Montag, 9. Februar 2015

Dosensuppen und Faschismus

LA SEMANA DEL ASESINO („Cannibal Man“)
Spanien 1973
Regie: Eloy de la Iglesia
Darsteller: Vicente Parra (Marcos), Eusebio Poncela (Néstor), Emma Cohen (Paula), Charly Bravo (Esteban), Vicky Lagos (Rosa), Lola Herrera (Carmen), Fernando Sánchez Polak (Señor Ambrosio)


Inhalt

Marcos arbeitet in einer Fleischfabrik, die unter anderem Dosensuppen mit Fleischbällchen produziert. Er hat die Dreißig schon gut überschritten, ist aber trotzdem mit der erheblich jüngeren Paula verlobt. Eines Abends werden beide von einem Taxifahrer aus dem Auto rausgeschmissen, weil sie sich auf der Rückbank stürmisch geküsst haben. Als der Taxifahrer dann die bereits zurückgelegte Strecke bezahlt bekommen möchte, weigert sich Marcos, zu zahlen. Und als der Fahrer gegenüber Paula handgreiflich wird, schlägt ihn Marcos mit einem Stein nieder.

Marcos ermordet Paula
Am nächsten Tag trifft sich der Arbeiter wieder mit seiner Verlobten. Sie haben aus der Zeitung erfahren, dass der Taxifahrer tot ist. Marcos nimmt das sehr gelassen hin, während Paula davon sehr beunruhigt ist. In Marcos‘ Wohnung schlafen die beiden miteinander, doch das vermag Paula nicht zu beruhigen. Sie stellt ihrem Verlobten ein Ultimatum: entweder, sie melden sich bei der Polizei und berichten über den Vorfall, oder sie wird ihn nicht heiraten. Daraufhin erwürgt Marcos seine Verlobte im Affekt und versteckt die Leiche in seinem Zimmer unter dem Bett.

In seiner schäbigen Wohnung (ein eingeschossiges Häuschen mit zwei Räumen) wohnt Marcos aber eigentlich nicht alleine, sondern in Wohngemeinschaft mit seinem Bruder Esteban, einem LKW-Fahrer. Der kommt frühzeitig von seinem letzten Auftrag zurück, weil sein Lastwagen eine Panne hatte. Das verärgert Esteban, aber zugleich freut er sich, dass er zurück ist, weil er seiner Verlobten Carmen bald eine schöne und teure Armbanduhr schenken kann. Bald merkt er, dass mit seinem Bruder etwas nicht in Ordnung ist. Nach einem Besuch in der Bar gesteht Marcos alles – den toten Taxifahrer, die Ermordung Paulas – und bittet Esteban darum, ihm zu helfen. Doch der will seinen Bruder der Polizei übergeben. Mit einem Schraubenschlüssel erschlägt nun Marcos auch seinen Bruder. Die Leiche versteckt er rasch in seinem Schlafzimmer.

Makabre Familienzusammenkunft
Marcos ist zwar aufgewühlt, geht aber am nächsten Tag trotzdem zur Arbeit, als wäre nichts gewesen. Als er nach Feierabend nach Hause kommt, steht Carmen vor der Haustür: sie sucht nach ihrem Verlobten Esteban. Marcos lässt sie ins Wohnzimmer rein, bittet sie dann aber (verständlicherweise) bald, wieder zu gehen. Carmen lässt sich aber nicht abwimmeln, möchte wissen, wo Esteban steckt und fragt auch danach, ob dieser etwas von einem Geschenk erwähnte. Sie will spontan und freudig in das Schlafzimmer gehen, um nach der „Überraschung“ zu suchen. Marcos versperrt ihr den Weg – auf so offensichtliche Weise, dass sie noch neugieriger wird und ihren zukünftigen Schwager in die Küche schickt, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Als Marcos kurz weg ist, stürmt sie in das Schlafzimmer, findet dort aber kein Geschenk, sondern die übel zugerichtete Leiche ihres Verlobten. Daraufhin schneidet ihr Marcos mit einem Küchenmesser die Kehle durch. Die Leiche deponiert er wie üblich in seinem Schlafzimmer. Seinen Bruder und seine künftige Schwägerin legt er nun gemeinsam und makaber vereint in sein Bett.

Als Marcos dann nach frischer Luft schnappen möchte, begegnet ihm der Nachbar mit dem Hund – ein homosexueller Intellektueller, der in einer teuren Wohnung im naheliegenden Hochhaus wohnt und der immer wieder mit Marcos kleine Smalltalk-Gespräche führt. Er stellt sich als Néstor vor und schlägt Marcos vor, in ein Café zu gehen. Dort werden die beiden Männer von der Polizei kontrolliert, die aber nichts verdächtiges an ihnen findet. Marcos ist dennoch sichtlich beunruhigt. Als Néstor nach der Rückkehr fragt fragt, ob Marcos' Wohnung sehen könne, lehnt dieser nervös ab: sie sei hässlich und voller schlechter Erinnerungen. „Begrabe sie doch“, schlägt ihm Néstor vor. Die Assoziation entlässt Marcos noch nervöser in die Nachtruhe.

Am nächsten Morgen steht Señor Ambrosio vor der Tür: Carmens Vater ist auf der Suche nach seiner Tochter, und verdächtigt Esteban, mit ihr vor der Ehe zu schlafen. Marcos versichert ihm, dass Carmen nicht da sei – doch Señor Ambrosio findet Carmens Handtasche, und möchte ins Schlafzimmer gehen. Der Fleischarbeiter wimmelt ihn ab. Als Señor Ambrosio schon bereit ist, zu gehen, überlegt es sich Marcos anders: während er schon zu einem Küchenutensil greift, schlägt er Carmens Vater vor, ruhig ins Schlafzimmer zu gehen und selbst zu überprüfen. Señor Ambrosio stürmt ins das Schlafgemach und schäumt über vor Wut: im Bett liegt offenbar seine Tochter mit Esteban. Ein näheres Hinsehen zeigt, in welchem Zustand sich die beiden befinden: die letzte und furchtbare Erkenntnis des Señor Ambrosio, bevor er Marcos‘ Hackbeil ins Gesicht geschlagen bekommt.

Marcos' Lösung für das Leichenproblem
Marcos‘ Wohnung ist ohnehin recht klein, und bereits vier Leichen stapeln sich in seinem Schlafzimmer. Mit dem Hackbeil, das ihn des lästigen Señor Ambrosio entledigte, beginnt er die sterblichen Überreste seiner Familie zu zerkleinern und bringt eine Sporttasche voll davon zur Arbeit: das besondere Fleisch wird einfach in den Kreislauf seiner Fabrik eingespeist. Das ganze ist freilich nicht nur ein Platzproblem. Es ist gerade Hochsommer, selbst die Nacht bringt keine Abkühlung und die Leichname seiner Verwandtschaft beginnen zu riechen. Um dieses Problem zumindest provisorisch zu beheben kauft Marcos in einer Drogerie Raumdeodorant und starkes Parfum.

Marcos Leben wird immer mehr zur Qual. Zum Glück gibt es die nette Café-Besitzerin Rosa, die stets für einen kleinen Flirt offen ist und ihm auch spätnachts noch ein Essen zubereitet. Oder den freundlichen Nachbarn Néstor, der ihn in das Schwimmbad seines exklusiven Clubs einlädt. Die Freude währt aber nicht lange, als Rosa ihm dann im Café eine Suppe serviert, die sich (erst nach ein paar Löffeln) als Produkt seiner Fabrik entpuppt. Von Übelkeit und Magenkrämpfen geplagt torkelt Marcos nach Hause. Am nächsten Morgen steht Rosa vor der Haustür. Sie will sich nach dem Zustand ihres Stammgasts erkundigen, bringt ihm ein süßes Gebäck und verführt ihn dann auf seiner Wohnzimmercouch. Rosa ist danach überhaupt nicht aufzuhalten, und möchte nun die ganze, etwas verwahrloste Wohnung putzen, besonders aber das Schlafzimmer, aus dem ein unangenehmer Geruch entströmt. Marcos verhält sich plötzlich sehr merkwürdig, und Rosa geht langsam ein Licht auf, als sie Blutspritzer an der Wand und Flecken auf verschiedenen Gegenständen entdeckt. Zu spät: Marcos packt ihren Kopf und knallt ihn solange an die Wand, bis sie tot ist.

Voyeure: Néstor und Marcos beobachten Marcos'
Wohnung von Néstors Balkon aus
Der Fleischarbeiter zieht dann los, irrt den ganzen Tag ziellos und verwirrt durch die Stadt und kommt erst am Abend zu seiner Wohnung zurück. Hunde haben sich davor versammelt, und Marcos kann nicht mehr hineingehen: schier unerträglich ist mittlerweile der Geruch der verrottenden Leichen. Néstor findet Marcos just in diesem Moment vor seinem Häuschen und lädt ihn zu einem erfrischenden Drink bei sich ein. Die geräumige, geschmackvolle und luxuriös eingerichtete Wohnung beeindruckt Marcos, doch er ist umso beunruhigter, als ihn Néstor dazu auffordert, auf dem Balkon die Umgebung mit einem Fernglas zu überblicken: das Innere seiner Wohnung sei von Néstors Wohnung aus perfekt zu überblicken. Marcos reagiert panisch, zerbricht ein Glas und bedroht Néstor mit den Scherben, lässt aber doch von ihm ab. Der freundliche Nachbar bietet dem Mörder sogar, ihm helfen zu wollen. Marcos jedoch ist zu einer Erkenntnis gelangt, sagt seinem mittlerweile noch einzigen lebenden Bekannten, den er näher kennt, Aufnimmerwiedersehen und zeigt sich dann per Telefon selbst bei der Polizei an. Er wartet auf den Stufen seines Hauses auf die Verhaftung. Stunden später, als die Dämmerung schon eingebrochen ist, wartet er immer noch...



Dosensuppen, franquistische „Ordnung“, homosexuelle Ikonografie und „verschwommene Bildsymbolik“

Die Inhaltszusammenfassung macht es vielleicht nicht ganz deutlich, aber LA SEMANA DEL ASESINO ist nicht nur ein früher und überaus exzellenter Slasherfilm, sondern auch eine gallige Satire, eine offene Attacke auf Aspekte des Lebens in der späten Franco-Ära, und insbesondere auf die Verbindung von Faschismus mit modernem Konsum.

Konsumprodukte, die Gewalt übertünchen:
Dosensuppe und Raumdeodorant
Um es noch einmal zu rekapitulieren: in LA SEMANA DEL ASESINO geht es um einen Mann, der zahlreiche Menschen aus seiner Familie und Bekanntschaft ermordet und der dann ihre Leichen in einem abgeschlossenen Hinterzimmer verrotten lässt. Als der Geruch zu penetrant wird, übertüncht er das ganze mit Parfüm und speist die Leichname nach und nach in den Konsumkreislauf, in dem er sie zur Fleischbeigabe für Dosensuppen verarbeiten lässt. Dieser Film wurde in einem Land gedreht, dessen noch herrschendes faschistisches Regime während des Bürgerkriegs und noch einige Jahre danach zehntausende Menschen ermordet und viele Leichen in anonyme Massengräber verscharrt hatte (deren Öffnung und Untersuchung bzw. Nicht-Öffnung bietet in Spanien bis heute Stoff für Kontroversen). In den 1960er Jahren folgte in Spanien ein wirtschaftlicher Aufschwung mit Bauboom und einer Öffnung hin zum Tourismus – wenngleich dies keine prinzipielle politische Liberalisierung brachte, so hatte das Regime einen Umschwung zu weniger massenhaften Formen der Repressionen eingeleitet. Eine gezügelte, wenngleich stets gewaltbereite Diktatur wurde mit einem Schuss Konsum etwas „schmackhafter“ gemacht – für diejenigen, die nicht so genau hinsehen wollten, und schon gar nicht in die Hinterzimmer. Wenn in LA SEMANA DEL ASESINO die Leichen brutal ermordeter Menschen für Dosensuppen „nutzbar“ gemacht werden, findet der Spätfranquismus seine bittere Bestimmung.

Die Motivation Marcos‘, als er seine Freundin Paula im Affekt tötet, ist, dass er nicht verhaftet werden möchte. Im weiteren Verlauf des Films stellt sich ein gewisser Automatismus in seinen Morden ein: wer die Leichen entdeckt, den bringt Marcos um – weil er Angst um seine Freiheit hat. Diese Angst entpuppt sich nach und nach als vollkommen unberechtigt. Die Gesellschaft um ihn herum ist viel zu „atomisiert“, als dass sich irgendjemand außer den allernächsten Bekannten ernsthaft um die Verschwundenen Sorgen machen würde. Vor allem aber braucht sich Marcos absolut nicht vor der Polizei zu fürchten. Denn diese interessiert sich nicht für Morde. Die kurze Szene, in der Marcos und sein Nachbar Néstor von Ordnungshütern kontrolliert werden, macht dies deutlich: die beiden gehen spätabends in ein Café, um etwas zu trinken. Sie sind die einzigen Gäste. Eine Gruppe von Polizisten (zwei in Uniform, einer in Zivilkleidung) erscheint, und will die Papiere der beiden Männer kontrollieren. Dem mehrfachen Mörder bricht schon der kalte Schweiß aus, als er dem Polizisten in Zivil seinen Ausweis gibt. Doch diesem fällt nichts besonderes auf (man kann annehmen, dass der Ausweis ein Bild hat und das Bild mit dem Mann am Cafétisch übereinstimmt – und fertig ist die Sache). Néstor jedoch hat seinen Ausweis nicht dabei, und bleibt dabei dennoch sichtlich gelassen. Der Caféhausbesitzer erklärt den Polizisten, dass er Néstor kenne und dieser „im neuen Hochhaus da drüben“ lebe. Die Polizisten geben sich mit dieser Erklärung rasch zufrieden, denn sie merken mit dem Hinweis auf das Hochhaus gleich, dass der Kontrollierte ohne griffbereiten Ausweis ein wohlhabender Mann ist. Der Chef der Truppe betont dann noch einmal schulmeisterlich, wie wichtig es sei, den Ausweis immer mit sich zu führen, denn man wisse ja nie, wer sich so auf den Straßen herumtreibe. In wenigen Sekunden werden faschistische Vorstellungen von „Ordnung“ entlarvt: Wichtiger als die Suche nach wirklichen Mördern ist eine reine Symbolpolitik auf den Straßen in Form pompöser Ausweiskontrollen, die sich zumal auch von Klassenkriterien leiten lässt. Klingt logisch: ein Staatssystem, das auf Massenmord aufbaut, will bei Mord lieber nicht so genau hinsehen. Am Ende des Films denunziert sich Marcos selbst als Mörder bei der Polizei. Und wartet. Und wartet. Offenbar mehrere Stunden, denn er sitzt zunächst im Dunkeln vor seinem Haus. Dann ist die Sonne aufgegangen. Und keine Polizei kommt, um ihn zu verhaften. Warum einen Mörder verhaften, wenn man doch „Stärke“ demonstrieren kann, indem man Ausweispapiere auf der Straße kontrolliert? Das Schlussbild von LA SEMANA DEL ASESINO entlarvt nicht nur ein mörderisches Regime, sondern wirkt auch „an sich“ als wunderbares Sinnbild existentieller Verzweiflung: ein Mörder, der für seine Taten nicht verfolgt und bestraft wird (angesichts der Politik des Stillschweigens nach der Transformation in Spanien aber auch ein unangenehm prophetisches Bild).

Markantes Schlussbild: ein Mörder wird nicht verhaftet
Das Klassenelement, gewissermaßen die Reibung zwischen zwei verschiedenen Spaniens (diese gibt es auch in der postfranquistischen Groteske EL PLACER DE MATAR, über die ich hier schon schrieb), schwingt in LA SEMANA DEL ASESINO immer mit. Marcos lebt zusammen mit seinem Bruder Esteban in einer recht heruntergekommenen, einstöckigen Hütte in einem Viertel, das im Zuge des Baubooms  der 1960er Jahre langsam „gentrifiziert“ wird: ein Steinwurf davon entfernt werden schon Hochhäuser mit schicken Wohnungen für die Reichen und Schönen hochgezogen und diese Hochhäuser vertreiben langsam die schäbigen Baracken. Dieses reiche und „andere“ Spanien findet mit Néstor Eingang in die Geschichte: ein besonders schillernder und ambivalenter Vertreter. Seine Homosexualität entfremdet ihn größtenteils von seiner Umgebung und seinem eigenen Milieu (die katholische Kirche war schließlich eine tragende Säule des Franquismus). Néstors sehr raffinierte, überlegte und intellektuelle Sprechweise trennt ihn auch kulturell vom proletarischen Marcos, der immer wieder etwas irritiert bei seinem Nachbarn nachfragt, was denn dieses oder jenes Fremdwort bedeute. Dies widerspiegelt auch das Unbehagen des Mörders: bis zum Schluss ist sich Marcos überhaupt nicht sicher, ob denn Néstor von seinen Verbrechen konkret weiß (und wenn ja, was er mit diesem Wissen denn anstellen möchte). Der Zuschauer übrigens auch nicht, denn Néstor wird als Voyeur in den Film eingeführt: mit einem Fernglas beobachtet er von seiner Wohnung aus immer wieder seine Nachbarschaft, darunter auch Marcos‘ Haus. Später wird klar, dass neben erotischer Schaulust (Marcos läuft aufgrund der Hitze immer wieder oberkörperfrei durch seine Wohnung) dahinter auch der Versuch steht, eine existentielle Entfremdung zu lindern: Néstor ist trotz Reichtum von der Welt fast komplett abgeschnitten, zumal er als freiberuflicher Schriftsteller keine „materiellen Werte“ schafft und Marcos ist seine einzige Verbindung.

Homosexuelle Ikonographie im Schwimmbad
Marcos und Néstor mögen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrer kulturellen Sozialisation getrennt sein – aber Freundschaft, Zuneigung, und seitens Néstors vielleicht sogar Liebe kennen keine Grenzen! LA SEMANA DEL ASESINO ist ein knüppelharter Film, nicht primär wegen seiner durchaus auch vorhandenen grafischen Gewalt, sondern wegen des hoffnungslosen, tristen und fatalistischen Grundtons. Der schwarze Humor, der immer wieder durchscheint, wirkt stets eher gallig als auflockernd. Doch im letzten Drittel passieren schier unglaubliche Dinge, die man in einem in der Franco-Ära entstandenen spanischen Film nicht vermuten würde: LA SEMANA DEL ASESINO eröffnet die Hoffnung auf eine mögliche Liebschaft zwischen Néstor und Marcos. Oder zumindest auf eine Freundschaft ohne wenn und aber. Der reiche Intellektuelle lädt den Arbeiternachbarn in das Schwimmbad seines exklusiven Luxusclubs ein. Dort gehen sie zusammen schwimmen. In einer rauschhaften Montage, die vollkommen furchtlos und entfesselt in Kitsch schwelgt, feiert der Film diesen homophilen Bund: beide können sich zumindest im Bad komplett fallen lassen und in trauter Zweisamkeit den Moment genießen. Die Schwimmbad-Szene von LA SEMANA DEL ASESINO erweckt für kurze Zeit den Eindruck, dass „New Queer Cinema“ nicht in den späten 1980er Jahren in angelsächsischen Ländern seinen Ausgang nahm, sondern ausgerechnet im franquistischen Spanien (die restliche Filmografie Eloy de la Iglesias würde dafür ebenso sprechen – dazu gleich mehr): sie ist ein kurze, poetische Ode an eine in alle Richtungen befreite männliche Sexualität.

Gewalt / Konsum
Reflexionen über ein Land mit einem auf Massenmord aufgebauten politischen System, Denkanstöße über die Verbindungen von Gewalt und Konsum, über soziale Ungleichheiten, Gentrifizierung und sexuelle Identität: LA SEMANA DEL ASESINO stürzte trotz seiner offensichtlichen thematischen Dichte in das Ghetto für cinematographische Schmuddelkinder. Im Ausland wurde „Die Woche des Mörders“ meistens als „Cannibal Man“ vermarktet und entsprechend auch behandelt. Er gehört zu den Filmen, die etwa im Vereinigten Königreich zu Beginn der 1980er Jahre der „video nasty“-Schmähkampagne zum Opfer fielen. Das „Lexikon des internationalen Films“ kritisierte „Cannibal Man“ hingegen als „psychologisch nicht fundiert“, „blutdürstig“ und warf dem Film eine „verschwommene Bildsymbolik“ vor.

Ohne behaupten zu wollen, dass Verrisse im „Lexikon des internationalen Films“ Garanten für die hohe Qualität eines Films sind, so ist LA SEMANA DEL ASESINO ein äußerst sorgfältig und minutiös inszenierter Film, voller teils subtiler visueller Details. Er beginnt ohne Vorwarnung mit blutigen, dokumentarischen Bildern aus der Fleischfabrik, in der Marcos arbeitet. Kühe werden abgeschlachtet, der Boden ist komplett rot, ganze Blutfontänen schießen aus den Wunden der geschlachteten Tiere (ist diese ganze Szene eine Anspielung auf Georges Franjus LE SANG DES BÊTES?). Der Film schneidet dann zu Marcos, der draußen steht, offenbar Pause macht und beherzt in ein Wurstsandwich beisst. Er genießt hier das Endprodukt seiner Arbeit – oder um die „verschwommene Bildsymbolik“ schärfer zu machen: extreme Gewalt und Konsumismus, die beiden Hauptthemen von LA SEMANA DEL ASESINO, werden schon in den ersten Sekunden recht deutlich formuliert. Es folgen die Anfang-Credits. DIe Kamera fährt durch das Wohngebiet Marcos‘ – schicke, industriell gefertigte Hochhäuser stehen neben „handgemachten“ Bruchbuden: das „reiche“ Spanien verdrängt das „arme“. Gewalt, Konsum, Klassenspannungen – bis zum Ende der Anfang-Credits hat der Film gewissermaßen schon sein „Exposé“ ausgelegt.

Marcos, Carmen und Jesus
Dass die Schlachterei in der Fleischfabrik und die Schlachterei in Marcos‘ Haus zusammenhängen, ergibt sich natürlich rein inhaltlich. Wer genau hinsieht, wird entdecken, dass die geometrische Struktur der Deckenfenster in Marcos‘ Bruchbude (durch die Néstor von seinem Balkon aus mit einem Fernglas hineinblicken kann) und die Deckenstruktur in der Schlachterei eine gewisse Ähnlichkeit haben. Auch Marcos‘ Biss in das Wurstbrötchen bei der Arbeit wird später in seiner Wohnung „gespiegelt“: Rosa bringt ihm ein kleines Gebäck zum Frühstück mit. Dieses bleibt zunächst liegen, während Marcos mit Rosa redet, mit ihr Sex hat und sie schließlich tötet (man könnte auch sagen: schlachtet). Danach erst nimmt er das Gebäck, und isst es.

Ebenso unausgesprochen, aber keineswegs „verschwommen“, sind die religiösen Regalien in Marcos‘ heimischer Schlachterei. Ein Jesusabbild und eine Plakette mit der Aufschrift „Gott schützt dieses Haus“ ziert die Aussenfassade. Einzelne Rosenkränze und Madonnenfiguren zieren die Inneneinrichtung. Die katholische Kirche, eine der tragenden Säulen des Franquismus, gibt dem Treiben in Marcos‘ Haus implizit ihren Segen.


Das wilde Kino des Eloy de la Iglesia

„Years before Almodovar patented his own brand of ‚shock‘ cinema, the Basque director Eloy de la Iglesia was busy smashing every taboo of the Spanish screen.“ – so das Urteil eines Nutzers der imdb über den Regisseur von LA SEMANA DEL ASESINO.

Eloy de la Iglesia, Jahrgang 1944, ist mit dem jüngeren und wesentlich berühmteren Álex de la Iglesia nicht verwandt, kommt aber ebenfalls aus dem Baskenland. Der Spross einer wohlhabenden Familie wuchs in Madrid auf und wollte schon früh Filmemacher werden. Er besuchte Kurse am Institut des hautes études cinématographiques in Paris (ob er dort vielleicht LE SANG DES BÊTES sah?) und begann dann ein Studium der Philosophie und Literatur in der spanischen Hauptstadt, das er abbrach, um Kindertheater zu inszenieren und Drehbücher für Kindersendungen der RTVE zu verfassen. 1966, mit knapp 22 Jahren, drehte de la Iglesia seinen ersten Kinofilm: FANTASÍA... 3, ein Märchenfilm mit den Episoden „Die kleine Meerjungfrau“, „Der Zauberer von Oz“ und „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“. Es folgten dann die zwei erfolglosen Melodramen ALGO AMARO EN LA BOCA und CUADRILATERO. Sein Thriller EL TECHO DE CRISTAL von 1971 (von einigen Leuten als spanischer Giallo bezeichnet), in dem eine Frau eine Nachbarin verdächtigt, ihren Mann ermordet zu haben, wurde von Publikum und Kritik hingegen wohlwollend aufgenommen. Es folgte LA SEMANA DEL ASESINO und im selben Jahr UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO, der oft als eine spanische Variante von A CLOCKWORK ORANGE bezeichnet wird: eine liebevolle Krankenschwester entpuppt sich als Serienkillerin, die ihre Liebhaber mit einem Skalpell absticht; ein Arzt möchte mittels Elektroschocktherapie Gewaltverbrecher in Musterbürger verwandeln; Gangs in Motorradlederoutfits und mit Bullenpeitschen terrorisieren wohlhabende Bürger – Sue Lyon (LOLITA) und Christopher Mitchum spielten mit. Ebenso im Jahr 1973 kam NADIE OYÓ GRITAR heraus, in dem ein Mörder (Vicente Perra) seine Nachbarin, eine Edelprostituierte, entführt und sie zwingt, ihn bei der Beseitigung der Leiche seiner Ehefrau zu helfen.

De la Iglesia brach nicht nur in seinen Filmen alle möglichen und unmöglichen Tabus, sondern auch im Leben. Er war selbst offen homosexuell, und das in einem Staat, der Homosexuelle zu Hunderten in Gefängnisse, Zwangsarbeitslager und Psychiatrien einsperrte. Er engagierte sich auch als Mitglied in der Kommunistischen Partei Spaniens, die Anfang der 1970er natürlich noch illegal war. Die Verbindung eines Slasher-Szenarios mit ätzender Kritik an der franquistischen Variante des Konsumismus fiel also nicht aus heiterem Himmel, und auch seine anderen Filme sind von diesem politischen Impetus geprägt. Kommentare zu UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO und NADIE OYÓ GRITAR bestätigen, dass dies nicht nur schwindelerregende Genre-Fantasien sind, sondern auch implizit politische Filme.

Dies wird auch in JUEGO DE AMOR PROHIBIDO recht deutlich, der knapp zwei Monate vor Francos Tod in die spanischen Kinos kam und den ein imdb-Nutzer als thematischer Vorläufer von Pier Paolo Pasolinis SALÒ bezeichnete: ein Lehrer entführt zwei seiner Schüler, um sie mittels Folter einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Mit der politischen Transition bewegte sich de la Iglesia von wuchtigen Horror- und Thriller-Stoffen hin zu sozialen Melodramen oder grotesken Komödien – ohne jedoch die politischen Komponenten zu vernachlässigen. LOS PLACERES OCULTOS (1977) handelt von der platonischen Liebe eines wohlhabenden Bankiers zu einem jungen Mann aus der Arbeiterschicht: es war einer der ersten spanischen Filme, die so offen von Homosexualität handelten (de la Iglesia musste mehrere Monate lang mit der Zensur verhandeln) und am Premierentag demonstrierten homosexuelle Aktivisten zum ersten Mal öffentlich in Spanien. Im selben Jahr flieht in LA CRIATURA eine Frau von den Zumutungen ihrer Ehe, in dem sie eine sexuelle Liaison mit ihrem Schäferhund beginnt (neun Jahre vor dem thematisch ähnlich gelagerten MAX MON AMOUR von Oshima Nagisa). Die Titelfigur von EL SACERDOTE (1978) ist hingegen ein Priester, der sich nach der Weihe nicht von seiner Sexualität lossagen kann. In seinem nächsten Film, EL DIPUTADO, entwickelt de la Iglesia ein Szenario, in dem ein linker Abgeordneter aufgrund seiner Homosexualität von seinen politischen Gegnern erpresst wird (einen ähnlichen Subplot gab es in Otto Premingers ADVISE & CONSENT, den ich hier schon besprochen habe). Interessanterweise hatte EL DIPUTADO einen großen Erfolg in Mexiko und in den USA und machte de la Iglesia auch außerhalb seiner Heimat bekannt. In amerikanischen Kritikerkreisen wurde er als „spanischer Fassbinder“ bezeichnet. 15 Millionen Zuschauer sahen in Spanien den Film bei der Erstausstrahlung im Fernsehen.

De la Iglesia thematisiert in seinen Filmen häufig
urbanen Wandel und soziale Ungleichheit.
Hier: Gentrifizierung in LA SEMANA DEL ASESINO
Mit NAVAJEROS (1980), COLEGAS (1982), EL PICO (1983) und EL PICO 2 (1984) schuf de la Iglesia einen Zyklus von Filmen über jugendliche Delinquenten, die in den subproletarischen Peripherien von Städten spielen, wo Kleinkriminalität, Prostitution und Drogensucht herrschen – gedreht mit geringem Budget an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern. Diese Filme waren kommerziell verhältnismäßig erfolgreich, fielen aber größtenteils bei der spanischen Kritik durch, die de la Iglesias Filme als vulgär  und voyeuristisch bezeichneten. Es folgte dann 1985 die Adaption von Henry James' „Turn Of The Screw“ OTRA VUELTA DE TUERCA (auf den Roman basierte auch THE INNOCENTS). LA ESTANQUERA DE VALLECAS von 1987 ist eine Komödie über einen misslungenen Überfall auf einen Tabakladen, ein Film, den de la Iglesia einem Interview zufolge als reinen Mainstreamfilm drehte, um Geld für persönlichere Projekte zu sammeln. Trotz des kommerziellen Erfolgs des Films kam es dann aber nicht dazu: seit Beginn der 1980er Jahre war de la Iglesia heroinabhängig. Nach LA ESTANQUERA DE VALLECAS machte ihn seine Sucht komplett arbeitsunfähig und er verschwand  für die nächsten 16 Jahre von der Bildfläche. 2003 drehte er noch LOS NOVIOS BÚLGAROS über einen wohlhabenden Spanier, der sich in einen jungen bulgarischen Immigranten verliebt und von diesem nach und nach ausgenommen wird. 2006 verstarb der an Nierenkrebs erkrankte Regisseur nach einer Operation.



Verfügbarkeit – und der verlorene „de-la-Iglesia-Cut“?

LA SEMANA DEL ASESINO ist in Deutschand, Österreich, im UK und in den USA auf DVD erschienen. Keine der verfügbaren Versionen enthält jedoch die spanische Originalfassung, sondern lediglich englische und ggf. deutsche Synchronfassungen. In Spanien selbst ist der Film offenbar in keiner Edition erschienen.
Diese Besprechung beruht auf der DVD/Blu-ray-Combo-Edition von Subkultur Entertainment, die Ende letzten Jahres herausgekommen ist. Das Label hat den Film als Nr. 2 seiner „Grindhouse Collection“ herausgebracht (Nr. 1 war der amerikanisch-philippinische Rache-Exploiter VENGEANCE IS MINE – meine ausführliche Besprechung hier). Der Film liegt wie gesagt nur auf englisch und auf deutsch vor: die englische Synchronisation fällt meiner Meinung nach in die Kategorie „halbwegs okay“. Kurzes Reinhören in die deutsche lässt vermuten, dass es sich um eine dieser fürchterlichen selbst-vertrashenden Kalauer-Synchros handelt. Das beiliegende Booklet hat nur Kinoaushangbilder.

Klingt alles nach nicht sehr nennenswerten Extras. Aber überaus interessant sind die „Deleted Scenes“, die wie folgt eingeführt werden: „Sehen Sie nun erstmals weltweit bisher unveröffentlichte Szenen der ursprünglich von Eloy de la Iglesias (sic!) montierten Version. Diese Szenen wurden im Zuge des Filmverbots in Spanien aus dem Negativ entfernt und schafften es somit auch in keine internationale Schnittfassung des Films.“ Diese Einführung schafft zwar prinzipiell mehr Verwirrung als Klarheit, aber scheinbar gab es eine „Ur-Fassung“ des Films, bevor er durch die Zensur ging. Und offenbar sind diese unter „Deleted Scenes“ aufgeführte zehn Minuten stumme Bilder (die Tonspur fehlte) auf Druck der Zensur herausgenommen worden. Es sieht zumindest so aus, als würden die Fragmente „chronologisch“ nach Verlauf des Films gezeigt werden. Folgende Szenen sind zu sehen:
– Marcos sitzt mit Handschellen in einem Polizeiauto: dieser Ausschnitt ist komplett farbentsättigt, fast schwarzweiß. Sieht aus wie eine Traumsequenz, die die Angst Marcos‘ vor einer Verhaftung zeigt.
– Ein Establishing Shot mit einer recht simplen Kamerafahrt von einem unbefestigen Weg auf Rosas Bar. Störte sich die Zensur vielleicht daran, dass man zwei Polizisten auf dem Weg sieht?
– Gespräch Marcos‘ mit dem Chef der Fabrik: im fertigen Film wird Marcos von einem Kollegen mitten in einem Arbeitsschritt gebeten, zum Chef zu gehen, und offenbar ist diese Szene der „Anschluss“ daran. Besagter Chef, in Anzug und Krawatte, spricht die meiste Zeit auf Marcos ein (was er sagt, hören wir ja nicht). Dieser ist unkonzentriert, weil er ständig auf die Beine einer jungen Frau im Minirock starren muss, die mit im Büro sitzt (die Sekretärin?).
– Gespräch Marcos‘ mit einem Arbeitskollegen in der Fabrik, wobei überwiegend der Kollege spricht.
– Gespräch Marcos‘ mit Señor Ambrosio an der Tür seiner Wohnung (offenbar sollte dieses länger werden als letztlich im veröffentlichten Film zu sehen)
– Gespräch zwischen zwei Vorarbeitern in der Fabrik, die sich offenbar über Marcos unterhalten, in zwei Teilen: zwischen diesen beiden Teilen liegt der Moment, der im veröffentlichten Film ist und in dem der Vorarbeiter Marcos‘ Sporttasche (in der er die Leichenteile zur Fabrik bringt) untersucht (sie ist zu diesem Zeitpunkt dann schon leer) und ihn streng daran erinnert, dass sein Vorgänger wegen Fleischdiebstahl entlassen wurde.
– Sexszene zwischen Marcos und Rosa, bei der mehr nackte Haut zu sehen ist und bei einer Kamerafahrt auch die ganzen Raumdeodorants auf dem Couchtisch, mit denen Marcos seine Wohnung „erfrischt“.
– Alternative Bilder der Stadt-Montage gegen Ende, als Marcos verwirrt durch die Straßen läuft: zu sehen sind unter anderem in Schaufenstern ausgestellte Puppen.
– Marcos steht in der U-Bahn und denkt nach. Die Tür geht auf und die Passagiere, inklusive Marcos, strömen raus.

Mit Ausnahme der „erweiterten“ Sexszene ist es, nicht zuletzt mangels Ton, oft unklar, warum die Zensur diese Szenen raus haben wollte. Bei den letzten dreißig Sekunden sind die Motive natürlich wesentlich klarer.

– Marcos steht kurz davor, Néstors Wohnung zu verlassen. Néstor geht auf Marcos zu. Es folgt eine kurze Rückblende (oder Erinnerung?) des Aufenthalts im Freibad, bei dem sie sich unter Wasser küssen. Nun fangen sie auch in Néstors Wohnung an, sich stürmisch zu küssen, zunächst bekleidet, dann nackt, während die Kamera um sie herum kreist. Die homosexuelle Ikonografie von LA SEMANA DEL ASESINO sollte also im „de-la-Iglesia-Cut“ ganz explizit sein. Ob sie „wörtlich“ zu verstehen ist (die beiden Männer sich wirklich küssen) oder ob es sich nur um Néstors Fantasie handelt, ist jedoch unklar.
– Es gibt dann noch eine knappe Sekunde, in der man Néstor in seiner Wohnung sitzen sieht, bevor die Einblendung „Fin“ kommt. Vielleicht alternatives Ende, das im Schlussbild nicht mit Marcos, sondern mit Néstor den Film beschloss?

Zwischendurch immer wieder eingestreut sind:
– Weiß-auf-Schwarz-Texttafeln mit Angabe des Wochentags. Der veröffentlichte Film spielt vielleicht in einer Woche, vielleicht auch in einem Monat – das wird im Grunde offen gelassen: wie viele Tage zwischen den Schnitten vergehen, ist nie ganz klar. Der „de-la-Iglesia-Cut“ teilte offenbar den Film in sieben Kapitel ein, was ihm nicht nur eine strengere Form, sondern auch eine biblische Assoziation mit schwarzhumorig-galligem Unterton verliehen hätte.

Dienstag, 3. Februar 2015

LE CORBEAU - ein Rabe schreibt anonyme Briefe

Dies ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2004 (ohne Bilder) in der Newsgroup de.rec.film.misc und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht hatte.


LE CORBEAU (DER RABE)
Frankreich 1943
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Pierre Fresnay (Dr. Remy Germain), Ginette Leclerc (Denise Saillens), Pierre Larquey (Dr. Michel Vorzet), Micheline Francey (Laura Vorzet), Héléna Manson (Marie Corbin), Sylvie (François' Mutter), Liliane Maigné (Rolande Saillens)

LE CORBEAU hat Henri-Georges Clouzot jede Menge Ärger eingetragen, und er hätte beinahe seine Karriere ruiniert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Doch der Reihe nach!

Der Schauplatz
Eine kleine Stadt, hier oder anderswo.

Mit dieser Einblendung am Ende der Anfangs-Credits wird der Zuschauer auf den Schauplatz eingestimmt, und eine Kamerafahrt visualisiert die Worte: Ein Schwenk über die Dächer der Stadt in einer ländlichen Gegend, eine alte Kirche, ein pittoresker Friedhof. Man befindet sich in einem abgeschlossenen Mikrokosmos. - Ein Bauernhof, ein paar hundert Meter außerhalb der Stadt: Dr. Remy Germain verlässt mit blutbesudelten Händen das Haus und wäscht sie sich in einem Bottich. Er hat gerade eine Operation - wohl einen Kaiserschnitt - durchgeführt; die Mutter lebt, das Kind ist tot. Dr. Germain ist der Held - wenn man ihn denn so nennen will - unserer Geschichte. Er macht seine Arbeit als Arzt professionell und pflichtbewusst, aber er ist ein abweisender Charakter von einer bisweilen arrogant wirkenden Distanziertheit.

Dr. Remy Germain ...
Ins städtische Krankenhaus zurückgekehrt, spricht ihn sein Kollege Dr. Bertrand auf das Ergebnis der Operation an, verweist darauf, dass das Resultat - Mutter lebt, Kind tot - bei Germain schon mehrmals vorgekommen sei, und beschuldigt ihn unverhohlen, eine (damals streng verbotene) Abtreibung durchgeführt zu haben, was Germain jedoch erzürnt zurückweist. Der hinzugekommene Chefarzt Dr. Delorme entschärft den Streit, indem er die beiden einlädt, ein Gangrän zu besichtigen: "Eine wahre Sehenswürdigkeit", stellt er abgebrüht fest, "unbezahlbar!". Zuvor schon hat er seine eigene Frau in einer Nebenbemerkung unverblümt als "Kuh" bezeichnet, "aber glücklicherweise habe ich noch meine Pfeife, und Alkohol natürlich". Schon in den ersten knappen Dialogen offenbart sich Clouzots bitteres, sarkastisches Menschenbild.

... hat eine Auseinandersetzung mit Dr. Bertrand
Wir lernen weitere Menschen im Umfeld des Krankenhauses kennen. Da ist die altjüngferlich wirkende Krankenschwester Marie Corbin. Sie ist nicht wirklich hässlich, aber mit ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck und mit ihrer nonnenähnlichen Schwesterntracht, die sie auch in ihrer Freizeit trägt, wirkt sie alles andere als attraktiv. Ihr schroffes Wesen, auch den Patienten gegenüber, sorgt dafür, dass sie sich allgemeiner Unbeliebtheit erfreut. Ganz anders Maries jüngere Schwester Laura Vorzet, die als freiwillige Helferin zeitweise im Krankenhaus arbeitet. Laura ist jung, hübsch, freundlich und beliebt. Marie wirft ihrer Schwester vor, dass sie sich nur deshalb so oft im Krankenhaus aufhält, weil sie Dr. Germain nachstellt, und sie bezeichnet Laura offen als Hure. Laura ist die Ehefrau des wesentlich älteren Dr. Michel Vorzet, des Leiters der psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus.

Marie Corbin (links) und ihre Schwester Laura Vorzet
Dieser Dr. Vorzet ist ein Spötter, ein geistreicher Zyniker mit einer guten Portion Selbstironie. Bei seinem ersten Auftritt kommt er gerade von einem Fachkongress nach Hause, und er begrüßt Laura mit folgender kleinen Ansprache:
"Ich kenne nichts Absurderes als Ärztekongresse - ausgenommen Psychiaterkongresse. Niemand hört den Vortragenden zu - gottseidank! Anderenfalls gäbe es schallendes Gelächter. Der einzige nützliche Zweck dieser Veranstaltungen ist, dass Provinzärzte die Gelegenheit erhalten, ihre Frauen mit Pariserinnen zu betrügen."
Der Routinier Pierre Larquey ist die Idealbesetzung für Vorzet. Larquey war schon 47 Jahre alt, als er 1931 ernsthaft ins Filmgeschäft einstieg, aber das hielt ihn nicht davon ab, in noch etwa 200 Filmen mitzuwirken, darunter insgesamt fünf von Clouzot.

Dr. Vorzet
Unterdessen ertappt Germain Marie Corbin, wie sie einen von ihm verfassten Brief aus seinem Ärztekittel zieht. Er nimmt ihr den an Laura adressierten Brief ab und zerreißt ihn. Zugleich stellt er sie zur Rede, weil im Medikamentenschrank des Krankenhauses Morphium abhanden gekommen ist. Er beschuldigt sie, das Morphium gestohlen zu haben, und fordert sie auf, es wiederzubeschaffen. Das Betäubungsmittel wird dringend für François benötigt, einen jungen Patienten. Er leidet an Leberkrebs und hat noch höchstens zwei Wochen zu leben, aber man verheimlicht ihm seinen Zustand. - Dr. Germain bewohnt eine Wohnung in den oberen Stockwerken des örtlichen Schulgebäudes; sein Vermieter Saillens ist zugleich der Schuldirektor. Dessen 14-jährige Tochter Rolande schleicht im Haus herum und benimmt sich merkwürdig, wenn Germain in der Nähe ist. Zuhause angekommen, wird Germain von Saillens gebeten, nach seiner jüngeren Schwester Denise Saillens zu sehen, die ebenfalls im Schulhaus wohnt, weil sie krank sei. Doch Germain findet schnell heraus, dass ihr nichts fehlt - die laszive, männermordende Denise wollte sich nur untersuchen lassen, um ihn zu verführen, doch er lässt sie abblitzen.

François und seine Mutter
Kurz darauf erfährt Germain, dass Laura einen anonymen Brief erhalten hat. Darin wird sie beschimpft und beschuldigt, Germains Geliebte zu sein. Doch auch er selbst hat einen ähnlichen Brief erhalten. "Du Lüstling", heißt es da, "hör auf, mit Vorzets Frau Laura-die-Hure herumzumachen". Der in großen Blockbuchstaben geschriebene Brief ist mit LE CORBEAU unterzeichnet, zu deutsch "der Rabe", und er ist noch mit einem gezeichneten Raben verziert. Damit nicht genug: Auch Dr. Vorzet erhält einen Brief, in dem er auf das angebliche Verhältnis von Laura und Germain hingewiesen wird. Er spricht Germain daraufhin an, doch er beruhigt ihn sogleich, weil er den Beschuldigungen keinen Glauben schenkt. Doch er teilt ihm mit, dass auch Chefarzt Dr. Delorme einen Brief vom "Raben" erhalten habe, in dem Germain der Abtreibung bezichtigt wird. Vorzet berichtet Germain auch von seinen psychiatrischen Erfahrungen mit den Verfassern solcher anonymen Briefe. Vorzet doziert, dass es sich um keinen einfachen Verleumder handle, sondern um einen Kranken. Jeder könne dahinterstecken - sogar Germain selbst, weil es bei solchen Irren durchaus vorkäme, dass sie sich selbst belasten. Als Germain nach einer kleinen Pause antwortet, dass auch Vorzet der Rabe sein könnte, antwortet dieser augenzwinkernd "Und warum nicht?". Später wird Vorzet seine Vermutungen über den Raben Germain gegenüber noch präzisieren: Sexuell Verklemmte, alte Jungfern, Impotente, hässliche alte Männer, Krüppel - unter solchen Personen müsse man den Schuldigen suchen.

Rolande Saillens
Innerhalb kurzer Zeit häufen sich nun die Briefe, und das Themenspektrum verbreitert sich, auch wenn Germain der am häufigsten Angegriffene bleibt. Dr. Delorme erhält einen Brief, in dem Monsieur Bonnevie, der Schatzmeister des Krankenhauses, beschuldigt wird, vertrauliche Details einer Ausschreibung an einen Freund verraten zu haben, um ihm einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Als Delorme Bonnevie zur Rede stellt, macht der zunächst ein betretenes Gesicht, doch dann kontert er kühl, indem er seinerseits einen Brief zückt. Darin wird er aufgefordert, seine guten Beziehungen zum "Abtreiber Germain" aufrechtzuerhalten, weil er seine Dienste vielleicht bald brauchen könne. Dann nämlich, wenn seine (Bonnevies) Tochter weiterhin so oft im Büro von Delorme gesehen werde. Delorme tritt daraufhin den geordneten Rückzug an: Beide sind sich flugs einig, dass an den Vorwürfen nicht das Geringste dran sei. Die Art und Weise, wie die beiden ehrenwerten Herren die Situation handhaben, macht unmissverständlich klar, dass zumindest diese Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen. Der Rabe ist nicht nur einfach ein Spinner, sondern er verfügt über Insiderwissen.

Denise Saillens lackiert sich die Zehennägel
Niemand ist mehr vor den Schmähungen sicher, vor allem die Honoratioren: Der Apotheker soll gepanschte Medikamente verhökern, dem Bürgermeister sollen von seiner Frau Hörner aufgesetzt werden, und so weiter. Die allgemeine Verunsicherung steigt, oder - wie es Dr. Vorzet ausdrückt - die Stadt leidet an einem Fieber. Vorzet macht sich den Spaß und trägt alle bekannt gewordenen Briefe in ein Diagramm ein, das wie die Temperaturkurve eines Patienten aufgebaut ist. Da Germain nach wie vor die Hauptzielscheibe ist, beginnt man, in seiner Vergangenheit zu forschen, wie ihm von Vorzet mitgeteilt wird. Dabei tut sich eine Ungereimtheit auf. Germain behauptete, früher in Grenoble praktiziert zu haben, doch im dortigen Ärzteregister fand man nun keinen Dr. Germain, ausgenommen einen, der unter dem Namen Germain Monatte nach Paris ging und ein berühmter Gehirnchirurg wurde. Bei diesem Gespräch teilt Vorzet Germain auch mit, dass die Behörden inzwischen Marie Corbin als Hauptverdächtige betrachten. Doch Vorzet, der mit Marie verlobt war, bevor er Laura heiratete, hält sie für unschuldig.

Der erste Brief des Raben
Inzwischen wird Germain wieder einmal zu Denise gerufen, doch diesmal ist sie wirklich krank. Dabei entdeckt er, dass sie stark hinkt, was sie normalerweise mit speziellem Schuhwerk verschleiert. Sie verdankt diese Behinderung einem zurückliegenden Autounfall, wie sie ihm erzählt, und sie fragt ihn, ob sie deshalb weniger attraktiv sei. Es wird klar, dass ihr sexuell aggressives Verhalten als Kompensationsmechanismus für ihre Gehbehinderung dient. "Es ist meine Rache am Leben", formuliert sie das. Germain taut jetzt endlich etwas auf. Er hat Denise erzählt, dass er vom Leben Frieden erwartet und totales Vergessen. Denise erwidert, dass sie ihm kein totales Vergessen geben kann, aber Vergessen für ein paar Stunden - und das zähle auch. Diesmal hat Denise Erfolg - Germain verbringt die Nacht bei ihr. Während gleichzeitig Rolande heulend in ihrem Zimmer sitzt. Es ist offensichtlich - sie ist in Germain verknallt. Am nächsten Morgen will Germain jedoch nicht mehr viel von Denise wissen, und er eröffnet ihr, dass er vorhat, die Stadt zu verlassen. Sie beschimpft ihn daraufhin als Feigling und Schwächling und stellt ihm als Zeichen ihrer Verachtung einen ausgestopften Raben, den sie aus einer Kiste in einer Abstellkammer hervorkramt, vor die Tür.

Monsieur Bonnevie (links) und Chefarzt Dr. Delorme
Ein Selbstmord lässt die Lage in der Stadt eskalieren. François, der Krebspatient, wurde vom Raben über seinen aussichtslosen Zustand informiert. Daraufhin hat er sich mit einem Rasiermesser, das ihm seine Mutter kurz zuvor ins Krankenhaus brachte, die Kehle durchgeschnitten. - Nicht nur die Behörden, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung verdächtigt inzwischen Marie Corbin, die ohnehin niemand leiden kann. Anstatt eines geplanten Stadtfestes findet nun die Beisetzung von François statt - unter Teilnahme aller Honoratioren, die den lebenden François wohl kaum eines Blickes gewürdigt hätten. Der Unterpräfekt hält eine Ansprache, die schon rein inhaltlich vor hohlem Pathos trieft. Dazu wird sie auch noch in einem übertrieben melodischen Singsang vorgetragen und von ausladender Gestik begleitet und so von Clouzot vollends der Lächerlichkeit preisgegeben. Als während des Leichenzugs aus einem Kranz, den Marie Corbin angebracht hatte, ein Brief des Raben hervorflattert, droht der Volkszorn überzukochen. Marie, die inzwischen vom Krankenhaus entlassen wurde, flüchtet sich in ihre Wohnung, wo bereits Vandalen ihren Spiegel zertrümmert und die Wände beschmiert haben. Als der Mob heranzieht, will sie durch den Hinterausgang flüchten, doch dort wird sie bereits von zwei Polizisten erwartet und abgeführt.

Rendezvous zwischen Dr. Germain und Laura Vorzet
Nach Maries Verhaftung ist es zunächst ruhig - keine Briefe mehr. Dr. Germain nützt die Gelegenheit, um zu packen. Denise macht ihm eine Szene. Sie erklärt, dass sie ihn liebe, doch er glaubt ihr nicht. Er behauptet, dass sie ihm nur eine Abschiedsszene vorspiele. Darauf wirft sie ihm vor, dass er das sei, was sie am meisten verachtet - ein Bourgeois. - Aus Germains Abreise wird so schnell nichts. Während einer Messe, bei der fast die ganze Stadt anwesend ist, flattert ein Brief des Raben von der Empore ins Kirchenschiff. Damit ist die immer noch inhaftierte Marie Corbin aus dem Schneider. Und bald gibt es wieder so viele neue Briefe wie zuvor. Die Honoratioren tagen erneut, der Bürgermeister fürchtet um seine Wiederwahl. Da hat der stellvertretende Staatsanwalt - zugleich Dr. Delormes Sohn - eine Idee: Das Hauptziel des Raben ist wie eh und je Dr. Germain. Wenn man schon den Raben nicht finden kann, vielleicht sollte man dann versuchen, Dr. Germain loszuwerden? Gesagt, getan. In Germains Sprechstunde taucht eine Frau auf, die eine rührselige Geschichte erzählt und um eine Abtreibung bittet. Doch Germain lehnt schroff ab. Als er sie unwirsch aus dem Sprechzimmer weist, erkennt sie ihn wieder: Er hatte ihr vor Jahren nach einem Unfall durch seine ärztliche Kunst das Leben gerettet. Sie gibt ihre Maskerade auf und enthüllt den Plan: Sie wurde für 10.000 Francs angeheuert. Hätte sich Germain auf die Abtreibung eingelassen, wäre er dran gewesen.

Denise macht bei Dr. Germain Fortschritte
Unterdessen erfährt der Unterpräfekt aus der Pariser Zeitung, dass er versetzt wurde, und gerät darüber mit den anderen Würdenträgern in Streit. In die Auseinandersetzung platzt Germain und hält ihnen eine Standpauke. Er erklärt den verdutzten Herren, dass er jener berühmte Gehirnchirurg Germain Monatte aus Paris sei. Vor Jahren war seine Frau schwanger, und als es Komplikationen gab, versuchte ein Gynäkologe, sowohl Mutter als auch Kind zu retten - wobei beide starben. Damals fasste Germain den Entschluss, inkognito in die Provinz zu gehen und es besser zu machen als sein Kollege seinerzeit. Die Herrschaften sind konsterniert, doch der stellvertretende Staatsanwalt hat schon einen neuen Plan. Auf der Empore in der Kirche, von der der Brief herabflog, befanden sich nur 18 Personen, und einer von ihnen muss der Rabe sein. Diese 18 Personen werden nun zum Diktat gebeten. Vorzet erläutert die Idee: Auch bei Blockbuchstaben gibt es ein charakteristisches Schriftbild. Dieses könne man zwar kurzfristig verbergen, aber bei einem lang genug andauernden Test werde es zum Durchbruch kommen und den Raben verraten. So werden also alle Verdächtigen unter Polizeibewachung in einem Klassenzimmer in der Schule versammelt, um Originalbriefe des Raben niederzuschreiben. Germain, erklärter Atheist, war nicht in der Kirche, und Marie Corbin saß im Gefängnis, aber sonst sind viele Bekannte versammelt: Denise, Laura, Dr. Bertrand, Schatzmeister Bonnevie, Schuldirektor Saillens, seine Tochter Rolande. Dr. Vorzet und der stellvertretende Staatsanwalt lesen die Texte vor, Vorzet soll anschließend als graphologischer Gutachter fungieren. Das Diktat beginnt - und zieht sich Stunden um Stunden hin. Die Szene ist eine recht grimmige Parodie auf das Klassendiktat, eine Säule (nicht nur) des französischen Grundschulunterrichts. Nach vielen Dutzenden von Briefen - die Nacht ist längst hereingebrochen - bricht Denise ohnmächtig über der Schulbank zusammen. Die Veranstaltung ist zu Ende, doch ein eindeutiges Ergebnis hat sie nicht erbracht. Der Schriftvergleich blieb ohne Ergebnis, der Rabe ist noch immer unerkannt.

Noch ein Rabe
Bei einer nächtlichen Zusammenkunft von Vorzet und Germain (auf die ich später noch einmal zurückkommen werde) macht Vorzet ein überraschendes Geständnis: Er ist morphiumsüchtig, und Marie Corbin hat die Ampullen für ihn, ihren Ex-Verlobten, den sie noch immer liebt, gestohlen. Am nächsten Morgen trifft Germain auf die Mutter von François, dem toten Krebspatienten. Sie macht eine merkwürdige Andeutung: Sie behauptet, den Raben ziemlich sicher zu kennen, aber sie verrät nicht, wen sie im Sinn hat. Sie zeigt Germain das Rasiermesser, mit dem sich ihr Sohn den Hals durchschnitt. Wenn sie absolut sicher sei, den Raben zu kennen, dann werde das Messer abermals in Aktion treten und den Schuldigen bestrafen. Germain versucht, ihr den Gedanken an Selbstjustiz auszureden, aber offensichtlich mit wenig Erfolg.

Fast ein Staatsbegräbnis für François; der Unterpräfekt hält eine Rede
Am selben Tag findet Germain in Denises Zimmer einen an ihn gerichteten Brief des Raben. Darin steht, dass Denises Schwächeanfall beim Diktat darauf zurückzuführen sei, dass sie von ihm schwanger sei. Germain versteckt sich vor der hereinkommenden Denise und ertappt sie dabei, wie sie den Brief in ein Kuvert steckt und adressiert. Natürlich hält er sie nun für den Raben und stellt sie zur Rede. Doch Denise versichert, dass das ihr erster solcher Brief sei. Sie habe es nicht fertiggebracht, mit ihm über ihre Schwangerschaft zu sprechen, und deshalb sei sie auf die Idee gekommen, die Botschaft dem Raben unterzuschieben. Germain ist hin- und hergerissen: Soll er ihr glauben oder nicht? Am Ende ist er geneigt, ihr zu glauben, auch wenn Zweifel bleiben. Denise fordert ihn daraufhin auf, zu Vorzet zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Laura habe bei ihr angerufen, weil sie eine Todesdrohung vom Raben erhalten habe. Germain eilt in die Wohnung der Vorzets, doch Laura empfängt ihn befremdet. Sie weiß von keiner Todesdrohung und sie hat Denise nicht angerufen - behauptet sie. Germain ist verwirrt. Hat Denise gelogen? Wenn ja, warum? Oder lügt Laura?

Ein zerbrochener Spiegel als Metapher: Marie Corbin vor den Scherben ihres heilen Selbstbildes

An dieser Stelle - rund 8 Minuten vor Ende des Films - unterbreche ich die Handlung, um mich Clouzots Lebenslauf und der Entstehungsgeschichte von LE CORBEAU zuzuwenden. Wer erfahren will, wer nun wirklich der Rabe ist, kann es am Ende des Artikels nachlesen.

Clouzot wurde 1907 in der französischen Stadt Niort geboren. Die eigentlich vorgesehene Laufbahn in der Marine zerschlug sich wegen seiner Kurzsichtigkeit. Er begann daraufhin ein Studium mit dem Berufsziel eines Diplomaten, das er jedoch abbrechen musste, als die Weltwirtschaftskrise das Vermögen seiner Eltern dahinraffte. Er wechselte nun als Journalist zu einem Boulevardblatt. Bei einem Interview lernte er 1931 den Filmproduzenten Adolphe Osso kennen, der ihn einlud, als Cutter und Drehbuchbearbeiter in seiner Firma zu arbeiten. Clouzot hatte sein Metier gefunden.

Henri-Georges Clouzot (1975)
Schon 1931 inszenierte er mit LA TERREUR DES BATIGNOLLES auch einen eigenen Kurzfilm. 1932 ging er nach Deutschland. Clouzot arbeitete als Regieassistent bei E.A. Dupont und beim damals noch in Deutschland wirkenden Anatole Litvak. Daneben fertigte Clouzot bei der UFA Alternativversionen deutscher Filme an. In einer Zeit, als Synchronisationen noch unüblich waren, wurden gelegentlich verschiedene Sprachfassungen eines Films gleichzeitig gedreht - am selben Set, aber mit anderen Schauspielern. Bekannte Beispiele sind etwa Hitchcocks MURDER!, von dem gleichzeitig eine deutsche Version entstand, oder die spanischsprachige Version von Tod Brownings DRACULA. Wie nicht anders zu erwarten, war Clouzot für französische Sprachfassungen der UFA-Filme zuständig. Künstlerische Freiheiten dürfte er dabei kaum besessen haben, deshalb sollte man diese Filme nicht als eigenständige Regiearbeiten werten.

Dr. Vorzets “Fieberkurve” nach Marie Corbins Verhaftung
Clouzots erster eigener Spielfilm schien nahe, doch es kam anders: 1933 zwang ihn eine schwere Lungenerkrankung zu einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Sanatorium. Er vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Theaterstücken und Drehbüchern, die jedoch zunächst nicht realisiert wurden. Clouzots chronisch schlechte Gesundheit sollte ihn auch später immer wieder an der Arbeit hindern und war mitverantwortlich für seinen zahlenmäßig geringen Ausstoß an Filmen. 1938 war Clouzot soweit wiederhergestellt, dass er ins Geschäft zurückkehren konnte. Die französische Firma CICC verfilmte drei Drehbücher, an denen er beteiligt war. 1941 erhielt er dann ein verlockendes Angebot - freilich eines mit Pferdefuß, wie sich später erweisen sollte.

Krisensitzung der Honoratioren
Nach der Niederlage der französischen Truppen im Juni 1940 und der darauffolgenden deutschen Besetzung des nördlichen Frankreich war die französische Filmindustrie schwer angeschlagen. In dieser Situation witterte Joseph Goebbels eine Chance, den Franzosen die Niederlage etwas zu versüßen, um im Gegenzug den Besatzungstruppen das Leben zu vereinfachen. Ende 1940 wurde in Frankreich die Produktionsfirma Continental Films gegründet. Sie stand unter deutscher Kontrolle und wurde mit deutschem Geld finanziert. Erklärter Auftrag war es, mit französischem Personal anspruchslose, billige Unterhaltungsfilme zu drehen, um das Volk bei Laune zu halten.

Das Konzept ging zunächst auf. Bald dominierte Continental den französischen Filmmarkt. Zwar gab es weiterhin rein französische Produktionsfirmen, aber sie hatten gegen Continental einen schweren Stand. Als Leiter von Continental war der Produzent Alfred Greven von Goebbels nach Frankreich delegiert worden. Greven machte nun Clouzot das Angebot, als fest angestellter Drehbuchschreiber bei Continental einzusteigen, und Clouzot nahm an. Möglicherweise kannte Greven Clouzot schon von dessen Zeit bei der UFA. Jedenfalls war er offenbar von seinen Fähigkeiten überzeugt, denn Clouzot avancierte dann gleich zum Leiter der Drehbuchabteilung bei Continental. Greven interpretierte den Auftrag für Continental etwas frei. Er war bestrebt, neben dem verordneten Flachsinn auch qualitätvollere Filme zu produzieren, freilich ohne den Bereich des Unterhaltungsfilms zu verlassen. So kam es, dass Continental neben oberflächlichen Komödien etwa auch handwerklich solide Kriminalfilme produzierte. Neben Verfilmungen von Simenon-Stoffen wurde 1941 die Verfilmung eines Romans des belgischen Krimi-Autors Stanislas-André Steeman in Angriff genommen. Das Drehbuch zu LE DERNIER DES SIX schrieb Clouzot, Regie führte Georges Lacombe. Es ging um einen französischen Inspektor mit einem komplizierten polnischen Namen, den er der Einfachheit halber zu "Wens" verkürzte. Bei den Ermittlungen unterstützt wird er von seiner Geliebten, einer Schauspielerin. Das von Pierre Fresnay und Suzy Delair gespielte flamboyante Ermittler-Pärchen wurde gelegentlich mit William Powell und Myrna Loy in den DÜNNER-MANN-Filmen verglichen.

Dr. Delorme und sein Sohn, der stellvertretende Staatsanwalt
Der locker-leicht inszenierte Film hatte Erfolg, und so wurde ein Sequel anberaumt. Und nun war es soweit: Clouzot durfte endlich selbst Regie führen. L'ASSASSIN HABITE... AU 21 (dt. DER MÖRDER WOHNT IN NR. 21), wieder nach einem Roman von Steeman, ist professionell inszeniert, besitzt pointierte Dialoge und, trotz des leichten Inszenierungsstils, bereits sarkastische und düstere Momente, die Clouzots spätere Richtung erahnen lassen. Nachdem Clouzots Regie-Erstling gut angekommen war, wählte er als nächstes einen Stoff, der lose auf einer wahren Begebenheit beruhte. 1922 kam es in der französischen Kleinstadt Tulle zu einem Skandal: Es wurde eine Unzahl von anonymen Schmähbriefen versandt. Die Affäre erregte überregionale Aufmerksamkeit, und Louis Chavance ließ sich davon 1932 zu einer ersten Drehbuchfassung unter dem Titel L'Œil du serpent inspirieren. Clouzot stieß auf das bislang unverfilmte Script und tat sich mit Chavance zusammen, um das Buch zu überarbeiten. Zur Vorbereitung studierte Clouzot eine wissenschaftliche Abhandlung über die Verfasser solcher anonymer Pamphlete, und es würde mich nicht wundern, wenn Dr. Vorzets Ausführungen über diesen Personenkreis sinngemäß diesem Werk entnommen wären.

Unterdessen befand sich Alfred Greven in einer etwas prekären Lage. 1942 brachte Continental LA SYMPHONIE FANTASTIQUE heraus, eine Biographie des Komponisten Hector Berlioz. Der Film wurde für seine Qualität gelobt, aber er schien geeignet, den französischen Nationalstolz zu befördern, was natürlich Continentals Auftrag krass zuwiderlief, und so handelte sich Greven eine ernste Rüge von Goebbels ein. Als nun Clouzot das Drehbuch für LE CORBEAU vorlegte, erkannte Greven die politische Brisanz des Stoffes und sträubte sich heftig dagegen. Es gab damals eine Kampagne der Gestapo, die die französische Bevölkerung aufrief, Résistance-Mitglieder zu verpfeifen (übrigens mit beachtlichem Erfolg). Greven war klar, dass der Stoff von LE CORBEAU als Kommentar zu solchen Denunziationen verstanden werden konnte. Aber irgendwie gelang es Clouzot, sich durchzusetzen.

Ein denkwürdiges Diktat. Am Pult sitzend Dr. Vorzet
Nachdem das Projekt erst einmal genehmigt war, besaß Clouzot volle künstlerische Freiheit. Die Dreharbeiten fanden zum größten Teil in einer Kleinstadt in der Nähe von Paris statt. Zeit und Filmmaterial waren knapp bemessen, aber ähnlich wie Hitchcock, mit dem er oft verglichen wurde, war Clouzot ein Regisseur, der schon zu Beginn der Dreharbeiten den fertigen Film im Kopf hatte, und der seine Schauspieler mit sehr exakten Instruktionen versah, was zu tun war, so dass sehr zügig und konzentriert gearbeitet werden konnte. Ginette Leclerc, die Darstellerin der Denise, zeigte sich von dieser Arbeitsweise sehr angetan. Clouzot habe das Optimum aus ihr herausgeholt, erzählte sie später, und er habe sie "seine Violine" genannt, auf der er seine Melodie spielte. Pierre Fresnay dagegen empfand die Dreharbeiten als schwierig, und zwar deshalb, weil Clouzot am Set stets übelgelaunt war. Fresnay war zu seiner Zeit ein großer Star des französischen Kinos. Er war mit MARIUS, FANNY und CÉSAR, die zusammen die sogenannte Marseille-Trilogie bilden, zu nationaler Bekanntheit aufgestiegen und spielte insgesamt in rund 60 Filmen. Sein aus heutiger Sicht wohl wichtigster war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION, wo er den aristokratischen Offizier de Boeldieu verkörperte. Er hatte auch die Hauptrolle in den beiden Wens-Filmen gespielt.

Gruppenbild mit Herrn: Marie Corbin, Denise, Germain und Laura (v.l.n.r.)
Clouzot galt in späteren Jahren als ein Regisseur, der seine Schauspieler nicht nur seelisch, sondern auch körperlich malträtierte, wenn es ihm angemessen erschien. In QUAI DES ORFÈVRES gibt es eine Szene, in der der von Bernard Blier gespielte Charakter einem zermürbenden Polizeiverhör unterzogen wird. Um Blier in die richtige Stimmung zu versetzen, hat ihn Clouzot heftig geohrfeigt. Auch Suzy Delair und Simone Renant sollen in diesem Film nicht ungeschoren davongekommen sein. Von Clouzots beiden Continental-Filmen ist ein derartiges Verhalten jedoch noch nicht überliefert. Aber neben Fresnay berichteten auch andere Zeitgenossen von Clouzots abweisendem Charakter und seiner permanent schlechten Laune - Wesenszüge, die nicht ohne Einfluss auf seine Filme blieben. Tatsächlich legte LE CORBEAU den Grundstein zu Clouzots Ruf, der große Misanthrop unter den französischen Regisseuren gewesen zu sein. Dagegen konnte Clouzot kein Vorwurf gemacht werden, was sein persönliches Verhalten den Nazis gegenüber betraf. Es wird berichtet, dass er seine Mitarbeiter vor Übergriffen schützte und Juden half.

Schon in den 30er Jahren wurden französische Filme aus dem Bereich des "Poetischen Realismus" gelegentlich mit der Bezeichnung Film noir belegt, aber international bekannt wurde der Begriff erst, als ihn die französischen Filmkritiker Nino Frank und Jean-Pierre Chartier 1946 auf Hollywoods "Schwarze Serie" anwandten, die 1941 mit John Hustons THE MALTESE FALCON ihren Ausgang nahm. LE CORBEAU wurde nun - trotz der früheren Verwendung des Begriffs - gelegentlich als der erste französische Film noir bezeichnet. Das mag vielleicht etwas übertrieben sein, aber LE CORBEAU verfügt über einige der klassischen Ingredienzien: Ein pessimistisches Menschenbild, zynische Dialoge, und eine Schwarzweißfotografie, die mit ausgeprägten Licht- und Schatten-Effekten arbeitet.

Schattenspiele an der Wand
Was die visuelle Gestaltung des Films betrifft, so drängt sich diese zwar nicht in den Vordergrund, aber es gibt doch genug noir-typische Szenen, um das Erscheinungsbild des Films mitzuprägen. Etwa ein Dialog von Vorzet und Germain nach dem Diktat: Die beiden sind nächtens allein in einem Raum in der Schule zurückgeblieben. Es handelt sich um die Szene, in der Vorzet auch das Geständnis seiner Morphiumsucht macht. Das Zimmer wird nur von einer Lampe mit einem kleinen, hoch angebrachten Schirm, der die Glühbirne nicht verdeckt, spärlich erleuchtet. Wenn nicht ein großer Globus herumstehen würde, könnte man sich an ein Hinterzimmer in einer zwielichtigen Absteige oder an ein schäbiges Polizeirevier erinnert fühlen, wie man es aus amerikanischen Filmen der Schwarzen Serie kennt. Vorzet wirft Germain starres Schwarzweißdenken vor: "Sie glauben, dass jedermann völlig gut oder völlig schlecht ist. Dass das Gute hell ist und das Böse dunkel. Aber wo beginnt das Eine und das Andere? Wo endet das Böse? Sind Sie auf der guten oder der bösen Seite?" Dazu versetzt Vorzet die Lampe in Schwingung, so dass die Gesichter der beiden abwechselnd in Licht und Schatten getaucht sind.

Dr. Vorzet versetzt eine Lampe in Schwingung und hält einen Vortrag über Hell und Dunkel
Bei aller Düsternis verfügt LE CORBEAU auch über Humor, freilich einen bösen, sarkastischen Humor, der oft den zynischen Bemerkungen der Protagonisten entspringt, wie im Fall des Gangräns. Typisch für Clouzot ist auch die erwähnte Messe: Der Priester steht auf der Kanzel und preist den Herrn, weil der Spuk (nach Marie Corbins Verhaftung) ein Ende hatte. "Erhebt eure Herzen", predigt er der versammelten Gemeinde, "von der Furcht befreit, zu Jesus!" Und alle Leute erheben die Köpfe und blicken andachtsvoll nach oben. Aber nicht etwa, weil sie da oben Jesus erblicken würden, sondern weil just in diesem Moment der neue Brief des Raben gemächlich von der Galerie herabtrudelt.

Der Pfarrer predigt der Gemeinde, die eine Überraschung von oben erlebt
Clouzots Attacken richten sich zwar überwiegend gegen die Honoratioren der Stadt, aber auch die Kleinbürger bekommen ihr Fett weg. Etwa die Ladenbesitzerin, die neuerdings jeden, der im Briefkasten auf der anderen Straßenseite Post einwirft, mit Namen und Uhrzeit notiert. Und ihre Nichte will sie nicht mehr von Germain behandelt wissen, sondern sie wechselt zu dessen Konkurrenten Dr. Bertrand. Aber statt ihm einfach die Wahrheit zu sagen, tischt sie ihm scheinheilig ein Märchen auf. Als er unverrichteter Dinge ihren Laden verlässt, erinnert sie ihn freundlich daran, ihr die Rechnung zu schicken. Und als er dann draußen ist, sagt sie gehässig "... ich wette, dieser Schuft hat die Nerven und schickt sie tatsächlich!" Oder der Leiter des Postamts. Er hält seinen Untergebenen eine Ansprache, dass Briefe unter allen Umständen an die Adressaten ausgeliefert werden müssten. Das sei die Größe (grandeur im Original) und Pflicht des Postdienstes. Und dann fischt er einen an seine Frau adressierten Brief aus dem Verteiler und nimmt ihn an sich. "Sie wird ihn [den Brief] nie zu Gesicht bekommen", kommentiert einer der Postangestellten, und zweifellos hat er recht. Mit solchen Miniatur-Nebenhandlungen schafft es Clouzot mühelos, ein Panoptikum der kleinen Bösartigkeiten auszubreiten. Im Verlauf der Handlung wird auch klar, dass es neben dem eigentlichen Raben jede Menge Trittbrettfahrer geben muss, die die Situation nutzen, um ihre eigenen anonymen Briefe zu versenden.

Eine scheinheilige Ladenbesitzerin; der Leiter des Postamts
LE CORBEAU hatte im September 1943 Premiere. Er wurde vom Publikum und von der Presse im besetzten Frankreich gut aufgenommen. Die Nazis aber waren überhaupt nicht glücklich mit dem Film. Es liegt auf der Hand, dass man LE CORBEAU einen politischen Subtext zuschreiben kann, der in einem Kommentar zur Okkupation Frankreichs und zu Denunziationen von Seiten der Bevölkerung besteht. "Seit dieser Sturm von Hass und Verleumdung unsere Stadt getroffen hat", erklärt Vorzet einmal, "wurden alle moralischen Werte korrumpiert." Und etwas später Germain: "Diese Art von Krise hat einen Zweck. Wie ein Rekonvaleszent nach einer Krankheit geht man stärker, bewusster daraus hervor. Es ist schrecklich zuzugeben, aber das Böse ist notwendig." Zu allem Überfluss gab es eine Werbekampagne für LE CORBEAU, die mit dem Slogan "Denunziation - die Schande des Jahrhunderts" arbeitete. Wie erwähnt, profitierten die Deutschen erheblich von Informanten in der französischen Bevölkerung, und es gab eine regelrechte Ermunterungskampagne zu solcher Kollaboration. Da nimmt es nicht Wunder, dass die deutschen Behörden sofort einschritten. Die Werbekampagne mit dem anstößigen Slogan musste nach wenigen Tagen gestoppt werden. Gelegentlich liest man auch, dass die Aufführung des Films selbst von den Nazis verboten wurde, aber das war offenbar nicht der Fall. Allerdings beschwerten sie sich bei Alfred Greven über Clouzot, der ihn daraufhin feuerte.

Krise zwischen Denise und Germain ...
Man mag sich vielleicht fragen, wie es LE CORBEAU überhaupt in die Kinos schaffte. Zwar gab es damals eine staatliche Filmzensur, die dem Vichy-Regime unterstand, aber die war für Continental-Filme - und nur für diese - nicht zuständig. Continental gab sich zwar dem Publikum gegenüber den Anschein einer französischen Firma, aber in der Frage der Zensur stellte sich Greven auf den Standpunkt, dass Continental eine deutsche Firma sei und deshalb nicht der französischen Zensur unterstünde, und er kam damit durch. Wäre LE CORBEAU von irgendeiner anderen Firma produziert worden, wäre er wahrscheinlich nicht unbeschadet durch die Zensur geschlüpft.

... und Versöhnung
Abgesehen von der politischen Konnotation ist LE CORBEAU auch eine Abhandlung über das Gute und Böse im Menschen. Vorzets nächtliche Ansprache an Germain ist hierfür eine Schlüsselszene. Clouzot drückte das 1975 in einem Fernsehinterview folgendermaßen aus: "Es war ein Weg, um gewisse Dinge auszudrücken, die ich seit der Kindheit fühlte. [...] Diese Balance zwischen Dunkel und Hell, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse, kommt tief aus meinem Herzen." Und über die Rolle der Spannung in seinen Filmen (nicht nur LE CORBEAU): "Es ist der beste Weg, um den Zuschauern etwas unterzuschieben, das sie sonst nicht schlucken würden. Sie werden den Rest akzeptieren, weil sie von der Spannung am Haken gehalten werden wie ein Fisch." - Neben der politischen und der psychologisch-philosophischen Ebene funktioniert LE CORBEAU natürlich auch als Thriller - wenn auch nicht perfekt, weil einige Fragen offen bleiben. So bleibt völlig unklar, woher François' Mutter den Raben zu kennen glaubte. Und nicht alle Personen stehen am Ende in ihrer Motivation und ihren Handlungen wirklich schlüssig da. Aber der Genuss von LE CORBEAU wird durch solche Schönheitsfehler nicht ernsthaft beeinträchtigt.

Clouzots Schwierigkeiten mit den Nazis nach dem Start von LE CORBEAU schützten ihn nicht vor Gegenwind von ganz anderer Seite. Clouzot wurde von Seiten der Résistance und der Exilregierung des "Freien Frankreich" heftig attackiert. Man behauptete, die Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner sei antifranzösische (und damit automatisch pro-deutsche) Propaganda, und Clouzot sei somit ein Kollaborateur. Dass der Film von Continental produziert wurde, tat ein Übriges. Die publizistischen Angriffe waren außerordentlich heftig, und angeblich gab es sogar ein von Radio London verkündetes Todesurteil gegen Clouzot. Das erzählte er jedenfalls im erwähnten Fernsehinterview von 1975.

Welche Rolle spielt Laura?
Nach der Befreiung Frankreichs gingen Clouzots Schwierigkeiten erst richtig los. Er wurde nun von allen politischen Kräften angegriffen. Die Linken, insbesondere die Kommunisten, warfen Clouzot weiterhin Kollaboration vor, außerdem Defätismus und mangelnden Widerstandsgeist. Zwar war klar, dass niemand im besetzten Frankreich offen antideutsche Filme hätte drehen können, aber man stellte LE CORBEAU zeitgenössischen Filmen wie etwa Jean Grémillons LE CIEL EST À VOUS gegenüber, einer heroisch angehauchten Geschichte im Fliegermilieu, die diesen Vorstellungen zufolge den wahren französischen Widerstandsgeist verkörpert hätte. Die Rechten warfen Clouzot ebenfalls antifranzösische Gesinnung und Nihilismus vor. Zudem bemängelten klerikal-konservative Kreise die offensive Sexualität von Denise, mit der Clouzot unverhohlen sympathisierte (was er im Interview von 1975 explizit bestätigte), Germains ebenso offenen Atheismus und die mehrmalige Erwähnung des Tabuthemas Abtreibung. Und ganz allgemein mochte man im Nachkriegsfrankreich nur ungern an die Kollaboration und die Denunziationen großer Bevölkerungsteile erinnert werden. Es gab eine Große Koalition des Vergebens und Vergessens, man sah sich am liebsten als ein Volk von lauter Résistance-Mitgliedern. So saß Clouzot zwischen allen Stühlen und sah sich heftigsten publizistischen Attacken ausgesetzt.

Doch dabei blieb es nicht - es kam auch zu Maßnahmen von staatlicher Seite. Zwar war von einem Todesurteil keine Rede mehr, aber die Aufführung von LE CORBEAU wurde verboten. Dazu gab es "Reinigungsverfahren" gegen der Kollaboration Verdächtigte, die man entfernt mit den Entnazifizierungsverfahren in Deutschland vergleichen konnte. Unter den Angeklagten befanden sich auch sieben Regisseure, und einer von ihnen war Clouzot. Die meisten der Beschuldigten in diesen Tribunalen kamen mit öffentlichen Rügen davon, aber einige der schwerer Belasteten erhielten mehrjährige Berufsverbote. Clouzot jedoch wurde gleich zu lebenslangem Arbeitsverbot im Filmgeschäft verurteilt. Das Gremium, das über ihn zu Gericht saß, bestand aus drei Personen, von denen zwei Regisseure waren. Keine sehr talentierten, wie Bertrand Tavernier in einem Video-Interview feststellte. (Taverniers 2002 entstandener Spielfilm LAISSEZ-PASSER spielt vor dem Hintergrund der Filmwirtschaft im besetzten Frankreich, weshalb er dieses Thema sorgfältig recherchiert hat.) Einer von den dreien hatte LE CORBEAU überhaupt nicht gesehen, wie sich im Verlauf der Verhandlung herausstellte.

Germain verabschiedet sich von Laura - und macht dabei eine Entdeckung
Doch schon früh fanden sich auch Verteidiger für Clouzot. Einer von ihnen war Jean Cocteau, der den tieferen Gehalt von LE CORBEAU begriffen hatte und den Film mit den Werken sozialkritischer Schriftsteller wie Guy de Maupassant und Émile Zola verglich. Auch der Drehbuchautor Jean-Paul le Chanois (der Jude und Kommunist war) trat frühzeitig für Clouzot ein, ebenso Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Das harte Urteil gegen Clouzot beendete die Debatte nicht, sondern fachte sie zusätzlich an. Es fanden sich zunehmend weitere Fürsprecher für Clouzot, vor allem Künstler und Intellektuelle, darunter Regie-Kollegen wie René Clair, Marcel Carné, Marcel L'Herbier und Jacques Becker. Die Debatte wurde hauptsächlich in offenen Briefen und Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ausgetragen. Sie war ausgesprochen heftig und lang andauernd, doch am Ende verfehlten die Stimmen für Clouzot ihre Wirkung nicht. Clouzots Berufsverbot wurde stillschweigend von lebenslänglich zu zwei Jahren verkürzt. Eine offizielle Begnadigung oder ein Wiederaufnahmeverfahren scheint es nicht gegeben zu haben, jedenfalls liegen keine entsprechenden Dokumente vor. Insgesamt lagen am Ende zwischen den Dreharbeiten zu LE CORBEAU und Clouzots nächstem Film rund vier Jahre. Wie schon während seiner Zeit im Lungensanatorium, nutzte Clouzot die Zeit zum Schreiben von Drehbüchern, von denen dann jedoch keines realisiert wurde. Darunter befand sich auch ein gemeinsames Projekt mit Sartre, mit dem er sich befreundet hatte, nämlich die Adaption eines Romans von Vladimir Nabokov.

1947 stand die Frage an, ob man LE CORBEAU wieder in den Kinos zeigen sollte. Es gab nach wie vor heftige Attacken gegen Clouzot, insbesondere von Seiten der kommunistischen Presse, die forderte, dass LE CORBEAU verboten bleiben müsse. Dabei war jedoch eine Portion Heuchelei im Spiel, denn schon bevor LE CORBEAU wieder für die Kinos zugelassen wurde, lief er in sogenannten Cinéclubs. Das waren geschlossene Veranstaltungen, die jedoch vor vollen Häusern stattfanden und entsprechende Einnahmen brachten. Und viele dieser Cinéclubs befanden sich im Besitz der Kommunistischen Partei. Der Drehbuchautor Henri Jeanson (u.a. an PÉPÉ LE MOKO und HÔTEL DU NORD beteiligt) wies im September 1947 in einem geistreichen Zeitschriftenartikel auf diesen Widerspruch hin und lobte LE CORBEAU als Meisterwerk. Auch viele von Clouzots Gegnern hatten inzwischen die filmische Qualität von LE CORBEAU anerkannt und konzentrierten sich dafür umso mehr auf den Continental-Aspekt. So etwa der Schriftsteller Joseph Kessel, Autor von erfolgreich verfilmten Romanen wie Belle de jour und La Passante du Sans-Souci. In einer direkten Antwort auf Jeanson in derselben Zeitschrift schrieb er, dass Clouzot mit deutschem Geld ein angenehmes Leben führte, während dieselben Deutschen, die ihn bezahlten, gleichzeitig in Oradour wüteten und die Krematorien mit französischen Leichen beheizten. Der ziemlich polemische Artikel endet damit, dass es keinen großen Unterschied gemacht hätte, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten - "für Herrn Clouzot".

Laura wird abtransportiert
Doch insgesamt hatte sich das Meinungsklima zugunsten von Clouzot gewendet. Auch die 1947 noch einmal hochgekochte Debatte ebbte schließlich ab, wenn sie auch nicht vollends verstummte, sondern Clouzot bis an sein Lebensende gelegentlich wieder einholte. Während der Streit um die Wiederzulassung von LE CORBEAU noch im Gang war, konnte Clouzot einen neuen Film in Angriff nehmen. Nachdem Clouzots Arbeitsverbot aufgehoben worden war, trat ein russischstämmiger Filmproduzent an ihn heran und bot ihm an, einen Stoff nach eigener Wahl zu inszenieren, freilich mit der Auflage, dass es kommerziell erfolgsträchtig und weniger brisant als LE CORBEAU werden solle. Clouzot schlug einen Roman von Stanislas-André Steeman vor, den er vor Jahren gelesen hatte. Der Produzent war sofort einverstanden. Die Dreharbeiten fanden im Frühjahr 1947 statt, und obwohl zwischenzeitlich der Produzent wechselte, konnte der Film ohne größere Probleme fertiggestellt werden. QUAI DES ORFÈVRES ist ein hervorragender, stimmungsvoller Film noir mit einem überragenden Louis Jouvet in der Hauptrolle. Die Uraufführung fand im Oktober '47 statt. Der Film wurde bei Publikum und Kritik ein großer Erfolg und gewann noch im selben Jahr beim Internationalen Filmfestival in Venedig den Großen Preis für die beste Regie. Clouzots Karriere war gerettet.

Louis Jouvet (links) und Bernard Blier in QUAI DES ORFÈVRES
Und das war gut so. Nach MANON, einer sehr freien Verfilmung von Abbé Prévosts Roman Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, nach MIQUETTE ET SA MÈRE sowie der Beteiligung an einem Episodenfilm, drehte Clouzot in den 50er-Jahren mit LE SALAIRE DE LA PEUR (LOHN DER ANGST) und LES DIABOLIQUES (DIE TEUFLISCHEN) zwei Filme, die zu zeitlosen Klassikern des Spannungskinos werden sollten. Es folgte ein Dokumentarfilm über den mit ihm befreundeten Pablo Picasso. Dabei ließ er Picasso auf transparente Leinwände malen, durch die hindurch er sowohl den Meister als auch die entstehenden Werke filmen konnte, wobei Picasso seine Gedanken beim kreativen Vorgang erläuterte. 1984 wurde LE MYSTÈRE PICASSO von der französischen Regierung zum nationalen Kulturerbe erklärt - wohl eher wegen Picassos Bedeutung als wegen der von Clouzot, aber immerhin. Dann kam mit LES ESPIONS ein interessanter, aber etwas unausgegoren wirkender Agentenfilm am Rande der Parodie sowie der Gerichtsfilm LA VÉRITÉ mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle. Die Sozialkritik darin wirkt etwas aufgesetzt, aber der Film verfügt über einen sehr schönen zynischen Schluss - da ist Clouzot nochmal ganz der Alte.

Danach neigte sich Clouzots Laufbahn langsam ihrem Ende entgegen. Einerseits machte ihm seine chronisch schlechte Gesundheit wieder zusehends zu schaffen. Und andererseits hatte er etwas den Anschluss an den Zeitgeist verloren, der da Nouvelle Vague hieß. Das Verhältnis von Clouzot zu den meisten Vertretern der Nouvelle Vague war von gegenseitiger Abneigung geprägt. Einerseits stand Clouzot für die Protagonisten der neuen Richtung für das, was sie "Papas Kino" nannten und heftig attackierten. Andererseits wurde wieder seine Continental-Vergangenheit gegen ihn vorgebracht, etwa von Jacques Rivette. Nur François Truffaut, der LE CORBEAU oft gesehen hatte und sehr schätzte, sah Clouzot differenzierter. 1963 begann Clouzot mit den Dreharbeiten zu L'ENFER nach einem eigenen Stoff. Doch zunächst kam es zu Verzögerungen, weil sich Clouzot in über-perfektionistischer Manier verzettelte, und weil der Hauptdarsteller Serge Reggiani erkrankte (oder eine Erkrankung vorschob, um sich aus den sich endlos hinziehenden und für ihn zermürbenden Dreharbeiten zu verabschieden) und ausgewechselt werden musste, dann erlitt Clouzot selbst einen schweren Herzanfall. Er musste die Dreharbeiten abbrechen und nahm sie nicht wieder auf. Mehr über dieses faszinierende gescheiterte Projekt erfährt man im 2009 entstandenen Dokumentarfilm L'ENFER D'HENRI-GEORGES CLOUZOT (DIE HÖLLE VON HENRI-GEORGES CLOUZOT) von Serge Bromberg und Ruxandra Medrea. 1992 kaufte Claude Chabrol den Stoff und verfilmte ihn 1994 unter dem nämlichen Titel L'ENFER.

Denise und Germain finden sich endgültig
Es folgte eine Reihe von Musikfilmen, für das französische Fernsehen auf 35 mm gedreht, in Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan. Die Filme zeigen den Maestro, der sich von der Zusammenarbeit mit Clouzot begeistert zeigte, jeweils bei Proben und einem Konzert. Von ursprünglich geplanten 13 Folgen wurden fünf realisiert. Schließlich vollendete Clouzot 1968 mit LA PRISONNIÈRE einen letzten Spielfilm, danach zog er sich zurück. Henri-Georges Clouzot starb 1977 in Paris. Dem internationalen Publikum ist er vor allem mit LE SALAIRE DE LA PEUR und LES DIABOLIQUES in Erinnerung geblieben, aber seine frühen Meisterwerke LE CORBEAU und QUAI DES ORFÈVRES lohnen ein Wiedersehen.


Und jetzt, wie versprochen, der Rest der Handlung mit der Entlarvung des Raben:


Germain will von Laura zu Denise zurück, um sie neuerlich zu befragen. Doch als er sich von Laura verabschiedet, entdeckt er frische Tinte an ihren Fingern. Sofort ist sein Misstrauen geweckt, und er durchsucht ihren Schreibtisch. Dort findet er ein Löschblatt, auf dem sich der Text des letzten Briefs des Raben abzeichnet. Durch seine lautstarken Vorhaltungen wird Dr. Vorzet herbeigelockt. Germain zeigt ihm das Löschblatt, und Vorzet gesteht, dass er schon letzte Nacht entdeckt habe, dass Laura der Rabe sei, aber er habe es nicht übers Herz gebracht, seine Frau zu verraten. Er bittet Germain nun, das Beweisstück der Polizei zu übergeben. Doch Germain zögert. Vorzets nächtliche Privatvorlesung über Gut und Böse hat seine Ansichten etwas ins Wanken gebracht. Er schlägt Vorzet vor, Laura psychiatrisch zu behandeln, statt sie der Justiz auszuliefern. Vorzet ist einverstanden, und weil er nicht seine eigene Frau einweisen darf, unterschreibt Germain das entsprechende Formular. Währenddessen erhält Vorzet einen Anruf: Denise ist abermals ohnmächtig geworden und dabei die Treppe hinabgestürzt. Laura, die an der Tür gelauscht hat, kommt jetzt herein und bestürmt Germain, ihrem Mann nicht zu glauben. Sie gibt nur zu, dass sie den ersten Brief des Raben geschrieben hat, um damit Germain an sich zu binden. Doch dann sei ihr Vorzet auf die Schliche gekommen, und alle anderen Briefe habe er ihr zwangsweise diktiert. Aber Germain glaubt ihr nun kein Wort mehr und eilt zurück zu Denise. Wenig später wird die kreischende Laura von zwei Sanitätern in einen Ambulanzwagen verfrachtet und mitgenommen.

Der tote Dr. Vorzet (vor ihm das aufgeklappte Rasiermesser) ...
Denise geht es mittlerweile schon wieder besser, aber Germain entdeckt, dass er sich Sorgen sowohl um Denise als auch um das ungeborene Kind gemacht hat. Denise gesteht, dass sie sich selbst die Treppe hinabgestürzt hat. Germain hat nun seine Vergangenheit hinter sich gelassen und ist zu einem gemeinsamen Leben mit Denise - samt Kind - bereit. Wie um das zu unterstreichen, öffnet er das Fenster, so dass der Lärm der auf dem Schulhof spielenden Kinder hereindringt. Bei seinem ersten Krankenbesuch bei Denise hat er eben dieses Fenster geschlossen, weil ihn der Lärm der Kinder nervte, wie er ganz offen zugab. Natürlich erzählt er Denise dann, was sich im Hause Vorzet zutrug. Doch Denise hält seine Überzeugung, dass Laura der Rabe sei, für Unsinn. Sie überzeugt ihn, dass die Todesangst bei ihrem Anruf keineswegs gespielt, sondern echt gewesen sei. Germain gerät nun ins Grübeln. Wenn Laura doch nicht der Rabe ist, dann kommt nur noch einer in Frage ...

... und seine Mörderin
Germain eilt also nochmals zur Wohnung Vorzet. Als er Dr. Vorzet zur Rede stellen will, findet er ihn tot vor - vornübergebeugt auf dem Schreibtisch in einer Blutlache liegend, vor sich einen letzten Brief des Raben, fast vollendet, daneben das Rasiermesser, das schon François den Tod gebracht hatte. Es war also tatsächlich Vorzet der Rabe. Während Germain Vorzet findet, schleicht die schwarz verhüllte Gestalt von François' Mutter aus dem Haus. Germain sieht aus dem Fenster und erblickt die Frau, die sich noch einmal kurz umdreht. Dann geht sie langsam die Straße hinab.

- FIN


LE CORBEAU ist (unter seinem deutschen Titel) ohne erwähnenswerte Extras bei Arthaus auf DVD erschienen. Empfehlen kann ich die US-Ausgabe von Criterion, die vorzügliches Bonusmaterial mitbringt. Mindestens eine englische und diverse französische Ausgaben gibt es ebenfalls.