Sonntag, 4. Januar 2015

Ein rothaariger Engel, erregte Leuchttürme und lästige Audiokommentare: 2014 in einem persönlichen Rückblick



Und erneut ein Jahr voller Filme rum!

2014 bin ich wesentlich seltener ins Kino gegangen als in den beiden vergangenen Jahren. Das hat mehrere Gründe. Da wären zum einen temporäre finanzielle Engpässe, die einige Zeit lang meine Hemmschwelle für Kinobesuche etwas erhöhten. Zum anderen zog mich das Programm über recht lange Zeiträume nicht wirklich an: oft wochenlang blockierten deutscher Historien-Klamauk, französische FN-Werbespots (vulgo: Sommerkomödien), Curry-Duft und Indiewood-Stangenware die Kinos, die ich gemeinhin frequentiere. Einige potentiell interessante Filme kamen in Mitteldeutschland natürlich niemals an, oder ihre wenigen OmU-Vorführungen wurden in „praktische“ Frühnachmittagsvorstellungen verbannt.
Auch habe ich dieses Jahr kein Filmfestival besucht, oder zumindest kein „richtiges“: die Weimarer Asienfilmtage Taiwan–Japan im Lichthaus-Kino, offenbar eine einmalige Veranstaltung der Medienfakultät der Bauhaus-Uni, waren eher klein aufgestellt, wenngleich höchst sympathisch – ein kleiner filmischer Event-Höhepunkt des Jahres 2014. Des weiteren habe ich dieses Jahr nur sehr wenige aktuelle Filme in Lichtspielhäusern geschaut (16, im Gegensatz zu 42 im Jahr 2012 und 58 Stück 2013). Dafür vermehrt Aufführungen älterer Filme, darunter neun Keaton-, sieben Chaplin- und zwei Murnau-Filme.
Etwas unangenehm fiel mir auf, dass zumindest in meinem cinematographischen Einzugsgebiet (Mittelthüringen) die Kinokultur in den Vorführsälen selbst zunehmend verfällt. Damit meine ich nicht Popcorn-werfende Teenager in Multiplex-Kinos, sondern das, wie es so schön heißt, gepflegte, gesetzte und gutbürgerliche Publikum im Programmkino. Betont lautstark geäußerte Empörungen über die Gewalt zu DAS FINSTERE TAL, dümmliches Dauerkichern zu SANSHO DAYU und zu THE CAT AND THE CANARY, zornig gezischte Tiraden über diese miesen und manipulierenden Kommunisten zu KONEC SANKT-PETERBURGA, süffisant vorgetragene Versicherungen, was für ein dämlicher Käse das doch alles sei, zu JAWS und ein praktisch permanenter Flüsterteppich zu MAGIC IN THE MOONLIGHT. Der Audiokommentar trägt seinen Siegeszug in den Kinosaal. Schade.

Zwei aktuelle Filmtitel sind gerade gefallen – eine gute Gelegenheit, um nun also das Kino- bzw. Filmjahr 2014 Revue passieren zu lassen:


Die Top-10 2014

Unter ihnen befinden sich zwei direct-to-video-Produktionen: wirklich im Kino gesehen habe ich von der Liste nur zweieinhalb (IDA und DAS FINSTERE TAL – ALL IS LOST letztes Jahr in der Kino-Sneak, 2014 selbst nur auf DVD), den Rest auf DVD sowie über Presse-Screener und -Streamings.
Die ersten drei Filme teilen sich gleichrangig den Spitzenplatz und werden der Einfachheit halber alphabetisch aufgeführt.

1 ALL IS LOST (J. C. Chandor, USA 2013)
Wie ein guter Bourbon ohne Eis in einer Welt voller überkandidelter Mixgetränke. Ein puristischer Film ohne Dialoge, der wunderbar demonstriert, wie sehr sich ästhetische Wagnisse lohnen können.
(mehr meiner Gedanken zu diesem Film hier)

– IDA (Paweł Pawlikowski, Polen / Dänemark / Frankreich / UK 2013)
Teils Holocaust-Drama, teils Anklage gegen Antisemitismus, teils Hommage an die Polnische Neue Welle. Es ist jedoch der Entwurf eines Polens als universelle Jazz-Utopie, die diesen Film zu einer wahren Perle werden lässt.
(mehr zu diesem schönen Film in strengen Schwarzweißbildern habe ich hier auf diesem Blog schon geschrieben)

– PHOENIX (Christian Petzold, Deutschland 2014)
Die (nicht ganz) neue Mode des deutschen Jammerns über deutsche Opfer im Zweiten Weltkrieg wird in diesem wunderbaren Neo-Trümmerfilm auf wuchtige und befreiende Weise zerschlagen. Petzold will hier alles haben (Hitchcock- und film-noir-Hommage, großes Melodrama zum Mitfühlen, Identitätsspiel zum Mitdenken, delikat sublimierter Sadiconazista-Schocker) und kriegt auch alles – besonders eine Nina Hoss, die noch nie so gut war! Das Niveau, auf dem Diskussionen über diesen Film teilweise geführt werden (in etwa: „unrealistisch, natürlich würde er seine Frau wieder erkennen“), ist schier zum Verzweifeln. Beängstigend, aber in einem solchen Klima nicht wirklich verwunderlich, dass währenddessen revanchistische Historienpornos à la DER ÖNTERGANG dumm und dämlich gefeiert werden.
(mehr meiner fast grenzenlosen Begeisterung zu PHOENIX gibt es hier zu lesen)

4 SNOWPIERCER (Bong Joon-ho, Republik Korea / Tschechische Republik / USA / Frankreich 2013)
Die, ähm... „Gesellschaftskritik“ ist ungefähr so subtil und intellektuell ausgereift wie in METROPOLIS, doch die schiere Wucht der Bilder hat es auch in SNOWPIERCER wirklich in sich. Aus vielen wunderbaren Einzelszenen (das Sushi-Dinner, die Neujahrsschießerei, die Schulstunde etc.) und der großen Dynamik des brutal reduzierten Raumes entsteht etwas, das die relativ kleine Summe seiner Prämisse bei weitem sprengt.

5 DAS FINSTERE TAL (Andreas Prochaska, Österreich / Deutschland 2014)
Ein klassischer Western in einem unklassischen Setting. Das Genre ist einfach nicht tot zu kriegen – und das ist auch gut so.

6 POMPEII (Paul W. S. Anderson, Kanada / Deutschland / USA 2014)
Ein Fresko im wahrsten Sinne: kein „fotografischer“, sondern ein durch und durch „malerischer“ Film, der seine wunderbare Geschichte über eine paradoxe und unmögliche Männerfreundschaft sowie über eine gesellschaftlich zum Scheitern verurteilte Liebe über Klassengrenzen hinweg mit glasklarer und knochenharter Action, überlebensgroßem Melodrama und einer kleinen Prise Muskel-, Schweiß- und Lederoutfit-Fetisch flankiert. Auch ein humanistischer Film über den Kampf gegen das unumgängliche Schicksal.

7 THE WOLF OF WALL STREET (Martin Scorsese, USA 2013)
„Der Film eines freien Mannes“ – mit diesen Worten verteidigte einst Roberto Rossellini Chaplins A KING IN NEW YORK (den ich zugegeben selber schier fürchterlich finde). Auch THE WOLF OF WALL STREET fühlt sich wie der Film eines freien Mannes an, eines Meisters, der niemandem noch etwas schuldig ist und sich herausnimmt, ein monströses, massloses und dreistündiges Sleaze-Epos im Paul-Verhoeven-Autopilot-Modus herauszuhauen! Nicht nur wegen des Sex‘n‘Drugs-Inhalts Scorseses bislang vielleicht gewagtester Film, sondern auch, weil eine moralische „Lehre“ ausbleibt: die strafende oder milde Hand Gottes (bzw. Scorseses als dessen Stellvertreter auf dem Regiestuhl) erschlägt und erlöst hier niemanden. Ist dies eine Wende Scorseses zu reineren, „intellektuelleren“ Filmen?

8 GUTSHOT STRAIGHT (Justin Steele, USA 2014)
Direct-to-video, die Erste: Der wiedergeborene poverty-row-noir im direct-to-video- und Pseudo-Seagal-Actioner-Schafspelz.
(zu diesem hervorragenden neo-noir habe ich mich schon vor kurzem hier auf diesem Blog ausführlicher geäußert)

9 ENEMIES CLOSER (Peter Hyams, USA / UK 2013)
Direct-to-video, die Zweite: minimalistischer und aufs wesentlichste reduzierter Actionfilm mit beinhart inszenierten Kämpfen, der das maximale aus seiner simplen Prämisse zieht (ein paar Männer jagen sich nachts durch einen Wald). Schier grandios spielt Jean-Claude Van Damme als exzentrischer Bösewicht mit Wuschelfrisur und veganem Ernährungsplan auf: der Mann wird langsam aber sicher zu einem Schauspiel-Auteur.
(mehr meiner Gedanken zu diesem Film hier)

10 NEED FOR SPEED (Scott Waugh, USA / Philippinen / Irland / UK 2014)
Eigentlich ein völlig generischer Carsploitation-Film nach Schema F, dem statt 132 Minuten nur 90 Minuten Laufzeit mehr als gut getan hätten. Seine Stärken (mitreissende Verfolgungsjagden mit wenig CGI, Verzicht auf die „bro‘ness“-Dämlichkeit und stumpfsinnigen Familienparolen der FAST & FURIOUS-Filme) wären dann etwas deutlicher gewesen. Wirklich interessant ist sein deutliches Angebot, die Protagonisten als sozial gestörte und überverwöhnte Mittelstandsgören zu sehen. Fast nicht zu glauben und in einem solchen Mainstream-Film geradezu ungeheuerlich sind die Bilder gebrochener Männlichkeit am Schluss: der „Held“ liegt auf dem Boden, schaut zu einem phallisch geformten und von einem Zaun eingehegten Leuchtturm hoch, und beginnt zu weinen.
(mehr zu dieser bizarren Mischung aus Carsploitation und Momenten des Irrsinns gibt es aus meiner Feder hier zu lesen)

Für lobens- und erwähnenswert halte ich außerdem noch die bittersüß-sauere und melancholische Meditation über Liebe und Einsamkeit POLIZEIRUF 110: MORGENGRAUEN, die humorig-haarige, aber ernstgemeinte Variante des provinziellen Cop-Actioners WOLFCOP, die schauererregende Mockumentary THE SACRAMENT, den kurzweiligen Action-Klamauker bzw. Klamauk-Actioner BADGES OF FURY / BU ER SHEN TAN sowie den furiosen und explosiven THE RAID 2: BERANDAL.

Jetzt zu den weniger erfreulichen Filmen des Jahres...


Die Flop-10 2014

Den Spitzenplatz der Schande belegen vier Machwerke, die ich nicht nur als Filme für misslungen halte, sondern auch als zutiefst unethisch empfinde, weil sie ihren dezidierten Antihumanismus nicht offen ausstellen und zu ihm stehen, sondern narrativ und ästhetisch zu verschleiern versuchen. Geordnet sind sie nach absteigendem Grad persönlicher Empörung.

1 MATAR A UN HOMBRE (Alejandro Fernández Almendras, Chile / Frankreich 2014)
Wie paradox: ein Film, der das Vigilanten-Genre offenbar ausgerechnet in den Köpfen jener Leute rehabilitiert, die Michael Winner für den Stellvertreter Satans auf Erden hielten. Wo der Brite jedoch seine Filme eindeutig als delirierende Genre-Fantasien oder gar als dunkle Reise in die Gemütszustände eines Psychopathen konzipierte, hat Fernández ein auf „Arthouse“ getrimmtes Produkt geschaffen, das mit seinen penetranten Realismusstrategien gerne als Sozialdrama wahrgenommen werden möchte – und somit bereitwillig oder mindestens billigend in Kauf nehmend eine gefährliche, reaktionäre Gewaltfantasie salontauglich macht. Paul Kersey würde diesen Film lieben.

– FINDING VIVIAN MAIER (John Maloof, Charlie Siskel, USA 2013)
Mit John Maloof hat die geniale Straßenfotografin Vivian Maier einen denkbar schlechten Verwalter ihres Erbes „gefunden“. Der stets etwas zu selbstgefällig grinsende Kulturwissenschaftler will mit seinem Film hauptsächlich demonstrieren, wie cool er selbst ist, und was eine komische Frau Vivian Maier doch war: Kunstfotos schießen und dann nicht veröffentlichen? So was machen doch nur verrückte Freaks! Eine Meinung, die er sich dann in endlosen „talking heads“-Montagen von den ehemaligen Arbeitgebern und Schutzbefohlenen Maiers bestätigen lässt. Dabei erfahren wir mehr über selbstgerechte Klassenressentiments (neu)reicher Amerikaner als über Vivian Maiers Werk, das die Macher offenbar so oder so nicht interessiert. Arrogant, kunstfeindlich, borniert und mit einem repressiven Menschen- und Gesellschaftsbild ausgestattet.

– EINMAL HANS MIT SCHARFER SOßE (Buket Alakuş, Deutschland 2013)
Ein Pseudo-Multikulti-Machwerk, das in seinem schlichten Verständnis der Welt im Prinzip ganz gut zum CSU- oder AfD-Stammtisch passen würde. Das Politische ist privat, Gesellschaft gibt es eh nicht und das Ethnische determiniert alles: Kosmopoliten sind in diesem Universum entweder Vollidioten oder gestörte Neurotiker (ein Minirock um die Hüften, ein anatolisches Dorf im Hinterkopf). Als Beweis dafür, warum 35mm-Film billige Pixelwolken haushoch schlägt, ist der Film allerdings wunderbar.

– NEBRASKA (Alexander Payne, USA 2013)
Alexander Payne, Gallionsfigur und führender Zyniker des „Indiewood“-Kinos der falschen Gefühle um die immergleichen „schrulligen“ Figuren und dysfunktionalen Familien, präsentiert hier sein bisher „ultimatives“ Produkt. Humor gibt es wieder einmal nur, indem Figuren bloß gestellt (alte-Menschen-Witze) oder hochnäsig von oben herab behandelt werden (Redneck-Karikaturen im bequemen Selbstvergewisserungs-Modus) – und über die Frauenfiguren reden wir mal lieber nicht. Die billigdigitalen Bilder in Dunkelgrau-Hellgrau schreien zwar lauthals „Ich bin Kunst, nimm mich gefälligst wichtig!“, sind aber einfach nur hässlich.

der Rest – eher zufällig angeordnet

5 KVINDEN I BURET (Mikkel Nørgaard, Dänemark / Deutschland / Schweden 2013)
Der bemüht wuchtige deutsche Verleihtitel „Erbarmen“ bläst diesen miesen Krimi zu einer Dimension auf, die ihn noch lächerlicher erscheinen lässt. Pappfigürchen aus abgestandenen Klischees werden durch die to-do-Liste einer Schwedenkrimi-Karikatur gejagt – und zwischendurch gibt es kleine torture-porn-Einlagen gegen das Einschlafen.
(mehr „Begeisterung“ meinerseits gibt es hier zu lesen)

6 ENEMY (Denis Villeneuve, Kanada / Spanien 2013)
Gelbblenden sahen schon bei Soderbergh (und besonders MAGIC MIKE) so aus, als würde der Film durch eine Urinprobe hindurch fotografiert werden. Aber im Grunde passt das auch zu einem Werk, das die Bedrohungssituation seiner Prämisse (läuft ein Doppelgänger durch die Gegend) lediglich behauptet und dem Zuschauer mit laut tönender Musik, krampfhaften Grotesk-Elementen und besagter Gelbblende einhämmern möchte.

7 MAPS TO THE STARS (David Cronenberg, Kanada / USA / Deutschland / Frankreich 2014)
Kasperletheater mit Kasperlefiguren, die im öden Schuss-Gegenschuss-Modus Expositions-Dialoge mit pseudoklugem Name-Dropping von sich geben. Mia Wasikowska runzelt ein bisschen die Stirn, Juliane Moore kann nur „hysterisch“ oder „katatonisch“ und John Cusack sieht aus, als würde er sehnsüchtig von seiner nächsten Rolle in einem kernigen DTV-Actionfilm träumen. Wahrscheinlich war MAPS TO THE STARS gerade aufgrund meiner Erwartungen und Hoffnungen die größte Enttäuschung des Jahres: der tolle COSMOPOLIS hatte nach der fürchterlichen Viggo-Mortensen-Trilogie schließlich einen neuen Aufschwung in Cronenbergs Karriere angekündigt. Stattdessen gibt es einen Film, der sich für mich ein bisschen wie Robert Aldrichs THE BIG KNIFE angefühlt hat, nur halt mit mehr als nur einem Handlungsort. Wir können nur hoffen, dass es mit dem nächsten Cronenberg-Film mehr in Richtung WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? geht?

8 LE WEEK-END (Roger Michell, UK / Frankreich 2013)
Ein älteres britisches Ehepaar, das eine gute Steilvorlage für müde Witzchen über ältere Menschen abgibt, wird gelangweilt durch ein Klischee-Paris und durch eine Beziehungskrise mit Streit, Wiederannäherung dank „verrückter“ Streiche, neuer Krise und Wiederversöhnung gejagt. Jean-Luc Godard würde sich wohl die Augen aus dem Kopf reissen, wenn er die plumpe Hommage an ihn in diesem „Qualitätsfilm“ sähe.
(für meine etwas ausführlichere Abkanzelung dieser öden RomCom siehe hier)

9 MILLIONEN (Fabian Möhrke, Deutschland 2013)
Ein langweiliger Angestellter knackt den Jackpot und entdeckt dann, dass viel Geld nicht viel glücklich macht – oder: die Karikatur eines TV-Drämchens, das einen auf „gesellschaftlich relevant“ macht. Diesen Film direkt im Anschluss an den wunderbaren TENEBRE zu gucken, hat ihn natürlich nicht besser aussehen lassen.

À propos Dario Argento...

10 DRACULA 3D (Dario Argento, Italien / Frankreich / Spanien 2012)
Argento hat offensichtlich keine Lust mehr, Filme zu drehen, tut es aber dennoch – aus Gewohnheit oder weil er sich trotzig weigert, seine wohlverdiente Rente anzutreten. Statt kunstvoller Beleuchtung und barocker Gewalteffekte gibt es gelangweilt zusammengezimmerte Computerbilder. Trotz anderweitiger Behauptungen waren die Schauspielleistungen in seinen 1970er- und 1980er-Filmen immer recht gut. Hier jedoch ödet sich Thomas Kretschmann mit soviel Charisma wie der Protagonist von MILLIONEN durch die Titelrolle, während Rutger Hauer wohl beim Drehen an seinen Gehaltscheck, oder an die Zeit mit Paul Verhoeven oder an lustige Katzenbilder, sicherlich aber nicht an seine Van-Helsing-Rolle dachte. Dem ganzen setzt Unax Ugalde als Jonathan Harker die Krone auf: wie ein betrunkener Pausenclown grimmassiert er unkontrolliert vor sich hin, als wären die ganzen hölzernen Dialoge, an die er sich offenbar nur mühsam erinnert, so schrecklich lustig. Aber DRACULA 3D ist als filmischer Totalunfall nicht lustig, sondern furchtbar traurig.

Damit die Traurigkeit nicht Überhand nimmt, folgt nun das Herzstück meines cinematographischen Rückblicks auf das Jahr 2014. 


2014: mein persönlicher Kanon filmischer Entdeckungen

52 Filme für 52 Wochen.
Wie bei den vorherigen Listen kann ich mich auch hier nicht für nur einen Spitzenplatz entscheiden. Ich liste daher die ersten drei in der Reihenfolge der Sichtung.

1 KNIGHTRIDERS (George A. Romero, USA 1981)
Die politischen und sozial-ökonomischen Anliegen der Zombiefilme wird hier mit einer Gruppe von Mittelalterschaustellern auf Motorrädern noch radikalisiert – zu einem berührenden, humanistischen Film, der fast keinen Plot, aber dafür einen wunderbaren Flow hat.

– VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE (Cirio H. Santiago, USA / Philippinen 1978)
Der ultimative Beweis für die enorme filmische und emotionale Kraft, die Exploitation-Kino haben kann.
(wesentlich mehr Worte zu diesem cinematographischen Schatz verfasste ich unlängst schon auf diesem Blog)

– THE WANDERERS (Philip Kaufman, USA 1979)
It was The Wanderers against the world... and the world never had a chance! Ich auch nicht...

4 PROFONDO ROSSO – italienische Integralfassung (Dario Argento, Italien 1975)
Nicht nur ein toller Film über „falsches“ Sehen und getrübte Erinnerung, sondern auch ein faszinierendes Spiel mit Geschlechterrollen. Mit einem tollen David Hemmings als Marcus, der nicht nur einen Mörder sucht, sondern auch seine Identität als Mann. Und die Musik, oh die Musik!

5 AN ANGEL AT MY TABLE (Jane Campion, Neuseeland / Australien / UK 1990)
Künstler-Biopics erzählen von ihren Subjekten oft mit dem Charme eines tabellarischen Lebenslaufes. Campion und Kerry Fox‘ Augen erzählen jedoch wirklich vom Leben, vom kreativen Schaffen und überhaupt von der Erfahrung entfremdeten Menschseins. Identifikation mit Filmfiguren ist so eine Sache, aber Kerry Fox' Janet Frame ist mir sehr ins Herz gewachsen.

6 KARLA (Hermann Zschoche, Deutsche Demokratische Republik 1965/1990)
Noch nie schien die Möglichkeit, von einem verlorenen Provinzkaff in ein noch verloreneres Provinzkaff zu ziehen, so befreiend.

7 SPETTERS (Paul Verhoeven, Niederlande 1980)
Begehren zwischen Motocross-Rennstrecke, Frittenbude und Bett. Verhoeven zeigt sich als melancholischer (wenngleich etwas verzweifelter) Humanist, der seinen Figuren viel mehr Brüche zumutet als die Moralapostel, die ihn niederschrie(b)en. Die heftigen Reaktionen auf diesen Film formten seinen Entschluss, in die USA zu gehen – in der Hoffnung, dort ohne Eklats arbeiten zu können... nun ja...

8 DERNIER DOMICILE CONNU (José Giovanni, Frankreich / Italien 1970)
Ein Film über eine frustrierende Vermisstensuche, die sich unendlich im Kreis dreht. Er enthält nicht nur die vielleicht brutalste, körperlichste und schmerzhafteste Faustkampfszene, die je auf Zelluloid gebannt wurde, sondern auch ein unendlich trauriges Ende: Inspektor Leonetti fährt nach getaner Arbeit niedergeschlagen und einsam nach Hause zurück. Die Musik verfolgt mich bis heute.

9 WIND ACROSS THE EVERGLADES (Nicholas Ray / Budd Schulberg, USA 1958)
Der wohl erste Backwood-Film und Öko-Thriller überhaupt. Das wüste Kollektivbesäufnis bringt das angespannte Vibrieren, das die ganzen Sumpfbilder prägt, schließlich zum Platzen.

10 JOSHUU 701-GÔ: SASORI (Itō Shunya, Japan 1972)
Kabuki meets Hollywood-Musical meets women-in-prison-Exploitation: eine wilde, wilde, wilde Achterbahnfahrt. Wie japanische Genre-Filme der 1970er das Cinemascope nutzen, um ihre Bilder teils komplett zu kippen (Fukasaku macht es auch), verblüfft mich immer wieder.

11 A FAREWELL TO ARMS (Frank Borzage, USA 1932)
Mein erster und bisher einziger Borzage, aber spontan würde ich sagen, dass er der bessere Sternberg ist, wenn es um malerische Lichtsetzung geht.

12 MAN WITHOUT A STAR (King Vidor, USA 1955)
Fast schon avantgardistisch in seinem völligen Verzicht auf jeglichen Plot: der Film lebt nur für jeden kleinen Moment, aber das mit Haut und Haaren. Kirk Douglas in der absoluten Blüte seiner Schauspielkunst ist dabei natürlich eine große Hilfe: er spielt einen Cowboy, der nach dem nächsten Stück Leben sucht, um sich daran zu laben. Ein steifer Drink, ein Banjo, eine schöne Frau – bloß kein Stacheldraht (LONELY ARE THE BRAVE war das passende inoffizielle Sequel).

13 WILD RIVER (Elia Kazan, USA 1960)
Ein wilder Strom, in der Tat! Würde aufgrund seiner Thematik mit WIND ACROSS THE EVERGLADES sicher ein tolles Double-Feature geben – oder mit Kazans anderem Meisterwerk SPLENDOR IN THE GRASS.

14 HANYO (Kim Ki-young, Republik Korea 1960)
Lust, Mord, nasse Fenster und purer Irrsinn.
(mehr aus meiner Feder zu diesem Wunderwerk, seinen Variationen und seinem Macher hier auf diesem Blog)

15 THE HITCHER (Robert Harmon, USA 1986)
Ob je ein Serienmörder im Film so zärtlich guckte wie Rutger Hauer?

16 BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven, USA / Frankreich 1992)
Neo-noir im Kater-Modus: das Licht zu hell, die Luft zu schwül, das ganze Ambiente zu schmierig, die Musik zu prollig (aber irgendwie geil) und die Menschen machen und sagen komische, verwirrende Sachen.

17 IM STAUB DER STERNE (Gottfried Kolditz, Deutsche Demokratische Republik 1976)
Wüster, psychedelischer SciFi-Camp mit Kosmonauten und Marsianern auf Acid und in ledernen Fetischklamotten, die sie bisweilen ausziehen, um besser tanzen zu können – und das „made in GDR“.

18 HIROSHIMA MON AMOUR (Alain Resnais, Frankreich / Japan 1959)
Hat über Film und das Filmemachen wesentlich mehr zu sagen als über Hiroshima und die deutsche Besatzung in Frankreich – worüber wiederum er mehr zu sagen hat als die meisten anderen Filme.

19 CHEMIE UND LIEBE (Arthur Maria Rabenalt, Deutschland–SBZ 1948)
Screwball- und Industriespionagekomödie, die bisweilen so aussieht, als hätten sich Fritz Lang (diese assoziativen Bild-Ton-Überlappungen), Max Ophüls (diese ballettartigen Plansequenzen) und Sergej Eisenstein (diese furiosen Montagen) um den Regiestuhl geprügelt. Ein Blick auf AM ABEND NACH DER OPER zeigt dennoch, dass der biografisch problematische Rabenalt offenbar von Haus aus ein begnadeter Formalist war.

20 SATURDAY NIGHT FEVER (John Badham, USA 1977)
New Hollywood goes disco? Nein, eher Disco goes New Hollywood. Ein erstaunlich düsterer Film. Deshalb wirken die kleinen Portionen Fröhlichkeit wie Oasen in einer Wüste.

21 VERFÜHRUNG AM MEER (Jovan Živanović, Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1963)
Der erotischste Film, den ich dieses Jahr gesehen habe. Živanović verbindet mit den Mitteln der Neuen Jugoslawischen Welle die verführerische Elke Sommer, Peter van Eyck und die Landschaft der verlassenen Adriainsel so konzise zu einer untrennbaren Einheit, bis schließlich sogar die Wellen und das Steingeröll schwüle Erotik ausstrahlen.

22 INHIBITION (Paolo Poeti, Italien 1976)
Ich habe diesen Film etwas müde und leicht angetrunken gesehen: ideal, denn dann ist man ihm komplett ausgeliefert. Italo-Sleaze, der den Geist der völlig freien Form atmet, und jegliche Spur eines Handlungsfaden links liegen lässt. Stattdessen gleitet die Kamera durch Blicke und macht Liebe mit den Figuren. Und wer würde bei einem solchen Soundtrack nicht dahinschmelzen.

23 BUG (William Friedkin, USA / Deutschland 2006)
Ein Kollege bezeichnete Friedkin einst in einer sehr schönen Besprechung als begnadeten Formalisten, dem mit den Maßstäben des Erzählkinos nicht beizukommen sei. BUG ist in diesem Sinne ein archetypischer Friedkin-Film: Theaterverfilmungs-Kammerspiel als irrsinniger Höllentrip.

24 EMPEROR OF THE NORTH POLE (Robert Aldrich, USA 1973)
Als bizarrer Actionfilm über den verbitterten Herrschaftskampf um einen Zug richtig toll. Aber bei Aldrich gibt es immer noch viel mehr zu entdecken, wie bei diesen beiden schönen Reviews hier und hier zu lesen ist.

25 ZWARTBOEK (Paul Verhoeven, Niederlande / Deutschland / UK / Belgien 2006)
Jeder hat seine Gründe, sagte einst Renoir. Stimmt, sagt Verhoeven, aber sie sind oft nicht besonders schön.

26 L‘UOMO, L‘ORGOGLIO, LA VENDETTA (Luigi Bazzoni, Italien / Bundesrepublik 
Deutschland 1967)
„Carmen“, erzählt als Italowestern, in dem wilde Reisszooms, Unschärfen und elliptische Schnitte von der stürmischen Leidenschaft zwischen José (Franco Nero) und Carmen (Tina Aumont) künden.
(ein bisschen mehr von mir zu diesem Film und überhaupt zu Franco Nero hier)

27 KONEC SANKT-PETERBURGA (Vsevolod Pudovkin / Michail Doller, UdSSR 1927)
Weniger bombastisch, blockig und monumental als Eisenstein. Wesentlich freier atmend.

28 DONOVAN‘S REEF (John Ford, USA 1963)
Die Südsee als radikale soziale Utopie – und als ein unexotischer, weil völlig familiärer Ort. Das „exotische Fremde“ ist vielmehr die „zivilisierte“ Puritanerin aus Boston.
(Kluge Worte von Hans Schmid zu diesem so entspannenden wie entspannten und intelligenten Spätwerk Fords gibt es hier)

29 MATINEE (Joe Dante, USA 1993)
Rock‘n‘Roll kann Leben retten, sang einst Lou Reed. Und Film rettet die Menschheit vor der atomaren Apokalypse.

30 PARIS, TEXAS (Wim Wenders, Bundesrepublik Deutschland / Frankreich / UK / USA 1984)
Ein Acid-Western, der sich zum Acid-Roadmovie, dann zum Acid-Melodrama wandelt.

31 YOIDORE TENHSI (Kurosawa Akira, Japan 1948)
Wenn in China ein Sack Reis umfällt, macht sich gemeinhin Desinteresse breit. Wenn in Japan ein Topf mit weißer Farbe umkippt, ist das schon eine ganz andere Geschichte.

32 DER ROTE RAUSCH (Wolfgang Schleif, Bundesrepublik Deutschland 1962)
Im Grunde eine Art strukturelles Sequel zu Fritz Langs M: ein Triebmörder wird mit einer Gesellschaft am Rande der kollektiven Lynchhysterie konfrontiert. Da dies nun aber ein Nachkriegsfilm ist, entpuppt er sich zugleich als bittere, verklausulierte Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Mördern.

33 OPERA (Dario Argento, Italien 1987)
Argento soll nicht mit Schauspielern umgehen können? Die Hauptdarstellerin, die Kamera, ist doch göttlich. Der Rabenflug Argentos schlägt meiner Meinung nach den Hummelflug Rimski-Korsakows – aber das ist natürlich eher metaphorisch als wörtlich zu verstehen.

34 FROM BEYOND (Stuart Gordon, USA 1986)
Splatter-Kammerspiel vom Feinsten.
(mehr Worte von mir zu diesem Film, den ich RE-ANIMATOR vorziehe, hier)

35 BLOOD SIMPLE (Joel Coen / Ethan Coen, USA 1984)
Vielleicht hat mich die wunderschöne und kuschelige Wärme einer 35mm-Kopie in exzellentem Zustand (Leihgabe eines Wiener Filmclubs!) einfach nur überwältigt. Oder die Tatsache, dass der Film eben nicht originell ist, sondern schlicht nur perfekt getimetes noir-feeling bietet – mit einem Schuss Giallo am Ende.

36 SKIDOO (Otto Preminger, USA 1968)
Gilt gemeinhin als DER „baddie“ in der Preminger-Filmografie. Warum? Wie kann man bloß einen Film mit einer herrlichen Frau-in-der-Wohnung-verstecken-Szene, einer Mülltonnen-Ballett- und Song-Einlage auf LSD und komplett gesungenen End-Credits schlecht finden? Zumal derartig perfekt von einem Altmeister inszeniert.

37 DE NÅEDE FÆRGEN (Carl Theodor Dreyer, Dänemark 1948)
Carl Theodor Dreyer – Godfather of Biker Exploitation Movie!
(wem diese Erklärung zu wenig gibt und mehr über Dreyer erfahren möchte, sei auf diesen blogeigenen Artikel Manfreds verwiesen)

38 TREMORS (Ron Underwood, USA 1990)
Fred Ward, Kevin Bacon und Monsterwürmer – was braucht man denn mehr?

39 TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X (Ernst Hofbauer, Österreich / Belgien 1964)
Wallace-Abklatsch als inspirierter Reigen des Irrsinns.
(mehr Worte von mir zu diesem Film hier auf diesem Blog)

40 COONSKIN (Ralph Bakshi, USA 1975)
Some Like It Hotter!

41 IREZUMI (Masumura Yasuzō, Japan 1966)
„Ich habe gerade einen fürchterlichen, blutrünstigen japanischen Film gesehen“ – beklagte sich eine Ko-Zuschauerin nach der Vorführung ihrem Gesprächspartner am Mobiltelefon gegenüber. Ich hab was anderes gesehen: eine große Tragödie der fatalen Schicksalsschläge (bzw. einen japanischen noir im Gewand eines Kostümfilms).

42 VICKY CRISTINA BARCELONA (Woody Allen, USA / Spanien 2008)
Woody Allens formalistischster Film. Pedantische Off-Erzähler-Exposition und krampfhaft abgearbeiteter Plot wechseln sich mit luftig-leichter Atmosphäre und rauschhaftem Schwelgen ab – das Schwanken der Figuren zwischen lebensweltlichen Hemmungen und emotionaler Befreiung wird so nicht diskursiv, sondern formell greifbar.

43 LE GENOU DE CLAIRE (Eric Rohmer, Frankreich 1970)
Nach einem fürchterlichen Start mit LA COLLECTIONNEUSE verstehe ich (mich mit) Rohmer immer besser.

44 TENSPEED & BROWN SHOE (diverse Regisseure, USA 1980)
Ein witziges und frisches Spiel mit den Klischees des Trickbetrüger- und hard-boiled-Genres. Unglaublich, dass diese schöne TV-Serie mit Ben Vereen und Jeff Goldblum so rasch abgesetzt wurde.

45 DER VERZAUBERTE TAG (Peter Pewas, Deutschland 1943/1947/1951)
Poetischer Realismus made in Third Reich: ein Film, der den Nazis zu zärtlich war – und den späteren Beschützern von Jugend, Tugend und Vaterland ebenso.

46 THE LIMITS OF CONTROL (Jim Jarmusch, USA / Japan 2009)
Der ultimative Lackmustest für Jarmusch‘isten, der nur noch aus Rhythmus, Musik, ritualisierten Gesten und Details besteht.

47 THE WARRIORS (Walter Hill, USA 1979)
Extrem kompakt, reduziert, quasi abstrakt, auch ein bisschen kalt – fast wie eine Versuchsanordnung. Aber so ein Chemiebaukasten übt nicht umsonst große Faszination aus (besonders, wenn er in die Luft geht).

48 THE STUNT MAN (Richard Rush, USA 1980)
Die Achterbahnfahrt aus Slapstick-Komödie, Paranoia-Thriller, Film-im-Film-Film und Melodrama ist schön. Doch das Sahnehäubchen ist Peter O‘Toole als dandyhafter Halbgott-Regisseur, der durch sein Set schwebend mit Zuckerbrot und Peitsche um sich schlägt.

49 LIMONÁDOVÝ JOE ANEB KONSKÁ OPERA (Oldřich Lipský, ČSSR 1964)
Ein Slapstick-Western in Cinemascope und in gelb-viragiertem Schwarzweiss aus einem Land, das zwölf Jahre zuvor noch im stalinistischem Ausnahmezustand war: die bizarrsten Überraschungen kommen so oft aus dem Osten!

50 DE FEM BENSPÆND (Jørgen Leth / Lars von Trier, Dänemark / Schweiz / Belgien / Frankreich 2003)
Als Gedankenspiel über die Befreiung von Kunst durch ihre radikale Beschränkung wohl wesentlich fruchtbarer als das Dogma-Manifest.

51 LIEBE ’47 (Wolfgang Liebeneiner, Deutschland–britische Besatzungszone 1949)
Ausgerechnet einer der größten Nazi-Mitläufer wirft Zuschauern, die an Selbstvergewisserung à la IN JENEN TAGEN gewöhnt waren, die Kriegsbegeisterung und die ganz realen Nazis ins Gesicht.

52 UN DRÔLE DE PAROISSIEN (Jean-Pierre Mocky, Frankreich 1963)
Faszinierend, wie Mocky seinen eigentlich heuchlerischen Protagonisten (adelig, aber verarmt, klaut professionell Geld aus Spendenboxen in Kirchen) zum Helden und zum Kämpfer gegen die Symptome einer Existenz macht, deren Problematik er aus lebensweltlicher Beschränktheit nicht erkennt.

Wozu ich meine freie Zeit im Jahr 2014 unter anderem auch genutzt habe: mehr oder minder berühmte Film-Franchises nachholen, die bisher noch nicht gesehen hatte (bis auf den ersten DIE HARD alles Erstsichtungen).


Berühmte Filmreihen – nachgeholt

DIE HARD

– DIE HARD (John McTiernan, USA 1988)
Zum vierten oder fünften Mal gesehen: immer noch unschlagbar gut.

– DIE HARD 2 (Renny Harlin, USA 1990)
Ein netter Actionfilm, nicht mehr und auch nicht weniger. Ihm fehlt auf der einen Seite das ruhige Erzählen des ersten Teils in seiner schönen Exposition (oder besser gesagt: seinem „Aufwärmen“) und andererseits dessen Dringlichkeit.
(für eine alternative Sicht siehe diese schöne, leidenschaftliche Verteidigung eines Renny-Harlin-Fans)

– DIE HARD: WITH A VENGEANCE (John McTiernan, USA 1995)
McTiernans effektvolle Regie knüpft fast wieder an die Qualität des ersten Teils an, und es war wieder mal Zeit für einen Bösewicht mit deutschem Akzent.

– LIVE FREE OR DIE HARD (Len Wiseman, USA / UK 2007)
Zweifelsohne die größte Überraschung bei meinem kleinen DIE HARD-Durchgang! Alles an ihm schrie „seelenloses Sequel zum Zuschauer-Abmelken“, und Wiseman war im Hinterkopf als der Regisseur abgespeichert, der genau letzteres beim fürchterlichen und inkompetent inszenierten TOTAL RECALL-Remake gemacht hat. Stattdessen trägt McClane seine analoge Badass‘igkeit erfolgreich in das Internetzeitalter hinüber und kämpft sich durch erstaunlich gut inszenierte Actionsetpieces hindurch.

– A GOOD DAY TO DIE HARD (John Moore, USA 2013)
Allerdings immer ein schlechter Tag, um diesen Mist zu gucken!


STAR WARS

– STAR WARS (George Lucas, USA 1977)
Der Western.
Lucas verbeugt sich vor Kurosawa und Ford, und zweifelsohne sind der erste Teil und besonders die Szenen in der intergalaktischen Frontier-Stadt schier großartig. Toll auch, wie Chewie Han Solos griechischer Chor und externalisierter Gefühlshaushalt in einem ist. Geruch und Weichheit seines Fells sind fast spürbar, wie überhaupt der Film größtenteils sehr sinnlich und taktil ist.

– THE EMPIRE STRIKES BACK (Irvin Kershner, USA 1980)
Der Universal-Gothic-Film.
Warum so viele Fans ausgerechnet diesen Teil als den stärksten der Reihe sehen, ist mir ein Rätsel. Das erste Drittel ist ein Expositionsklotz, in dem die Figuren fast eine Dreiviertelstunde lang „Hallo, hier bin ich wieder“ rufen. Dann kommen wir endlich bei Yoda an, dessen Lebensumgebung einem Universal-Studioset aus den 1930er nachempfunden zu sein scheint: dunkler Wald, viel Nebel, herrlich atmosphärisch.

– RETURN OF THE JEDI (Richard Marquand, USA 1983)
Der Troma-Exploiter.
Jabbas Höhle mit dem unförmigen Gastgeber, der überdrehten Atmosphäre des Irrsinns, dem wüsten Dekor und der latenten Gewalt sieht wie die intergalaktische Partnerstadt von Tromaville aus. Die Handlung und die Ästhetik passen sich an: fast totaler Kontrollverlust, bei dem das Auftauchen der Ewoks nicht wirklich Abhilfe schafft – und irgendwie ist das ganz sympathisch. Der Höhepunkt der Reihe!


THE LORD OF THE RINGS

Mit den Erwartungen oder den Nicht-Erwartungen ist das so eine Sache... Wirkliches Interesse an der Mittelerde-Saga an sich hatte ich noch nie. Die Neugier auf die Frage, warum denn so viele Menschen von „Meisterwerk“ und „größte Filme aller Zeiten“ und anderen Superlativen sprechen (und zwar in aller Regel so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt), war verhältnismäßig sogar größer. Ein guter Freund, der mich immer wieder bei Treffen und Telefonaten mit Hinweisen auf diese Franchise nervte und mir unterstellte, ich hätte von Filmen ja überhaupt keine Ahnung, wenn ich „Herr der Ringe“ nicht kenne, hat mit seiner Penetranz irgendwann das Fass zum Überlaufen gebracht: Scheiben raus aus der Stadtbücherei, rein in den Player!

– THE FELLOWSHIP OF THE RINGS (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2001)
Ein Vokuhila mit Grinsegesicht und ein blütenreiner Held brechen zu lustigen Abenteuern auf. Bleiben als interessante Charaktere nur Sméagol (war der überhaupt im ersten Teil? – für mich verschwimmt das irgendwie alles) und Boromir: die beiden einzigen zwei Figuren, bei denen nicht beim ersten Anblick schon klar ist, worauf die hinauslaufen. Leider ist Sméagol ein Pixelklumpen, und Boromir stirbt, bevor er überhaupt für so etwas wie einen Konflikt sorgen kann...

– THE TWO TOWERS (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2002)
Boromir ist tot und Peter Jackson schindet noch mehr Zeit, indem er die „und was im letzten Teil passierte“-Erklärungen auswalzt. Sam stellt sich langsam aber sicher als der eigentlich treibende Protagonist heraus – und wie er Vokuhila immer als „Frodo-Sir“ bezeichnet, ist schon ziemlich gruselig. Gruseliger als der Pixelklumpen, der die beiden begleitet.

– THE RETURN OF THE KING (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2003)
Sméagol ist der eigentliche tragische Held der Reihe. Die einseitige Rezeption seiner Gollum-Dimension macht deutlich, wie stark viele Fans auf simple Eindeutigkeiten setzen – wofür Peter Jackson im Grunde nichts kann. Einige Bilder zu Beginn dieses Teils deuten darauf hin, wie Sméagol, gespielt von einem richtigen Schauspieler in Makeup, hätte aussehen können: nämlich richtig interessant. Stattdessen gibt es Pixelklumpen (dafür wiederum kann Jackson etwas). Und Lauftzeitschinden in wahrhaftig epischer Dimension. Die Tendenz, auch wirklich alles zu Tode erklären zu müssen, wird im Schluckauf-Ende noch einmal richtig deutlich.

Ich will jetzt die „Herr der Ringe“-Reihe nicht als Prototyp eines neuen seelenlosen Blockbuster-Kinos verdammen. Mir hat sie aber jedenfalls jenseits einiger vereinzelt netter Momente kaum etwas Positives gegeben, dafür aber viel Ödnis in einer Gesamtlaufzeit, die eigentlich für sechs Filme reicht. Als Exploitation-Filmemacher im Low-Budget-Bereich und zärtlich-humoristischer Poet des „New Queer Cinema“ ist mir Peter Jackson jedenfalls lieber.
Besagtem Freund geht es übrigens gut. Und er belästigt mich nun seltener mit Mittelerde, seitdem er weiß, dass ich die Filme gesehen habe. Alles gut.


PLANET OF THE APES

Nur noch schwache Bilder von irgendetwas mit „Planet der Affen“, das über den Bildschirm im Wohnzimmer meines Großonkels flatterte. Es war vermutlich eine Episode der TV-Serie. Nun also (mindestens 20 Jahre später) die klassische Franchise komplett.

– PLANET OF THE APES (Franklin J. Schaffner, USA 1968)
Stimmt: das erste Drittel wirkt stellenweise fast schon verspielt-experimentell. Und die irre Parodie einer HUAC-Sitzung (Autor Michael Wilson war in den 1950er Jahren „geschwarzlistet“) zeigt das Potential von Filmen, die sich gegenüber ihren literarischen Vorlagen Freiheiten nehmen.

– BENEATH THE PLANET OF THE APES (Ted Post, USA 1970)
Ausbrechende Illusionsfeuer und telepathische Atombombensektierer: sympathischer Quatsch, kurzweilig und effizient inszeniert.

– ESCAPE FROM THE PLANET OF THE APES (Don Taylor, USA 1971)
Die Affen entdecken eine Zivilisation, die wir aus heutiger Sicht als Museum der 1970er betrachten können, zumindest von der Mode und der Musik her. Der daraus entstehende Kulturclash macht diesen Teil zum wohl zweitbesten der Reihe, zumal die Figuren Cornelius und Zira die größte emotionale Fallhöhe entwickeln, die in der Franchise überhaupt zu sehen ist.

– CONQUEST OF THE PLANET OF THE APES (J. Lee Thompson, USA 1972)
Die Atmosphäre der bedrückenden, latent gewalttätigen Dystopie ist das Highlight dieses Films, der dramaturgisch jedoch arg auf die Schnauze fällt (eine zweite Sichtung würde sich allerdings vielleicht anbieten?).

– BATTLE FOR THE PLANET OF THE APES (J. Lee Thomspon, USA 1973)
Das Problem ist nicht, dass alles albern oder stumpfsinnig generisch ist, sondern dass sich alles egal anfühlt.
TAKEN

Franchise-Nachholen als Vorbereitung zur Pressevorführung:

– TAKEN (Pierre Morel, Frankreich / USA / UK 2008)
Eine amerikanophile französische Aneignung des Rache-Actionfilms, die man problemlos geradlinig sehen kann (ein Ex-Geheimdienstler sucht nach seiner von albanischen Mafiosi entführten Tochter). Oder auch doppelbödig: ein frustrierter Mann, der als Familienvater vollkommen versagt hat und im Grunde ein ziemlich armes Würstchen ist, geht mit der ganzen Arroganz US-amerikanischer Interventionswut in die Fremde, um seine Vorurteile auszuleben und seine Gewaltimpulse abzureagieren.

– TAKEN 2 (Olivier Megaton, Frankreich 2012)
Das Doppelbödige des ersten Teils wird zu einem reinen Plot-Element (wer rächt die Geschädigten des Rächers?), und der Film selbst zu einem straighten Actioner umgewandelt, der zumindest ab und zu das Niveau halbwegs ansehnlicher direct-to-video-Stangenware erreicht.

– TAKEN 3 (Olivier Megaton, Frankreich 2015)
Direct-to-video-Stangenware, unteres Niveau. Forest Whitaker ödet sich durch den Film, aber Liam Neeson scheint immer noch Spaß zu haben, was das ganze zumindest vor dem kompletten Absaufen rettet – zumal bei einer solch verwackelt-zerhäckselten und inkompetenten Actioninszenierung. Ein vierter Teil ist zu befürchten.


Da wir gerade bei Filmen in Plural sind: zum Abschluss meines Rückblicks ein kleines Angebot an ausprobierten und als sehenswert empfundenen Double-Features:


Tolle Double-Features, ausprobiert 2014: 10 Vorschläge

Una lunga serata gialla dei piaceri e della morte
– SETTE NOTE IN NERO (Lucio Fulci, Italien 1977)
– 7, HYDEN PARK: LA CASA MALEDETTA (Alberto De Martino, Italien 1985)

Fremde Länder, fremde Fauna
– THE THIEF OF BAGDAD (Raoul Walsh, USA 1924)
– TREMORS (Ron Underwood, USA 1990)

Spitz, scharf und saftig: ein Exploit-evening
– THE DRILLER KILLER (Abel Ferrara, USA 1979)
– EMMANUELLE (Just Jaeckin, Frankreich 1974)

Western: (k)ein US-amerikanisches Genre
– FUK SAU / VENGEANCE (Johnnie To, Hong Kong / Frankreich 2009)
– IL MERCENARIO (Sergio Corbucci, Italien / Spanien 1968)

Gefangen im Tropenparadies
– HEAVEN KNOWS, MR. ALLISON (John Huston, USA 1957)
– THE BIG BIRD CAGE (Jack Hill, USA / Philippinen 1972)

Fluchten aus der mentalen Provinz 
– LES PETITES FUGUES (Yves Yersin, Schweiz / Frankreich 1979)
– COMING OUT (Heiner Carow, Deutsche Demokratische Republik 1989)

Daddy, mommy, issues
– KISEI JUI – SUZUNE: GENESIS (Kaneda Ryu, Japan 2011)
– PSYCHO (Alfred Hitchcock, USA 1960)

Erzählungen aus dem Gefängnis
– UN CONDAMNÉ À MORT S‘EST ÉCHAPPÉ (Robert Bresson, Frankreich 1956)
– LIK WONG / STORY OF RICKY (Lam Ngai Kai, Hong Kong / Japan 1991)

Maritime Entspannungen
– MOBY DICK (John Huston, USA 1956)
– LES VACANCES DE MONSIEUR HULOT (Jacques Tati, Frankreich 1953)

Zart, hart, Mann, Frau, Liebe, Kampf
– EMPEROR OF THE NORTH POLE (Robert Aldrich, USA 1973)
– HEAVENLY CREATURES (Peter Jackson, Neuseeland / Deutschland 1994)

So... nach diesem Rückblick sind die Sinne für 2015 geschärft. Auf viele spannende Filme im neuen Jahr!

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Keaton paranoid

Es gibt über Alfred Hitchcock die schöne Anekdote, wonach sein Vater ihn einmal als kleines Kind für eine Viertelstunde von einem befreundeten Polizisten in eine Häftlingszelle einsperren ließ – ein traumatisches Erlebnis, das Hitchcocks lebenslange Furcht vor der Polizei inspiriert haben soll und maßgeblich das Motiv des von der Ordnungsmacht unschuldig Verfolgten prägte. Doch vielleicht hat Hitch in seinen frühen Zwanzigern einfach nur Buster Keatons Kurzfilme THE GOAT und COPS im Kino gesehen?
In beiden Filmen geht es um einen unschuldigen Mann (gespielt von Keaton selbst), der von der Polizei für Verbrechen verfolgt wird, die er nicht, oder zumindest nicht bewusst begangen hat. Das ganze wird mit den Mitteln der Slapstick-Komödie verhandelt, und gerade dadurch nehmen diese Verfolgungen aberwitzige und groteske Züge an – und ähneln schließlich gar einer paranoiden Fantasie mit latent düsteren und morbiden Komponenten.


THE GOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Malcolm St. Clair
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (der Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Polizisten), Malcolm St. Clair (Dead Shot Dan)


Ein offenbar bedürftiger Mann (nennen wir ihn im Folgenden der Einfachheit halber Buster) steht in der Schlange einer Armenspeisung. Aufgrund von für den Zuschauer lustigen und für ihn eher betrüblichen Zufällen und Missgeschicken geht er leer aus. Er geht weiter seines Wegs und bleibt am vergitterten Fenster einer Polizeistation stehen, wo der Verbrecher Dead Shot Dan gerade zwecks polizeilicher Registrierung fotografiert wird. Dieser erblickt Buster hinter sich und reagiert blitzschnell: er bückt sich kurz, löst die Kamera aus und fotografiert damit Buster – wenige Augenblicke später flüchtet Dead Shot Dan aus dem Polizeigewahrsam. Buster geht derweilen nichts ahnend weiter und beobachtet einen Passanten, der ein Hufeisen findet, ihn wegwirft und kurz darauf eine Brieftasche voller Geld auf dem Gehweg entdeckt. Offenbar eine gute Idee: Buster will es dem Glücklichen gleich tun, hebt das Hufeisen auf, wirft es weg – und dieses landet mitten im Gesicht eines Streifenpolizisten. Dieser, offenbar mehr gedemütigt als wirklich verletzt, beginnt Buster zu verfolgen. Rasch gesellen sich andere Ordnungshüter zu der Jagd. Zwischendurch beschützt Buster tatkräftig eine junge Frau und ihren Hund vor einem Passanten, der über die Leine gestolpert ist und dann gegenüber der Dame grob wurde.

Schließlich gelingt Buster die Flucht in eine andere Stadt, wo mittlerweile das Foto des flüchtenden Dead Shot Dan in allen Zeitungen zu sehen ist – wohlgemerkt das falsche Bild, auf dem eben Buster in einem suggestiven Dekor zu sehen ist. Der Gesuchte sieht schließlich selbst ein gigantisches Fahndungsplakat mit seinem Konterfei, und wird sofort von schweren Gewissensbissen geplagt: er befürchtet, den Mann, der die junge Frau mit dem Hund belästigt hat, getötet zu haben (in Wirklichkeit war dieser nur für wenige Sekunden K.O.). Panisch rennt er vor dieser Vision davon und kracht in einen dicken Mann, der sich als Polizist entpuppt. Einige fiese Jungs planen genau in diesem Moment einen Anschlag auf den kräftigen Ordnungshüter, und am Ende sieht das ganze natürlich so aus, als hätte Buster versucht, den Polizisten zu töten. Nun wird er wegen leichter Verletzung eines Polizisten, Mord und versuchtem Polizistenmord gesucht – wobei er in letzteren beiden Punkten unschuldig ist. Durch Zufall trifft er auf die junge Frau mit dem Hund, die ihn freundlich zum Essen bei ihren Eltern einlädt. Die Mutter ist erfreut, der Vater kommt später hinzu – und entpuppt sich, natürlich, als der dicke und große Polizist von vorhin. Eine Verfolgungsjagd durch das Treppenhaus und die Aufzüge des Gebäudes folgt, die Buster für sich entscheiden kann, bevor er dann die junge Frau zur Hochzeit wegtragen kann.

Polizisten überall!
Die massive Verfolgung, die Buster Keatons Held durchzustehen hat, ist geradezu grotesk überzeichnet. Die Polizisten sind schier überall! Hinter jeder Straßenecke scheint sich ein Ordnungshüter zu verstecken, der nur auf Buster aufzulauern scheint – oder in den Buster einfach gleich mit voller Laufgeschwindigkeit reinkracht. Ein Fluchtmanöver, bei dem sich der Verfolgte an ein fahrendes Auto ranhängt (bei Keaton natürlich wortwörtlich), endet damit, dass er vor den Füßen eines Polizisten abgeladen wird. Eine Gruppe von Verfolgern wird der agile Mann dadurch los, dass er sie in einen Umzugstransporter lockt und einsperrt – nur, damit die Polizisten wenig später vor seinen Füßen abgeladen werden (erneut: wortwörtlich). Der einzige Schutzort, den Buster aufsuchen kann (die Wohnung der jungen Frau mit dem Hund), entpuppt sich als Höhle des Löwen. Und während der wilden Verfolgung durch das Treppenhaus sucht Buster Zuflucht in einer fremden Wohnung: dort wartet ein Polizist, der gerade seine Pistole reinigt (wohl, damit sie noch besser schussbereit ist), während die Zeitung mit Dead Shot Dans (also Busters) Fahndungsfoto auf einem Tisch neben ihm ausgebreitet ist. Kurz: Buster gerät in eine alptraumhafte Welt, die scheinbar fast nur von Polizisten bewohnt ist, die es auf ihn abgesehen haben. Dieses paranoide Universum wird noch bedrohlicher, als man ihn seiner Wahrnehmung nach sogar umzubringen gedenkt (Buster landet, mit einem weißen Tuch überdeckt, auf einer Krankenhausbahre in den Vorraum eines OP-Saals und ein Handwerker, der gerade irgendetwas an den Fensterläden repariert, lädt seine „bedrohlichen“ Gerätschaften kurz auf ihn ab). Dieser ganze Alptraum wird am Ende deus-ex-machina-artig aufgelöst, als Buster den Polizisten mit dem Aufzug durch die Decke des Gebäudes herausschießt – es hatte sich herausgestellt, dass nicht der Aufzug die Etagenanzeige kontrolliert, sondern umgekehrt der Zeiger der Etagenanzeige den Aufzug bewegt. Eine typische und sehr poetische Keaton-Idee.

Rasende Lokomotive, ruhiger Keaton
Das paranoide Verfolgungsszenario ist in eine erquickliche Anzahl dichter visueller Gags eingebaut, die mit ihrem Erfindungsreichtum, ihrem Gespür für Raum und Timing alle demonstrieren, dass Keaton schon 1921 auf dem Höhepunkt seiner Könnerschaft stand. THE GOAT dauert nur knapp 20 Minuten, und dennoch ist es kaum möglich, alle ausführlich zu nennen.
Die Faszination mit Autos und Zügen, also mit schnellen (und gefährlichen) Fortbewegungsmitteln, genießt Keaton in vollen Zügen. Das betrifft nicht nur die vorhin erwähnte Szene, in der er sich an ein Auto ranhängt und weggeschleift wird, sondern auch eine andere Autoflucht, die deutlich misslingt: Buster springt auf den Ersatzreifen am Heck eines Autos, das gerade wegfahren will – doch das Auto fährt ohne ihn weg, denn der vermeintliche Ersatzreifen ist in Wirklichkeit ein zum Werbeschild für eine nahegelegene Autowerkstatt umfunktionierter Reifen auf einem Ständer.
Auf einer richtig großen Kinoleinwand sicher sehr beeindruckend ist die Fahrt eines Zuges, der frontal in Richtung Kamera rast und kurz vor „Aufprall“ eine Vollbremsung macht, während Buster mit regloser Mine vorne auf der Lokomotive sitzt. An anderer Stelle lässt Keaton eine Lokomotive mit vielen Zügen auf Straßenbahnschienen durch eine belebte Innenstadt rasen, womit er seine Verfolger für kurze Zeit abschneidet.
Geradezu genial ist das Timing in der Wohnung der jungen Frau mit dem Hund: Buster wähnt sich in Sicherheit, setzt sich an ein Ende der Tafel und beginnt mit dem kleinen Hund zu spielen, während hinter seinem Rücken sein Verfolger erscheint, sich an das andere Ende der gedeckten Tafel setzt und beide erst nach dem Tischgebet merken, wem sie gegenüber sitzen. Wie Buster kurz darauf aus der Wohnung flüchtet, obwohl der Polizist die Wohnungstür abgeschlossen und sich davor aufgebaut hat, ist allerreinste Keaton-Akrobatik (und dürfte für beide Beteiligte nicht ganz ungefährlich gewesen sein).
Der Höhepunkt von THE GOAT ist dann die wilde Verfolgungsjagd durch das Gebäude, in dem Treppen, ein Aufzug, ein Aufzugschacht und eine Telefonkabine die Grundlage eines minutiös choreografierten Balletts bilden.



COPS
USA 1922
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (ein Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Bürgermeisters)


Die narrative Grundidee von THE GOAT (Unschuldiger wird von Polizisten verfolgt) wird in COPS, der nicht ganz ein Jahr später herauskam, in einer radikalisierten, zugespitzten und kompromissloseren Variante präsentiert.

Ein Mann (er ist ohne Namen, aber wir können ihn zwecks Anschaulichkeit gerne Buster nennen) erhält von seiner Verlobten ein Ultimatum: sie wird ihn erst heiraten, wenn er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist. Betrübt geht Buster auf die Straße und sieht, wie ein Passant seine Brieftasche verliert. Hilfsbereit hebt er sie auf, um sie zurückzugeben, doch der große und kräftige Mann reagiert grob und stößt den ehrlichen Finder zurück. Er ruft sich ein Taxi und stolpert beim Einsteigen. Buster will ihm schon wieder helfen, und erneut reagiert der griesgrämige Mann mit brachialer Grobheit. Als das Taxi weggefahren ist, sehen wir, dass Buster sich zwischenzeitlich doch anders entschieden hat und dem Mann das Geld nun doch geklaut hat (was wir ihm als Zuschauer nicht wirklich verübeln können). Durch ein geschicktes Manöver stiehlt ihm Buster dann auch noch das Taxi, und frustriert bleibt der Bestohlene zurück – sein Jackett rutscht etwas zur Seite und enthüllt eine Polizeiplakette.
Mit dem relativ dicken Bündel Geld zahlt Buster das Taxi. Dies sieht ein zwielichtiger Mann, stellt sich vor einem großen Haufen Hausrat auf dem Bürgersteig und weint Buster so lange etwas vor, bis er ihm den Hausrat abkauft. Der erpresste Verlobte möchte nun „seinen“ Hausrat wiederverkaufen, um zu zeigen, dass er ein guter Geschäftsmann ist. Doch der Hausrat gehört einer Familie, die umzieht, und ihm natürlich den Hausrat überlässt, als er mit einem eben frisch besorgten Pferd und einer Kutsche erscheint – weil sie ihm mit einem Umzugsarbeiter verwechselt. Nun trottet die Kutsche vor sich her. Buster hat zur Verkehrssicherheit eine Apparatur aufgebaut, die an den Seiten hinausschnellt, um den Richtungswechsel anzuzeigen. Beim nächsten Wendemanöver bekommt natürlich ein Verkehrspolizist eins auf die Nase.
Ein wenig später gerät Buster mit seiner beladenen Pferdekutsche in eine Polizistenparade. Etwas zerstreut merkt er das überhaupt nicht, und glaubt sogar, dass die Akklamationen der Tribünen am Straßenrand ihm gelten. Derweilen hat sich ein Anarchist auf einem nahegelegenen Dach postiert, zündet eine Bombe an und wirft sie in die Parade. Die Bombe landet neben Buster auf den Kutschensitz, der die brennende Lunte als Feuerzeug für eine Zigarette nutzt und gedankenabwesend danach die Bombe hinter sich wirft – direkt in die paradierenden Polizisten. Panik bricht aus. Alle Anwesenden haben nur gesehen, dass der Kutschenfahrer eine Bombe geworfen hat, und nun sind alle Polizisten der Stadt hinter Buster her. Zu Dutzenden, ja zu Hunderten verfolgen sie den vermeintlichen Terroristen. Der hemdsärmlige Mann, der eigentlich mit seiner Familie umzieht, macht sich derweilen auf die Suche nach dem Umzugsarbeiter – und zieht dafür seine Polizistenuniform wieder an. Über viele Umwege, unter anderem über eine auf einer Palisade balancierende Leiter, gelingt es Buster, der Polizei zu entkommen. Als Polizist getarnt begegnet er auf der Straße seiner Verlobten, die erkennt, dass er offenbar kein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, ihn mit Verachtung anschnaubt und dann pikiert wegläuft. Daraufhin ergibt sich Buster resigniert dem mittlerweile rasenden Polizistenmob und geht in den sicheren Tod.

Aberdutzende Polizisten!
COPS beginnt langsamer als THE GOAT, baut aber im letzten Drittel ein Showdown auf, das zumindest in der schieren Menge der Komparsen den Vorgängerfilm in den Schatten stellt. Doch man könnte es auch als langsames Crescendo sehen. Busters teils bewusste, teils unbewusste Gesetzüberschreitungen bauen sich nach und nach auf. Es fängt damit an, dass er einen Polizisten beklaut: allerdings ohne Wissen, dass es sich um einen Ordnungshüter handelt, sondern eher als eine kleine Rache gegen einen Mann, der ihn als „Dank“ für seine Hilfsbereitschaft grob herumschubst. Weiter geht es damit, dass er den Hausrat eines Polizisten „stiehlt“, allerdings völlig unbewusst: denn Buster ist auf einen Betrüger reingefallen (und dass der hemdsärmlige Mann ein Polizist ist, erfahren wir erst später). Schließlich schlägt Buster einen Polizisten zwei mal mit seinem improvisierten Kutschen-Blinker und wirft eine Bombe auf eine Polizistenparade – beides ebenfalls völlig unbewusst. Ihm passiert das selbe wie in THE GOAT: er ist der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort unter den falschen Umständen und gerät als Unschuldiger durch eine Verkettung scheinbar harmloser Situationen in einen Alptraum aus rasender Verfolgung.

Ein potenzierter Alptraum: um die Ecke lauert nicht mehr ein Polizist oder wenn es hochkommt zwei bis vier, sondern Aberdutzende, gar Hunderte – eine Massenchoreographie des Schreckens. Ja, des Terrors. COPS endet damit, dass ein im Grunde unschuldiger Mann von einem tobenden Mob (off screen) erschlagen wird. Gleichwohl Keaton in seinem Werk neben surrealistischen und poetischen auch immer wieder schwarzhumorige Elemente einbaute, findet sich hier die wohl morbideste und makaberste Filmwendung seiner Karriere. Auch sein COLLEGE von 1927 endete mit einem Grabsteinbild, dem allerdings kein gewaltsamer Tod vorausging. Die zugespitzte paranoide Welt voller Polizisten findet ihren Höhepunkt, als Buster selbst zum Polizisten wird (als Tarnung). Die Paranoia wendet sich gegen ihn, und es scheint hier auf bittere Weise folgerichtig, dass die Erlösung nur durch den Tod kommen kann.

Neben dem Motiv des unschuldig Verfolgten enthält COPS wie auch THE GOAT (aber auch andere Keaton-Filme wie z. B. CONVICT 13), in zugespitzter Weise das „proto-Hitchcock‘ianische“ Motiv des multiplen Identitätstausches (bzw. „proto-Lang‘ianisch“, wenn man bedenkt, dass Hitch von Fritz Lang beeinflusst wurde – und in diesem Sinne ist es wieder „post-Feuillade‘isch“). Es gibt wohl kaum eine Figur in COPS mit fester Identitätszuschreibung, denn alle Akteure fallen auf Identitätsverwechslungen ein. Der unglückliche Verlobte wird aus Rache zum Taschendieb, dann zum neureichen Herr und Betrugsopfer, später zum Umzugshelfer, schließlich zum Terroristen, um als Polizist und schließlich Opfer eines Mobs zu enden. Eine tödlich endende „große“ Eskalation der Identitätsverwechslungen, der sich in „kleinere“ Verwechslungseskalationen aufsplittet. Rein legal etwa „stiehlt“ Buster das Pferd und die Kutsche: er übersieht, dass das Verkaufsschild zum Pferd mit der Kutsche eigentlich ein Herrenjackett vor einem naheliegenden Bekleidungsgeschäft betraf, und drückt dem vermeintlichen Kutscher die fünf Dollar in die Hand – doch dieser war eigentlich nur ein zufällig dort sitzender Mann, der nun das unerwartete Geld nutzt, um gleich eben erwähntes Jackett zu kaufen (Buster wird ein „guter Geschäftsmann“ – von seinen „Geschäften“ profitieren aber eben nur andere).

Buster im Knast? Na... doch nicht!
Die schiere Dichte an visuellen Gags, die THE GOAT zwischendurch fast explodieren lassen, erreicht COPS zwar nicht, aber auch dieser Film enthält immer noch genug große Keaton-Momente. Das beginnt natürlich mit den ersten Bildern, die Buster in trübseliger Stimmung hinter Gittern zeigt, während eine junge Frau vor den Gittern auf ihn einredet. Das sieht aus, als erhielte ein Gefangener Knastbesuch. Doch ein Schnitt offenbart, dass dies kein Gefängnis ist, sondern das Gittereingangstor eines Hauses (womit gewissermaßen die darauf folgenden Verwechslungen, Wahrnehmungslücken und Identitätsstörungen schon vorweggenommen werden). Diesen Moment kann man sicher auch als kleine Insider-Anspielung auf THE GOAT sehen, in dem ebenfalls ein Bild Busters hinter Gittern zu sehen ist, das eigentlich „falsch“ ist.
Ein besonders bizarrer Gag, den man wohl in gallizistischem Amerikanisch wohl „risqué“ nennen würde und der ein Jahrzehnt später unter der Herrschaft des Joseph Breen nicht mehr möglich gewesen wäre, arbeitet wieder mit einer Identitätsverwechslung. Das Kutschenpferd, das Buster „gekauft“ hat, fängt an zu bocken, und der „falsche Umzugshelfer“ erblickt in der Nähe ein Schild mit der Aufschrift „Dr. Smith, goat gland specialist“. Eine indirekte Anspielung auf THE GOAT? Buster hält auf jeden Fall den besagten Smith für einen Tierarzt (wenn der schon was mit Ziegendrüsen macht). In Wirklichkeit wütete in den 1920er ein Scharlatan namens John Brinkley, der mit der Transplantation von Ziegendrüsen männliche Schwäche (also Impotenz) heilen wollte. Das klingt alles witziger, als es in Wirklichkeit ist, denn nach diesen Operationen starben offenbar zahlreiche Patienten an Infektionen. Jedenfalls bringt Buster sein bockiges („schwaches“) Pferd zu besagtem Dr. Smith. Als er herauskommt, ist das Tier tatsächlich wesentlich belebter, ja sogar so quicklebendig, dass er schwer zu kontrollieren ist. Buster selbst hält kurz inne, scheint zu überlegen, kehrt dann zu Dr. Smith ohne das Pferd zurück – um seinen liegengebliebenen, charakteristischen pork-pie-Hut zu holen. Eine kleine zusätzliche Notiz zu den John Brinkley und seinen Ziegendrüsen, die sogar die Filmindustrie beeinflussten: „goat gland“ ist auch die Bezeichnung für Filme aus den Jahren 1927 bis 1929, die als Stummfilme gedreht wurden, und in denen nach Fertigstellung noch Tonpassagen eingefügt wurden (ein Beispiel wäre etwa Hitchcocks Tonversion von BLACKMAIL).
Ein wie ich finde sehr typischer, poetischer Keaton-Moment folgt in der Interaktion Busters mit „seinem“ Pferd. Das Tier verhält sich im Allgemeinen recht schwierig, und so kramt Buster ein Elektrogerät aus dem Hausrat hervor, setzt dem Pferd Kopfhörer auf, dreht die Kurbel des Fernsprechers und sagt seine Befehle in den mit den Kopfhörern verbundenen Sprachtrichter hinein: das Pferd reagiert darauf williger als auf „direkte“ Sprachbefehle.
Akrobatischer Höhepunkt von COPS ist natürlich die Leiter-Szene. Buster klettert eine lange Leiter hoch, die an einer Palisade angelehnt ist. Die Leiter ist etwa doppelt so hoch wie besagte Palisade, kippelt daher rasch von einer Seite auf die andere, bis sie irgendwann im Gleichgewicht balanciert, als sich ein Polizist gegenüber Buster an sie ranhängt. Von beiden Seiten eilen Polizisten heran, die mit der Leiter ein „Tau-Ziehen“ um Buster veranstalten, der nach Gleichgewicht suchend sogar Rückwärtsrollen machen muss. Schließlich wird er weggeschleudert – und landet natürlich auf direkt auf den von Joe Roberts dargestellten Polizisten.


Dies war nun die letzte Filmbesprechung bei „Whoknows Presents“ in diesem Jahr. Anfang Januar folgt mein persönlicher Rückblick auf das Filmjahr 2014. Und 2015 kommen dann neue Besprechungen von Manfred und mir.

Doch bis dahin wünsche ich all unseren Lesern frohe Weihnachten...


...und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Sonntag, 7. Dezember 2014

Ein verprügeltes Gesicht, Edgar Ulmers Geist und Steven Seagal


GUTSHOT STRAIGHT
USA 2014
Regie: Justin Steele
Darsteller: George Eads (Jack Daniel), Stephan Lang (Duffy), AnnaLynne McCord (May), Ted Levine (Lewis), Vinnie Jones (Carl), Steven Seagal (Paulie Trunks)



Auf dem Cover der deutschen DVD von GUTSHOT STRAIGHT sieht man Steven Seagal, der offensichtlich gerade frisch von einem Photoshop-Termin kommt und mit einer Pistole auf irgendetwas außerhalb des Bilds zielt. Unter ihm zielen auch drei weitere Gestalten (die übrigens im Film überhaupt nicht auftauchen) auf irgendwelche unbekannten Ziele. Alles klar, ein typischer Seagal-Actioner, denkt man sich: er spielt mal wieder einen Ex-CIA-Ex-Irgendetwas-Typen mit einem Hang zu ostasiatischer Mystik, der stinkesauer ist, weil Böswatze seiner Frau/seiner Tochter/seinem Buddy etwas schlimmes angetan haben und der jetzt noch schlimmere Sachen mit besagten Böswatzen anstellen wird.

Doch im Prolog wird zunächst ein Typ mit einem zerschlagenen Gesicht zu Seagal geführt, der in Patenmanier gemütlich hinter einem Büroschreibtisch sitzt. Er hantiert mit einer riesigen, phallischen Zigarre herum, spricht mit einer Stimme, die Batman wie eine zwölfjährige Sopranchoristin klingen lässt und auf dem Kopf trägt er etwas, das wie ein besonders aufwendiges Toupet aussieht (oder wie ein totes pelziges Tier). Nach einigen strengen Worten und der salbungsvoll vorgetragenen Frage, ob er denn sein Freund sei, bietet er dem Typen mit dem zerschlagenen Gesicht eine Pistole an. Vorspann. Und was für ein Vorspann: als würden wir uns in einem James-Bond-Film befinden. Popart-Credits der Extraklasse, die die schlechtesten unter den 007-Vorspännen qualitativ bei weitem übertrifft und mit einem tollen Song unterlegt ist. Dann folgt eine Szene in einem Casino in Las Vegas. Jack, der Typ, der im (chronologisch späteren) Prolog mit zerschlagenem Gesicht Trübsal geblasen hat, stolziert mit breitem Lächeln auf seinem makellosen Gesicht durch die Spielhalle, plaudert freundlich mit einem Croupier, setzt sich dann an einen Pokertisch und provoziert eine schwarze Spielerin so lange mit einem rassistischen Witz, bis er gewinnt...

Die ersten paar Minuten von GUTSHOT STRAIGHT sind eine ziemlich „schlechte“ Vorbereitung auf das, was schlussendlich folgt: kein Seagal-Actioner, kein Pseudo-Bond-Film, und auch kein Casino- & Zockerfilm, sondern eine Perle von einem fiesen kleinen neo noir. Ein neo noir, der sich nicht an der glamourösen Seite des klassischen noirs orientiert, mit ihren klassischen Schönheiten Lauren Bacall und Rita Hayworth sowie ihren kernigen Helden Humphrey Bogart und Robert Mitchum, die in luxuriösen Bars und Nachtclubs ihren Intrigen nachgingen, sondern am schäbigen poverty-row-noir mit seinen wirklich kaputten Randexistenzen und seinen schmierigen Cafés. GUTSHOT STRAIGHT erinnert aus mehreren Gründen bisweilen an Edgar Ulmers DETOUR. 

Aber der Reihe nach... Jack mag am Anfang die ganze Zeit lächeln, aber das ist nur ein Abwehrmechanismus. Im Casino wird er von einem mysteriösen Mann angesprochen, der ihm seine Visitenkarte gibt, ihm dann irgendetwas von Geld und Möglichkeiten erzählt und dem notorischen Spieler sogar anbietet, ihn bei einem Pokertisch mit großen Einsätzen auf Pump einzukaufen. Jack schickt den Mann zum Teufel – und als er zu Hause ankommt, wird er erst einmal von Typen verprügelt, denen er noch Geld schuldet. Die Schläger machen unwiderruflich klar, dass sie bald für den Restbetrag vorbeikommen werden (zumal einer von ihnen vom markanten Vinnie Jones gespielt wird). Das restliche Geld will Jack bei seiner Bank anpumpen, doch trotz Anflirtens der jungen Bänkerin wird er mit Nachdruck weggeschickt.

Jack in misslicher, Duffy in hedonistischer Position
Drinks im Stripclub, Anbahnung von Poolsex mit Voyeur
So ruft Jack den mysteriösen Fremden aus dem Casino doch noch an, um sich wegen der „Möglichkeiten“ zu erkundigen. Ein Termin in einem schummerigen Stripclub wird vereinbart, wo beide sich beschnuppern. Duffy, der Fremde, scheint ziemlich reich zu sein, spendiert sämtliche Drinks, und verliert zwei Wetten an Jack (er soll mit vier 50-Dollar-Scheinen eine Bierflasche öffnen und diese danach mit bloßen Händen zerschlagen). Nach Ladenschluss nimmt Duffy Jack in sein Haus mit und bietet ihm dort eine ganz große Wette an: 10.000 Dollar, wenn Jack mit seiner Ehefrau schläft – und 20.000, wenn er dabei zugucken darf. Für Jack ist das – so attraktiv er Duffys Ehefrau gleich beim ersten Anblick offenbar findet – etwas zu viel. Doch als er sich davon machen möchte, schlägt Duffy ihn K. O. Als Jack wieder aufwacht, ist nur noch seine Ehefrau im Haus, und dann bahnt sich zwischen den beiden doch etwas im Pool an. Plötzlich steht der reiche Exzentriker daneben, eine Tasche voll Geld in der Hand. Das nimmt Jack nun wieder alle Lust, aber als er wiederholt gehen möchte, kommt es zu einem Gerangel zwischen den beiden Männern. Duffy fällt unglücklich, bricht sich das Genick und ist tot.

Lewis "erkennt" Jack
Femme fatale May
Während Jack in Panik auszubrechen droht, nimmt die Ehefrau die Gesamtsituation mit großer Gelassenheit und sogar einer gewissen Freude auf, warnt Jack jedoch davor, die Polizei zu benachrichtigen: er wisse ja nicht, was für ein Mensch Duffy wirklich gewesen sei. In einer Nacht- und Morgengrauen-Aktion wird die Leiche erst einmal beseitigt. Am nächsten Morgen fühlt sich für Jack alles wie ein entfernter Alptraum an, doch das Erwachen kommt jäh: er hat sein Portemonnaie in Duffys Villa vergessen und muss dieses wieder beschaffen. Als er vor dem Hauseingang rumschleicht, grüßt ihn plötzlich ein Mann, namens Lewis. Es ist Duffys Bruder, der sich rasch an Jack von einer vergangenen Pokernacht erinnert und ihn freundlich in Duffys Haus bittet. Mit einem Lächeln im Gesicht macht Lewis immer wieder versteckte Anspielungen darauf, dass er wohl ahne, dass irgendetwas komisches vorgefallen ist.
Das nächste Treffen zwischen Jack und Lewis in einem Casino verläuft noch unerfreulicher. Denn nun erklärt ihm Lewis, dass er sehr wohl wisse, dass Jack Duffy getötet hat. Er sei aber bereit, die Sache zu vergessen und Jack und seine Tochter (der Spieler hat eine Frau und eine Tochter, von denen er getrennt und entfremdet lebt) am Leben zu lassen, unter einer Bedingung: Jack soll Duffys Ehefrau ermorden. Einfacher gesagt als getan, denn nun fühlt sich Jack erst recht zu ihr, May, angezogen. Da es ihm aber auch um das Leben seiner Tochter geht, sucht er den großen Kredithai Paulie auf, um ihn um Ratschlag und eine Pistole zu bitten. Paulie gibt sie ihm mit dem Tipp, sie Lewis nutzen zu lassen. Beim Showdown schließlich prügelt Jack Duffys Bruder nieder. May nimmt Paulies Waffe und will damit Jack töten. Die präparierte Pistole explodiert aber und schießt nach hinten, direkt in Mays Gesicht. Und als Lewis wieder aufwacht und sich erneut auf Jack stürzt, taucht Paulie mit seinen Schlägern auf, erschießt Lewis und spricht das Urteil über Jack: er solle Duffys Geld nehmen und für immer aus Las Vegas verschwinden. Nachdem er die Geldtasche bei seiner Ex-Frau und seiner Tochter deponiert hat, macht Jack genau das: ohne Geld, mit nur einem klapprigen Auto und einem geschundenen Gesicht fährt er weg.

Ein glanzloser Antiheld, der in eine sexuell aufgeladene, gewalttätige Intrige voller wunderlicher und absurder Wendungen gerät. Zwielichtige Gestalten und eine femme fatale, deren Vertrauenswürdigkeit stets auf der Kippe steht, weil überall Verrat lauert. GUTSHOT STRAIGHT ist ein fast schon puristischer neo noir. Doch was hat es mit dem DETOUR-Vergleich auf sich?

Jack Daniel erscheint wie eine Wiedergeburt von Al Roberts, dem glücklosen Protagonisten von DETOUR und der wahrscheinlich miserabelsten Figur, die der klassische film noir hervorgebracht hat: ein Loser, der selbst im heruntergekommensten Café der ganzen Stadt noch seine Würde verliert und angepöbelt wird. Sicher: Jack ist kein gescheiterter Künstler wie Al, sondern nur ein gescheiterter Pokerspieler. Und im Gegensatz zu Al scheint er zumindest eine halbwegs bürgerliche Vergangenheit zu haben, mit Ehefrau, Tochter und bescheidenem, aber solidem Eigenheim. Der tiefe Masochismus jedoch, der Al kennzeichnete, fehlt ihm. Doch auch Jack kann seine Würde nur in Scherben mit sich herumtragen: Paulies Schläger lachen ihn aus, Paulie selbst behandelt ihn wie einen kleinen Lausbub, bei seiner Bank kriegt er quasi Hausverbot, und die Bartenders der schummerigsten Stripclubs behandeln ihn von oben herab.


Das zerschlagene Gesicht mit den ganzen Blutergüssen trägt Jack durch den ganzen Film (hinzu kommt über die meiste Laufzeit auch ein T-Shirt mit blutverschmiertem Kragen), und auch wenn man die Ursache dafür sieht, nämlich die Tracht Prügel zu Beginn, erscheinen diese Zeichen eher ein existentieller Bestandteil seiner Person zu sein als die Folge eines Ereignisses. Das erinnert ein wenig an den permanenten Schweißfilm auf Al Roberts Gesicht: kein Zeichen der Temperaturverhältnisse oder irgendeiner Anstrengung, sondern Ausdruck existentieller Verzweiflung. Blutergüsse und Schweiß – Jack Daniel und Al Roberts tragen die Essenz ihres Daseins sichtbar im Gesicht.

Mit DETOUR verbindet GUTSHOT STRAIGHT sicherlich auch einige Versatzstücke des Plots: ein Mann tötet aus Versehen einen anderen Mann und wird dann von jemandem erpresst, der genau das weiß (gleichwohl die blasse AnnaLynne McCord nicht annähernd an Ann Savage rankommt). Doch mehr als alles hat der Film von 2014 ein ähnliches „Feeling“ wie der Klassiker aus dem Jahre 1945: es ist das „Feeling“ eines B-Films, der er es schafft, zu etwas größerem zu werden, weil er seine eigenen Begrenzungen umarmt.

Trotzdem ist und bleibt GUTSHOT STRAIGHT ein Original. Seine narrative Struktur ist von einer erstaunlichen Klarheit: nach A folgt B, dann C... Doch er lässt die einzelnen Plotpoints als reine Zeichen stehen, gibt ihnen keine Erklärungen, reduziert alles auf das reine Skelett. Dabei nimmt er radikal Jack Daniels Perspektive ein und als Zuschauer verfügen wir nur über seinen Wissensstand (teils sogar noch weniger). So stolpern wir wie er durch diese einfache, aber doch bizarre Geschichte: warum Duffy ausgerechnet ihn für seine sexuelle Fantasien auswählt, warum Lewis May töten will, was nun das genaue Verhältnis zwischen Duffy, Lewis und May ist, warum ausgerechnet er ein Blutbad zu verantworten hat und dann hinter sich lassen muss – Jack wird es nie erfahren. Besonders unklar ist, warum offenbar jeder seinen Namen kennt: Duffy nennt ihn Jack, bevor er sich vorstellen kann, Lewis tut es genau so, ja gegen Ende spricht ihn gar irgendein Türsteher vor einem Pokerspielzimmer einfach so mit Jack an. Alle haben einen Informationsvorsprung vor Jack. Dies erklärt wohl auch die für einen film noir untypische Rauminszenierung (trotz der sehr expressiven Bildgestaltung). Die meisten Einstellungen sind Nah- und Halbnaheinstellungen mit extrem geringer Tiefenschärfe. Selbst einige der Establishing Shots scheinen mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden zu sein: die meiste Zeit bewegt sich Jack durch eine Welt, die wie verschleiert wirkt und in der nichts auch nur annähernd deutlich zu erkennen ist. Die Schleier lüften sich auch am Ende nicht – und die zwei weiteren Toten erklären auch nichts weiteres. In Zeiten, in denen Mainstream-Sehgewohnheiten doch stark auf langwierige (Über)erklärungen ausgerichtet sind, wirkt GUTSHOT STRAIGHT erstaunlich frisch.

Was ist aber nun mit Steven Seagal und Vinnie Jones, die schließlich, zumindest auf dem Cover der deutschen DVD, die Credits anführen? Seagal tritt nur kurz im Prolog auf und wird in den Anfangs-Credits nicht erwähnt. Gegen Ende wird die Prologszene  mit leicht alternativen Einstellungen  wiederholt, und dann taucht Seagal ganz am Schluss während des Showdowns auf. Zusammengerechnet kommt wohl nicht einmal fünf Minuten Screentime zusammen. Ein reines Cameo also, der zudem wie ein absurder Fremdkörper wirkt. Denn Seagal teilt sich kein einziges Frame mit dem Hauptdarsteller George Eads: Ihr Dialog ist in Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen aufgelöst. Jacks Hinterkopf, wenn man Paulie frontal sieht, dürfte wahrscheinlich einem Double gehören. Auch im Showdown wird Eads wahrscheinlich von einem Stand-in gespielt, wenn Seagal im Bild zu sehen ist. Kurz: mit dem legendären Actionstar wurden wahrscheinlich irgendwelche halbwegs passenden Szenen gedreht, die dann in GUTSHOT STRAIGHT reingeschnitten wurden. Das würde in einem anderen Kontext lächerlich wirken (und irgendwie ist es ja auch lächerlich), fügt sich aber hier ganz gut in einen Zustand der permanenten Verwirrung und Dissoziation ein, den der Protagonist erlebt. Aber vielleicht hat es auch einen Sinn: Seagal ist am Ende der deus ex machina, der die ganze Geschichte abbricht und ihr einen Schlusspunkt setzt. Seine Paulie-Figur sowie ihre funktionierenden wie auch präparierten Pistolen sind gewissermaßen der materialisierte, wiederauferstandene Geist des schicksalhaften Telefonkabels von DETOUR.

Sehr unglücklich ist natürlich, dass dieser „Pseudo-Seagal-Film“ wie ein echter Seagal-Actioner vermarktet wird. Es gibt in GUTSHOT STRAIGHT keine Action, keine Actionfigur, keine Actionfilmgeschichte. Auch als „einfacher“ Thriller funktioniert der Film kaum, weil er eben vor allem von einer noir-Atmosphäre lebt, die sich nicht in erster Linie durch klassische Spannung auszeichnet. Leider dürfte der Film also einige Mühe haben, ein Publikum zu finden – zumal als direct-to-video-Produktion.


GUTSHOT STRAIGHT ist als DVD in Deutschland und in den USA erhältlich, ab März nächsten Jahres auch in Großbritannien. Außer mangelnden Untertiteln und einem etwas penetranten, chemischen Plastik-Geruch spricht allerdings nichts gegen die deutsche DVD.

Dienstag, 18. November 2014

Großstadt-Kammermusik

Großstadt-Kammermusik? Was ist das nun wieder? Dasselbe wie eine Großstadtsinfonie, nur in kleinerer Form. Das Genre der Großstadtsinfonie (oder, je nach Geschmack, Großstadtsymphonie, engl. city symphony) hat seinen Namen von Walther Ruttmanns BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927), von dem auch ungefähr ein halbes Dutzend anderer Schreibweisen existieren. Der Film zeichnet den Verlauf eines beliebigen Werktags in Berlin nach, ohne individuelle Charaktere - die Stadt selbst und ihre anonymen Bewohner sind die Hauptdarsteller, in fast vollständig dokumentarischen Aufnahmen, zu einem beträchtlichen Teil mit versteckter Kamera gedreht (zwei oder drei Szenen, darunter der Selbstmord einer Frau, wurden aber von Ruttmann inszeniert). Dazu die bewegungs- und schnittsynchrone Originalmusik von Edmund Meisel, die den Film erst zu einer "Sinfonie" machte. Das Prinzip, dem Lauf eines Tages vom Morgengrauen bis in die Abend- oder Nachtstunden hinein zu folgen, wurde auch von anderen Filmen dieses Genres verwendet, wobei Ruttmanns BERLIN nicht der erste Vertreter war. Schon 1921/22 entwickelte László Moholy-Nagy, damals in Berlin und wenig später für einige Jahre als Lehrer am Bauhaus, konkrete Pläne für einen solchen Film mit dem Titel DYNAMIK DER GROSS-STADT, unter Mitarbeit des mit ihm befreundeten Carl Koch (Ehemann und enger Mitarbeiter von Lotte Reiniger sowie Freund und Mitarbeiter von Jean Renoir, siehe dazu hier im letzten Absatz). Doch Moholy-Nagy und Koch bekamen das Geld dafür nicht zusammen. In seinem 1925 erschienenen Buch "MALEREI FOTOGRAFIE FILM" (das auch eine Art Storyboard des Films enthält) schreibt Moholy-Nagy:
Wir [er und Koch] sind leider bis heute nicht dazu gekommen; sein Film-Institut hatte kein Geld dafür. Größere Gesellschaften wie die UFA wagten damals das Risiko des bizarr Erscheinenden nicht; andere Filmleute haben "trotz der guten Idee die Handlung [Hervorhebung im Buch] darin nicht gefunden" und darum die Verfilmung abgelehnt. [...]

Der Film "Dynamik der Groß-Stadt" will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen; er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander; trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein. [...]

Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, - statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert. Die Verbindung der einzelnen, "logisch" nicht zusammengehörenden Teile erfolgt entweder optisch, z.B. mittels Durchdringung oder durch horizontale oder vertikale Streifung der Einzelbilder (um sie einander ähnlich zu machen ), durch Blende (indem man z.B. ein Bild mit einer Irisblende schließt und das nächste aus einer gleichen Irisblende hervortreten läßt) oder durch gemeinsame Bewegung sonst verschiedener Objekte, oder durch assoziative Bindungen.
Zumindest auf dem Papier sind hier schon Elemente der Großstadtsinfonien vorweggenommen, und in der 1927 erschienenen zweiten Auflage des Buchs merkt Moholy-Nagy an, dass Ruttmanns soeben herausgekommener BERLIN "ähnliche Bestrebungen" wie sein eigenes Projekt verfolge. - Als erste tatsächlich gedrehte Großstadtsinfonie wird meist RIEN QUE LES HEURES bezeichnet, den der vorwiegend in Frankreich und England arbeitende Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. 1928 bekam Paris mit ÉTUDES SUR PARIS von André Sauvage einen weiteren Film aus diesem Bereich spendiert, und schon im Jahr zuvor, ungefähr zeitgleich mit Ruttmann, inszenierte der Kameramann Michail Kaufman (der Bruder von Dsiga Wertow und Boris Kaufman) gemeinsam mit einem Ilja Kopalin MOSKAU. Weitere Filme, die man zumindest ansatzweise als Großstadtsinfonien bezeichnen kann, entstanden etwa in Sao Paolo und anderswo. Als zweiter und letzter Höhepunkt des Genres nach BERLIN gilt DER MANN MIT DER KAMERA, den Dsiga Wertow (mit Michail Kaufman an der Kamera) 1929 inszenierte. Allerdings ist dieser Film keiner bestimmten Stadt gewidmet, sondern er wurde in mindestens drei verschiedenen Städten gedreht. - In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war New York City zweifellos die Metropole schlechthin, aber ausgerechnet dort entstand merkwürdigerweise keine echte Großstadtsinfonie. Was es aber gab, war eine ganze Reihe von kleineren Filmen, die das eine oder andere charakteristische Element aufwiesen, die nicht individuelle Charaktere (seien sie real oder fiktiv) in den Mittelpunkt rückten, sondern die Architektur, die Verkehrsmittel, die Bevölkerung als anonyme Masse - eben keine Großstadtsinfonien, sondern Großstadt-Kammermusik. Mal stand der dokumentarische Blick im Vordergrund (ohne dass es sich um Dokumentarfilme im engeren Sinn handelte), mal eine lyrische Stimmung oder formale Experimente. Was nun folgt, ist eine natürlich unvollständige und subjektive Auswahl. Die ersten vier Beispiele entstanden als Stummfilme und sind hier mit modernen Soundtracks versehen.



MANHATTA (auch NEW YORK THE MAGNIFICENT)
USA 1921
Regie: Charles Sheeler und Paul Strand

Nein, da fehlt kein N - der Titel lautet wirklich so.



Charles Sheeler (1883-1965) war ein Maler (in einem "präzisionistischen" Stil) und Fotograf, Paul Strand (1890-1976) ein Fotograf und dokumentarischer Kameramann. Er arbeitete nicht nur für Wochenschauen, sondern er war auch Mitglied in den linken Filmkooperativen Nykino und Frontier Films, die aus der 1930 gegründeten Workers' Film and Photo League hervorgegangen waren. Für Sheeler dagegen war MANHATTA der einzige Ausflug zum Film. Die poetischen Texte der Zwischentitel stammen von Walt Whitman. MANHATTA wurde ungeachtet seiner Kürze gelegentlich als erste Großstadtsinfonie überhaupt bezeichnet. Egal wie man dazu steht - ein wichtiger Vorläufer war er in jedem Fall.



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND
USA 1927
Regie: Robert Flaherty



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND ist offensichtlich von MANHATTA beeinflusst - nicht nur einige Einstellungen, auch das ganze Konzept ist recht ähnlich. Robert J. Flaherty (1884-1951) wird oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet. Zwar gab es auch schon vor ihm Dokumentarfilme, auch in seinem Spezialgebiet, dem Ethno-Dokumentarfilm (etwa IN THE LAND OF THE HEAD HUNTERS aka IN THE LAND OF THE WAR CANOES von Edward Sheriff Curtis, 1914), aber mit seinem Erstling NANOOK OF THE NORTH (1922) trug er maßgeblich dazu bei, den Dokumentarfilm als eigenständiges Genre zu etablieren. Obwohl er vor allem, wie gerade erwähnt, mit Ethno-Filmen assoziiert wird, filmte er auch die moderne industrielle Welt (nach TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND z.B. - in Zusammenarbeit mit John Grierson - INDUSTRIAL BRITAIN.



SKYSCRAPER SYMPHONY
USA 1929
Regie: Robert Florey



Hier also doch noch eine "Symphonie", zumindest dem Titel nach. Der Franzose Robert Florey (1900-1979) ging 1921 in die USA und landete bald in Hollywood. Nach Jahren als Regieassistent bei Studios wie Fox und MGM wurde er in den späten 20er Jahren zu einem Grenzgänger zwischen dem amerikanischen Independent- und Avantgardefilm einerseits und Hollywood andererseits. Auf der Independent-Seite inszenierte er - in Zusammenarbeit mit Leuten wie Slavko Vorkapich, Gregg Toland oder William Cameron Menzies - den grandiosen THE LIFE AND DEATH OF 9413, A HOLLYWOOD EXTRA, den komplett expressionistischen THE LOVE OF ZERO, den leider verschollenen JOHANN THE COFFINMAKER, und eben die SKYSCRAPER SYMPHONY. Auf der kommerziellem Seite drehte er (zusammen mit einem Joseph Santley) den Marx-Brothers-Film THE COCOANUTS. Danach war er an den Vorbereitungen zu FRANKENSTEIN beteiligt und sogar als Regisseur im Gespräch. Als James Whale den Zuschlag erhielt, durfte Florey zum Ausgleich mit Bela Lugosi die Poe-Verfilmung MURDERS IN THE RUE MORGUE machen. Dieser ebenfalls stark vom Expressionismus beeinflusste Film geriet im Gegensatz zu FRANKENSTEIN zu keinem überragenden Erfolg, und Florey blieb der große Durchbruch versagt. So schlug er schließlich eine Karriere als zuverlässiger B-Film-Regisseur und ab den 50er Jahren als Fernsehregisseur ein.



A BRONX MORNING
USA 1931
Regie: Jay Leyda



Hier nun ein "privaterer" Film, der sich auf ein Stadtviertel beschränkt und näher an den Menschen dran ist als die drei vorherigen Filme. Dass Leydas Blick auch vor dem Rinnstein und Mülltonnen nicht Halt macht, erinnert etwas an den 1930 entstandenen À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) von Jean Vigo (Regie) und Boris Kaufman (Kamera). Ob Leyda den kannte, weiß ich aber nicht. Jay Leyda (1910-1988) kam aus einem ähnlichen Umfeld wie Paul Strand: Er war ziemlich weit links und Mitglied der Workers' Film and Photo League und von Frontier Films. A BRONX MORNING war sein einziger Film in alleiniger Regie (1937 inszenierte er gemeinsam mit Elia Kazan, damals am Group Theatre, und zwei Kollegen von Frontier Films seinen zweiten und letzten Film). Nach A BRONX MORNING ging Leyda nach Moskau, um an der staatlichen Filmhochschule WGIK zu studieren, wo er sich mit Sergej Eisenstein befreundete. Leyda war an den Dreharbeiten zu Eisensteins DIE BESHIN-WIESE beteiligt, der aber von den stalinistischen Filmbürokraten abgebrochen wurde und unvollendet blieb. Leyda entwickelte sich zu einem profunden Kenner des sowjetischen und später auch des chinesischen Films und schrieb für den englischen Sprachraum bahnbrechende Bücher darüber. Nach längeren Aufenthalten in England, China und der DDR kehrte er um 1970 endgültig in die USA zurück, wo er als Dozent für Film an verschiedenen Hochschulen wirkte. Neben seinen filmhistorischen Aktivitäten publizierte er auch Bücher über Herman Melville, Emily Dickinson, Modest Mussorgski und Sergej Rachmaninow.



3rd AVE. EL
USA 1955
Regie: Carson Davidson



Die Third Avenue El von Manhattan in die Bronx war eine der New Yorker Hochbahnen, die in unzähligen Filmen und Fernsehsendungen zu sehen sind. 1955 stellte sie in Manhattan den Betrieb ein (in der Bronx erst 1973), und aus diesem Anlass wurde sie noch mehrfach im Film festgehalten - außer in 3rd AVE. EL beispielsweise auch in THE WONDER RING und GNIR REDNOW. Carson "Kit" Davidson ist ein vielfach ausgezeichneter, aber wenig bekannter Regisseur. Die Welt des Films hat er längst hinter sich gelassen, stattdessen arbeitet er seit vielen Jahren im Feld der Medizinpublizistik. Nachdem er sich in jungen Jahren als Neuankömmling in New York vom Tellerwäscher zum Mädchen für alles in einer Filmfirma gesteigert hatte (was man hier in seinen eigenen Worten nachlesen kann), drehte er 3rd AVE. EL mit einer geborgten Kamera in Eigeninitiative und versuchte zunächst vergeblich, einen Verleih dafür zu finden, bis ein "verrückter Russe", der ein Kino besaß, als letzter auf Davidsons Liste ein Einsehen hatte und den Film monatelang als Vorfilm zeigte. Es hat sich gelohnt, vor allem für Davidson, denn 3rd AVE. EL wurde für den Oscar nominiert und gewann diverse Preise. Die Musik stammt von Haydn, Solistin ist die polnisch-jüdische Cembalistin und Pianistin Wanda Landowska, die 1941 von Frankreich in die USA geflüchtet war. Sie mochte eigentlich überhaupt keine Filme, aber mit 200 Dollar konnte sie überzeugt werden, Davidson die Rechte zu überlassen. Neben der Fahrt mit der Hochbahn bilden die Versuche, eine verlorene Münze zu bergen, eine Klammer des Films. Damit stellte sich Davidson (vermutlich unbewusst) auch in die Tradition des deutschen "Querschnittfilms" der 20er Jahre, etwa DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINES von Berthold Viertel, wodurch auch ein Anknüpfungspunkt zu Ruttmanns BERLIN besteht. - Carson Davidson war zwar hauptsächlich auf dem Gebiet des Dokumentar- und Industriefilms tätig, aber mit HELP, MY SNOWMAN'S BURNING DOWN gelang ihm auch ein witziger Ausflug in den Surrealismus. Auch dieser Film war für den Oscar nominiert, und er gewann über ein Dutzend Preise, darunter einen in Cannes. Weitere Filme von Davidson findet man bei archive.org und YouTube. - Die Bilder aus 3rd AVE. EL wurden für mindestens zwei Musikvideos verwendet, siehe hier und hier.



Den nächsten Film sehen wir gleich zweimal, mit zwei verschiedenen Soundtracks.

BRIDGES-GO-ROUND
USA 1958
Regie: Shirley Clarke



Shirley Clarke (1919-1997) ist vor allem für ihre in einem dokumentarischen Stil inszenierten Spielfilme THE CONNECTION und THE COOL WORLD bekannt, die vom Geist des Direct Cinema beeinflusst sind (Clarke hatte zuvor auch mit Richard Leacock und D.A. Pennebaker gearbeitet), ohne wirklich dokumentarisch zu sein (es ist alles penibel durchinszeniert), sowie für den Portraitfilm PORTRAIT OF JASON über einen exaltierten schwulen schwarzen New Yorker. Doch schon mit BRIDGES-GO-ROUND hat sie eine markante Duftmarke hinterlassen. Clarke konnte und wollte sich nicht zwischen den beiden Soundtracks entscheiden und erklärte kurzerhand beide für offiziell, und schon beim Erscheinen des Films wurde er meist mit beiden Tonspuren hintereinander zweimal gespielt. Teo Macero, von dem die jazzige Musik stammt, war ein Saxophonist, Komponist, Arrangeur und Plattenproduzent (lange Jahre bei Columbia Records). Louis und Bebe Barron, die den elektronischen Soundtrack beisteuerten, gehörten in den USA zu den Pionieren elektronischer Musik- und Geräuschproduktion. Die bekannteste Hervorbringung des Ehepaars war der Soundtrack zum SciFi-Klassiker FORBIDDEN PLANET (1956) von Fred M. Wilcox. Wegen kleinlicher Regularien durften sie seinerzeit nicht als "Komponisten" dieses Films bezeichnet werden, weshalb ihnen auch die sonst mögliche Nominierung für einen Oscar versagt blieb.



GO! GO! GO!
USA 1962-64
Regie: Marie Menken



New York, der Schauplatz urbaner Beschleunigung, im Zeitraffer - eigentlich eine naheliegende Idee, aber man muss sie auch erst einmal so ansprechend umsetzen wie Marie Menken (1909-1970). Da ich in nächster Zeit auf Menken zurückkommen will, soll es das erst einmal gewesen sein.

(Übrigens hat schon 1901 Frederick S. Armitage den Abriss eines New Yorker Theaters im Zeitraffer gefilmt. Er klebte eine rückwärts laufende Kopie und den vorwärts laufenden Film aneinander, so dass das Gebäude scheinbar emporwuchs und dann wieder verschwand, oder andersrum - die Kinobesitzer konnten sich das aussuchen.)

UPDATE:

Ich vergaß zu erwähnen, dass alle Filme außer 3rd AVE. EL auch auf DVD erhältlich sind (zumindest ist mir für letzteren keine DVD bekannt). Die ersten vier Filme meiner Auswahl (und außerdem der kurze Film von Frederick S. Armitage) befinden sich alle im 7-DVD-Set "Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941", das ich hier schon mit drei Beispielen vorgestellt hatte. MANHATTA findet man auch im 2-DVD-Set "Avant-Garde - Experimental Cinema of the 1920s & '30s" (inzwischen out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich), SKYSCRAPER SYMPHONY und A BRONX MORNING auch in der Box "More Treasures from American Film Archives, 1894-1931". BRIDGES-GO-ROUND und GO! GO! GO! finden sich im 2-DVD-Set "Treasures IV: American Avant-Garde Film, 1947-1986".

Montag, 3. November 2014

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.