder sieht. Dr. Samuels erklärt ihr, dass es sich um post-traumatischen Stress handelt, der durch ihren Autounfall verursacht wurde.

Mary fährt danach gleich wieder zum verlassenen Pavillon. An einem späteren Tag ereilt sie bei der Arbeit, also während des Orgelspiels in der Kirche, eine Vision vom Pavillon: der bleiche Mann steigt zusammen mit anderen bleichen Figuren aus dem Wasser, und alle zusammen fangen an zu tanzen – zu den zunehmend karnevalesk-dissonanten Orgelklängen, die Mary selbst produziert. Der Priester merkt das und feuert sie, weil sie profane Musik in der Kirche gespielt hat. Am Abend geht sie mit ihrem penetranten Zimmernachbarn Linden aus. Das „Date“ verläuft nicht gut. Bei der Rückkehr in die Pension versucht er, mittlerweile betrunken, sich ihr anzunähern, was sie beim ersten Mal schroff zurückweist. Beim zweiten Annäherungsversuch ereilt sie wieder eine Vision des bleichen Mannes. Sie wirft Linden raus, und verbringt den Rest der Nacht in Panik und Hysterie.
Später verlässt sie die Pension und fährt in die Stadt, um ihr Auto reparieren zu lassen. In der Werkstatt sieht sie wieder den Mann, flüchtet und beginnt, panisch durch die Stadt zu rennen. Dabei verliert sie wieder ihr Gehör, und kann erneut nicht mehr mit ihrer Umwelt kommunizieren. Sie will in einen Bus steigen, aber bleiche Gestalten sitzen dort, stehen auf und kommen auf sie zu. Hysterisch flüchtet sie wieder weg und irrt durch die Stadt. An der selben Ecke, in der sie Dr. Samuel traf, ist plötzlich wieder alles in Ordnung, und in seiner Praxis spricht sie über ihren Anfall. Doch eigentlich sitzt der bleiche Mann im Arztsessel. Sie schreit – und findet sich wieder in der Autowerkstatt. Sogleich fährt sie zum Pavillon, wo wieder bleiche Gestalten aus dem Wasser steigen und zu tanzen beginnen. Auch ihre „Doppelgängerin“ ist darunter, und als sie flieht, verfolgen sie die bleichen Gestalten, bis sie sie kriegen.
Inzwischen wurde am Unfallort der Wagen gefunden. Als dieser aus dem Wasser rausgezogen wird, sieht man, dass alle drei Frauen, darunter auch Mary, tot sind.

CARNIVAL OF SOULS wurde in knapp drei Wochen mit einem Budget von etwa 30.000 Dollar (andere Quellen sagen 17.000 Dollar) stumm auf 16-mm-Film gedreht. Einer der drei Saltair Pavillons beim Great Salt Lake diente als Drehort. Der Rest wurde in Kansas gefilmt, die Innenszenen in den Studios von Centron. Die Finanzierung des Films fand über ein Fundraising in Lawrence statt: kleine und mittelständische Unternehmen investierten in den Film. Eine Dame, die einen Anteil des Budgets mit finanziert hatte, wurde 1967 die zweite Ehefrau Harveys.

Die an der Inszenierung und Postproduktion des Film beteiligten Personen waren größtenteils Centron-Angestellte: so der Autor John Clifford, der das Drehbuch auf der Grundlage von Harveys Idee verfasste und Cutter Dan Palmquist, der auch einen Tankwart spielt. Zwei weitere Schlüsselpositionen in der Produktion des Films, nämlich Kameramann und Komponist, wurden jedoch mit Personen aus der Konkurrenz besetzt, nämlich mit Angestellten der Calvin Company in Kansas City, Missouri. Die Calvin Company war ebenso wie Centron eine unabhängige Produktionsfirma für Industriefilme. Einer ihrer Regisseure hieß übrigens Robert Altman, der sich bekanntermaßen später auch einen Namen im Bereich des Spielfilms machen sollte. Maurice Prather, Hauskameramann von Calvin, fotografierte CARNIVAL OF SOULS, und ihm sind ohne Zweifel wunderbare Bilder gelungen. Gene Moore war der Hauskomponist von Calvin und schrieb für Harveys Film den prägnanten Orgel-Score, der eher Klangteppich als Melodie ist und maßgeblich zur beunruhigenden Atmosphäre des Films beiträgt. Extra- und intradiegetische Musik fließen immer wieder ineinander über, da die Protagonistin Mary schließlich selbst Kirchenorganistin ist. 

CARNIVAL OF SOULS ist ein Film der vielfältigen Irritationsmomente. Sein Look ist über weite Strecken als „realistisch“ zu bezeichnen, und seinen Grusel entwickelt er gerade dadurch, dass in diese (nur scheinbar) geordnete Welt der Irrsinn und das Irrationale einbricht. Die ordentliche Welt wird als fester Boden präsentiert, der immer wieder ruckartig weggezogen wird.
Das besondere Unbehagen wird vielleicht am ehesten in der Szene deutlich, als Mary zum ersten Mal das Pavillon betritt. Es ist verlassen, etwas trist, aber nicht im engeren Sinne gruselig. Mary betritt eine Terrasse und schaut sehnsüchtig in die Weite. In diesem Moment wird ein Bild des im Wasser liegenden bleichen Mannes in die Sequenz montiert.
Viele kleine Details irritieren. Mary kommt nach einem Unfall nass und schlammüberzogen aus dem Fluss raus. Nach einem Schnitt trägt sie ein makelloses Kleid, wird von ihrer Umgebung kaum wahrgenommen und fährt vom Unfallort einfach so weg. Auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeit hört sie Radio, und trotz Umschalten der Sender läuft die Orgelmusik weiter. Immer wieder äußert sie, dass sie keinen Mann oder Freund hat, und allgemein sich nicht gerne mit anderen Menschen umgibt. Aber warum trägt sie dann sichtbar einen Ehering und fährt zu Beginn offenbar mit guten Freundinnen Auto? Die „Anfälle“ Marys, bei denen sie nichts mehr hört und mit ihrer Umwelt nicht mehr interagieren kann. Viele kleine Dissonanzen, die zeigen, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung ist. In der Tat ist hier nichts in Ordnung: Mary ist schließlich die ganze Zeit schon tot.
Der bleiche Mann (gespielt von Regisseur Herk Harvey) ist natürlich eher Schock als eine Dissonanz, und es ist faszinierend, dass – abgesehen vom Schluss – er tatsächlich praktisch nichts anderes macht, als einfach nur da zu sein. Er tritt nicht offensiv oder aggressiv auf, ja eigentlich „macht“ er nichts, sondern zeigt sich nur, was den Grusel vielleicht potenziert.
CARNIVAL OF SOULS ist ein Film, die nicht nur trotz seines minimalen Budgets gut funktioniert, sondern wahrscheinlich gerade auch deswegen. Strukturell erinnert er mich ein bisschen an Edgar Ulmers poverty-row-noir DETOUR: ein Film, der seine eigene „Schäbigkeit“ zum Trumpf erhebt. Das selbe ist auch in CARNIVAL OF SOULS zu sehen. Weite Teile des Films wurden ohne Direktton gedreht: um so besser, das passte eh zu Marys „tauben Anfällen“ und störte so weniger, wenn der atmosphärische Score unterlegt werden sollte. Der „Ausfall“ des Tons ist schließlich das größte Problem in Marys „Leben“. Die „goof“-section des Films bei imdb liest sich teilweise eher als eine interessante Liste von Irritationselementen: Schritte oder Handbewegungen beim Orgelspielen, die nicht mit dem Bild synchronisiert sind; verschwindende Geldbörsen und Brillen.

CARNIVAL OF SOULS war ein kommerzieller Misserfolg. Das lag vor allen Dingen an den Distributionsschwierigkeiten, die der Film hatte. Da er komplett unabhängig produziert war, konnte er schließlich nicht von den Hollywood‘schen Distributionswegen profitieren. Harvey selbst kümmerte sich offenbar auch nicht sonderlich um den Vertrieb des Films. Als die Schwierigkeiten Überhand nahmen, befand er sich sowieso auf den Antillen, um einen Centron-Dokumentarfilm zu drehen. Der Misserfolg entmutigte Harvey auch, weitere kommerzielle und abendfüllende Spielfilme zu drehen (bis auf ein abgebrochenes Projekt Ende der 1960er Jahre, siehe unten). Der Film verschwand weitestgehend bis Ende der 1980er Jahre, als er sich zu einem Kultfilm entwickelte.
Primär sollte CARNIVAL OF SOULS in Autokinos gespielt werden, und dafür wurde der ohnehin schon kurze Film vom Verleih um etwa fünf Minuten gekürzt, damit er noch öfter in Double-Features gespielt werden konnte. Das führte dazu, dass es heute zwei unterschiedliche Fassungen gibt, nämlich den Kino-Cut und den ursprünglichen Premiere-Cut. 

Bis er in den 1980er Jahren ein Comeback erlebte, hinterließ CARNIVAL OF SOULS aber auch so Spuren. Die Seelen (also der bleiche Mann, und seine Tanzgenossen im Pavillon) erscheinen nach heutigen Sehgewohnheiten wie Zombies, auch wenn sie eigentlich keine menschenfleischfressende Untoten sind: Sie bewegen sich unnatürlich, sind sehr bleich, sehen im allgemeinen ungesund und „unfrisch“ aus und haben dunkle Augenringe. Acht Jahre später sah man solche Gestalten (diesmal menschenfleischfressende Untote!) in NIGHT OF THE LIVING DEAD, der auch strukturelle Ähnlichkeiten mit CARNIVAL OF SOULS aufweist: ein Low-Budget-Film, gedreht von einem unabhängigen Regisseur, der in Gebrauchsfilmen spezialisiert war. Pittsburgh und Lawrence sind zwar über 1.000 Kilometer voneinander entfernt, aber man kommt nicht umhin zu denken, dass George A. Romero CARNIVAL OF SOULS vor dem Dreh zu NIGHT OF THE LIVING DEAD gesehen haben muss. Später, in LAND OF THE DEAD, hat er der Szene, in dem die Seelen aus dem Wasser steigen, eine Hommage geschenkt. Diese wird im imdb-connections-Teil übrigens alternativ auch als Hommage an eine entsprechende Szene in APOCALYPSE NOW präsentiert. Ob Coppola wiederum jemals CARNIVAL OF SOULS vor dem Dreh seines Vietnam-Epos gesehen hat?
David Lynch soll Harveys Film als maßgeblichen Einfluss auf sein Werk genannt haben, und das scheint ziemlich schlüssig: Provinzielle Städte, in denen das Unbehagen und das Irrationale lauern; Figuren, die sich in alptraumhafte Situationen verstricken, aus denen es im Grunde kein Zurück mehr geben kann – das ähnelt sich in der Tat.
Mit einer leicht abgeänderten Geschichte, die der Hauptfigur mehr psychologischen Hintergrund gibt, wurde 1998 ein gleichnamiges Remake von CARNIVAL OF SOULS gedreht, mit Wes Craven als ausführender Produzent. Inwiefern diese Änderung wirklich sinnvoll ist, sei dahin gestellt. Harveys Film lebt ja maßgeblich davon, dass die Hauptfigur kaum einen Hintergrund hat, von nirgendwo herkommt, sich im Nichts bewegt und nirgendwo hingeht. Allerdings kann ich tatsächlich über Qualität des Remakes nicht urteilen.
Ein weiteres Remake von CARNIVAL OF SOULS, nämlich Christian Petzolds YELLA, erschien 2007. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem Unfall an gelegentlichen kognitiven Störungen leidet, und ebenfalls auf einen Mann trifft (mit dem sie allerdings mitgeht und krumme Geschäfte abwickelt). Das Grundmuster und die Auflösung der Geschichte sind praktisch dieselben. Ton und Bild der rauschenden Blätter, die immer wieder den Übergang vom gestörten in den „normalen“ Zustand markieren, sind sogar fast eins zu eins übernommen. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass YELLA sich trotzdem als weitestgehend eigenständiger Film entwickelt und vor allen Dingen im Gegensatz zu seiner Vorlage kaum als Horrorfilm im klassischen Sinne zu bezeichnen ist.


CARNIVAL OF SOULS ist im Internet in mittelmäßigen bis schlechten Kopien zu sehen, weil der Film in den USA einige Zeit im „public domain“ war. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum es unzählig DVD-Editionen gibt. Für diese Besprechung habe ich die Doppel-DVD-Edition von M.I.B. genutzt, die sowohl den Kino-Cut als auch den Premieren-Cut enthält und des Weiteren auch eine „Best-Of-Kompilation“ von Harveys Industriefilmen bei Centron aufweist („Best-of-Kompilation“ in Anführungszeichen, weil einige Filme nur ausschnittsweise enthalten sind). Diese DVD stimmt weitestgehend mit der US-Criterion-Edition des Films überein. Es gibt übrigens auch eine kolorierte Version des Films (einige wenig begeisterte Ausführungen sind hier zu lesen).


THE RELUCTANT WITCH (unvollendeter Spielfilm – Ende der 1960er Jahre)

Der kommerzielle Misserfolg von CARNIVAL OF SOULS entmutigte Harvey zunächst, weitere abendfüllende Spielfilme zu drehen, hatte aber auch keinerlei Auswirkungen auf seine Karriere bei Centron. Ende der 1960er Jahre wollte er aber tatsächlich die Kurzgeschichte „The Reluctant Witch“ des Science-Fiction-Autoren James Gunn verfilmen. Gunn war Professor für englische Literatur an der University of Kansas, woher Harvey ihn als Arbeitskollegen vermutlich auch kannte. Der Film sollte diesmal von Centron produziert werden, aber dann gab es wohl budgetäre Probleme und das Projekt wurde abgeblasen. Bei youtube finden sich fünf Minuten Rohmaterial ohne Ton. THE RELUCTANT WITCH sollte wohl von einem Professor an der KU handeln, der übernatürliche Kräfte entwickelt. Die ersten paar Minuten sind banal, eine Gans und eine Schlange sorgen dann aber für – offenbar komödiantischen – Trubel. Schwer zu sagen, was daraus hätte werden können. Herk Harvey ist kurz als Tankwart zu sehen.


ohne Titel (ohne Jahr – Ende der 1960er Jahre)

Auf der Bonus-DVD von CARNIVAL OF SOULS enthalten ist ein etwa zweiminütiger Clip, in dem das Hauptquartier von Centron Corporation gezeigt wird, und zwar komplett durch ein „Fischaugen“-Objektiv. Die Verzerrung wird dadurch verstärkt, dass sich die Kamera fast permanent bewegt, und dabei in einer Art Rundgang die verschiedenen Abteilungen präsentiert: Verwaltungsräume, die „Preis-Galerie“ (viele Centron-Filme bekamen Auszeichnungen), der Vorführungsraum, der Chefraum, die „Art & Animation“-Abteilung, ein sound stage, die Tonabteilung, die Montageabteilung. Ja, alles in zwei Minuten. Der titellose Film ist schnell geschnitten und wird zwischendurch auch mal doppelt und dreifach belichtet. Die rhythmische Montage passt wunderbar zu den jazzig-souligen Klängen, die den Film untermalen.
Es ist zu vermuten, dass dieser Clip als Image- bzw. Eigenwerbung-Film verwendet wurde.


KOREA: OVERVIEW – THE FACE OF KOREA (1980)

Centron Corporation schickte seine Leute auch um die ganze Welt, um für verschiedene Kunden Dokumentarfilme über exotische Länder zu drehen. Harvey und Kameramann Rose reisten 1978 nach Korea, um dort eine vierteilige Dokumentarreihe über das Land zu drehen.
Der erste Teil bietet, wie der Titel es andeutet, einen Überblick. Die Bilder des Landes werden vom Regisseur selbst aus dem Off kommentiert. In einem Spurt werden Teilung, Auto- und Textilindustrie, traditionelles Austerntauchen sowie Religion abgehandelt. Alles nichts außergewöhnliches.
Interessanter ist, dass die Bilder durch ihre Montage sehr systematisch einen Kontrast zwischen einem alten, ruralen und traditionellen Korea und einem jungen, urbanen und modernen Korea schafft. Eine traditionelle Musik-Aufführung wird mit einer Gruppe junger Menschen kontrastiert, die ein US-inspiriertes Folk-Lied singt; ein gemütliches ländliches Familien-Mahl wird den Bildern aus einer betriebsamen Auto-Werkshalle gegenübergestellt.
Wer der Auftraggeber dieser Korea-Dokumentarfilmreihe war, lässt sich weder aus Anfangs- noch Schluss-Credits nachvollziehen. Der Film findet sich auf der Bonus-DVD von CARNIVAL OF SOULS.


SHAKE HANDS WITH DANGER (1980)

Geprellte und verbrannte Leiber, schmerzverzerrte Gesichter, tiefe Wunden im Brustbereich, Verstümmelungen, abgetrennte Hände und Füße, Tote, Explosionen... Nein! Harvey hat keinen Action- oder Kriegsfilm mit Splatter-Elementen gedreht. Sondern einen Lehrfilm über Arbeitssicherheit auf einer Baustelle – der ein bisschen wie ein Western aufgezogen ist.
SHAKE HANDS WITH DANGER drehte Harvey im Auftrag der Caterpillar Company. In vielen kleinen Episoden werden Gefahrquellen auf einer Baustelle aufgezeigt. Manchmal aber „schütteln die Arbeiter Hände mit der Gefahr“, und es kommt zu Fast-Unfällen, und manchmal auch zu richtig blutigen Zwischenfällen.
Was zu einem etwas drögen und besserwisserischen Pädagogikhammer hätte werden können, entwickeln Harvey und Autor John Clifford tatsächlich zu einer Art 20-minütigen Western. Die frontier, die erobert werden muss, ist die Baustelle. Statt Cowboys und Siedler gibt es Bauarbeiter. Statt Indianer-Angriffen und Auseinandersetzungen mit Räubern oder den Unwirtlichkeiten der Natur müssen die Helden der Geschichte mit den Tücken von schweren Baustellen-Maschinen kämpfen – und einige von ihnen werden nicht lebendig aus der Schlacht zurückkehren. Fehlt eigentlich nur die Salloon-Schlägerei.

Der Western-Eindruck wird maßgeblich vom Soundtrack auch mitgetragen, bestehend aus dem Lied „Shake Hands With Danger“, vorgetragen in schwerer, bluesiger Country-Manier mit einem Sänger, der ganz offensichtlich den Gesangstil Johnny Cashs imitiert. Der Titel des Lieds könnte auch „Three-Finger-Joe Blues“ sein: der Sänger erzählt aus der Perspektive eines ehemaligen Bauarbeiters, der seine Lektion gelernt hat – „I used to laugh at safety, now they call me Three-Finger-Joe.“ Das Lied rhythmisiert auf ganz eigene Weise den Film: zwischendurch gibt es nur ein paar schwere Riffs, und immer wieder kommentiert der Sänger ironisierend das Geschehen. Diese Ironisierung wird auf einer ganz anderen Ebene mit dem Off-Kommentator fortgeführt. Mit der autoritären, respekteinflößenden und tiefen Stimme eines alten Geschichten-Erzählers kommentiert er ungerührt, ganz „matter of fact“ die Geschehnisse – und spult dabei auch das eigentliche Lehrprogramm ab.
Die Stimme gehört Charles Oldfather, seines Zeichens langjähriger Professor für Recht an der University of Kansas in Lawrence. Nicht nur war er ein äußerst respektierter Jurist, sondern auch engagiert in den Theater-Aktivitäten der Universität, wo er höchstwahrscheinlich auch den Dozenten-Kollegen Harvey kennenlernte. Ob er auch das Lied singt, ist schwierig zu sagen, aber nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls hat er zusammen mit John Clifford und einem Unbekannten namens Jim Stringer den treibenden Song mitgeschrieben.
Ganz unwillkürlich könnte man bei der Sichtung von SHAKE HANDS WITH DANGER an STAPLERFAHRER KLAUS – DER ERSTE TAG denken, der berühmten Parodie auf Lehrfilme über Sicherheit am Arbeitsplatz. Harveys Film unterlag aber natürlich den Anforderungen der Auftragsgeber und fällt daher nicht ganz so drastisch und konsequent aus. Und unwillkürlich fragt man sich auch, wie wohl ein richtiger Western Harveys ausgesehen hätte. SHAKE HANDS WITH DANGER ist hier bei youtube zu sehen.


SIGNALS: REED ‘EM OR WEEP (1981)

Baggern über Funk; Bagger im Garten
Hierbei handelt es sich gewissermaßen um das „Sequel“ von SHAKE HANDS WITH DANGER, das ebenfalls im Auftrag der Caterpillar Tractor Company inszeniert wurde. Der maßgebliche Unterschied besteht darin, dass hier nicht die Personensicherheit, sondern die Maschinenwartung und der sorgfältige Umgang mit Arbeitsmaterial im Vordergrund steht. Der Film zeigt anhand verschiedener kurzer Episoden, was passiert, wenn die Baustellenarbeiter und -fahrer nicht umsichtig mit den Maschinen umgehen (meistens: Materialschaden).
Die meisten Episoden werden relativ nüchtern vorgetragen. Ein Lastwagenfahrer, der mit der Gangschaltung seines Fahrzeugs schlecht umgeht, fährt zum Beispiel einfach weiter, während der Off-Kommentator erklärt, dass die Reparatur Tausende Dollar kosten wird. Ganz anders ist eine Episode, bei der ein reparaturbedürftiger Bagger auf ein Lastwagen gehoben wird, um zur Werkstatt transportiert zu werden, jedoch nicht ordnungsgemäß befestigt wird. Der Lastwagenfahrer ist ein witziger Typ, der beim Fahren Country-Musik hört und über Funk mit der Telefonistin in der Baustellen-Zentrale flirtet. Als er ankommt, sagt er nonchalant zum Werkstattarbeiter, dass er eine Ladung zu liefern hat. Doch der fragt nur: wo denn? Beim Flirten zwischendurch ist der Bagger wohl von der Ladefläche des Lastwagen runtergerutscht: zwei stark verwunderte Rentner finden ihn in ihrem Garten.
Über verschiedene Fassungen bei Spielfilmen kann man ganze Artikel füllen. Interessanterweise gibt offenbar auch von SIGNALS: REED ‘EM OR WEEP mindestens zwei verschiedene Cuts: einen 19-minütigen, den man hier bei youtube finden kann, sowie einen knapp 6-minütigen, der auf der Bonus-DVD von CARNIVAL OF SOULS zu finden ist. Der 6-minütige Cut ist nicht einfach nur eine kürzere Fassung, sondern enthält auch eine alternative Episode: es geht um einen notdürftig geflickten Ventilschlauch, der ein Problem bereitet – der darin besteht, dass der Hebemechanismus des Baggers gerade dann ausfällt, als eine Ladung über das Auto des Vorarbeiters gehoben wird. Lektion mit einem Lacher gelernt!