Sonntag, 3. Mai 2015

Moskauer Straßen, kaukasischer Mais und immer wieder Krieg: das 15. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films



Freitag, 24. April 2015

16.00 Uhr, Caligari FilmBühne
GOLI (NAKED ISLAND)
Regie: Tiha K. Gucac
Kroatien 2014
75 Min., DCP

Die kroatische Insel Goli Otok (wörtlich: „nackte Insel“) wurde von 1949 bis 1989 als Strafgefangenenlager genutzt. In den Anfangsjahren diente sie vor allem als Internierungsort für Stalinanhänger und Sowjetunion-nahe Mitglieder der Kommunistischen Partei, die nach dem Bruch Jugoslawiens mit der UdSSR 1948 massiv verfolgt wurden. Tiha Gucacs Großvater gehörte zu den knapp über 16.000 Menschen, die auf Goli Otok interniert wurden. In GOLI arbeitet die kroatische Filmemacherin das Schicksal ihres Opas auf, sucht mehrere Menschen auf, die sie als kleines Kind „Onkel“ oder „Tante“ nannte (Mitgefangene ihres Großvaters) und begibt sich schließlich auf Spurensuche auf die Insel.
Als persönliches Projekt mag GOLI sicherlich seine Berechtigung haben. Als Dokumentarfilm finde ich ihn eher mäßig gelungen. Das Nachvertonen von Archivfilmen und -fotografien bei historischen Dokumentationen ist mir nach wie vor unsympathisch, zumal in einer solchen Penetranz. Nach etwa der Hälfte des Films verliert Gucac auch vollkommen ihren Fokus: intimes Portrait des Großvaters, persönliches Familienalbum, Erforschung der „stalinistischen“ Frühphase Jugoslawiens, Denkmal für die ehemaligen Gefangenen von Goli Otok, Rundumschlag über politische Repression im sozialistischen Jugoslawien, öffentlich ausgetragene Fehde mit Mutter und Vater – irgendwie will der Film all das zugleich sein, und so gelingt ihm auch keines davon.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
ČOVEK I ZVER (MAN AND BEAST)
Regie: Edwin Zbonek
Jugoslawien / Bundesrepublik Deutschland 1963
90 Min., 35mm


© Fotoarchiv des Deutschen Filminstituts – DIF
ČOVEK I ZVER war Teil der selektiven Artur-Brauner-Retrospektive, die das diesjährige Symposium des goEast-Festivals mit dem Untertitel „Der Produzent als Grenzgänger und Brückenbauer“ präsentierte. Im Mittelpunkt standen west-östliche, thematisch und und von den Bedingungen der Produktion her grenzüberschreitende Filme Brauners.
Gemäß den Ausführungen Olaf Möllers, Kurator der Brauner-Retrospektive, wurde im Deutschland der 1960er Jahre kaum ein Film mit so viel Hass, Zorn und Missmut empfangen wie die jugoslawisch-deutsche Produktion ČOVEK I ZVER. Mit heutigen Augen hingegen kann man ein kleines Filmmeisterwerk begutachten, ein wunderbarer Grenzgang zwischen dem klassischen Erzählkino und den Erneuerungswellen der frühen 1960er Jahre. Das Lexikon des internationalen Films erwähnt „dramaturgische Schwächen“ und „Kolportage“ (der kann also nur toll sein!).
Erzählt wird die Geschichte der mühsamen Flucht eines Häftlings aus einem Konzentrationslager. Franz (Götz George) flieht aus dem Lager, in dem sein Bruder Willy als Wachmann arbeitet. So wird die Flucht nicht nur zu einem Weg in die Freiheit, sondern auch zu einer tragischen Familienauseinandersetzung biblischen Ausmaßes.
Die Projektion des Films war – gelinde ausgedrückt – eine Katastrophe. Das Bild, dessen Format wohl offenbar irgendwo bei 1.66:1 liegen sollte, war viel zu eng maskiert. Die Maskierungen waren schlecht eingestellt, so dass an den Seiten des Bildes relativ breite Schattenstreifen zu sehen waren. Gezeigt wurde offenbar ein originaler jugoslawischer Cut des Films auf Serbokroatisch, und die englischen Untertitel wurden digital projiziert – meistens aber nicht. Optimistisch geschätzt wurden vielleicht gerade mal ein Drittel der Dialoge halbwegs adäquat untertitelt, und das bei einem Film, der, wenn er mal Dialoge hat, dann auch richtig loslegt.
Und was kann man sagen: der Film war trotzdem magisch. Die eindringlichen Bilder wirkten dennoch wuchtig, beeindruckend, furchteinflössend, umwerfend. Die teils sehr schnelle Montage brachte dennoch genau das richtige Maß an Überwältigung, die dem Thema angemessen erscheint. Wenngleich das Gesagte oft keinen Sinn ergeben konnte und keine Zusammenhänge schuf, so hielten die Bilder das ganze zusammen. Dieser schreckliche Moment, wenn Franz und ein anderer Gefangener gezwungen werden, einen an ein Kreuz gebundenen nackten Co-Häftling zu Tode auszupeitschen. Franz‘ Versteck in der wassergefluteten Höhle, mit dichtem weißen Nebel, das über das Wasser zieht. Und eine der vielleicht ungewöhnlichsten Verfolgungsjagden, die je in einem Film zu sehen war: ein Mann fährt bei hohem Schnee wackelig mit einem Fahrrad davon und ein Schäferhund rennt ihm nach. Die unvermeidliche Begegnung mündet in einen Kampf: der Mann kann den Hund würgen, auf den Boden niederringen. Der Hund versteht dies als Unterwerfungsgeste, und anerkannt infolgedessen Franz als seinen neuen Meister. Ein magischer Filmmoment.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
BRICHA EL HASHEMESH (ESCAPE TO THE SUN)
Regie: Menahem Golan
Israel / Frankreich / Bundesrepublik Deutschland 1972
ca. 115 Min., 35mm

„Wer denkt, dass Artur Brauner keine trashig-sleazige Seite hatte, wird hiermit eines besseren belehrt.“ - meinte sinngemäß Olaf Möller in einem inoffiziellen Statement vor den Türen des Murnau-Filmtheaters nach der Aufführung dieses zutiefst bizarren Films. Ja, man lasse sich das mal auf der Zunge zergehen: Menahem Golan, der spätere Boss der Cannon Group, inszeniert einen Film über das Schicksal sowjetischer Juden, denen zu Beginn der 1970er Jahre die Ausreise aus der Sowjetunion verweigert wird.

© Fotoarchiv des Deutschen Filminstituts – DIF
Filmstill ist schwarzweiß, der Film selbst aber in Farbe
Herausgekommen ist ein echtes Kuriosum. Der Film soll ein ernsthaftes oder besser gesagt ein ernsthaft gemeintes Statement über Antisemitismus in der Sowjetunion sein. Dabei ist er jedoch nicht angemessen nüchtern, sondern völlig melodramatisch inszeniert, voller übergroßer Gefühle und überdrehtem Kitsch – als hätte sich Golan mit einer Douglas-Sirk-Retro auf den Dreh vorbereitet. Golan ist aber nicht Sirk, und zwischendurch ist BRICHA EL HASHEMESH ein echt banales Stück Film, der energielos Expositionsschnipsel vor sich hinjagt – nur um dann wenig später kleine Manierismen bis zum Anschlag aufzudrehen. Als der Held der Geschichte, Yasha Bazarov, mit einer Schusswunde in der Schulter delirierend in einer Scheune liegt, beginnt die Kamera pumpend in eine Öllampe an der Decke rein- und rauszuzoomen – ganz so, als hätten wir kurzzeitig in einen italienischen Giallo reingezappt. Oder als Sarah Kaplan (Lila Kedrova) den Bescheid über die Ablehnung ihres Ausreiseantrags erhält, da geht sie in eine schummerige Kneipe. Eigentlich will sie nicht trinken, doch der lokale Säufer vom Dienst flirtet sie an und überredet sie dazu, einen zu heben und ihre Seele auszuweinen. Ein paar Jahre zuvor deklamierte Kedrova einige antikommunistische Gemeinplätze in einer ähnlichen Situation in TORN CURTAIN und das war‘s, doch hier geht es anders aus: es wird weiter gesoffen, und weiter gesoffen, und irgendwann wird das Mobiliar zertrümmert, Zucker aus unerfindlichen Gründen systematisch auf der Tischdecke verstreut und nostalgische jiddische Liebeslieder gesungen.
Aber um noch mal von vorne anzufangen... ähm... ob das hilfreich ist? Der Film beginnt mit einem fingierten Prozess, der, wenn die Angeklagten keine Juden wären, glatt aus dem feuchten Schritt eines McCarthyisten entspringen könnte (so strunzegemein ist diese sowjetische Richterin mit ihrer blau getönten Sonnenbrille, die aus dem in der UdSSR natürlich nichtexitenten Hippieladen um die Ecke zu kommen scheint)! Die Angeklagten werden von den Kommunisten jedenfalls durch die Bank zum Tode verurteilt (von der Frau abgesehen), und der Schriftsteller zum Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie, was ihn zu einer schwülstigen Rede über Gedankenfreiheit inspiriert. Schnitt: in Zeitlupe fährt ein verliebtes Pärchen während der Credits in einer Kutsche durch eine romantische verschneite Landschaft und tollt dann ein wenig im Schnee herum (wirklich komplett von A bis Z in Zeitlupe!). Und dann folgt die nächste Szene: Yasha Bazarov ist beim Handball der tollste Spieler, doch seine Mannschaftskollegen mögen ihn nicht, weil er Jude ist. Das sieht man an dem Goldkettchen, das er auch in der Gemeinschaftsdusche der Sporthalle auf seiner wuchernden Brustbehaarung trägt, während er sich nach dem Spiel genüsslich einseift. Es gibt dann eine kleine Prügelei, in Zuge derer Seifenschaumteile auch mal den Körper wechseln.
Metaphorisch gesagt, schafft der Film die Gradwanderung zwischen ernsthaftem Anliegen und irrsinnigem Melodrama nicht: er stolpert, und fällt... aber er prallt nicht auf den Boden, sondern fängt an zu schweben und fliegt dann einfach weg, um etwas anderes zu werden.
Am vielleicht beeindruckendsten ist die Figur des Major Kirsanov (Laurence Harvey), der die Familie Bazarov und deren Freunde verfolgt, schikaniert, bedrängt, unter Beobachtung stellt. Major Kirsanov (a. k. a. „Major Hartschnurrbart“, wie ich ihn seit der Sichtung des Films gerne nenne) ist gewissermaßen die Heisenbergsche Unschärferelation des Films. Er ist die fleischgewordene politische Repression der UdSSR – aber ist kein Antisemit! Er ist der persönliche Dämon des Films und der Bazarovs – und verbrachte dennoch seine Kindheit als armer kleiner Waisenjunge! Er ist die Verkörperung des bürokratischen Glaubens an das Sowjetsystem – aber im Grunde drangsaliert er die Bazarovs nur, weil er gerne mal Yashas Verlobte Nina zum Beischlaf zwingen würde. Er ist die absolute Negativfigur des Films – doch wie soll man jemanden hassen, der aussieht, als hätte ein Elvis-Imitator mit Schnurrbart aus Tollpatschigkeit sein weißes Las-Vegas-Kostüm mit einer KGB-Uniform verwechselt? Irgendwie scheint sich Golan auch ein bisschen in Major Hartschnurrbart verliebt zu haben (die logischste Alternative wäre Nina Kaplan, gespielt von Josephine Chaplin, doch diese bewarb sich wohl mit diesem Film für den Negativpreis der ausdruckslosesten Schauspielerin ever). Und irgendwie scheint es auch logisch und folgerichtig, dass ihm, Major Hartschnurrbart, das Freezeframe gehört, mit dem der Film aufhört.
Auch wenn das nach diesen vielen Ausführungen nicht verwunderlich klingt: BRICHA EL HASHEMESH lässt mich einfach nicht los, und je mehr ich über diesen Film nachdenke, umso mehr mag ich ihn.


22.30 Uhr, Caligari FilmBühne
CRNCI (THE BLACKS)
Regie: Goran Dević, Zvonimir Jurić
Kroatien 2009
75 Min., 35mm

Stell dir vor, einige Männer in lächerlichen Kostümen rennen durch einen Wald, spielen Krieg und der ganzen Welt ist es egal...
Die ersten zwanzig Minuten von CRNCI sagen vielleicht mehr über die Absurdität von Krieg als die meisten (vermeintlich) großen Meisterwerke des Antikriegsfilms. Während der jugoslawischen Zerfallskriege begeben sich ein paar kroatische Soldaten auf eine Mission, um einige Kollegen aus serbischer Gefangenschaft zu retten. Sie haben keine Ahnung, wo sie sind. Sie wissen nicht, welcher Spur sie folgen sollen. Der älteste Soldat und Chef des Trupps behauptet unermüdlich zu wissen, wo sie sich befinden. Die anderen wissen, dass das nicht stimmt. Sie rennen weiter. Der jüngste Soldat muss sich hinter einem Gebüsch erleichtern, und als alle nach zwei weiteren Stunden Marsch seinen Haufen entdecken, ist es kaum noch zu verbergen, dass sie herumirren. Feinde gibt es bestimmt auch irgendwo im Wald, bloß wo? Das ganze endet jedenfalls in einem fürchterlichen Blutbad: die Soldaten bringen sich gegenseitig bzw. sich selbst um.
Nach diesem Prolog folgt die große Rückblende, die erklärt, warum das eben gesehene passiert ist. Was ich davon halten soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht: verwirft der Film nicht seine eigene Prämisse, wenn er alles doch irgendwie „erklärt“? Und hätte ich nicht lieber einen Film gesehen, in dem ein paar Männer 70 Minuten lang durch einen Wald rennen? Beide Fragen würde ich mit Ja beantworten. 
Allerdings kämpfte ich nach etwa einer halben Stunde Laufzeit mit großer Müdigkeit und nickte immer wieder ein: jeweils nur ganz kurz, aber trotzdem konnte ich irgendwann die gesehenen Bilder nicht mehr sinnvoll zusammenfügen – also auf einer rein kognitiven Ebene. Ich schaute den Film, sah ihn aber nicht.


Samstag, 25. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
ANGELY REVOLJUCII (ANGELS OF REVOLUTION)
Regie: Aleksej Fedorčenko
Russland 2014
113 Min, Screener
© goEast
Aleksej Fedorčenko ist gewissermaßen ein alter Bekannter des goEast (siehe hier). Zusammen mit seinem Drehbuchautor Denis Osokin befasst er sich nun schon seit einigen Filmen immer wieder mit kleinen ethnischen Minderheiten in Russland. Nun auch in ANGELY REVOLJUCII.
Den Inhalt zusammenzufassen ist gar nicht so einfach, aber in Grundzügen zu schaffen: Polina Schneider, eine Beamte des Bildungsministeriums (?), wird zusammen mit anderen Sowjetaktivisten (die vielleicht ihre früheren Liebhaber sind?) in die Provinz geschickt, um den indigenen Völker der Chanty und der Nency die sowjetische Lebensweise näher zu bringen. Das klappt teils mehr (die Ausstellung suprematistischer Avantgardebilder kommt erstaunlich gut an), teils weniger (die Kampagne gegen religiöse Katzenverehrung stößt auf massives Unverständnis). Schlussendlich werden die sowjetischen Bildungsaktivisten ermordet, und es folgt eine brutale sowjetische Terrorkampagne, bei der unter anderem Älteste öffentlich verstümmelt werden...
ANGELY REVOLJUCII zeichnet den Übergang von der „liberalen“ sowjetischen Nationalitätenpolitik in den 1920er Jahren hin zur terroristischen Nationalitätenpolitik der 1930er Jahren nach. „Liberal“ war immer in Anführungszeichen zu verstehen, denn die Verbreitung des muttersprachlichen Unterrichts, die Förderung traditioneller Kultur und die ethnischen Quotenregelungen für Staats- und Parteiposten auf lokaler oder regionaler Ebene hatten von Beginn an ihre Schattenseiten. Die UdSSR führte zugleich einen Zwang zu eindeutiger nationaler Identität ein, kleine Minderheitengruppen wurden exotisiert, der sowjetische Vielvölkerstaat war stets ein recht eindeutig russisch-zentriertes „Zivilisierungsprojekt“.
Die recht differenzierte Darstellung sowjetischer Minderheitenpolitik, das Portrait indigener Völker in der frühen Sowjetunion, die Gestaltung der Dramaturgie nach der (Nicht-)Logik des magischen Realismus, die Unterbringung vieler, vieler, vieler, vieler kleiner Ideen: all dies gelingt Fedorčenko und Osokin mit Ach und Krach. ANGELY REVOLJUCII ist kein schlechter Film, und wirklich Langeweile kann eh nicht aufkommen, aber er ist manchmal hoffnungslos überladen, verzettelt sich in Mini-Vignetten variierender Qualität. Sein Zugang zur frühen Sowjetzeit als historisches Ereignis ist nicht uninteressant, zumal die zerschossene Form des Films vielleicht mehr über das gewalttätige Chaos der Zeit sagen kann, als eine „realistische“ Herangehensweise. Dennoch bleibt neben der Hoffnung auf weitere spannende Filme Fedorčenkos und Osokins auch ein leichtes Gefühl der Frustration oder Enttäuschung zurück.


12.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
[DIGITAL RESTAURIERTE FILME DER MANAKI-BRÜDER]
Regie: Janaki Manaki, Milton Manaki
[Mazedonien] 1905-1923
ca. 70 Min. (gesehen: 35), Screener

Janaki und Milton Manaki gelten als die ersten bedeutenden Filmemacher des Balkans, als Filmpioniere Südosteuropas. Ganz und gar nicht pionierhaft ist der Screener, der die Kinovorführung ohne meine Anwesenheit ersetzen musste. Möglicherweise war die Kontextualisierung bei der Aufführung besser oder anders, aber so präsentierte sich das ganze als lose Ansammlung von Filmschnippseln ohne jegliche Kontextualisierung. Filmtitel und Zwischentitel hatten das gleiche Schriftbild, was die Sichtung nicht eben einfacher machte. Die Bilder selbst: in dieser Form ethnografisch interessanter als filmografisch. Die Manaki-Brüder filmten Alltagsszenen in mazedonischen Dörfern (Markt, Schlachtbetrieb, Hochzeitsfeier), und offenbar ganz viele osmanische Militärparaden. Ratlos und enttäuscht unterbrach ich irgendwann die Sichtung und ging in die Mittagspause vor dem längsten Film des Festivals.


14.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
MNE DVADCAT‘ LET (I AM TWENTY)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1965
175 Min., 35mm

© goEast
Der in Tiflis geborene Regisseur Marlen Chuciev gehört zu den Gallionsfiguren des sowjetischen Tauwetters im Kino – gleichwohl er namentlich unbekannter ist als etwa Tarkovskij oder Kalatazov. Seinen Magnum Opus MNE DVADCAT‘ LET bezeichnete Olaf Möller gar als „Zentralmassiv des Tauwetter-Kinos“.
Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es von diesem Film drei Versionen. Die erste, von 1962, hieß noch ZASTAVA IL‘IČA und kam niemals in die Kinos, weil Nikita Chruščev den Film sah, nicht mochte und sogleich verbot. Unter strengen Auflagen erhielt Chuciev die Erlaubnis, denselben Film noch einmal zu drehen: heraus kam MNE DVADCAT‘ LET in der Fassung von 1965, die im Murnau-Filmtheater lief und unter Experten als die beste gilt. Ende der 1980er Jahre schnitt Chuciev eine neue Fassung zusammen, möglicherweise aus den beiden existierenden?
Im (vagen) Zentrum von MNE DVADCAT‘ LET steht Sergej, der vom Militärdienst in seine Heimatstadt Moskau zurückkehrt und dort sein neues Leben als Erwachsener in die Gänge leitet. Er verliebt sich in eine Passantin, deren Liebe er tatsächlich erobern kann, besucht Parties, sorgt sich mit Mutter und Schwester um den Unterhalt der Wohnung, stellt sich die großen Fragen des Lebens und begegnet schließlich in einer Vision seinem im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater.
Trotz der Laufzeit ist MNE DVADCAT‘ LET ein „kleiner“ Film der „großen“ kleinen Momente. Weniger ein dramaturgisches Konzept als eine lockere Aneinanderreihung kleiner Vignetten bietet Chuciev in seinem monumentalen Film. Mehr als das große Ganze brennen sich eher mehr oder weniger kurze Passagen in die Netzhaut. Eine Bande von Kumpels, die sich nach einer durchfeierten Nacht im Innenhof eines Wohnkomplexes trifft, und einer bringt einen Topf mit Fleischnudeln mit, aus dem direkt gelöffelt wird. Die Eröffnung mit der komplexen Plansequenz, in der die Kamera durch eine Straße streift und nach dem Protagonisten sucht. Überhaupt Chucievs Vorliebe für fast menschenleere Moskauer Straßen.
Der Höhepunkt des Films ist sicherlich die „große Verfolgungsjagd“: Sergej geht mit dem Nachbarsjungen ins öffentliche Bad. Im Bus verliebt er sich spontan in eine Co-Passagierin, die ganz in ihre Buchlektüre vertieft ist. Er will unter allen Umständen die junge Frau im Blick behalten, auch wenn der Bus ganz schön voll ist und andere Passagiere ihn teils zur Seite schieben. Als sie aussteigt, folgt er ihr weiter, über einen Büchermarkt, über einen Imbiss und bis hin zu ihrer Haustür. Sie hat irgendwie geahnt, dass sie verfolgt wurde, und als sie Sergej schließlich erblickt,  „verabschiedet“ er sich mit einem Winken.
Nicht weniger schön ist die Sequenz der Maiparade, bei der Sergej die Frau wieder trifft. Sie ist dort mit ihren Freunden unterwegs, die nach ihr rufen („Anja“) als sie kurz zurückbleibt, um mit Sergej zu reden (so erfährt er ihren Namen). Er selbst spannt dann seine Kumpels ein, um ebengesagte Freunde der Frau loszuwerden: geschickt drängen sie sie in Situationen, in denen sie gezwungen werden, eines der vielen großen 1.-Mai-Banner zu tragen. Sergej flieht mit Anja aus der Maiparade, geht zu ihr nach Hause. Auf dem Treppenabsatz wehrt sie einen Kuss ab, doch sie erlaubt ihm, ihn anzurufen. Ein Bild für die Ewigkeit: Anja steigt die Treppe hoch, und am Ende eines jedes Stockwerks schaut sie herunter und teilt Sergej ein weiteres Stück ihrer Telefonnummer mit.
Nun... so sehr viele dieser Momente auch geglückt sind (die Begegnung mit dem Vater in der Vision ist ebenfalls sehr berührend), so sehr scheint mir MNE DVADCAT‘ LET als epische Erzählung unausgegoren. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich zwischendurch mit der typischen Festivalmüdigkeit zu kämpfen hatte. Vielleicht würden weitere Sichtungen andere Erkenntnisse bringen (wie sie mir bei einem anderen „monumentalen“ Hauptstadtfilm, LA DOLCE VITA, schlussendlich brachten).


18.00 Uhr, Caligari FilmBühne
KEBAB I HOROSKOP (KEBAB AND HOROSCOPE)
Regie: Grzegorz Jaroszuk
Polen 2014
72 Min., DCP

Ein Horoskopschreiber und ein Mitarbeiter in einer Dönerbude, die beide eben arbeitslos geworden sind, treffen sich zufällig. Spontan stellen sie ein gemeinsames Projekt auf die Beine: zusammen geben sie sich als Marketing-Spezialisten und möchten einen fast bankrotten Teppichladen und seinen Mitarbeitern mit klugen Tips über Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung wieder auf die Beine helfen...
KEBAB I HOROSKOP ist ein recht sympathischer Film. Zu viel mehr reicht es allerdings nicht. Die minimalistische aber großartige Eingangssequenz, in der sich die beiden Protagonisten in einer Dönerbude begegnen und kennenlernen, setzt allzu hohe Versprechen. Die Grundidee (zwei „Loser“ erklären einer Gruppe von „Losern“, wie sie ihr Geschäft verbessern können, und alle lernen sich dabei besser kennen) läuft recht schnell ins Leere. Mehrere Subplots, etwa über einen japanischen Selbstmörder, der bei der Kassiererin des Ladens untergebracht ist oder über die manisch-depressive Mutter der Verkaufsberaterin laufen gegen die Wand: zu kurz, um wirklich interessant und greifbar zu werden, zu lang als einfache „Nebensätze“. Da die Grundidee rasch ausgelutscht ist, gerät der Film auch in eine gewisse Vorhersehbarkeit und arbeitet sich zunehmend verkrampft am Plot ab.
Je mehr ich über den Film nachdenke, umso belangloser scheint er mir.


20.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
SIMINDIS KUNDZULI (CORN ISLAND)
Regie: George Ovashvili
Georgien / Deutschland / Frankreich / Tschechische Republik / Kazachstan / Ungarn 2014
100 Min., DCP

© goEast
In einem Fluss, der Georgien von Abchasien trennt, werden in jedem Frühjahr kleine Inseln aufgeschwemmt, die bis in den Herbst, wenn sie wieder weggeschwemmt werden, fruchtbare Mini-Kornkammern bilden. Auf eben einer solchen Insel baut ein alter abchasischer Bauer mit Hilfe seiner Enkelin eine Hütte und legt ein Maisfeld an. Um die beiden herum bekämpfen sich währenddessen georgische und abchasische Soldaten...
Der größte Skandal des diesjährigen goEast-Festivals ist wohl, dass diese kleine Filmperle aus Georgien nicht im Wettbewerb lief, sondern in der „Beyond Belonging“-Sektion „Filmen gegen Krieg: von Trauma und Aussöhnung“. SIMINDIS KUNDZULI ist eine Urgewalt von einem Film. Eine extrem einfache Erzählung, inszeniert in traumhaft schönen Cinemascope-Bildern, die vom Klang der Wellen, des Windes in der Mais-Plantage und ab und zu der Gewehrschüsse rhythmisiert werden. Der Film ist über weite Strecken fast komplett dialogfrei (ohne die Uhr gestoppt zu haben: die erste Dialogzeile erklingt wohl nicht vor der 30-Minuten-Marke), sondern vertraut vollkommen seinen Bildern. Klar, Filme mit extrem wenigen Dialogen können mich immer leicht beeindrucken. Aber der Zauber von SIMINDIS KUNDZULI reicht weiter. Es ist auch eine universelle und wahrhaft große humanistische Geschichte. Dabei vollkommen unsentimental. Der alte Mann rettet einen verletzten georgischen Soldaten – nicht, weil es im Drehbuch so nett aussieht, sondern weil es in seinem Weltbild keine Alternative geben kann: er ist ein Gast, und der Gast wird eben versorgt. Reden tut er mit ihm dennoch nicht: sie könnten sich rein sprachlich eh nicht verstehen. Nur zornig wird der alte Mann, als der georgische Soldat und seine Enkelin sich anzuflirten beginnen. Wenn der Georgier dem alten Abchasier bei den Arbeiten hilft, dabei einige Pflöcke mit einer Axt zuspitzt und währenddessen die Teenagerin anguckt, dann ist klar, was Sache ist (überhaupt ist SIMINDIS KUNDZULI immer wieder unumwunden erotisch, wenn nicht gar ganz offen sexuell). 
Als Beitrag über Krieg ist dieser Film eigentlich mitnichten zu „gebrauchen“, denn das georgisch-abchasische Setting mit der angeschwemmten Insel gibt nur eine Grundsituation vor, die fast einer Laboranordnung gleicht, aber eben glaubwürdig unterfüttert ist.
Nun, wenngleich dieser ziemlich großartige Film nicht im Wettbewerb war, so gibt es dennoch eine kleine Gerechtigkeit auf dieser Welt: er läuft ab 28. Mai auch in Deutschland regulär im Kino.


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
POD ELEKTRIČESKIMI OBLAKAMI (UNDER ELECTRIC CLOUDS)
Regie: Aleksej German Jr.
Russland / Ukraine / Polen 2015
138 Min., DCP

Im Moskau der Zukunft wird ein Hochhaus nicht fertig gebaut, steht trist wie ein Klotz in der Gegend und viele Leute tummeln sich dann drum herum und deklamieren pompöse Dialogzeilen.
Zweifelsohne der Tiefpunkt des Festivals. Hohe Erwartungen, weil er ja auf der Berlinale gut lief. Im Ergebnis die Karikatur prätentiösen Kunstkinos. „Es ist hart, ein Gott zu sein“ hieß der letzte Film Aleksej Germans Sr.. Ich kann nur sagen: es ist hart, Sohnemanns Film zu dieser fortgeschrittenen Stunde zu gucken und dabei wach zu bleiben. Mir ist es gelungen. Knapp. Die Mühe war es nicht wert.


Sonntag, 26. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
DE CE EU? (WHY ME?)
Regie: Tudor Giurgiu
Rumänien / Bulgarien / Ungarn 2015
132 Min., Screener

Ein eifriger Staatsanwalt ermittelt in einem Fall von Korruption gegen einen Kollegen. Dabei entdeckt er, dass hinter der Sache viel mehr steckt, als er ursprünglich dachte...
„Sidney Lumet für sehr arme Leute“ mag ein hartes Urteil sein, aber tatsächlich hat mich dieser rumänische Beitrag arg enttäuscht (nicht nur, weil Rumänien seit meinem letzten goEast für mich ein Filmland voller großer Versprechen ist). Der Hauptdarsteller Emilian Oprea war nach meinem Geschmack zu blass. Der Film schleppte sich mühsam und sehr drehbuchraschelnd durch seine Intrigen und Wendungen. Manche Charaktere (etwa die Verlobte des Protagonisten) scheinen nur da zu sein, weil es im Drehbuch steht. Vor allen Dingen aber scheitert DE CE EU? daran, dass die extreme Bedrängnis der Hauptfigur im Kampf gegen die Korruption zu keinem Zeitpunkt wirklich spürbar ist (genau das war die große Stärke von Altmeister Lumet in SERPICO, PRINCE OF THE CITY und NIGHT FALLS ON MANHATTAN), sondern stets nur eine reine Behauptung bleibt. Aus dem Nichts wird die Figur paranoid (weil es so im Drehbuch steht). Aus dem Nichts springt sie am Ende in den Freitod.


13.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
IJUL‘SKIJ DOŽD‘ (JULY RAIN)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1966
108 Min., 35mm

© goEast
Wenn man IJUL‘SKIJ DOŽD‘ im Sinne des klassischen Erzählkinos zusammenfassen möchte, dann geht es um eine glückliche und harmonische Beziehung, die durch zunehmende Entfremdung nach und nach in die Brüche geht. Doch Chuciev „erzählt“ das nicht straight, sondern gönnt sich und seinen Figuren zahllose Umwege. Und tatsächlich sind diese Umwege wesentlich spannender als die „eigentliche“ Geschichte. Und zugespitzt: die „toten“ Momente des Films waren faszinierender als die „lebendigen“.
Drei dokumentarisch gefilmte, gewissermaßen „abstrakte“ Momente strukturieren IJUL‘SKIJ DOŽD‘. Zu Beginn gibt es eine sehr lange Plansequenz durch einen Moskauer Bürgersteig, die zwischendurch von Motiven aus der Renaissance-Malerei unterbrochen wird (die Hauptfigur, Lena, arbeitet in einem Verlag für Kunstbücher) und von einem Radio begleitet wird, dessen Sender immer wieder abrupt umgeschaltet werden.
Etwa in der Mitte des Films gibt es eine Passage mit einer Straßenmontage, bei der Kamera sich durch den Moskauer Straßenverkehr bewegt. Irgendwann taucht dann mit einer gewissen Regelmäßigkeit dasselbe Motiv auf: ein Transportwagen mit zwei aufgeladenen Pferden. Die „suchende“ Kamera „entscheidet“ sich schließlich für dieses Motiv und bleibt dann dran hängen. Dieser Moment ist vielleicht eine schöne Zusammenfassung von dem, was Chuciev-Filme charakterisiert: sie scheinen oftmals das Ergebnis zufälliger „Entscheidungen“ der Kamera zu sein. Wichtig scheint es zunächst immer zu sein, die vielen Möglichkeiten aufzuzeigen, um nach der Entscheidung zu wissen, dass es auch andere Auswahloptionen gegeben hätte. Es ist eine sehr offene Herangehensweise ans Kino und eine radikale Absage an das Konzept der Schicksalshaftigkeit: es muss nicht kommen, wie es kommt.
Chucievs „Kino der extremen Zwanglosigkeit“, wie ich es nennen würde, leitet ebenso MNE DVADCAT‘ LET ein, wenn die Kamera eine Moskauer Straße erforscht und es mehrmals so scheint, als würden wir den Protagonisten im Visier haben (und dem dann doch nicht so ist).
IJUL‘SKIJ DOŽD‘ schließt dann ebenso offen ab. Der Film endet mit einer Montage aus vielen Gesichtern von der Straße: Lenas Geschichte ist nicht abgeschlossen, aber wir könnten uns nun trotzdem theoretisch einer anderen Geschichte widmen. Wessen Geschichte?
Ehrlich gesagt macht es mir im Nachhinein mehr Spaß, über IJUL‘SKIJ DOŽD‘ nachzudenken, als ihn wirklich zu schauen. Gerade die eigentlichen Handlungsmomente mit ihren vielen langen und meiner Meinung nach fürchterlich trivialen Dialoge haben mich bisweilen etwas angeödet. Mein Fazit aus diesem Film ist aber klar: es ist jammerschade, dass im Rahmen der Hommage an Chuciev keiner seiner Dokumentarfilme gezeigt wurden!


16.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
DESTINACIJA_SERBISTAN / LOGBOOK_SERBISTAN
Regie: Želimir Žilnik
Serbien 2015
94 Min., DCP

Želimir Žilnik, einer der Vertreter der jugoslawischen Neuen Welle (hier nun erneut ein Verweis auf meine alte goEast-Besprechung, in der Žilnik allerdings nicht gut weggekommen ist), nimmt in seinem Dokumentarfilm LOGBOOK_SERBISTAN einen ungewöhnlichen Aspekt Serbiens in den Blick: nämlich seine Eigenschaft als Aufnahme- und Transitland für Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten.
Im Laufe seines Films erzählt Žilnik vom Leben vieler Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen und Zielen. Ein Syrer etwa hat sich spontan dazu entschieden, in Serbien zu bleiben, Serbisch zu lernen und in einer Gemeinschaftsunterkunft als Dolmetscher für arabischsprachige Flüchtlinge zu arbeiten. Zwei afrikanische Flüchtlinge, die aus verschiedenen englischsprachigen Ländern kommen (der eine aus Ghana, glaube ich), gehen den Weg in Richtung Westeuropa gemeinsam. Ein (ostafrikanisches?) Ehepaar mit Kleinkind möchte ursprünglich die Grenze nach Ungarn überschreiten, doch die Eheleute entscheiden sich nach dem Rat eines Fluchthelfers anders: sie kaufen ein brachliegendes, kriegszerstörtes Haus für ein Appel und ein Ei und richten sich vorläufig als Kleinbauern ein, während der Mann als Erntehelfer anheuern geht.
Žilnik legt implizit sehr viel Wert auf das Moment der Begegnung zwischen einheimischen Serben und Flüchtlingen und offenbart dabei viel gegenseitige Neugier und Offenheit. In geballten anderthalb Stunden wirft das natürlich auch Fragen auf. Kommt dieser relativ offene Umgang der Serben mit Flüchtlingen daher, dass eine Kamera dabei ist? Oder dass Žilnik sein verfügbares Material so zusammengesucht hat? Oder weil Serben sehr lebhafte und vor allem relativ aktuelle Erfahrungen mit Flüchtlingen aufgrund der jugoslawischen Zerfallskriege haben?
LOGBOOK_SERBISTAN ist als Projekt der Sensibilisierung sowohl in Serbien selbst wie auch im Ausland gut zu gebrauchen. In einem deutschen Kontext, in dem viele Leute so oft über die ganzen Flüchtlinge maulen, erinnert er jedenfalls daran, dass deren Aufnahme bzw. überhaupt der Umgang mit ihnen eine gesamteuropäische Angelegenheit ist.


18.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
NIČIJE DETE (NO ONE‘S CHILD)
Regie: Vuk Ršumović
Serbien / Kroatien 2014 
95 Min., DCP

Die Geschichte eines Wolfskindes, übertragen in die Ära des zerfallenden Jugoslawien: ein von Wölfen erzogener Junge wird von Jägern in einem Wald gefunden, später in ein Waisenheim gebracht, wo er zunächst sich selbst überlassen wird, sich nach und nach durch die Freundschaft mit einem der anderen Bewohner zu einem „richtigen“ Menschen entwickelt. Mit dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens wird er als Kindersoldat von einer bosnischen Miliz zwangsrekrutiert.
NIČIJE DETE habe ich eigentlich – mangels Alternativen – nur als Lückenfüller zwischen der 16-18- und der 20-22-Uhr-Schiene gesehen. Und so entstehen aus Lückenbüßer doch wundervolle Sichtungen. Ich befürchtete ein wenig eine „pädagogisch wertvolle“ Betroffenheitskeule, doch die serbisch-kroatische Koproduktion erwies sich als erstaunlich unsentimentaler und komplexer Film mit störrischen, vielschichtigen Charakteren. Haris, so wird der Wolfsjunge genannt, ist sicherlich auch ein Opfer in einem recht tristen Waisenheim, aber er ist eben auch ein Mensch, dessen Umgang tagtäglich eine schwere und strapazierende Herausforderung ist. Žika, der Haris‘ bester Freund und Vertrauter wird, ist in der Nahrungskette des Waisenheims recht weit unten positioniert, und freundet sich nur zu gerne rasch mit jemandem an, der noch weiter unter ihm steht. Doch auch er schlägt und beschimpft Haris immer wieder. Der schnurrbärtige Sozialpädagoge, der sich nicht damit abfinden will, dass man Haris sich selbst überlässt, glaubt felsenfest an eine gute Zukunft des Wolfsjungen, doch auch seine Erziehungsmethoden sind oft autoritär, teils latent gewalttätig. Paradoxerweise sind es die Mobbingtäter, die Haris dazu bringen, seine ersten (zornigen) Worte auszusprechen, als sie ihm seine geliebte Glasmurmel wegnehmen. Und der Mensch, der Haris als Mitglied der Gesellschaft am ernsthaftesten nimmt, ist ausgerechnet der Kommandant einer paramilitärischen bosnischen Miliz: er „identifiziert“ Haris als Bosnier, gibt ihm eine Uniform und drückt ihm eine Maschinenpistole in die Hand. In NIČIJE DETE hat eben alles seine vielen Seiten.
© goEast
Luzifus von the-gaffer.de a.k.a. Der Chefredakteur (mit dem ich den Trip nach Wiesbaden unternommen habe, und der hier seinen eigenen Bericht veröffentlicht hat) schien die Zwangsmobilisierung Haris‘ gegen Ende des Films etwas zu viel des Guten. Doch ich denke, dass man sie auch als ultimative Stufe einer radikalen „Zivilisierung“ sehen kann: Krieg ist in diesem Sinne der absolute (freilich nach gängigen Maßstäben natürlich negative) Höhepunkt von Zivilisation. Vom Wolfskind aus dem Walde zum sozialistisch-jugoslawischen Pionier zum bosnischen Soldaten – kein Wunder, dass Haris am Ende wieder aus der Zivilisation aussteigen möchte. Den Preis für seine Zivilisierung muss er trotzdem bezahlen: eine Rückkehr und Integration in die Natur, die sich von ihm abwendet, ist nicht mehr möglich.
Auch wenn ich für den deutschen Kinostart des nächsten Films nun komplett schwarz sehen muss, ist es trotzdem fein, dass NIČIJE DETE den Hauptpreis des Festivals gewonnen hat (was seine Chancen auf westeuropäische Kinostarts erhöht).


20.00, Caligari FilmBühne
KREDITIS LIMITI (LINE OF CREDIT)
Regie: Salomé Alexi
Georgien / Frankreich 2014 
85 Min., DCP

KREDITIS LIMITI ist eigentlich eine relativ leichte, absurde Komödie. Hinter dieser verbirgt sich eine bittere, fast unendlich traurige Tragödie. Und hinter dieser lauert ein purer Horrorfilm.
Nino, die Betreiberin eines Imbissladens in Tiflis und stolze Wohnungsbesitzerin, konnte sich bislang ein bequemes Leben leisten, weil ihr Vater einst als mittelgroßer Bonze zu Sowjetzeiten recht erfolgreich und ohne geschnappt zu werden die örtliche Kasse der Partei für sich „privatisierte“. Doch nun ist das Geld durchgebracht, Nino und ihre große Familie (Ehemann, Tochter, Sohn, Mutter, Großmutter) stehen vor dem Ruin. Täglich muss die Frau aufs Neue ums Geld kämpfen, aber der Imbissladen läuft nicht richtig, und mit jedem neuen Tag flattern neue Rechnungen, Mahnungen und geldvernichtende Situationen ins Haus.
Eine Komödie ist KREDITIS LIMITI, weil der Ton immer sehr leicht erscheint. Doch er ist auch ein Film über eine Frau, die in einer erbarmungslosen Schicksalsmaschine gefangen ist, aus der es für sie kein Entkommen geben kann. Für jede weitere Geldquelle, die sich auftut (meistens ein Kredit oder ein Anpumpen) tun sich zwei weitere Rechnungen auf, die immer größer werden. Der Gipfel kommt, als die Großmutter in ein Koma fällt und im Krankenhaus an Schläuchen zur Lebenserhaltung angeschlossen wird: nach zehn kostenlosen Tagen folgt mit jedem neuen Tag eine neue happige Rechnung, doch den Schlauch abdrehen darf Nino rechtlich nicht, solange sich der Zustand der Großmutter nicht verschlechtert und natürlich will sie das auch nicht – sie, die alles menschenmögliche tut, um auch noch Geld für die Behandlung einer kranken Freundin aufzutreiben. Der Schluss ist unvermeidlich: Nino und ihre Familie werden aus der Wohnung rausgekehrt, wie Hunderttausende anderer Haushalte in Georgien, als 2008 (oder 2009?) eine Immobilienblase platzte.
© goEast
Die strenge Komposition des Films macht deutlich, wie sehr Nino von Anfang an ausweglos gefangen ist. KREDITIS LIMITI ist ein Film, der die meisten Elemente seiner Geschichte nicht diskursiv, sondern mit seinen formalen Mitteln erzählt, besonders mithilfe des Produktionsdesigns. Ein aufgehellter Fleck auf einer Tapete weist etwa daraufhin, dass hier mal ein Bild oder ein wertvoller Spiegel hing, der wohl verkauft wurde. In anderen Momenten kann die Einrichtung auch eine Wahrnehmungsfalle sein, eine Verkörperung von Falschheit und ein Versuch, das Gesicht zu bewahren: eine üppige Vitrine voller wertvoller Liköre und Alkohole enthüllt Ninos Mutter ganz nebenbei als Fake, als Ansammlung von Flaschen, die mit Tee oder Kaffee gefüllt wurden. KREDITIS LIMITI ist mehrheitlich in starren Tableaus gefilmt, es gibt aber auch lange Plansequenzen durch Tifliser Bürgersteige, wenn Nino geschäftig nach dem nächsten Schnäppchen sucht oder zum naheliegenden Pfandhaus geht: überall an den Läden prangern riesige Zahlen voller Versprechungen, die die Hauptfigur noch mehr unter Druck setzen.
Die Wege des Geldes werden formalistisch aufgezeigt. So holt sich Nino mithilfe einer Freundin einen Kredit in einer hyperstilisierten Bank, in der alles durcharrangiert ist (selbst die Abstimmung der Nagellackfarbe der Bänkerin mit der Farbe ihres Datumstempels), in der nächsten Szene teilen sich die beiden Frauen das Geld in der Gosse auf, vor einer graffitibesprühten Wand, die von Hunden angepisst wurde: im Tempel gibt es Geld im Übermaß, in der Gosse werden die Krummen aufgeteilt.
Auch immer wieder faszinierend ist es, wie Salomé Alexi den Raum und die Tiefenschärfe nutzt. In der absurdesten Szene des Films möchte Nino eine Tante (?) oder Freundin der Mutter um Geld anpumpen, während sich die quartiersbekannte Straßenkehrerin von Nino wiederum Geld leihen möchte. Beide gehen zur Tante, diese wirft in einem Stoffbündel das Geld vom Balkon herunter – und natürlich bleibt dieses an den Ästen eines Baumes hängen. Spielende Kinder werden beauftragt, das Bündel zu holen. Nino setzt sich mit der Straßenkehrerin auf eine Bank, unterhält sich mit ihr über die Mühen des Lebens, während im Hintergrund die Kinder auf dem Baum klettern, von der Tante auf dem Balkon angefeuert. Das Geld bleibt also schon irgendwo hängen, aber oft da, wo man es nicht gebrauchen kann!
Meisterhaft! Und das auch noch bei einem Debüt, den die Regisseurin selbst geschrieben, produziert und geschnitten hat.


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
POSLESLOVIE (EPILOGUE)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1984
98 Min. 35mm

© goEast
Filmstill ist schwarzweiß, der Film selbst aber in Farbe
Schwiegereltern! Im Volksmund gibt es ja nichts nervigeres. Über eben diese sprichwörtliche Nervigkeit hat Marlen Chuciev einen wunderbaren Film gedreht.
Der Zoologe Viktor, der in einer schönen Moskauer Wohnung mit seiner Frau und seiner Hündin lebt, bekommt eines Tages Besuch von seinem Schwiegervater Aleksej angekündigt. Viktors Frau kennt ihren Vater nur allzu gut und macht sich auch aus dem Staub: eine Geschäftsreise kann praktischerweise vorgeschoben werden. Viktor, der gerade Urlaub macht, muss nolens volens den alten Mann empfangen. Recht schnell merkt er, was für eine Nervensäge er sich da eingefangen hat. Eine Nervensäge, die sich über kleinste Dinge minutenlang freut, abgedroschene Lebensweisheiten von sich gibt, darüber meckert, dass Moskau sich geändert hat und schlussendlich sogar seinem Schwiegersohn vorschreiben möchte, wie dieser sein Schreibtisch arrangieren sollte.
Aber! So einfach läuft das ganze nun doch nicht. Wir sind in einem Chuciev-Film, und wenn wir mittlerweile etwas gelernt haben, dann wohl, dass Chuciev keine direkten Wege nimmt, sondern lieber verwilderte, unbekannte Nebenpfade betritt. Denn der Regisseur und seine beiden tollen Hauptdarsteller Rostislav Pljatt und Andrej Mjagkov verteilen die Sympathien recht unerwartet: der penetrante alte Mann kann sich des Herzens der Zuschauer sicher sein, während der in seiner Arbeit gestörte junge Mann rasch pedantisch, herrisch und intolerant wirkt (auch wenn wir wissen, dass seine Aufregung eigentlich gerechtfertigt ist). Diese Verteilung der Sympathien erzeugt Chuciev mit einem recht einfachen Mittel: er lässt einfach Viktor immer wieder in die Kamera sprechen und das Geschehen kommentieren. Was anderswo ein Mittel der Identifikation sein könnte, wird hier zum Mittel der unbewussten Distanzierung: denn Viktor erscheint dann automatisch in einer Position der Rechtfertigung, seine diesbezüglichen Versuche wirken selbst penetrant und vor allem besserwisserisch. 
Chuciev ist aber kein Zyniker, sondern ein Humanist. Beide haben ihre Gründe. Und hinter der jovialen Fassade des alten Mannes verbirgt sich eine tiefe Traumatisierung aus dem Zweiten Weltkrieg. Sein Dozieren über die Vorzüge des klassischen Rasiermessers über den Systemrasierer dient in erster Linie dazu, seelische Kriegsnarben zu verbergen und ein eigenes persönliches Stück Erinnerungskultur aufzubauen.
POSLESLOVIE ist über weite Strecken ein Zweipersonen-Kammerspiel, gefilmt in einem recht nüchternen Stil. Abweichungen stechen umso mehr hervor. In einer Szene, die man wohl als psychedelisch bezeichnen könnte, freut sich Aleksej stürmisch, als draußen ein Gewitter ausbricht, und Viktor hält diese Begeisterung mit einer Kamera fest, während die Wohnung von Gewitterblitzen brutal aufgehellt wird. Und wieder zeigt sich Chuciev in den Außenszenen als feinsinniger Dokumentarist. Die Häuser- und Wohnblockfassaden, die in den 1960er Jahren noch von einem optimistischen Aufbruch kündeten, erscheinen hier nun einfach nur trostlos: was in Schwarzweiss modern erscheint, kann in Farbe eben abgeranzt und verbraucht aussehen.


Montag, 27. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA (THE POSTMAN‘S WHITE NIGHTS)
Regie: Andrej Končalovskij
Russland 2014
101 Min., Screener
© goEast
Andrej Končalovskij, der Grenzgänger zwischen UdSSR/Russland und den USA (und dessen TANGO & CASH ich bislang sehr schätzte), kehrt nun in die russische Provinz zurück. Das Konzept von BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA klingt im Grunde wie eine russifizierte Version von De Sicas LADRI DI BICICLETTE. Končalovskij drehte den Film komplett mit Laiendarstellern, die sich selbst spielen. Erzählt wird vom Lebensalltag eines Postboten im Gebiet Pleseck, im russischen Norden. Aufgrund der geografischen Bedingungen ist er nicht mit dem Fahrrad unterwegs, sondern mit einem Motorboot, um auch an entlegene Orte die Post bringen zu können. Auf seinen Touren begegnet er natürlich allen Bewohnern, darunter auch einer alleinerziehenden Mutter, in die er ein bisschen verliebt ist und einem lokalen Dorfsäufer. Eines Tages wird der Motor seines Bootes geklaut und er kann keine Post mehr austragen...
Končalovskij, der schon in SIBIRIADA ein feines Gespür für die Lebensumstände in der abgelegenen russischen Provinz bewiesen hatte, entwirft hier ein faszinierendes und zutiefst menschliches Portrait vom Alltagsleben in einer infrastrukturschwachen Region. Mit Ausnahme eines Traummotivs, das immer wieder auftaucht (nämlich eine graue Katze) verzichtet der Film konsequent auf Psychologisierung und Symbole, sondern verlässt sich ganz und gar auf seine tollen Laiendarsteller. Aleksej Trjapicyn ist ein unwahrscheinlicher Filmheld, aber dank seines knittrigen, kantigen und höchst lebendigen Charaktergesichts trägt er mühelos den ganzen Film auf seinen Schultern.
Fazit: klein, leise, unscheinbar, nach klassischen Maßstäben „ambitionslos“ – und sehr schön!


Persönliches Ranking

aktuelle Filme:

1. SIMINDIS KUNDZULI (CORN ISLAND)

– KREDITIS LIMITI (LINE OF CREDIT)

3. NIČIJE DETE (NO ONE'S CHILD)

4. BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA (THE POSTMAN‘S WHITE NIGHTS)

5. DESTINACIJA_SERBISTAN / LOGBOOK_SERBISTAN

6. ANGELY REVOLJUCII (ANGELS OF REVOLUTION)

7. KEBAB I HOROSKOP (KEBAB AND HOROSCOPE)

– [CRNCI (THE BLACKS)]

9. GOLI (NAKED ISLAND)

10. DE CE EU? (WHY ME?)

11. POD ELEKTRIČESKIMI OBLAKAMI (UNDER ELECTRIC CLOUDS)


Retrospektive:

1. ČOVEK I ZVER (MAN AND BEAST)

 BRICHA EL HASHEMESH (ESCAPE TO THE SUN)

3. POSLESLOVIE (EPILOGUE)

4. MNE DVADCAT‘ LET (I AM TWENTY)

5. IJUL‘SKIJ DOŽD‘ (JULY RAIN)

6. [DIGITAL RESTAURIERTE FILME DER MANAKI-BRÜDER]


Persönliche Spezialpreise: 

Bester Darsteller
- Ilyas Salman als der alte Mann in SIMINDIS KUNDZULI
(knapp vor Denis Murić als Haris in NIČIJE DETE und Aleksej Trjapicyn als er selbst in BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA)

Beste Darstellerin:
- Evgenija Uralova als Lena in IJUL‘SKIJ DOŽD
(knapp vor Nino Kasradze als Nino in KREDITIS LIMITI)

Bester Nebendarsteller:
- Laurence Harvey als Major Hartschnurrbart a.k.a. Major Kirsanov in BRICHA EL HASHEMESH

Bestes Produktionsdesign:
- ? für KREDITIS LIMITI

Bester Filmanfang:
- Straßenplansequenz meets Renaissancemalerei meets gestörtes Radioprogramm in IJUL‘SKIJ DOŽD (vor Arbeitsloser meets Arbeitsloser in Dönerbude in KEBAB I HOROSKOP)

Bester Filmschluss:
- Eine Wölfin steht in einem Wald, blickt einen Teenager an und läuft desinteressiert weg in NIČIJE DETE

Bestes Arrangement prolliger Goldkettchen auf wallender Brustbehaarung:
- Yehuda Barkan als Yasha Bazarov in BRICHA EL HASHEMESH

Freitag, 3. April 2015

Keaton aquaphob


Buster Keaton – der Name steht für spektakuläre Action und Stunts in urbanen Umgebungen, im Inneren von Häusern oder auf modernen Fortbewegungsmitteln wie Autos, Motorrädern, Bussen oder Eisenbahnen. Doch Keaton konnte auch auf hoher See und auf einem so traditionellen Fortbewegungsmittel wie einem Schiff oder einem Boot sein komisches Potential entfalten...



THE BOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der Mann), Sybil Seely (die Frau), Edward F. Cline (der Mann von der Küstenwache)


Ein Mann (stellen wir uns im Folgenden vor, er würde Buster heißen) baut eigenhändig ein Segelboot. Prompt will er seine Frau und seine beiden Kinder auf eine kleine Spritztour mitnehmen. Doch davor muss das Boot noch aus der Garage geholt werden, wo es gebaut wurde – eine Operation, die eine mittelgroße Ruine hinterlässt. Dann wird das Gefährt namens „Damfino“ eingeweiht (mit Cola). Vor dem Seegang gibt es noch Schwierigkeiten: das Boot sinkt nämlich zunächst. Nach fixer Reparation geht es los! Da Buster ein echter Tüftler ist, hat er an alles gedacht: mit einem Hebel kann er Mast und Segel herunterklappen, wenn das kleine Schiff unter eine Brücke passieren muss. Technische Raffinesse bringt bei menschlichem Versagen natürlich nichts, und so beginnt die Fahrt etwas holprig. Das ganze macht richtig hungrig, und im Bootsinneren genießen Buster und die zwei kleinen Buster-Junioren die Steaks, die Ehefrau und Mutter zubereitet hat – nun, nicht wirklich, denn das Fleisch ist so hart geworden, dass es an die Wand genagelt werden kann (und später auch wird!). Nach dem Abendessen ist vor dem Schlafen: die Familie legt sich zur Nachtruhe hin. Eine feuchte Nachtruhe, wenn man das Bullauge offen lässt. Es dann zu schließen bringt auch nichts, denn ein gefährlicher Sturm ist mittlerweile aufgezogen. Das Boot wird durcheinander geworfen, Buster kämpft gegen Lecks und muss schließlich seine Familie auf dem Rettungsboot in Sicherheit bringen. Die vier Menschen, die nur einen Ausflug machen wollten, stehen kurz vor dem Ertrinken, nachdem der kleine Junior den Stöpsel des Rettungsboots herausgezogen hat (!). Doch die vier Schiffbrüchigen sinken einfach nicht, sondern bleiben stehen. Einige Schritte weiter entdecken sie, dass sie am Rande eines rettenden Strands gesunken waren.

THE BOAT gehört definitiv nicht zu meinen Keaton-Favoriten. Er ist bestenfalls die Summe seiner Teile, die für sich genommen nicht alle rundum überzeugen. Dennoch zeugt dieser Kurzfilm von Keatons inszenatorischem Können, etwa in der Szene, in der das Boot im Sturm mehrmals um die eigene Achse geschleudert wird, mit Buster im Inneren. Weniger akrobatisch, aber nicht weniger spektakulär ist der Schluss: Buster watet mit seiner Frau und seinen zwei Kindern durch ein dunkles, schwarzes Meer, und plötzlich taucht der Strand auf – ein schöner und sehr effizienter Beleuchtungseffekt. Der kreative Höhepunkt des Films ist jedoch keineswegs akrobatisch, sondern ein wunderbarer Moment purer Keaton-Poesie. Buster befindet sich im Inneren seines selbstgebauten Bootes, will das ganze gemütlicher gestalten und nagelt deshalb ein Bild mit Seemotiv an die Wand. Natürlich dringt Wasser durch und beginnt – zur Verwunderung Busters – „aus dem Bild“ herauszufließen.

Ein recht subtiler und stiller Gag findet sich bei der Entsorgung der ungenießbaren Steaks. Der Mann und die beiden Jungs wollen auf Ehefrau und Mutter Rücksicht nehmen und drücken deshalb keinen Unwillen gegen die Steaks aus, sondern verstecken sie – in Busters charakteristischem Hut (das selbst nach einer Fleischzubereitung benannt ist: pork pie hat). Andere Gags funktionieren hingegen nicht so richtig. Einen strahlenden Wasserleck will Buster mit einem Trichter auffangen, den er zunächst in den Boden des Bootes bohren möchte und wenig später schöpft er mit einer kleinen Teetasse das Wasser aus dem Bullauge – etwas bemüht und hölzern.
Recht interessant ist der Familienstand der Hauptfigur: Keaton spielt einen im wesentlichen glücklich verheirateten Mann mit zwei Kindern. Eine ungewohnte Konstellation, da das Grundgerüst in vielen anderen Keaton-Filmen darin besteht, dass der ledige Protagonist das Herz seiner Angebeteten zu erobern versucht oder sich auf der Suche nach der großen Liebe begibt.
THE BOAT ist ein Film, der lange Zeit als verschollen galt, bis James Mason 1952 Buster Keatons Haus kaufte, im Keller diverse Filmrollen fand und diese restaurieren ließ.



THE LOVE NEST
USA 1923
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verlassene Verlobte), Joe Roberts (der Kapitän), Virginia Fox (die Ex-Verlobte)


Eine Verlobte macht mit ihrem Verlobten (den wir unter uns sicherlich Buster nennen dürfen) Schluss. Seine Traurigkeit will der junge Mann mit einer einsamen Bootsreise auf hoher See dämpfen, doch rasch ist er verloren. In letzter Minute wird er von einem Schiff gerettet. Oder eher: „gerettet“. Denn der Kapitän führt seine Mannschaft mit eiserner Hand und schmeißt seine Seemänner schon bei kleinsten Vergehen gnadenlos über Bord. Auch Buster wird irgendwann dran glauben müssen. Nachdem er aus Versehen einen Eimer Wasser auf den Kapitän verschüttet, ihn – aus Versehen – mit einem Gewehr bedroht und sein Kaffeeservice (jawohl: aus Versehen) zertrümmert hat, ist es soweit. Doch dann wird ein Wal gesichtet, und die Hinrichtung verschoben. Als bei der Jagd der Kapitän über Bord fällt und scheinbar ertrinkt, erklärt sich Buster kurzerhand zum neuen Kapitän, doch wenig später taucht der „alte“ wieder auf. Die Amtsanmassung bringt diesen endgültig zum Platzen (und dies wiederum den kleinen Rest der Seemannschaft außer Buster zum spontanen Kollektivselbstmord). Eine wilde Verfolgungsjagd entscheidet Buster für sich, als er den kompletten Dampfer zum Sinken bringt, weil er das Rettungsboot nicht auf andere Weise zum Wasser bringen konnte. Am nächsten Morgen fängt Buster einen Fisch, und erledigt diesen mit einem glatten Gewehrschuss – was wiederum das Rettungsboot zum Sinken verurteilt. Zum Glück war unser Protagonist gerade in der Nähe einer merkwürdigen, schwimmenden Holzkonstruktion. Er erkennt nicht, dass es sich um eine Zielscheibe für Marineschießübungen handelt und wird wenig später in die Luft gesprengt. Tot begibt er sich in Richtung Himmel... Und fällt dann in Richtung Hölle... Und wacht schließlich aus seinem delirierendem Traum auf. Nur wenige Sekunden später merkt Buster zudem, dass er sich auch nicht verloren auf hoher See befand: sein Boot war die ganze Zeit noch am Ufer angebunden.

Keatons Filme sind teils auch Filme über gestörte Wahrnehmungen, und nirgendwo sind die Sinne offener für Verzerrungen als im Traum. Hier sind besonders wilde Kapriolen möglich, und die Möglichkeiten eines Traums entwickelte Keaton in SHERLOCK JR. als Film-im-Traum-im-Film-Konzept weiter. Der Traum von THE LOVE NEST, diese surrealistisch verzerrte Welt, entwickelt auch eine unterschwellige Gewalt, eine latent fatalistische Atmosphäre, einen morbiden Unterton, den Keaton auch schon in COPS (und etwas weniger pointiert THE GOAT) genutzt hatte.
Schon als der erste Seemann einen Fehler macht und der Kapitän ihn dann stellt, über Bord schmeißt und einen Kranz aus einer extra dafür vorbereiteten Kranzkollektion greift und hinterherwirft, ist klar, dass Buster auch einen Fehler machen und den tödlichen Zorn des Kapitäns spüren wird – und Buster selbst weiß es auch (gleichwohl er schließlich nicht vom Kapitän des Walschoners, sondern von der Marine „gerichtet“ wird). Grausamkeit, Witz und Poesie halten sich hier die Balance. Nirgends wird dies deutlicher als im angedeuteten Selbstmord Busters: er hat mit einem Gewehr rumgespielt, den er in der Kapitänskoje fand und damit aus Versehen auf den Kapitän gezielt; er nimmt in Konsequenz davon das Gewehr mit, geht auf das Deck, läuft eine Treppenleiter am Rande des Schiffs in das Wasser hinunter, geht komplett in das Wasser, bis er versinkt – und schießt dann unter Wasser... Doch dann taucht er wieder auf, und läuft mit dem Gewehr in der einen Hand und einem erlegten Fisch in der anderen wieder hoch. Das ist ein schwarzer Humor, der sehr perfide die Erwartungen der Zuschauer manipuliert und sie in die Falle lockt (dabei gilt gemeinhin Chaplin als der Subversive unter den Slapstick-Komikern der 1920er Jahre). Die Logik des Traums sieht vor, dass Fische mit Gewehren gefangen werden und deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Buster später im Film dabei sein Boot zerschießt und so auf eine der todbringenden Holzkonstruktionen gedrängt wird.
Wesentlich einfacher und harmloser wirken die Gags, wenn Buster Befehle des Kapitäns wie etwa „all hands on deck“ oder „to the port“ allzu wörtlich nimmt und seine Hände auf‘s Deck legt oder dem Kapitän eine Flasche Portwein holt.
Der surrealistische THE LOVE NEST war Buster Keatons letzter kurzer Stummfilm.



THE NAVIGATOR
USA 1924
Regie: Buster Keaton
Darsteller: Buster Keaton (Rollo Treadway), Kathryn McGuire (Betsy O‘Brien)


Rollo Treadway ist ein verträumter und tollpatschiger Millionär, der für das Leben „draußen“ kaum tauglich ist. Aus einer Laune heraus möchte er heiraten: Betsy O‘Brien, eine Millionärstochter und praktischerweise seine Nachbarin. Alles ist vorbereitet, die Schifftickets für die Flitterwochen schon gebucht – nur Betsy weiß von ihrem Eheglück nichts und lehnt den Antrag aus heiterem Himmel dann auch folgerichtig ab. Durch eine Verkettung von Umständen (es geht um eine recht wilde und wirre Industrie- und Armeespionage-Intrige) geraten die beiden jungen Millionäre auf ein Schiff, das kapitänslos durch die See gleitet. Da es sehr groß ist, viele Treppen und Etagen hat, finden sie sich zunächst nicht. Als sie das tun, lehnt Betsy Rollos wiederholten Heiratsantrag erneut ab, aber dennoch raufen sie sich zusammen, um das Überleben auf dem verlassenen Schiff zu sichern. In der Küche merken die beiden, dass Kaffeezubereitung mit Meerwasser nicht so das wahre ist, und dass Spargeldosen schwierig zu öffnen sein können. Plötzlich erblicken beide ein Schiff, das sie retten könnte. Mit einer Flagge möchten sie auf sich aufmerksam machen, doch dummerweise erwischen sie das Zeichen für Quarantäne (was das andere Schiff regelrecht flüchten lässt). Nach der ganzen Aufregung möchten sich die beiden Millionäre zur Nachtruhe begeben: gar nicht einfach, wenn Geisterbilder durch Bullaugen schweben, Türen klappern, ein Feuerwerk aus Versehen (in Keaton-Filmen passiert immer so vieles aus Versehen!) losgeht oder ein Open-Air-Camping aufgrund von Regen unterbrochen wird. Sei‘s drum: nach einigen Tagen haben sich Rollo und Betsy eingelebt, die Kesselräume zu bequemen Nachtlagern umgebaut, die Küche mit allen möglichen Hilfsapparaturen ausgestattet. Dann ist endlich Land in Sicht. Freilich ein Land, das von angriffslustigen Kannibalen bevölkert wird und nicht zum Andocken einlädt. Nun bekommt Rollo allerhand zu tun: ein Leck muss unter Wasser repariert, Betsy vor den Kannibalen gerettet, schließlich letztere in einem rasanten Showdown vom Leibe gehalten werden. Als die beiden Protagonisten schon kurz vor dem Ertrinken sind, taucht ein U-Boot auf, das die beiden rettet. Betsy küsst Rollo in Dankbarkeit (der nächste Heiratsantrag könnte also klappen), doch dieser bringt schon in wenigen Sekunden das U-Boot (im wörtlichen Sinne) durcheinander...

Als ich THE NAVIGATOR im Jahr 2012 zum ersten Mal sah, speicherte ich ihn in der Kategorie „okay-ish“ ab. Eine Sichtung im Kino letztes Jahr öffnete mir dann die Augen für die grandiose Keaton‘sche Komik, die tolle inszenatorische Gestaltung und die Poetik des Films. Die erneute Sichtung für diese Besprechung ließ mich noch weitere Feinheiten entdecken, die ich vorher nicht gesehen oder bemerkt hatte.

THE NAVIGATOR mag vielleicht nicht Keatons bester Film sein und er ist auch nicht mein Lieblings-Keaton (da bin ich recht „traditionell“ und würde wohl THE GENERAL wählen). Wer mich jedoch – als erklärter Keaton-Fan und ambivalenter Chaplin-Skeptiker – fragen würde, warum ich den „Mann mit dem Steingesicht“ für den allergrößten unter den Stummfilm-Komikern der 1920er Jahre halte, dann würde ich wohl auf die „Verfolgungsjagd“ im ersten Drittel von THE NAVIGATOR hinweisen. In knapp drei Minuten und (je nach dem, wo man das Ende setzen möchte) 31 Einstellungen erschafft Keaton ein Gag, der wie ein eigener Ultrakurzfilm funktioniert, mit einer eigenen minutiösen Dramaturgie und der fast zu 100 % nur mittels der Montage und der Rauminszenierung abgewickelt wird (zum Nachverfolgen siehe hier).

Exposition: ein Mann und eine Frau – verloren auf dem Schiff
1 Panorama auf das verlassene Schiff
2 Rollo tritt nach der Nachtruhe gutgelaunt aus seiner Kabine aufs Deck hinaus, doch ein Windstoß bläst sein Hut weg. Er tritt wieder an seine Kabine, nimmt einen Reservehut und geht weiter (die Grundlage für eine spätere und erstaunlich nonchalante Wiederholung des Witzes)
3 Betsy läuft auch auf dem Deck, ist sichtlich verunsichert und sucht nach Ko-Passagieren
4 Rollo betritt das Schiffsrestaurant, das sichtlich menschenleer ist
5 Halbnahaufnahme: Rollo ist etwas irritiert und
6 tritt aus dem Schiffsrestaurant hinaus...
7 aufs Deck, wo ihm ein Windstoß wieder den Hut wegbläst – im Gehen greift er gleich in seine Kabine und setzt den nächsten Hut auf (diesmal einen Zylinder, also einen Hut, den man als Bräutigam tendenziell eher auf einer Hochzeit tragen würde als einen pork pie hat!)
8 er kommt an das Steuer, findet dort niemanden vor, dreht ein wenig an der Lenkung und blickt neugierig auf das, was sich gleich als Kompass herausstellt
9 Kompassnahaufnahme
10 Er blickt auf seine Uhr, erstaunt auf den Kompass, dann wieder auf seine Uhr

Mittelteil: ein Mann und eine Frau – Möglichkeit einer Begegnung
11 Sie kommt auf das Deck an, wo sich seine Kabine befindet, und steigt die Treppen herunter und kehrt ihm den Rücken zu, während er von weiter oben hinuntersteigt: die Möglichkeit einer Begegnung ist also gegeben
12 Beide bleiben erst einmal auf ihrer jeweiligen Etage stehen
13 Er wirft eine aufgerauchte Zigarette herunter
14 Er entfernt sich langsam aus dem Bild, während sie stehen bleibt.
15 Nahaufnahme brennende Zigarette
16 Sie hebt die Zigarette auf...
17 ...und ruft

Showdown: ein Mann und eine Frau – verpasste Begegnung
18 ...er hört, dreht sich um, beginnt zu rennen
19 sie steigt auf seine Etage, ruft, beginnt zu rennen
20 er rennt
21 sie rennt, biegt ab – er kommt am anderen Ende um die Ecke und rennt
22 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
23 sie biegt ab, rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
24 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt, biegt ab
25 sie tritt in einen Raum und geht dort eine Treppe runter – er kommt am anderen Ende des Raums (das zwei Türen hat) rein, ignoriert die Treppe, und springt an der anderen Seite aus der Tür raus
26 Nun rennen beide durchgehend im gleichen Bild vereint durch drei verschiedene Etagen des Schiffs, und verpassen sich trotzdem. Dieses Bild ist gewissermaßen die radikale Zuspitzung der Grundsituation eines Mannes und einer Frau, die sich verpassen – und vielleicht der visuelle Höhepunkt des Films.

Auflösung: ein Mann und eine Frau – Zufallsbegegnung
27 Sie steigt schließlich in das Schiffsinnere hinab und setzt sich auf eine Bank
28 Aus Versehen (schon wieder!) fällt Rollo durch ein Lüftungsrohr (oder wie man die Dinger nennt – Marinejargon beherrsche ich nicht gerade fließend)
29 Sie sitzt auf der Bank, er fällt runter, dabei zerbricht die Bank
30 Beide ahnen schlimmes, richten sich auf, sehen sich an, erkennen sich, schrecken auf. Er entspannt sich sogleich, nimmt eine coole Charmeurpose ein, setzt ein verführerisches Gesicht auf (Stoneface hin oder her: Keaton ist ein grandioser Mime) und spricht:
31 Zwischentitel: „Will you marry me“

Jetzt, wo ich die „Verfolgungsjagd“ in einzelne Einstellungen aufgesplittet habe, fällt mir auf, dass sie gleichermaßen auch eine Art kondensierte Zusammenfassung einer Mann-Frau-Annäherung ist (Existenz untereinander unbekannt, Begegnung möglich, Begegnung angebahnt, Begegnung findet statt) – und damit gewissermaßen auch das Thema des gesamten Films (ein Mann möchte eine Frau heiraten) zusammenfasst.
Sie ist formell großartig, weil sie den Gag aus Montage und Rauminszenierung heraus entwickelt. Das Lachen wird so im Raum verortet, und nicht mehr im Körper der Darsteller oder in den Accessoires (außer im Sub-Gag mit dem Hut). Buster Keaton war durch seine Stunts eigentlich immer körperlicher als Chaplin, aber zugleich auch abstrakter und formalistischer (einen solchen Formalismus erreicht Chaplin meiner Meinung nach nur in seinem unterschätztesten und gewissermaßen Keaton‘schesten Stummfilm, THE CIRCUS).

Einen ähnlich formalistischen Gag bringt Keaton schon früher im Film. Rollo hat gerade entschieden, zu heiraten. Also geht er zu seiner Nachbarin, um sie über ihre glückliche Zukunft zu unterrichten. Er setzt sich in das Auto, der Chauffeur fährt los. Normalerweise eine expositorische Einstellung, die mit einem Schnitt oder einer Abblende abgebrochen wird, damit die Person in der Einstellung danach ankommt. Stattdessen folgt ein kleiner Kameraschwenk, und wir sehen, dass das Auto kurz nach Anfahrt umbiegt, um auf der anderen Straßenseite, also knapp zehn Meter weiter, zu parken. In nur wenigen Sekunden entwickelt sich nicht nur ein subtiler, aber sehr witziger Gag, sondern zugleich auch eine Charakterisierung der Rollo-Figur, deren Untauglichkeit für den Lebensalltag (von einer extremen Survival-Situation mal ganz abgesehen) in einer einzigen Einstellung demonstriert wird. Mit einer einzigen Einstellung (geschenkt: dass Rollo ein etwas tollpatschiger Träumer ist, wissen wir schon aus vorherigen Szenen) wird eine Fallhöhe für das darauffolgende Survival-Szenario geschaffen, und obwohl wir über die Figur lachen, fühlen wir mit ihr und ihrem klassenbedingt beschränkten Lebenshorizont. Diese Einstellung ist sozusagen die eigentliche, richtige Exposition des Films. Die vordergründige Exposition um die wirre Spionagegeschichte wird vergleichsweise recht verkrampft und überkompliziert abgewickelt und dient nur dazu, die beiden Protagonisten halbwegs glaubwürdig auf das leere Schiff zu bringen.

Auch in kleinen, scheinbar unwichtigen Momenten beweist Keaton einen großen visuellen Einfallsreichtum und einen feinen Sinn für Poesie. Als sich Rollo und Betsy sich zur Nachtruhe verabschieden, tun sie es auf eine relativ formelle und distanzierte Weise. Rollo zündet für Betsy nur noch kurz eine Kerze an und dann geht jeder aufs Zimmer. Doch eben jenes Kerzenlicht wirft einen Schatten der beiden in den Hintergrund, der leicht verzerrt ist – sodass sich Rollo und Betsy in ihrer Schattenvariante küssen! Das kann man leicht übersehen, weil abrupt von einem Zwischentitel in die Szene geschnitten wird und die „realen“ Figuren, die im Bildvordergrund die Kerzen anzünden, eher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die deep-focus-photography, die Keaton nicht nur in diesem Film sehr gewinnbringend einsetzt, ermöglicht aber auch in diesem Fall einen Blick auf die vermeintliche Nebenhandlung.

Einen sehr schönen Moment würde ich als „Poesie des Trotzes“ bezeichnen. Rollo und Betsy haben versucht, draußen zu übernachten, wurden jedoch vom Regen überrascht, sind durchnässt in das Schiffsinnere geflüchtet und können nicht mehr auf guten Schlaf hoffen. Rollo entdeckt an einem Tisch ein Kartendeck, das jedoch eine kleine Wasserfontäne aus Betsys Hut nass gemacht hat. Er nimmt es auf, und beginnt zu mischen. Oder versucht es. Gleich zwei Karten bleiben kleben (Herzbube und Herzdame!). Dann mischt er weiter. Was natürlich überhaupt nicht klappt, weil die durchweichten Karten sich verbiegen, aneinander kleben bleiben. Doch Rollo stört das nicht wirklich und er macht unbeirrt einfach weiter, bis am Schluss nur noch matschige Papierpampe übrig ist. Erst beim Austeilen der Karten hat Rollo Einsehen, dass das nichts wird.

Ein kleiner Höhepunkt der Akrobatik ist natürlich die Tauchssequenz, als Rollo mit einem schweren Taucheranzug unter Wasser geht, um ein Leck am Schiff zu reparieren. Als er ins Wasser taucht, scheint er zugleich in eine Art Unterbewusstsein, oder in einen Traum einzutauchen: die Gags werden surrealer. Ein Baustellenwarnschild für die Straße findet sich zufällig unter Wasser, und Rollo stellt es dann auch gewissenhaft und gut lesbar hin, bevor er ans Werk geht. Nach Ende der Reparatur wäscht er sich auch ganz gründlich die Hände und trocknet sie ab – also unter Wasser!

Sowie COPS oder eben THE LOVE NEST zu den düstersten Keaton-Filmen gehören, gehört THE NAVIGATOR zu den fröhlichsten und optimistischsten. Wenn ich vorher schrieb „der nächste Heiratsantrag könnte also klappen“, dann ist damit gemeint: der wird klappen! Der unbewusst aufgesetzte Zylinderhut (bräutigamtauglich) während der „Verfolgungsjagd“, der nächtliche Schattenkuss, das Zeichen der Karten: Immer wieder weist der Film mit mehr oder minder subtilen visuellen Mitteln daraufhin, dass Rollo und Betsy eigentlich ein gutes Paar sind bzw. heiraten sollten. Und warum nicht auch gleich noch Sex haben sollten! Als Rollo mit seinem Taucheranzug die Kannibalen verscheucht, wollen er und Betsy zum Schiff zurückkehren. Sie wählen dabei eine unorthodoxe Variante: Rollo legt sich im Wasser auf den Rücken, während sich Betsy rittlings auf ihn draufsetzt und dann in Richtung Schiff paddelt. Sex in Reiterstellung bei einem unverheirateten Paar kennt man in Hollywood gewöhnlich nur aus „Post-Code“-Zeiten (also über vier Jahrzehnte nach Erscheinen von THE NAVIGATOR). Nun: 1924 war Will H. Hays schon Präsident der Motion Picture Producers and Distributors of America, aber bis zu seinem „Code“ sollte es noch ein bisschen dauern (die gleiche Szene ist nach 1930/34 schwer vorstellbar).

Interessant und etwas verstörend ist der autoaggressive Akt, der folgt, als die beiden am Schiff ankommen. Wasser ist in den Taucheranzug gelangt. So greift Rollo zu einem Messer und schlitzt sich den Bauch auf. Natürlich: nur der Bauch des Anzugs. Das ganze wirkt dennoch recht drastisch. Thanatos folgt wenige Sekunden nach dem Eros. Eine selbst auferlegte Bestrafung für die vorangehende Ungezügeltheit?

THE NAVIGATOR endet jedenfalls mit einer kleinen Anspielung auf THE BOAT: das U-Boot dreht sich um die eigene Achse wie das kleine Schiff im Kurzfilm. In den ganzen Apparaturen, die sich Rollo und Betsy in der Küche zusammenzimmern, kann man durchaus ein kleines Zitat aus dem Kurzfilm THE SCARECROW sehen, in dem sich Buster Keaton und Joe Roberts eine WG mit allerlei technisch raffinierten Apparaturen eingerichtet haben – ein kleiner Triumph des Geistes über die Materie. THE NAVIGATOR wiederum übt mit seiner Trias aus Mann-Frau-Maschine Themen ein, die später in THE GENERAL noch beschleunigt wurden.