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Sonntag, 28. Januar 2018

„Gefühl ist die gefährlichste Schmuggelware“: Euphorien vom 17. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (Erster Teil)

Vorwort

„Du solltest unbedingt mal zu einem Hofbauer-Kongress kommen!“ – sagte mir ein Eskalierender Träumer im Sommer 2017 während des Terza Visione. Viel hatte ich über diese ominöse Veranstaltung gelesen, ich war mir nicht so sicher, ob das wirklich etwas für mich ist, aber meist schwankten die Eindrücke von Menschen, die darüber schrieben, irgendwo zwischen Euphorie und Ekstase. So ging es also für mich gegen Ende meines verlängerten Weihnachts- und Neujahr-Urlaubs in Richtung Nürnberg.
Um es vorweg zu nehmen: Ich kam, sah und jubilierte...


Prolog: „Morituri te salutant!“

Der Hofbauer-Kongress in seiner jetzigen Form widmet sich nicht nur dem abseitigen, unterschlagenen, verfemten Kino, sondern auch einem todgeweihten Modus der Filmvorführung, nämlich der 35mm-Projektion. Statt eines längeren Vortrags über den Tod des analogen Kinos gab es...

Donnerstag, 4. Januar, ca. 14.30 Uhr

CINEMA FUTURES
Regie: Michael Palm
Österreich / Indien / Norwegen / USA 2016 (DCP)
Das analoge Kino stirbt – oder wird es gestorben? Eine assoziative Spurensuche, unter anderem im Gespräch mit Filmemachern und Restaurateuren.
Am 14. August 2012 sah ich TED von Seth MacFarlane im Weimarer CineStar in einer 35mm-Kopie. Das war wahrscheinlich der letzte, aktuell gestartete Film, den ich in einem Multiplex-Kino auf echtem Film sah. Beim Programm-Kino dauerte das Verschwinden einen kleinen Tick länger: Danny Boyles TRANCE lief am 1. September 2013 im Weimarer Lichthaus noch in einer wunderschönen Kopie durch einen Filmprojektor. Das sind jetzt knapp über fünf bzw. vier Jahre her. Das ist eigentlich nichts, aber oft fühlt es sich wie vier bis fünf Jahrhunderte an.
CINEMA FUTURES erforscht unter anderem, was in diesem „halben Jahrtausend“ passiert ist. Als aggressiv-polemisch kann man seinen Duktus kaum bezeichnen, aber es ist schwer, nach der Sichtung des Films die Digitalisierung des Kinos nicht als Generalangriff großer Hollywood-Studios zu sehen, die ihre eigene Monopolstellung noch nachhaltiger festigen wollen (wobei „nachhaltig“ hier im Grunde das falsche Wort ist). Fünf „Jahrhunderte“ später müssen wir feststellen, dass Vielfalt in der Kinolandschaft verloren gegangen ist. Multiplexe werden immer mehr zu reinen Event-Veranstaltungen, Programmkinos immer mehr zu einem Ort, wo für Filme außerhalb des „Arthouse-Mainstreams“ kein Platz mehr ist. Die Bastionen, die gegen die Alles-oder-Nichts-Digitalisierung kämpfen, sind eher Ausnahmen zur Regel: Christopher Nolan, einer der Interviewpartner im Film, wehrt sich lautstark gegen das Verschwinden des Films. Er sei nicht gegen das digitale Kino, sondern für die Wahlfreiheit (mit seiner Prominenz kann er es sich natürlich „leisten“, seine Werke auf Film zu drehen).
Und dann das Sterben. Wir sehen in CINEMA FUTURES Eindrücke aus einem Restaurationswerk der Eastman Kodak Company. Manche Filme, die dorthin gelangen, werden „Pucks“ (wie die Dinger beim Hockeyspiel) genannt: man nimmt sie aus der Dose, kann mit einem Hammer draufschlagen, wie man möchte – sie bleiben fest, weil sie zu einer ultrakompakten Masse geworden sind. Bei einer anderen Dose zerfällt der Film hingegen schon nur beim Draufgucken. Der Restaurateur kippt die Brösel aus der Dose, wischt sie von der Tischkante nonchalant auf die Hand und dann ab damit in eine große blaue Tonne. Das sei eben Original-Negativ von Georges Méliès‘ LE JUIF ERRANT gewesen, erklärt er beiläufig. Auch das ein Teil seiner Arbeit: feststellen, dass ein Film unwiderruflich tot ist, und ihn dann sang- und klanglos „beerdigen“. Hinzu kommt dann noch ein großes moralisches Dilemma: jede Entscheidung zur Restaurierung eines Films sei zugleich auch ein Todesurteil für drei bis vier andere Filme.
Und dann der Verlust: die digitale Restaurierung ist auch stets eine ganz bestimmte Interpretation eines Films. Jeden „Dreck“ beseitigen? Was ist, wenn einiges vom „Dreck“ Teil des Negativs ist. „Saubermachen“ ohne Verluste? Ein kleiner Bildausschnitt mit Vorher-Nachher-Vergleich bei TAXI DRIVER zeigte, was eine übergründliche digitale Restauration auch anstellen kann: die Konturen des Taxis verschwinden, Robert De Niros Gesicht wird hinter der Windschutzscheibe unkenntlich.
(No) CINEMA FUTURES? Der Film stimmt auf jeden Fall pessimistisch. In den kommenden Jahren müssen wir befürchten, dass unzählige Filme sterben werden. Ganz gleich, ob sie analog sind (und aufgrund der „Jahrhunderte alten“ Technik nicht mehr angefasst werden) oder digital – und dann nicht mehr lesbar sind, weil digitale Technik für Standardisierungsprobleme anfällig ist und Aberdutzende Updates am laufenden Band (pun slightly intended) braucht.
Beim Hofbauer-Kongress wie auch bei anderen Festivals zeigt sich: 35mm-Kino stirbt nicht aus. Nicht komplett. Zumindest noch nicht. Das ist positiv und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: mehrere Dutzende Leute treffen sich in Nürnberg, um verfemtes Kino in mehr oder minder glanzvollen 35mm-Kopien zu schauen. Das geht gleichzeitig Hunderttausenden, ja gar Millionen – mit Verlaub – vollkommen am Arsch vorbei. Millionen, die sich nicht dafür interessieren, dass die Vielfalt des Kinos verloren geht, für die Filmgeschichte bis THE LORD OF THE RINGS reicht (wenn überhaupt!) und für die die „Zukunft des Films“ bedeutet, die nächste Staffel von THE WALKING DEAD oder von GAMES OF THRONES zu schauen oder die supertolle neue „Qualitätsserie“, die nächste Woche bei Netflix oder Amazon Prime anläuft – wobei nach „Gebrauch“ das Gesehene „gespoilt“, also verdorben ist und daher weggeworfen gehört. Was man mit „Restaurierung/Bewahrung/Pflege alter Filme“, meint, dürfte ein imaginärer Außerirdischer oftmals sogar besser verstehen als manch ein Mitmensch.
Ein Film lebt erst dann, wenn er Zuschauer hat – so eine französische Befragte im Film (war es Nicole Brenez?). Für die Dauer des Hofbauer-Kongresses wurde der bittere Nachgeschmack von CINEMA FUTURES jedenfalls von einer ungeheuren Lebendigkeit, von einer frischen (wenn auch manchmal leider essig-aromatischen) Brise analogen Kinos weggeweht.



Ernst Hofbauer und seine wackeren Gefährten


ca. 17.30 Uhr

DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN
Regie: Ernst Hofbauer
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1965
CIA-Agent Mike Scott (Stewart Granger) ermittelt in Hongkong im Fall eines ermordeten Kontaktagenten und soll dabei auch noch eine Schmugglerbande um Pierre Milot (Sieghardt Rupp) auffliegen lassen. Mehr oder weniger behilflich sind ihm dabei die Agentin Carol (ausgesprochen: Kähroll – Rosanna Schiaffino) und der trinkfreudige Smoky (Harald Juhnke). Doch Achtung! Ein äußerst tödlicher Killer mit stets gut angefeuchteter linker Geheimratsecke (Horst Frank) ist Mike auf den Fersen.
Eine große Ansammlung vieler kleiner Freuden kann sehr viel Glück bereiten! Im Programmheft wurde DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN als eher untypischer Hofbauer-Film angekündigt. Wer bin ich, um den Hofbauer-Kommandanten zu widersprechen – mir ist aber dennoch eine starke strukturelle Ähnlichkeit aufgefallen zu seinem früheren TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X (den ich hier schon besprochen habe): das fadenscheinige Drehbuch nutzt Hofbauer als Grundlage für eine detailverliebte Ode an kleine Verrücktheiten. Pure Kinofreude! Noch jede so triviale Szene wird mit einem kleinen Einfall, einer schönen Idee, einem hingereimten Witz, einer verblüffenden Irritation, einer poetischen visuellen Komposition angereichert. In anderen Filmen stehen Figuren klotzig herum und wickeln einen Expositionsdialog nach dem anderen ab und im Gespräch mit anderen Zuschauern erfuhr ich später, dass deutsche Hongkong-Filme teils nervenzerfetzende (oder im Kongress-Jargon: stählerne) Geduldsproben sein können. Hier gibt es allerdings in jeder Szene, in praktisch jedem Bild irgendetwas Denkwürdiges.
Wie viele Agentenhelden werden beim völlig selbstvergessenen Spiel mit einer Modelleisenbahn in den Film eingeführt? Stewart Granger, mit Zigarettenspitze im Mund, im Bademantel, rangiert zwei Züge aus verschiedenen Richtungen in seinen Zielbahnhof – der eine trägt ein Whisky-Fläschchen, der andere eine kleine Flasche Sodawasser in einem Waggon. Als er sich gerade seinen Drink daraus mixt, wird er unterbrochen von einem Anruf und ist davon sichtlich nicht begeistert. Mike Scott ist im Urlaub, muss diesen abbrechen und sein Unmut darüber zieht sich durch den ganzen Film: immer wieder merkt man ihm an, dass er gerade keine Lust auf seine Arbeit hat und sich lieber an der Figur seiner Agenten-Kollegin Carol oder an einem steifen Drink ergötzen möchte. „Und was machen Sie eigentlich in der Zwischenzeit?“ fragt Smoky den CIA-Agenten, als dieser ihn mit einem Auftrag wegschickt. Er müsse sich erst einmal erholen und sich danach auf das nächste Anstehende vorbereiten... Alles klar!
Mike Scott und Smoky... Im Grunde das schönste Pärchen im ganzen Film. Smoky erfährt eine ebenso denkwürdige Einführung wie Mike: er sitzt bei einem Open-Air-Friseur und lässt sich gerade das Haar schamponieren. Als Mike ihn trifft und sogleich zum Partner-in-Anti-Crime machen möchte, fackelt Smoky nicht lange rum. Das Haar wird gar nicht erst ausgewaschen, sondern notdürftig mit einem Handtuch abgewedelt und mit schaumiger Igelfrisur chauffiert er Mike erst mal wohin. Mike und Smoky – aus dem Zwischenspiel der beiden zaubert Hofbauer eine Art kleine Sub-Screwball-Komödie innerhalb der Agentengeschichte. Da fliegen die One-Liner wie Pingpongbälle hin und her. Da entwickelt sich nach und nach eine beidseitige platonische Liebe. Als Smoky einmal draußen Schmiere steht und Carol in der Höhle des Löwen Mike ganz eindeutige Angebote macht, entscheidet sich der ergraute CIA-Agent dazu, Smoky warten zu lassen und sich die schöne Zeit mit Carol zu gönnen – allerdings musste er sich das erst einmal ganz gründlich überlegen. Mike und Smoky – Stewart Granger und Harald Juhnke zusammen zu bringen war aber auch echt ein toller Besetzungscoup!
DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN explodiert vor Freude an lauter Kleinigkeiten. Ein Scherge, der sich als blinder Bettler tarnt und dann kurz vor dem Attentat eine Pistole aus seinem Blindenstock holt. Milot, der im Gespräch mit seinem Killer Nummer 1 ein Flaschenbier in der Hand hält und die Flasche hört einfach nicht auf, Schaum zu sprudeln, so sehr Sieghardt Rupp ihn auch immer wieder irritiert wegwischt. Horst Frank, so brutal charismatisch wie eh und je, der immer wieder einen Finger anleckt und sich dann die linke Geheimratsecke kurz massiert. In einer Nachtsequenz ist er einmal nur als tiefschwarze  Silhouette zu sehen – aufmerksame Zuschauer erkennen in den sich bewegenden Umrissen, dass er sich gerade wieder die Geheimratsecke anfeuchtet.
Natürlich ist DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN ein James-Bond-Film-Abklatsch, mit einem leicht altherrenschmierigen Granger als 007-Verschnitt (er ist 26 Jahre älter als seine Filmpartnerin – den Altersunterschied und die Altherrenschmierigkeit hat Roger Moore später bei seinem letzten 007-Auftritt in A VIEW TO A KILL allerdings noch getoppt). Manchmal ist der Abklatsch, die Kopie, der Verschnitt oder wie man es auch nennen möchte, besser als das zeitgenössische Original. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass ich die Bond-Filme Terence Youngs sehr mäßig bis unerträglich finde, sondern auch damit, dass DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN einfach rasanter, unterhaltsamer, überraschender, verblüffender und lustiger ist. Und im Grunde mit seiner stets sicheren, flüssigen und eleganten Kameraführung auch besser aussieht. Mit Riz Ortolani als Komponisten gibt es dabei auch immer etwas schönes für die Ohren.


ca. 21.00 Uhr

IMMER WENN ES NACHT WIRD
Regie: Hans D. Bove
Bundesrepublik Deutschland 1961
Bobby (Jan Hendriks), der Sohn eines renommierten Arztes, führt ein ausschweifendes Leben voller rauschhafter Partynächte. Dabei steckt er sich mit Syphilis an und reicht die Krankheit prompt weiter, unter anderem an die Gelegenheitsprostituierte Elke (Hannelore Elsner) sowie an die feierwütige Kitty. Das Melodrama zieht immer mehr Kreise und involviert schließlich den Assistenzarzt Harald (der am Anfang auch Kittys Verlobter ist) und die Assistenzärztin Karin.
„Ein miserabler Film, dilettantisch in seiner Machart“ – so urteilt das immer wieder im negativen Sinne zuverlässige Lexikon des internationalen Films. Das ist natürlich vollkommener Humbug, denn auch wenn IMMER WENN ES NACHT WIRD mich nicht zu Begeisterungsstürmen animiert hat, so ist er doch ganz offensichtlich ein extrem minutiös inszenierter Film mit einem meisterhaft umgesetzten Drehbuch.
Die Inhaltsangabe eben ist wesentlich geradliniger, als der Film es eigentlich hergibt. Es gibt so gut wie kaum Exposition: jede Figur wird in media res präsentiert, und zwar wirklich immer genau da, wo sie sich befindet. Wir sehen die Menschen zuerst, und während der Film läuft, lernen wir sie, ihren sozialen Stand, ihre Beziehungen, ihre Probleme, ihre Gefühlswelt nach und nach kennen. Anzeichen von Wirkungen werden gezeigt, bevor man sich Ursachen überhaupt irgendwie zusammenreimen kann. So wirkt IMMER WENN ES NACHT WIRD unglaublich dicht und konzentriert, obwohl er dabei keiner konventionellen Erzähldramaturgie folgt (und im Grunde auch keine Hauptfigur hat).
Bobby ist, mit Verlaub, ein schmieriges, niederträchtiges Arschloch, der Frauen verführt und dann wegwirft. Er will natürlich die respektable Assistenzärztin Karin verführen, fährt sie nach einer der vielen Parties nach Hause und fingiert zwischendurch eine kleine Übelkeit am Steuer – so dass sie ihn zu seiner Wohnung fahren muss. Ein billiger Trick, bis wir schließlich merken, dass ihm tatsächlich übel ist (und das ist auch das erste Anzeichen dafür, dass er ernsthaft krank ist – ein gutes Drittel des Films ist da soweit ich mich erinnere schon vorbei). Aus dem Schmierbatzen wird so plötzlich ein bemitleidenswerter Mensch, der sich ehrlich in Karin verliebt hat und sich nach und nach nicht nur als verantwortungsloser Nichtsnutz, sondern auch als Opfer seiner Obsessionen und seines sozialen Standes erweist. Karin ist es schließlich, die Bobby allen Erwartungen widersprechend Avancen macht, aber er muss gewaltsam verzichten. Der aufrechte, ehrliche Harald, der zu Beginn als schwer arbeitender Assistenzarzt präsentiert wird, der im Gegensatz zu Bobby und seinen Party-Kumpanen mangels gut betuchten Elternhauses ein asketisches Leben führen muss, bekommt gleich zu Beginn Hörner von seiner Verlobten aufgesetzt. Ein klassischer Saubermann – der sich nach und nach als Heuchler erweist, mit einem ungeheuer aggressiven und sehr abstoßenden Besitzanspruch gegenüber Frauen: sei es seine Verlobte und dann Ex-Verlobte Kitty, sei es Karin, die er rasch für eine „Alternativ-Verlobung“ auserkoren hat. Die Avancen der jungen, sexuell vollkommen ausgehungerten Ehefrau seines Chefs ignoriert er aber... IMMER WENN ES NACHT WIRD ist ein schwieriger Film voller schwieriger Menschen.
Es ist auch ein Film über eine junge Frau, die der Enge ihres unterprivilegierten Elternhauses entflieht, sich durch Gelegenheitsprostitution ein kleines Zubrot gewinnen möchte, von einem desinteressierten Freier angesteckt wird und schließlich in ein Irrenhaus gesteckt wird, wo Frauen mit Geschlechtskrankheiten in der glänzend wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik entsorgt werden, um schließlich nach einem Selbstmordversuch elendig zu sterben. Elke ist nicht die Hauptfigur von IMMER WENN ES NACHT WIRD (der Film hat sowieso keine), aber sie ist vielleicht der Anker (?) des Geschehens. 15 Jahre nach Ende des Dritten Reichs jung sein, eine Frau sein, arm sein und dadurch zu einem nicht-respektablen „Lebenswandel“ gezwungen zu werden, das war nicht zum Feiern... Dabei wird in IMMER WENN ES NACHT WIRD viel gefeiert. Peer Tellmann, Sohn eines reichen Wurstfabrikanten (der nach dem Krieg sein Wurstimperium als Schmuggler und Schieber aufgebaut hat, wie man in einem kurzen Nebensatz erfährt) richtet regelmäßig große Parties, die zu später Stunde gerne zu Orgien werden, aus, zu denen möglichst viele hübsche Mädchen eingeladen werden, denen er dann beim Feiern stets auf etwas doppeldeutige Weise „Tellmann-Würstchen“ anbietet – die Buffetverköstigung besteht aus Bergen, gar riesigen Eimern von Würsten aus Papas Wurstfabrik.
IMMER WENN ES NACHT WIRD hat meine Wahrnehmung dessen, was ein Matching Cut sein und tun kann, für immer und ewig geändert. Während Elke nach einem Selbstmordversuch operiert wird, gibt es wieder eine Feier, für die Tellmann die Verköstigung arrangiert hat. Beide Stränge werden verschlungen. Die Operation wird immer dramatischer, die Feier immer ausgelassener und wilder. Schließlich sehen wir einen Eimer am Boden des Operationssaals, in den der Arzt blutige Tupfer hineinwirft. Schnitt zur Party, auf einen Eimer, aus dem die Würste herausquellen. Einer der härtesten Magenschläge, die es beim Kongress zu bekommen gab. Die absolut göttliche Geschmacklosigkeit dieses Schnitts steht außer Frage, seine Wirkung schmettert direkt in Leib und Seele. Das Abfeiern der gutbetuchten Wirtschaftswunder-Gewinner und das elendige Sterben der sozio-ökonomischen Außenseiter, die nicht dazu gehören – zusammengefasst in einer simplen Zusammenführung zweier unvergesslicher Bilder...

Hannelore Elsner war übrigens ein oder zwei Tage später im Nürnberger Filmhaus zu Gast, anlässlich der Edgar-Reitz-Retrospektive, die parallel zum Kongress lief. Letzteres war immer wieder ein Quell von kleinen Witzen unter den Kongressniki: ob vielleicht der eine oder andere Reitz-Zuschauer sich in den falschen Saal verirren würde, zu einem japanischen Erotikfilm, einem New Yorker Schwulenporno, Ulli Lommels delirierenden Altherren-Alpträumen? Zugleich sah das eine Plakat der Retro, nämlich zu CARDILLAC (siehe hier) aus, als würde der Film zum Hofbauer-Kongress gehören. Hinzu kamen, wenn wir vor einem Saal aufgrund der Programmverzögerungen der Retrospektive warteten, kleine Wortwitze hinzu („Da überreitzt jemand die Zeit“).
Ein Co-Kongress-Besucher kam mit Hannelore Elsner dann auch ins Gespräch, aber darüber kann er selbst natürlich besser berichten.


ca. 23.30 Uhr

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU („Angel Guts: Red Classroom“)
Regie: Sone Chusei
Japan 1979
Der Pornograf Tetsuro verliebt sich bei der Sichtung eines Vergewaltigungspornos in Nami, die „Hauptdarstellerin“ des Films (der tatsächlich nicht gespielt ist). Als er sie schließlich trifft, beginnt eine schwierige Liebe.
Der japanische Erotikfilm ist nichts, womit ich mich gut auskenne. Einige Blogger-Kollegen und Filmautoren schwärmen immer wieder von einem Genre, das gerade auch innerhalb der großen Filmstudios Platz bereit hielt für bilderstürmerischen Wahnsinn und eine völlig entfesselte Experimentierlust. Bei bislang zwei „klassischen“ Vertretern des Genres spürte ich nichts davon – bei TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU umso mehr.
Bereits der Anfang legt im Grunde alles vor, was den Film im weiteren Verlauf auszeichnen wird. Eine Frau wird in einem hässlichen, kalten Gebäude von Männern verfolgt, schließlich vergewaltigt. Das ganze ist in einem frostigen Blau gehalten, untermalt von einer kakophonischen elektronischen Musik. Dann plötzlich wird klar, dass das ein Film im Film ist: Männer sitzen in einem improvisierten, ungemütlichen Kinosaal und gucken sich, je nach Gesicht aufgegeilt oder völlig hypnotisiert, einen Vergewaltigungsporno an... TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ist voll von Männern, die auf fotografische oder filmische Aufnahmen von Frauen schauen; er spielt in einer kalten, abstoßenden, abwechselnd zugemüllten oder gähnend leeren Stadt; der Sex ist gewalttätig, chaotisch, roh, grotesk, oft dezidiert unsexy; die Gefühlsachterbahn wird von einer jeweilig passenden Farbdramaturgie und aufrüttelnden Bild- und Ton-Montage begleitet.
Einige unvergessliche Bilder... Die beiden liebenden Protagonisten unterhalten sich in einer langen, langen, unendlich langen statischen Sequenz über ihre Beziehung und das Leben. Sie sind als winzige Figürchen in einer Stadtlandschaft zu sehen, deren Lärm aus Straßenverkehr ihre Worte fast verschluckt.
Oder nachdem Tetsuro sein Date mit ihr verpasst, weil er verhaftet wurde und Nami nach Monaten Suche endlich in einer schäbigen Bar wiederfindet. Betrunken torkelt er hinein, versucht mit ihr zu reden, aber das hat keinen Sinn. Ton und Bild setzen immer wieder in kurzen, alles verzerrenden Reissschwenks aus. Communication Breakdown. (hier zu sehen).
Und natürlich diese furchterregende, qualvoll lange Sexszene. Nami, schwer enttäuscht, dass Tetsuro sie versetzt hat (nicht wissend, dass er verhaftet wurde), bandelt in einer Bar mit dem Erstbesten an. Es handelt sich offenbar um einen biederen, unangenehm betrunkenen Geschäftsmann und beide nehmen sich gleich ein Hotelzimmer. Einen Teil der ersten Sex-Runde zeigt der Film in horizontal rotierenden Spiegeln verzerrt. Das sieht auf der großen Leinwand, zumal TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU auch ein grandioser Cinemascope-Film ist, absolut verblüffend aus. Ein wenig später sehen wir einen vollkommen verzerrten POV von ihr auf ihren One-Night-Stand: es handelte sich wohl um Namis von Wahnsinn verzerrte Perspektive. Nach Vollzug ist der biedere Geschäftsmann erst mal müde, doch sie lässt nicht von ihm ab, zerrt ihn, der nach jeder weiteren Runde zunehmend erbarmungswürdiger versucht, wegzukriechen, immer wieder zurück. Groteske Bilder, bei denen das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt.
Und schlussendlich diese absolut niederschmetternde Erkenntnis bei Tetsuro und beim Zuschauer, als klar wird, dass Nami wohl den Verstand verloren hat: Tetsuro verspricht ihr ein neues Treffen, aber wozu braucht sie ein neues Treffen – sie wartet nach eigener Aussage immer noch auf ihn... Im Kern ist TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ein rührendes Melodrama, eine herzzerreissende Romanze über zwei kaputte Menschen. Ein ganz großer, tragischer Liebesfilm.
Einen ziemlich guten Amateur-Trailer zu dem Film gibt es hier zu sehen.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU war der beste Film des Tages und eigentlich ein idealer Abschluss für einen ersten Festivaltag. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und einer sogar noch weiter fortgeschrittenen Müdigkeit ließ ich das darauf folgende „Überraschungsprogramm“ sausen. Das sollte ich sehr schwer bereuen, denn erstens konnte ich in meiner Unterkunft weit über zwei Stunden lang nicht einschlafen, zweitens gab es als Überraschung wohl eine digitalisierte VHS-Fassung des italienisch-türkischen Mafiafilm QUEI PARACUL... PI DI JOLANDO E MARGHERITO zu sehen, über den einige Kongressniki sich am nächsten Tag recht begeistert äußerten.


Freitag, 5. Januar, ca. 15.00 Uhr

Der zweite Tag beginnt mit dem traditionellen „StÜF“, dem „stählernen Überraschungsfilm“. Das italienische Genre-Kino, so Christoph in seiner wunderbaren Einführung, habe nur wenige Subgenres hervorgebracht, die derartig extrem waren wie...



... die Militärkomödie!

Mein Sitznachbar, im Gegensatz zu mir wahrscheinlich kein Hofbauer-Kongress-Neuling und sicherlich auch ein besserer Kenner dieses Subgenres, bricht stöhnend fast komplett zusammen, als er das hört, bleibt aber dennoch tapfer sitzen.
In der zweiten Reihe weiter vorne wird ein kleiner Glas-Flachmann zwecks Einölung des Humorzentrums im Gehirn rumgereicht, ein Zuschauer mit militärischem Amt lockert seine Uniform. Feuer frei für...


IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE („Der Divisionstrottel“)
Regie: Mariano Laurenti
Italien 1975
Feldwebel Pfeifenwichs (auf Italienisch „Rompiglioni“ – eine Abwandlung von „rompicoglioni, also in etwa: „Geht-auf-die-Eier“) erscheint eines schönen Morgens in einer NATO-Kaserne. Mit seinem fröhlich-grimassierenden Gemüt, seinem begnadeten Spürsinn zur Enttarnung von Spionen und seinem unverwechselbaren Talent, in jeder Situation stets die perfekten Worte zu finden, wird er bald zum großen „Liebling“ des Stützpunktes.
Nun ja... auf eine gewisse Weise muss man sich auf diesen Film einlassen. Wenn man die ersten zehn Minuten mit ihrem ultragroben, dämlichen Klamauk erst einmal so halbwegs überstanden hat – tja, dann kommt erst der richtige Härtetest in Form des Protagonisten Pfeifenwichs und der extremen Gesichtseskalationen seines Darstellers Franco Franchi (aus dem berühmten Komiker-Duo Franco & Ciccio – hier ohne Ciccio). Ab hier wird der Klamauk noch härter, erklimmt Gipfelstürme des Irrsinns. Da wird aus Versehen „Suppe“ aus dem Topf zum Auskochen der Bodenwischlappen probiert. Soldaten werden außerhalb des Stützpunktes bei Dates oder Schäferstündchen mit anderen (weiblichen) Soldaten verfolgt – und entpuppen sich dann als Vorgesetzte. Natürlich fliegen schlussendlich auch Torten in Gesichter und in einem chinesischen Restaurant bricht eine große Kungfu-Keilerei aus. Und zwischendrin Pfeifenwichs / Rompiglioni, der so schwer grimassierend wie auch vollkommen absolut überzeugt von sich selbst eine Katastrophe nach der anderen baut.
Am Ende haben die anderen Soldaten nicht nur die Schnauze, sondern auch noch wortwörtlich die Hose voll von Pfeifenwichs. Aus Versehen aktiviert der tollpatschige Feldwebel eine geheime Superwaffe, die der verrückte Wissenschaftler des Stützpunkts gebaut hat: eine Kanone, die hochgradig abführend wirkende Gasladungen abfeuert. Ob Mann oder Frau, General oder simpler Soldat, ob Italiener, Deutscher, Brite, Amerikaner oder Chinese: alle rennen wie um ihr Leben, um möglichst rasch irgendwo scheißen zu gehen... Das bringt das Faß zum Überlaufen, und Pfeifenwichs wird nach seiner Degradierung dann auch vom Stützpunkt verjagt.
IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE verbirgt durchaus, wie ich finde, eine dunkle Seite. Pfeifenwichs ist auf eine unangenehme Art ein Alltagsfaschist. Er ist ein Kriecher, ein Heuchler, ein bornierter Spießer, der keine Gelegenheit verstreichen lässt, um Personen, die in seinen Augen minderwertig sind (also hauptsächlich Frauen und rangniedrigere Soldaten), zu demütigen, belästigen, schikanieren und denunzieren. Bei einem seiner Angriffe gegen den Koch lässt er dessen Radio von zwei Militärpolizisten zerstören: sie beugen sich über den großen Gartopf, in dem das Gerät versteckt ist und schlagen es mit ihren Gewehrkolben kaputt. Der Aufbau der ganzen Szene ist witzig und grotesk, doch der Zerstörungsakt wirkt trotzdem bauchmäßig sehr unangenehm, fast ein wenig verstörend... Wäre IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE keine Komödie, läge eine vage Assoziation zum ersten Teil von FULL METAL JACKET in der Luft. Die zutiefst unsympathische Hauptfigur gibt Laurentis Film auch etwas unterschwellig Hartes.
Pfeifenwichs ist zudem auf völlig verblendete Art von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt. Er lebt in einer kleinen Blase „alternativer Fakten“, die er selbst erschafft. Aber auf eine gewisse Weise ist IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch eine wunderschöne Utopie, weil Pfeifenwichs aus praktisch jeglicher Situation stets als totaler Depp hervorgeht.
Stählern? Ein bisschen vielleicht im letzten Drittel, aber möglicherweise lag das an der Müdigkeit. Doch irgendwie mochte ich IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch. Die Frage, ob beim nächsten Terza Visione vielleicht auch eine Militärkomödie laufen wird, stelle ich mir fast ein wenig hoffnungsvoll – ich weiß bloß nicht, ob die Betonung auf „fast“ oder „hoffnungsvoll“ liegt...


ca. 17.30 Uhr

SANTA („Santa – Sklavin des Lasters“)
Regie: Norman Foster, Alfredo Gómez de la Vega
Mexiko 1943
Die junge Santa verliebt sich in einen Soldaten, der sie schwanger stehen lässt. Der darauf folgende Abstieg führt sie geradewegs in ein Bordell, wo der blinde Hauspianist sich in sie verliebt. Santa härtet sich ab, nimmt sich reiche Freier, bis sie schließlich mit einem beliebten Stierkämpfer anbandelt. Ihr sozialer Aufstieg ist perfekt – aber natürlich doch fragil...
Wenn man mich fragt: SANTA war weniger überraschend, dafür aber stählerner als IL SERGENTA ROMPIGLIONI DIVENTE... CAPORALE. Es hat nicht geholfen, dass die deutsche Synchro kaum weniger selbst-vertrashend als beim vorherigen Film war, was bei einem schmachtenden Melodrama noch weniger passt als bei einer Klamaukkomödie.
Mein Lieblingsmoment ist das Kennenlernen zwischen Santa und dem Stierkämpfer. Das Set ist ziemlich interessant aufgebaut, mit Logen im ersten Stock für die Edlen und einer Art Bankett im Erdgeschoss, für die Anhänger des Matadors. Santa diniert gerade mit ihrem reichen Freier, während man im unteren Hintergrund die Feierlichkeiten um den Stierkämpfer sieht. Dann steigt sie herab, so dass man ab jetzt die edlen Logen im oberen Hintergrund sieht. Nachdem sie sich zu dem feiernden Bankett hinzugesetzt hat, folgt dieser fast schon obszöne Austausch von Blicken zwischen ihr und dem Stierkämpfer. Eine Leidenschaftsbande, geknüpft durch zwei Paar gierige Augen.
SANTA ist gespickt mit brutalen Ellipsen, die erst einmal verblüffend sind, fast Ozu‘esk. Allerdings hängt das sicherlich damit zusammen, dass die deutsche Kinofassung, die gezeigt wurde, um über 15 Minuten gekürzt war. So wirkte SANTA ziemlich „ruckelig“, auf nicht immer angenehme Weise. Auch die ausgedehnten, schmalzigen Gebetsszenen, die immer wieder saudämlichen Dialoge (aber auch hier wieder: Synchonfassung), die mäßig begeisternde Hauptdarstellerin machten es mir schwer, in den Film reinzukommen.  SANTA ist definitiv der Kongress-Film, der mir am wenigsten gegeben hat. Als schlecht könnte ich ihn guten Gewissens nicht bezeichnen. Vielleicht muss ich ihm mal eine zweite Chance geben – in einer vollständigeren Fassung.

Es gibt wohl nichts, was mich auf den kommenden Film irgendwie hätte vorbereiten können...

ca. 21.00 Uhr

DER ZWEITE FRÜHLING
Regie: Ulli Lommel
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1975
Der Boulevard-Journalist Fox (Curd Jürgens) heiratet überstürzt die wesentlich jüngere Krankenschwester Gertrud (Irmgard Schönberg). Statt eines ersehnten „zweiten Frühlings“ wird die Ehe für beide Partner zunehmend zur Hölle.
Wahnsinn... Wahnsinn! WAHNSINN!!!
DER ZWEITE FRÜHLING ist einer der verrücktesten, verblüffendsten, poetischsten, schwierigsten und schmierigsten und schönsten Filme, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Die unglaubliche visuelle Kreativität, die schambefreite Lust an der Provokation, das „Beflecken“ des Melodramas mit bizarren, grotesken Störfaktoren, die ehrliche Offenheit für das Peinliche, das Unschöne, das Perfide, das Verdrängte (wobei vieles davon im Grunde alltäglich ist): das alles lässt DER ZWEITE FRÜHLING wie von einem anderen Planeten erscheinen, auch wenn es sich eigentlich „nur“ um ein Melodrama über eine entfremdete Ehe handelt.
Schon in den ersten Bildern ist ein leichtes, unbehagliches Vibrieren, das einen ungewöhnlichen Film ankündigt: eine geheime Hochzeit auf einem Hügel vor Rom, im Hintergrund ein Panorama der Ewigen Stadt und der Petersdom. Und schon hier ein Störfaktor: Bekannte des Bräutigams stoßen, sichtbar zu dessen großen Unmut, dazu. Nach der sexlosen und bettgetrennten Hochzeitsnacht besucht dann eine Ex-Geliebte Fox‘, Maria, das Ehepaar und steigt wenig später zu Getrud in die Badewanne, streichelt sich und dann auch die Braut nonchalant, spricht über Selbstbefriedigung. Als hätte der Film einen kleinen Sprung und wir wären gerade im falschen Film gelandet. Eine Täuschung: DER ZWEITE FRÜHLING ist der richtige Film.
Wer daran zweifelt, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn wir völlig ohne Vorwarnung die Sauna besuchen. Das Bild: Curd Jürgens liegt entspannt auf einer Sitzbank neben einem Freund, mit dem er sich unterhält. Er hat die Beine locker übereinander geschlagen und sein Handtuch ist etwas zu kurz: wahrscheinlich haben nur wenige internationale Schauspiel-Stars ein so derartig freies Sichtfeld auf ihren Damm präsentiert. Ein bisschen weiter saunieren eine junge Dame und zwei junge Herren. Sie wird bald ihr Handtuch lüften, einem der beiden einen blasen und dann mit diesem oder dem anderen in aller Öffentlichkeit Sex haben. Fox‘ Freund erregt dieser Anblick in jeglicher Hinsicht. Er ist gleichermaßen geil und empört, äußert seinen Wunsch, der jungen Dame mal hinten einen reinzustecken. Leicht genervt hat sich Fox wieder in eine Sitzposition gebracht, antwortet sinngemäß „Dann geh doch hin und sag ihr das!“. Und dann kratzt er sich die Eier – mehr als ein Jucken scheint das eher eine totale Gleichgültigkeit auszudrücken. Da sein Freund den Rat nicht beherzigen will, geht Fox eben selbst als Bote zu der jungen Frau und sagt ihr in paraphrasierten Worten den Wunsch seines Freundes. „Warum nicht, aber erst will ich seinen Schwanz sehen!“. Gleichgültig kehrt Fox zu seinem Platz zurück – währenddessen ist sein kurzes Handtuch wieder etwas hochgerutscht und nonchalant kratzt er sich am entblössten Hintern. Dass die Dame bei einer zufrieden stellenden Gliedbetrachtung eventuell bereit wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, glaubt der Freund gar nicht. „Vielleicht ein paar Scheine...“ – aber nein, das fände er sehr verwerflich, dafür zu bezahlen. Fox blickt die ganze Zeit so, als müsse er sich weiter irgendwo kratzen. Gegen geballte Heuchelei kann ein Kratzen an manchen Stellen mehr Erleichterung verschaffen als es jegliche moralische Predigt könnte...
Fox sitzt dabei aber eigentlich auch selbst im Glashaus. So verzichtsvoll die Hochzeitsnacht, so sehr tobt sich der sich selbst für geläutert haltende Don Juan mit seinem Überraschungsbesuch Maria aus. Das geschieht in Abwesenheit seiner Gattin, doch beide treiben es im Wohnzimmer so wild, dass sie irgendwann vor Müdigkeit wegnicken. Als Getrud nach Hause kommt, findet sie beide schlafend in, na ja, eindeutiger Position wieder: beide splitternackt auf einem Sofa, er über die Armlehne geknickt, mit seinem Kopf zwischen Marias Beinen (dieses unvergessliche Tableau gibt es – allerdings nicht in glorreichem Cinemascope – hier zu sehen). Schon nur für die Mischung aus Mut, Entschlossenheit und einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber seinem „guten Ruf“ als Weltstar, die Curd Jürgens in DER ZWEITE FRÜHLING an den Tag legt, sollte man ehrfürchtig auf die Knie fallen. Ganz nach dem Motto: was Marlon Brando kann, kann ich besser und härter.
Das sind natürlich die ganz großen Schmier-Highlights des Films (na gut: ein Partnertausch, der ziemlich in die Hose geht, kommt gegen Ende noch dazu), aber DER ZWEITE FRÜHLING ist noch viel, viel großartiger: randvoll mit kleinen Irritationen und tollen Einfällen. Das extrem auffällige Kreuz, das Curd Jürgens an einer etwas zu langen Kette trägt (welches Kreuz muss Fox denn tragen?). Das Foyer oder Wohnzimmer mit dem riesigen Gemälde „großer“ Männer in Kampfrüstung, vor das sich Fox wahlweise alleine oder mit seiner riesigen Tigerdogge platziert (ich habe leider auf die Schnelle nicht erkennt, ob da reelle Persönlichkeiten portraitiert sind). Oder das Ende eines Gesprächs zwischen den beiden entfremdeten Eheleuten, gefilmt durch ein Aquarium: Jürgens geht eine Treppe hinunter, die parallel zum Aquarium steht und so sieht es aus, als würde er nach und nach in den Boden des Aquariums versinken – und dann schwimmt noch ein Fisch durch das Bild und Schönbergs Busen. Eine Jagd auf dem Land: Gertrud, die beim Anblick eines kleinen Schnitts im Finger vorher noch ohnmächtig wurde, knallt mit einem gezielten Schuss gnadenlos einen Fasan ab (LA RÈGLE DU JEU lässt grüßen). Fox, der in seinem schnittigen Cabrio nach Hause kommt, das Zellophan von einem Rosenstrauss abwickelt, kurz zögert und dann auf die Rückbank legt (im Gegensatz zum Zuschauer nicht ahnend, dass seine Frau gerade seinen lieben Hund kaltblütig ermordet hat). Fox, mittlerweile aus seiner Villa ausgezogen und in einem Herbergszimmer, einer „Künstlerbude“ wohnend, im Gespräch mit seiner Noch-Ehefrau – und plötzlich wird das Fenster durch den Wind aufgestoßen, und der Wind bläst einen Kerzenleuchter aus: das Feuer dieser Ehe ist definitiv ausgegangen...
DER ZWEITE FRÜHLING thematisiert unterschwellig wie auch manch anderer Kongressfilm, wie Beziehungen zwischen Mann und Frau an unterschiedlichen Erwartungen scheitern, ja zum Scheitern verurteilt sind. Fox will eigentlich überhaupt keinen „zweiten Frühling“: was er möchte, ist im Grunde ein „letzter Herbst“. In Rente gehen, das, was er früher mal gemacht hat, nämlich literarisch zu schreiben, als Hobby betreiben: seine Frau soll dazu nur eine Zeugin sein. Immer wieder verspricht er ihr, dass sie bald Rom verlassen und nach Amerika gehen werden, wo er dann seine ganze Zeit ihr widmen kann. Das erscheint ihm als eine derartig großartige Idee, dass ihm gar nicht auffällt, wie Gertruds Gesicht sich bei diesem vergifteten „Versprechen“ jedes Mal verdunkelt. Sie erwartet etwas anderes vom Leben, als nur die stumme und selbstgenügsame Zeugin eines Rentners zu sein. Mal wirklich miteinander sprechen, diese Gelegenheit lassen bei einer unvergesslichen Bootstour auf sein Bestreben hin verstreichen. Am Ende des Films, wenn Getrud auf einer langen Treppe steht, im Hintergrund eine von Eddie Constantine angeführte Band, tanzende Bekannte auf den Stufen, der Blick frei auf ein Stadtpanorama – da gehört der „zweite Frühling“ nach einem missglückten „Herbst“ vielleicht endlich ihr...

Die Kopie, die ein Eskalierender Träumer durch Zufall bei einem Filmsammler gefunden hat, war wunderschön, in strahlenden Technicolor-Farben, original gepresst im Technicolor-Werk Rom, mit knackig scharfem Bild, in glorreichem Cinemascope, aber das wird leider nicht dauern: sie ist bereits in einem frühen Stadium des Essig-Syndroms. Da von dem Film, der wie so einige Filme beim Kongress ein waschechter „film maudit“ ist, wohl leider nicht an jeder Ecke eine Kopie lauert, kann ich nur sagen: wenn es eine Crowdfunding-Kampagne à la „Rettet Curd Jürgens‘ Arsch“ gäbe – ich würde sofort spenden. Ich war nicht der einzige Kongressnik, der diese Idee hatte...

Nach dem Ende des Films, die Credits sind, soweit ich mich richtig erinnere, eben weiß auf rotem Hintergrund zu Stelvio Ciprianis grandiosem Score hochgerollt, bin ich in einem völlig jenseitigen Zustand. Irgendwo zwischen vollkommen euphorie-besoffen, leicht high und so sehr wie noch nie bereit, die Welt zu erobern. Ich schwebe geradezu. Über den Highness-Grad der anderen Zuschauer müsste ich spekulieren. Ein Eskalierender Träumer, langjähriger Veteran des Hofbauer-Kongresses, nennt DER ZWEITE FRÜHLING bei einem Gespräch vor dem Kinosaal den zweitbesten aller bisherigen Kongress-Filme und spricht glaube ich auch von der Schwierigkeit, jetzt wieder „runterzukommen“. Nun denn... Zum Runterkommen gab es:


ca. 23.30 Uhr

KARUSSELL
Regie: Alwin Elling
Deutschland 1937
Erika liebt Fritz und Fritz liebt Erika (Marika Rökk). Einer Ehe steht also nichts im Weg? Doch: Theodor Huhn (Paul Henckels), seines Zeichens gleichermaßen Antiquar sowie Fritz‘ Onkel, Vorgesetzter und Erziehungsberechtigter, hält nichts von einer potentiellen ehelichen Verbindung seines Neffen. Während Fritz sich ergeben würde, heckt Erika einen Plan aus: mit anderen Männern flirten, bis Fritz aus Eifersucht erst recht heiraten will. Notfalls bandelt Erika sogar mit „Hühnchen“ höchstpersönlich an.
Nach DER ZWEITE FRÜHLING hatte es KARUSSELL zugegeben sehr, sehr schwer. Eine Screwball-Komödie, der es meiner Meinung nach in der Gesamtansicht etwas an Schwung und Spritzigkeit fehlte, auch wenn einzelne Momente durchaus schön waren. Mein Favorit war dann auch das Treiben einer eigentlich ziemlich unwichtigen Figur. Eines Abends hat Erika, wie man in Neudeutsch sagen würde, ein Date mit einem Kunden von der Tankstelle, bei der sie arbeitet. Ein eifersüchtiger Fritz und der Koch, der so gerne mit viel Liebe Pudding für Erika kocht, seine Arbeitsstelle direkt neben Erika hat und wohl offensichtlich ein bisschen in sie verliebt ist, folgen den Spuren Erikas vom Rummel bis zu der Wohnung ihres Dates. Der Koch sammelt zwischendurch eine Puppe auf – ich glaube es ist ein Gewinn bei einer Schießbude, aber ich bin mir da nicht mehr sicher. Jedenfalls schleppt er bei der groß angelegten Suche nach Erika die Puppe mit sich. Dabei ist er leicht betrunken, aber das macht ja auch nichts. Er und Fritz (und die Puppe) kommen bei dem schmierigen reichen Typen an, der Erika völlig selbstlos ein hübsches Abendkleid anbietet und sie dann heimlich fotografiert, während sie es anzieht. Dort läuft gerade eine große Feier, und später kommt es zu einer schicksalhaften Mantelverwechslung in der Garderobe – aber das interessiert den Koch überhaupt nicht, weil seine Gedanken und seine Hände bei der Puppe verweilen. Auf einem Stuhl in der Garderobe erblickt er einen Teddy-Bären, setzt dann prompt die Puppe dazu und versucht die beiden zu verkuppeln. Das läuft alles nebenher, während die „eigentliche“ Handlung weiterspielt (Mantelverwechslung, wo ist Erika etc.?). Irgendwann wird Fritz klar, dass Erika verschwunden ist und so müssen er und der Koch wieder aufbrechen. Der Koch zögert nicht, sondern klaut den Teddy-Bären einfach, oder poetischer ausgedrückt: er nimmt den neuen Geliebten seiner Puppe mit...
Sehr anregend anzusehen war auch die „Elektrobehandlung“, die Onkel „Hühnchen“ aus Versehen bekommt. Der Gag wird so aufgebaut, dass man ihn schon eine brutale Elektroschock-Tortur erhalten sieht. Statt des äußerst „nervösen“ Herrn wird das aufgeregte „Hühnchen“ in das Behandlungszimmer geführt und bevor er irgendetwas tun kann, bekommt er bereits eine anregende Elektro-Massage: kleine elektrische Strömungen breiten sich über seinen Körper aus und das ganze ist offensichtlich sehr entspannend und angenehm. So etwas sollte man bei Filmfestivals auch anbieten: das wäre ideal für Zuschauer, deren Muskeln vom langen Sitzen in eher beengten Sitzen schon ganz verkrampft sind...

Sehr müde. Aber nach meiner Erfahrung der letzten Nacht bleibe ich noch zum Überraschungsfilm. Falls es dazu käme: Filme schlafend zu „sehen“ gehört zum Leben eines echten Filmsüchtigen mit dazu und das wäre allemal besser als mich in meiner Unterkunft schlaflos zu wälzen. Zumal wurde dann auch über einen Film gemunkelt, in dem alle Darsteller Bodybuilder seien...


ca. 02.00 Uhr

KILLING AMERICAN STYLE
Regie: Amir Shervan
USA / Kanada 1988 (digitalisierte VHS-Kopie)
Ein paar stark durchtrainierte Herren begehen einen Raubüberfall, werden geschnappt, brechen wieder aus und verschanzen sich im Haus einer Familie mit einem stark durchtrainierten Oberhaupt.
Der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding schrieb über zwei bestimmte Filme einmal, dass sie nicht „gemacht“ wirken, sondern vielmehr vielleicht schon immer da waren, nur von ihren Machern „geborgen“ wurden – über einen anderen schrieb er zu anderer Gelegenheit, er sei vielleicht in einer Paralleldimension gedreht worden und man könne sich nicht vorstellen, dass echte Menschen mit echten Leben oder gar einem Feierabend nach Dreh daran teilgenommen haben. Ausgehend von diesen Gedanken wäre KILLING AMERICAN STYLE, der so aussieht, als wäre er aus einer Paralleldimension geborgen worden, also irgendwo anzusiedeln zwischen RIO BRAVO, DIRTY HARRY und MUTANT HUNT. Mit dem ersten teilt er Grundzüge des Belagerungsszenarios, mit dem zweiten verbindet ihn die extralegale Lösung von Konflikten mithilfe großer Pistolen, mit dem dritten die Einblicke in visuellen Abgründe der 1980er Jahre.
Der gemeinsame Nenner dieser drei Filme dürfte zusätzlich auch sein, dass sie Vorstellungen davon, was ein „guter“ Film sei, völlig sprengen: RIO BRAVO und DIRTY HARRY sind in ihrer Großartigkeit völlig jenseits eines banalen Begriffs wie „gut“, MUTANT HUNT setzt denn Sinn jeglicher Kategorisierung mit Adjektiven ad absurdum. Auch KILLING AMERICAN STYLE ist kein „guter“ Film. Er, oder „es“ wirkt tatsächlich ein wenig wie aus einem Paralleluniversum: es gibt einen relativ geradlinigen Raubüberfall, und dann auch eine Fluchtszene und dann ein im Grunde archetypisches Belagerungsszenario. Alles vertraut und schon x-mal gesehen, und doch wirkt es irgendwie auch fremd.
Fremd durch die aufgepumpten Körper der Hauptdarsteller. Klar, Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger waren auch aufgepumpt – aber hier sind es gleich fünf Stück, ein Held und vier Antagonisten (einer davon allerdings verletzt und meist bettlägerig). Fremd durch die aufreizende Langsamkeit: lange Sexszenen, die extrem schmierig und durch die eher statische Inszenierung aber auch sehr trivial, banal wirken; oder auch diese merkwürdig langen Dialoge zwischen den Polizisten, die sich gegenseitig am Telefon grüßen und nachfragen, wie es eigentlich mit der Pferdezucht nach Feierabend so läuft (die Antwort: Pferdezucht ist out, die große Kohle gäbe es bei Hundezucht); und diese bis zum bitteren Ende durchexerzierte Befragung im Bordell, wo der seriöse Polizist so viele Fragen stellen kann, wie er nur möchte: er bekommt von den Damen nur weitere Anzüglichkeiten und erregende Doppeldeutigkeiten ins Ohr gehaucht. Fremd durch diese auffällige Ansammlung unfassbarer Modesünden: etwa diese nippelfreien Bodybuilder-Tanktops mit Spaghettiträgern, oder diese augenkrebsinduzierenden, lilafarbenen Ensembles aus Jogginghose mit Jacke und Goldkettchen – niemals zu vergessen sind auch diese unglaublichen Vokuhilas. Auch das ist KILLING AMERICAN STYLE: eine hymnische Ode an die ästhetisch zersetzende Kraft des Vokuhila in seinen grässlichsten und abgründigsten Formen. Der japanische Arzt, gespielt von einem Latino, kombiniert sein Exemplar mit einem pornösen Schnurrbart, doch den Vogel schießt ein junger Cop ab: wer so eine Frisur trägt, muss eine Dienstmarke und eine Knarre haben, sonst überlebt er nicht lange.
KILLING AMERICAN STYLE ist in seiner ganzen Laufzeit vollkommen frei von jeglicher Ironie: ein grimmiger Film, der es todernst meint. Er fährt seine Geschütze auf, als würde sich hier ein großes existenzielles Drama der Weltklasse abspielen, ein geniales Kammerspiel Shakespeare‘scher Dimension, und nicht ein No-Budget-Action-Shlock, in dem sich Bodybuilder mit merkwürdigen Frisuren und augenkrebserregenden Klamotten in gerade mal zwei bis drei Räumen und in spießigen Schrebergärtchen-Hinterhöfen gegenseitig die Rübe einschlagen. Diese Ironiefreiheit, dieser bitterer Ernst kommt ihm zugute. KILLING AMERICAN STYLE spielt auf eine erfrischende Art mit ehrlichen Karten.
Von „seriösen“ Zuschauern werden immer wieder schlechte Darsteller als Merkmal von solch „unseriösen“ Filmen erwähnt. Mit klassischer Schauspielerei hat das sicherlich überhaupt nichts zu tun, was Robert Z‘Dar, Harold Diamond und John Lynch hier abziehen, aber sie stehen wortwörtlich ihren Mann: Blöcke, wie aus Granit gehauen. Robert Z‘Dar ist natürlich eine Wucht. Z‘Dar litt an Cherubismus: eine Krankheit, die durch Auswucherungen des Kiefers das Gesicht verformt. Sein einzigartiges Gesicht ist auch der eigentliche Star des Films. Wer Z‘Dars natürliches Charisma verkennt, muss einfach bösartig sein – fast so bösartig wie die Figur Lynch, gespielt von John Lynch. Seine Muskeln sprechen für sich, aber sein Schnurrbart, sein fieses Lächeln und sein Tick, sich vor einer Vergewaltigung umständlich oberkörperfrei zu machen, treiben den Schmiergehalt von KILLING AMERICAN STYLE in ungeahnte Höhen: ein Mann, den man zu hassen liebt. Harold Diamond, der den belagerten Hausherren spielt, ist einem etwas breiteren Kreis von Filmliebhabern als Stockkampf-Gegner Rambos in RAMBO III bekannt. In KILLING AMERICAN STYLE ist seine Frisur genau so schmierig, seine Kleidung noch abscheulicher, aber er spielt eigentlich den „Guten“. Das wird zu einer echten Herausforderung, denn irgendwie fetzen Z‘Dar und Lynch mehr. Diamond – John Morgan (so der Filmname): der Mann, den man zu lieben hasst?
KILLING AMERICAN STYLE wurde als „Videoknüppel“ präsentiert: eine deutsche VHS, die für die Kinoprojektion so digitalisiert wurde, dass alle VHS-Artefakte „lebensecht“ zu sehen waren. Dem grindigen Charme des Films kam das zugute, aber die deutsche Synchro war aus rein technischer Sicht unter aller Kanone: wenn jemand sprach, wurde jeglicher Ambienteton sofort ausgeblendet, um dann wieder aufgeblendet zu werden, wenn geschwiegen wurde. Ich bezeichne deutsche Synchronisationfassungen ja gerne als „bebilderte Hörbücher“ – hier gingen Ton und Bild ganz besonders krass auseinander, wirkten manchmal so, als würden sie sich nicht im gleichen Kontext, nicht im gleichen Raum, nicht auf der gleichen Welt befinden. Der halluzinatorischen Wirkung des Films kam das irgendwie zugute, aber es machte ihn auch noch anstrengender. Die letzte halbe Stunde des Films war dann auch relativ hart durchzustehen, aber das hing auch damit zusammen, dass um 3.15 Uhr morgens meine Tagesform schon einen ganz massiven Schwund erlitten hatte... Nichtsdestotrotz: der zweitbeste Film des Tages!


Noch mehr Würste, noch mehr Engelsgedärme, noch mehr tragische Liebesgeschichten um kaputte Menschen, um Männer, die nicht mehr als ihre besitzergreifende Liebe zu vergeben haben und Frauen, die etwas mehr vom Leben erwarten, gab es auch in den zwei nächsten Tagen des Hofbauer-Kongresses. Mehr dazu hier in Kürze...

Dienstag, 20. Juni 2017

Alles in Butter?!

CHEMIE UND LIEBE
Deutschland – Sowjetische Besatzungszone 1948
Regie: Arthur Maria Rabenalt
Darsteller: Hans Nielsen (Dr. Alland), Tilly Lauenstein (Martina Höller), Ralph Lothar (Da Costa), Gisela Deege (Aimée), Gerd Frickhöffer (Dr. Brose) Arno Paulsen (Konzernchef Miller), Arno Ebert (Konzernchef Vandenhoff), Ann Höling (Georgia Spaldi), Alfred Braun (der Erzähler)


Wer bekommt hier sein Fett weg?

„Träumen Sie?“
„Zuweilen.“
„Erotisch?“
„Chemisch!“
„Merkwürdige Form von Libidostauung.“
(aus einer Analyse-Sitzung zwischen der Psychoanalytikerin Spaldi und Dr. Alland – in ihrer Praxis)

Aus Gras Butter machen? 1968 wäre das bei vielen Leuten wahrscheinlich nicht so auf Anklang gestoßen, aber zwanzig Jahre zuvor, kurz nach dem Weltkrieg, in Zeiten von Knappheit, war das eine feine Idee...

...und für den überaus talentierten, aber etwas weltfremden Chemiker Dr. Alland auch keine totale Fantasievorstellung. Ohne Kuh als „Vermittlerin“ bearbeitet man das Gras mit synthetischen Verdauungsenzymen und... na ja, die feinen chemischen Details lassen wir mal aus. Um die kümmert sich Dr. Alland, und zwar mit so viel Konzentration, dass er auf seiner Arbeitsstelle in bürokratischen Angelegenheiten nachlässig wird und deshalb auch bald gefeuert wird. Seine treue Assistentin Martina Höller nimmt mit ihm den Hut. Leider lässt es sich in der heimischen Garage nicht so gut an einer weltbewegenden Erfindung arbeiten. Auf die reinen „Brotaufträge“ (zum Beispiel Mottenkugeln herstellen), die Martina für ihn ranholt, hat Dr. Allend bald keine Lust mehr. Deshalb geht die Chemikerassistentin schließlich bei dem windigen Geschäftsmann Da Costa hausieren. Der lacht der jungen Frau zunächst ins Gesicht – und hört gleich wieder auf: nicht, dass ihn die Erfindung und ihre potentiellen humanistischen Annehmlichkeiten an sich interessieren, aber er wittert intuitiv ein ganz großes Geschäft. Deshalb geht Da Casto also wiederum beim Chef des Zellulose-Konzerns Miller hausieren. Und weil doppelt gemoppelt bessert hält, schaut er auch gleich beim Chef des Nitro-Konzerns Vandenhoff vorbei. In kürzester Zeit entspinnt Da Costa ein enges Geflecht aus Tauschversprechungen zwischen Anteilen verschiedener Rohstoff-Monopole, die die beiden Konzerne innehaben und angekündigten Kaufoptionen auf die Gras-Butter-Erfindung. Am dringendsten ist aber erst einmal: Dr. Alland muss ordentlich arbeiten können. Deshalb finanziert ihm Da Costa ohne jegliche Vorbedingungen ein schönes Labor – vorbezahlt mit dem Geld, das er den beiden Konzernchefs aus den Rippen geleiert hat. Neben Martina bekommt Alland ganz viele weitere Assistenten: Chemiker aus Millers und Vandenhoffs Konzernen, die ein gutes Auge auf die Entwicklung der Erfindung haben und ggf. davon berichten können.

dramatis personae
Oben links: Martina Höller und Dr. Alland / Oben links: Aimée und Da Costa
Unten links: Vandenhoff und Miller / Unten rechts: Dr. Brose und Georgia Spaldi

Mit einem schönen Labor hofft Da Costa natürlich, den Chemiker-Erfinder günstig für einen möglichen Verkauf seiner Erfindung zu stimmen. Aber davon wollen Dr. Alland, seine rigoröse Arbeitsethik und seine moralischen Skrupel gar nichts wissen: schließlich sei die Erfindung noch nicht so weit, und eine unfertige Erfindung zu verkaufen kommt gar nicht in Frage – da wäre er doch ein Betrüger! Da Costa, bei dem man sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen kann, wenn er sich selbst mit einem süßlichen Lächeln als „ehrlichen Makler“ bezeichnet (der zitierte Otto von Bismarck gilt nicht umsonst bis heute als Musterbeispiel idealistischer und von unverbrüchlicher Moral geleiteter Politik), schaut zuerst dumm aus der Wäsche. Ihm kommt gleich die Idee, den Chemiker mit dessen Laster unter Druck setzen – doch Zigaretten, Alkohol, gutes Essen und Frauengeschichten sind beim Workaholic Dr. Alland leider Fehlanzeige. Vor lauter Arbeit merkt Alland ja auch die ganze Zeit überhaupt nicht, wie seine eigene Assistentin Martina ihn anhimmelt und heimlich in ihn verliebt ist.

Nun denn: beide Konzerne sind eifrig daran interessiert, die kommende Gras-Butter von ihrem Erfinder zu kaufen, zu erpressen, zu klauen, zu was auch immer... Bei Millers Zellulose-Konzern setzt man deshalb, auf Anraten Da Costas, auf die „Eva“-Strategie: die junge Tänzerin Aimée wird damit beauftragt, Dr. Alland „zufällig“ bei einem Ball kennenzulernen und zu verführen (und ihm dann einzuflüstern, die Verkaufsoption an den Zellulose-Konzern zu geben). Beim Nitro-Konzern Vandenhoffs setzt man auf ein etwas anderes Mittel: die Marquise Spaldi, Vandenhoffs Tochter, ihres Zeichens Psychoanalytikerin, soll Dr. Alland in Sitzungen analysieren, um seine psychologischen Schwachpunkte herauszufinden und ihn damit dann besser in Richtung Verkaufsoption manipulieren zu können...

Alles in Butter also? Mitnichten. Aimée verliebt sich nicht nur zum Spiel, sondern wahrhaftig in den etwas steifen, aber doch eigentlich charmanten Dr. Alland. Die Marquise Spaldi entdeckt zwar für Dr. Alland keine großen Gefühle, findet aber sichtlich sexuelles Interesse an dem Mann. Währenddessen haben Da Costa, Miller und Vandenhoff im Hintergrund in einer anderen Sache alle Hände voll: als herauskommt, dass die Butter wesentlich besser auf Nordland-Moos gedeiht, wird in dessen Herkunftsland, also Nordland, ein Putsch provoziert mit dem Ziel, die Wirtschaft des Landes ganz auf Moos umzustellen und sich dabei die Ernte unter den Nagel zu reissen. Und Martina Höller, die fleißige und in ihren Chef schwer verliebte Assistentin, hat alle Hände damit zu tun, Dr. Alland bei der Arbeit zu helfen, ihn zugleich vor seinen (wie sie rasch herausfindet) nicht ganz uneigennützigen Gönnern zu schützen und nebenbei noch mit viel Fingerspitzengefühl, aber mit schwieriger Konkurrenz von zwei anderen Frauen dessen Herz zu erobern...


Lang‘ianische Ton-Bild-Montage im Dienste der Screwball-Komödie

„Opium ist aber sehr ungesund.“
„Ja, auf die Dauer macht es impotent...
[Zwischenschnitt auf das entsetzte Gesicht von Dr. Alland]
...aber mich regt der Genuss in höchstem Maße an.“
(aus einer Analyse-Sitzung zwischen der Psychoanalytikerin Spaldi und Dr. Alland – in seiner Wohnung)

CHEMIE UND LIEBE wird bisweilen als der erste Science-Fiction-Film der DEFA oder gar als erster ostdeutscher Sci-Fi-Film bezeichnet. Aus einer sehr technischen Sicht ist das nicht vollkommen falsch, aber so richtig überzeugend ist diese Behauptung nicht. Im Gegensatz zu den Trümmerfilmen der späten 1940er Jahre spielt er nicht im zeitgenössischen Nachkriegsdeutschland, sondern in einem imaginären, unbenannten Land – allerdings ganz ohne futuristische Mätzchen. Die Erfindung selbst, das Verwandeln von Gras in Butter, dient tatsächlich nur dazu, um die Ereignisse anzustoßen: ab und zu redet ein Chemiker über Prozesse, die für Laien schwer verständlich sind und beugt sich über ein Reagenzglas. Der Durchbruch der Erfindung wird „gezeigt“, in dem einige Männer und Frauen in weißen Kitteln sich in einem Labor ein paar Brotscheiben mit Butter bestreichen und diese essen. Kurz: Sci-Fi-Schauwerte gibt es in CHEMIE UND LIEBE eigentlich nicht.
Nein, CHEMIE UND LIEBE ist eher eine Industriespionage-Komödie und teilweise eine Screwball-Komödie – und möglicherweise tatsächlich der erste Film dieses Genres, den die DEFA herausgebracht hat. Doch auch das ist nicht ganz so einfach. CHEMIE UND LIEBE wird von einem namenlosen Erzähler eingeführt, der erklärt, dass er von der DEFA gebeten wurde, einige Worte zum Film zu sagen. Er erklärt kurz den Titel des Films, definiert Chemie als  „Lehre von der Verwandlung der Stoffe“ und Liebe als „Lehre von der Verwandlung des Herzens“. Mit einer Karte verortet er das namenlose Land geografisch (zu sehen ist eine imaginäre, nicht besonders aussagekräftige Karte – nachdem der Vorführer aus Versehen zwei falsche Karten, eine des amerikanischen, eine des afrikanischen Kontinents gezeigt hat). Dann erklärt er, dass er sich höchstpersönlich ab und zu in den Film einschleichen wird. Im weiteren Verlauf wird der Erzähler Off-Kommentare geben, sich auch in neutraler Umgebung selbst einspielen und die Handlung kurz kommentieren – aber auch gleichermaßen als aktive Figur eingreifen und teils als deux ex machina wirken. Als Aimée und Dr. Alland sich langsam näher kommen und zusammen zu einem Club fahren wollen, fingiert der Erzähler als Taxifahrer getarnt eine Autopanne – wobei das Auto zufällig vor Aimées Wohnung stehen bleibt. Als sich in Allands Wohnung ein Techtelmechtel zwischen ihm und der Marquise Spaldi ankündigt, klingelt der Erzähler als Telefonreparateur gekleidet an der Tür, um die erotisch aufgeladene Stimmung ein bisschen zu stören. Der Erzähler geht aber noch weiter: er greift auch inszenatorisch in den Film ein. Gleich zu Beginn fährt eine Kamera in Richtung eines Laborfensters: der Erzähler befiehlt gebieterisch, das Fenster zu öffnen – es öffnet sich das Fenster, so dass die Kamera durch das Fenster gleiten kann, um den regen Trubel im Chemielabor festzuhalten. Der Erzähler spricht nicht nur „unbeteiligte“ Kommentare, sondern redet aus dem Off teilweise die Figuren an: wenn die Kamera an einem langen Labortisch entlang flitzt, stellt seine Off-Stimme die arbeitenden Chemiker mit Namen, Titel und Konzernzugehörigkeit vor und diese verbeugen sich dann oder nicken kurz in die Kamera. Schließlich, als Da Costa der Assistentin Martina zunächst ins Gesicht lacht, stoppt er sogar gar den ganzen Film mit der „Pausentaste“ und lässt das Bild zum Freeze-Frame erstarren.

Der Erzähler...
als Erzähler, Vandenhoffs Mitarbeiter, Taxifahrer, Kellner
Von der ersten Sekunde an wird klar gestellt, dass es hier keinen „unsichtbar“ und nahtlos erzählten Film geben wird und das zieht sich auch konsequent durch. Das ist keineswegs nur auf die aktiv eingreifende Erzählerfigur beschränkt: CHEMIE UND LIEBE strotzt vor erstaunlichen, mitreissenden und tollen Regieeinfällen. Wenn ich „Pausentaste“ oben in Anführungszeichen setze, soll nicht nur die Metapher kenntlich gemacht werden: „Pause“ ist nicht etwas, was einem bei diesem temporeichen, extrem dichten und dabei oft entfesselten Film in den Sinn käme.
Die inszenatorischen Mittel des Films, die ihn heute, fast 70 Jahre später, so frisch aussehen lassen, stammen teilweise aus der Stummfilmära. Mehrfachbelichtungen waren 1948 im Prinzip schon ein ganz „alter“ Hut, werden aber sehr beeindruckend eingesetzt. Während der Sitzung des Miller-Konzerns, bei der die „Eva“-Strategie von den äußerst wichtig und sehr respektabel aussehenden Herren besprochen wird, blickt die Kamera kurz in die heimlichen Gedanken ebendieser Herren. Diese schauen ein Gegenstand in ihrer Nähe an, und sehen – teilweise in besagten Doppelbelichtungen, teilweise mit großen Requisiten in Überblendungen – ihre „persönliche“ Eva. Der eine Herr sieht auf dem Telefon statt des Hörers eine nackte Frau, die sich räkelt. Das ist natürlich filmhistorisch extrem interessant, denn hier ist deutlich mehr nackte Haut zu sehen als drei Jahre später im skandalumwitterten DIE SÜNDERIN (der gleichwohl auch wegen seiner Thematik skandalisierte). Es folgt die Vision eines Herren, der auf einem Federkiel ein junges Schulmädchen sitzen sieht. Dieser Moment ist nun wahrhaft verstörend – ohne jegliche Zweifel sehen wir hier eine pädophile Fantasie. Es folgt ein Vorstandsmitglied, der ein Lineal etwas durchbiegt und dabei von einer Domina träumt, die wiederum eine Reitgerte durchbiegt.
Nacktheit, Pädophilie, Sadomasochismus und das alles so explizit visualisiert – das ist für 1948 beachtlich viel. Öffnete das politische Interregnum und Provisorium in Deutschland zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik im Westen bzw. der DDR im Osten, zwischen Nazi-Zensur und FSK/BPJM/Amtsgericht-Zensur bzw. staatssozialistischer Zensur für kurze Zeit Raum für Freiheiten, der 1949 mit der doppelten Staatsgründung und der bürokratischen Etablierung dauerhafter Zensurinstitutionen wieder verloren ging? Auf der Sitzung, der Vandenhoff vorsteht, haben die Vorstandsmitglieder jedenfalls auch eine rege Fantasie und träumen von Balletttänzerinnen auf ihrer Zigarrenspitze, exotischen, fast barbusigen Schönheiten auf dem Deckel einer Ziervase oder von erotischen Eroberungen im Inneren einer Wasserkaraffe.



Einige Teilnehmer der Vorstandssitzung schweifen mit den Gedanken ab...
... und haben mehr oder minder explizite, mehr oder minder verstörende Fantasien

Die ganzen erotischen Fantasien der gesetzten Herren spielen sich ab, während der jeweilige Konzernchef darüber spricht, wie man den Erfinder Dr. Alland mit einer Frau ködern oder ihn zumindest analysieren kann. Ton und Bild „weichen“ hier erheblich ab. Der Ton bringt die Haupthandlung voran, das Bild erzählt eine andere Geschichte. CHEMIE UND LIEBE enthält viele solcher Momente. Die Bild-Montage in Kombination und Wechselwirkung mit der Ton-Montage ist vielleicht das zentrale Element, das den Film heute so frisch und modern wirken lässt.
Revolutionär innovativ war er dabei nicht. Ich denke, vieles lässt sich relativ direkt auf den Film zurückführen, der die Ton- und Bild-Montage revolutionierte: Fritz Langs M. Arthur Maria Rabenalt hat sich offenbar sehr genau die parallele Sitzung der Polizisten und Gangster in Langs Klassiker (der es damals in Deutschland allerdings noch nicht war) angeschaut: Sitzungräume mit großen Tischen voller rauchender Männer, umgeben von einer dicken Luft, die vor lauter Zigaretten- und Zigarrenrauch geradezu zum Schneiden ist. CHEMIE UND LIEBE zeigt beide Sitzungen nacheinander und verschränkt sie nicht so kunstvoll zusammen wie in M, doch den Schnitt kennt man aus M: der Sprecher beginnt einen Satz, und nach einem Schnitt beendet ihn der Sprecher in der anderen Szenerie.
CHEMIE UND LIEBE ist ein extrem dialogreicher Film. „Ver-“ bzw. „zerlabert“ ist er in keinem Moment, weil es nur wenige einfache Schuss-Gegenschuss-Dialoge gibt. Oft laufen die Dialoge einer Szene einfach mit den gleichen Personen aber in einer anderen Umgebung einfach weiter – etwa, wenn sich Dr. Alland und der Chemiker Dr. Brose miteinander über chemische Probleme im Labor unterhalten und das Gespräch nahtlos weitergeht, während wir uns nun in einem schicken Club bei einem Empfang befinden. Abrupte Schnitte beenden eine Szene und ihr Dialog, und in der nächsten Szene dient ein Stichwort aus dem vorangehenden, um das ganze (teils ironisch) weiterzuspinnen. Wenn eine neue Szene beginnt, hören wir meist jemanden sprechen. Das erste Bild ist möglicherweise eine Nahaufnahme auf eine Person (nicht unbedingt der/die Sprecher/in) oder einen Gegenstand – die Kamera schwenkt dann, oder fährt durch den Raum und etabliert dann, wer sich wo befindet. Es gibt auch nur wenige Abblenden und Aufblenden – fast nur harte Schnitte oder Wischblenden. Die Szenenfolge: Second-Unit-Aufnahmen eines Gebäudes, eine Person, die eine Tür öffnet und einen Raum betritt und dann fängt die Szene erst richtig an – was man aus anderen Filmen kennt, gibt in hier praktisch nicht. Hier läuft das alles wesentlich flotter. CHEMIE UND LIEBE hat die Dichte eines 130-Minuten-Films – läuft aber nur knapp über 90 Minuten. Türen, die auf und zu gehen, das gibt es nur in einer großen „Verfolgungsjagd“, als Martina, Aimée und die Spaldi durch das ganze Gebäude, in dem sich das Gras-Butter-Labor befindet, nach Dr. Alland suchen und sich dieser verstecken muss.

Kameraperspektiven, die in einem zeitgenössischen film noir nicht deplatziert wirken würden
Die Kamera jedenfalls ruht sich ebenso wenig wie die Figuren aus. Dynamisch eilt und fliegt sie durch lange Räume, durchbricht manchmal gar Wände (was ein wenig an Max Ophüls erinnert). Wenn sie ruht, dann oft für kunstvoll arrangierte Tableaus. Sehr denkwürdig ist eine Montage von feiernden Upper-Class-Gästen bei einer der vielen Feierlichkeiten des Films: Nebenfiguren werden gezeigt, wie sie über den Putsch in Nordland tuscheln, über ihre jüngsten erotischen Eroberungen, über die Gefahr von Beaus, die alten Damen das Geld aus der Handtasche verführen wollen – lauter Tableaus, stark gekippt fotografiert. Drei Köpfe, die man aus der Untersicht durch ein transparentes Gläsertablett sieht – dieses Bild könnte fast schon aus einem zeitgenössischen film noir mit dem Kameramann John Alton sein.

Langs Einfluss ist auch in einzelnen Bildkomposition zu sehen:
oben: CHEMIE UND LIEBE / M
unten: CHEMIE UND LIEBE / DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE

Zwei kleine Details noch – eins betrifft die Verbindung zu Fritz Lang. Gegen Ende wird Dr. Alland die Vollendung seiner Erfindung vor einem breiten Publikum vorführen und hier gibt es einmal ausnahmsweise tatsächlich eine Expositions-Totale, die den Universitätshörsaal zeigt. Ein Bild, das – wenn auch spiegelverkehrt – praktisch genauso 15 Jahre vorher in DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE zu sehen war.

Sehr mysteriös ist die Szene, in der Da Costa zum ersten Mal bei Vandenhoff hausieren geht. Diesen besucht er nicht in einem Büro, sondern in eines der Museen, die ein von seinem Konzern aus Prestigegründen finanziertes Institut unterhält – offensichtlich ein Paläontologisches Museum. Die beiden Männer unterhalten sich vor einem Dinosaurier-Skelett. Auf eine gewisse Weise ist das konsequent: weder Miller noch Vandenhoff werden arbeitend in ihrem Büro eingeführt, sondern in ihrer Freizeit (Miller angelt gerade, als Da Costa ihn aufsucht) oder zumindest bei einer Nebenbeschäftigung (die Kontrolle der Arbeit des finanzierten Instituts). Trotzdem zieht das doch einige Aufmerksamkeit auf sich: zwei Männer vor einem Dinosaurier. War das ein kleiner Wink an Howard Hawks‘ BRINGING UP BABY? Die Saurierart ist nur verwandt und nicht genau die gleiche (Diplodocus Carnegiei in CHEMIE UND LIEBE, ein Brontosaurus in BRINGING UP BABY). Hawks' große Screwball-Komödie kam erst 1966 in Deutschland ins Kino. Und Deutschland ist der Ort, an dem sich die zentralen Beteiligten von CHEMIE UND LIEBE auch nach 1938 befanden...


„Ich hab Schnaps gebraut.“
„Dafür sollen Chemiker ja berühmt sein.“
„Wollen Sie mal kosten?“
„Uuuh.“
(informelles Gespräch in einem Laborhinterzimmer zwischen Dr. Brose und Psychoanalytikerin Spaldi)

Bei dem, was jetzt kommt, wäre ein Schnaps vorher tatsächlich nicht verkehrt...


Arthur Maria Rabenalt: Avantgardist, „unpolitischer Unterhaltungsregisseur“, Altherren-Pornograf

Als Arthur Maria Lothar Konrad Heinrich Rabenalt wurde der Regisseur dieses kleinen Wunderwerks 1905 in Wien geboren (im deutschen Wikipedia-Artikel gibt es noch ein „Friedrich“ am Ende der Vornamenliste). Rabenalt war von Haus aus ein Mann des Theaters. In den späten 1920er Jahren bildete er mit dem Bühnenbildner Wilhelm Reinking und der Tänzerin und Choreografin Claire Eckstein ein Theatertrio, das an vielen deutschen Bühnen durch die Experimentierfreudigkeit seiner Theater- und Operninszenierungen für Aufsehen sorgte. Das Trio feierte Publikumserfolge, wurde aber von den Nazis heftig als „kulturbolschewistisch“ attackiert. Nachdem diese 1933 an die Macht gelangten, durften Rabenalt, Reinking und Eckstein vorerst nicht mehr an deutschen Bühnen arbeiten. Glaubt man dem deutschen Wikipedia-Eintrag, so war Rabenalt bereits vor 1933 im Filmgeschäft tätig. Erwähnt wird eine Beteiligung an der Erstellung einer englischen Synchronfassung von – Fritz Langs M.

Wer schon vor der Herrschaft der Nazis verbal von ihnen attackiert wurde, weil er als künstlerischer Avantgardist galt und dann 1933 von ihnen einen Berufsverbot erteilt bekam, wäre eigentlich durchaus ein Kandidat für die Emigration gewesen. Rabenalt entschied sich dafür, in Deutschland zu bleiben und es weiter zu versuchen. 1934 kamen Rabenalts vier erste Filme heraus – einige davon hatte er bereits vor der Machtübernahme der Nazis angefangen zu planen. Der erste veröffentlichte Film, PAPPI, wird von Stefanie Mathilde Frank in ihrem Buch Arthur Maria Rabenalts Filme 1934 bis 1945 – eine dramaturgische Analyse als Film mit einem hohen Tempo beschrieben, mit einer fein abgestimmten Bild- und Ton-Montage und raffinierten visuellen Gags. In WAS BIN ICH OHNE DICH werden wohl die Bewohner eines Hauses mit Chopins Trauermarsch im Hintergrund vorgestellt – der Marsch geht dabei allmählich über in das fröhliche Titelschlagerlied. Rabenalts dritter Film, EINE SIEBZEHNJÄHRIGE (immer noch 1934) bekam Probleme mit der Zensur – und dann auch sein vierter Film EIN HUND, EIN KIND, EIN VAGABUND: dieser wurde wenige Wochen nach der Premiere aus dem Verkehr gezogen. Der Film wurde von 87 auf 77 Minuten geschnitten – und nach einer Neuprüfung in der geschnittenen Fassung trotzdem verboten, wegen „Verletzung des künstlerischen Empfindens“, wegen „alberner Dialoge“ und weil es ein „unkünstlerisches, seichtes und geschmackloses Machwerk“ sei (hier die Verbotsbegründung – der Film wurde in einem Rutsch mit DIE LIEBE SIEGT von Georg Zoch verboten, und zwar auf persönliche Intervention von Goebbels). Nach weiterem Schneiden (mittlerweile waren 68 Minuten von ursprünglich 87 übrig) wurde der Film wieder einige Monate später unter dem Titel VIELLEICHT WAR‘S NUR EIN TRAUM zugelassen. 

Demoralisiert von den Problemen mit der Zensur ging Rabenalt für die nächsten paar Jahre dann doch ins Ausland. In italienisch-deutscher Koproduktion entstand 1936 DIE LIEBE DES MAHARADSCHA, mit dem Rabenalt ein Pionierwerk des Indienfilm-Trends schuf (erfolgreicher wurden Richard Eichbergs und Thea von Harbous DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL von 1938 – zwei Jahrzehnte später kehrte Fritz Lang mit seinen eigenen Filmen gleichen Namens nach Deutschland zurück.). Zwei Filme drehte Rabenalt noch in Österreich, bevor er 1938 doch wieder nach Deutschland zurückkehrte und mit dem Zirkusfilm MÄNNER MÜSSEN SO SEIN (1939) einen großen Erfolg feierte. Es war der Film, mit dem er nun endlich richtig Fuß in der deutschen Filmindustrie fasste.

Von 1939 bis 1945 drehte Rabenalt über ein Dutzend Filme. Mehrere von ihnen sind ganz offen nationalsozialistisch. Der Filmhistoriker Hans Schmid zögert nicht, sie unumwunden als „widerliche Propagandafilme“ und „infam“ zu bezeichnen.
Darunter fällt FLUCHT INS DUNKEL, der noch kurz vor dem Angriff auf Polen in die Kinos kam. Wenn man die Inhaltsangabe von FLUCHT INS DUNKEL liest (hier auf der Seite der Murnau-Stiftung), nachdem man CHEMIE UND LIEBE kennt, fällt auf: es geht um einen Chemiker und seine bahnbrechende Erfindung (nämlich eine Aluminiumlegierung mit der Festigkeit von Stahl). In dem Film ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! von 1940 geht es – drei Mal darf der Leser raten – um die bahnbrechende Erfindung einer Legierung für einen superleichten, geschmeidigen und reißfesten Draht. Drehbücher mit Chemikern und bahnbrechenden Erfindungen hatten es Rabenalt offenbar angetan. Zur genaueren Bewertung der zwei Filme aus der Nazi-Ära würde ich nun das Wort Hans Schmid überlassen (bzw. ihn etwas ausführlicher paraphrasieren). In einer äußerst ambitionierten Reihe von Artikeln mit dem Titel „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ hat er sich mit nationalsozialistischen Filmen befasst, die er in seiner für ihn üblichen Art äußerst detail- und kenntnisreich sowie mit vielen Ausführungen zum film- und politik-/gesellschaftshistorischen Kontext analysiert.
Hier der Link zu dem Text, in dem er über Rabenalts FLUCHT INS DUNKEL (1939) und ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! schreibt. Zu FLUCHT INS DUNKEL hat Schmid überhaupt nichts Gutes zu sagen – zeigt aber auf, wie bis ins kleinste Detail die Machterlangung der Nazis als Defensivschlag gegen die als korrupt dargestellte Weimarer Republik gerechtfertigt wird. Bei ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! findet Schmid die Ansätze zu einem echten Genrefilm interessant – also Spuren eines Spionagefilms, in dem die Bösen tatsächlich verführerische, faszinierende Figuren sind. Wohlgemerkt: Ansätze. Er weist daraufhin, dass wohl in keinem Nazi-Film so viele Hitler-Büsten im Hintergrund zu sehen sind – ein Massenmörder, der damit mit rein filmischen Mitteln zum Schutzheiligen gemacht wird: „Trotz vieler Feinde ist man gut aufgehoben in einer Welt, über die der Führer wacht.“ Überhaupt seien Büsten und Bilder von Nazi-Größen im Hintergrund (zu sehen ist auch Himmler) sehr geschickt inszeniert. Trotzdem bleibt das Schlussurteil, dass ihm angesichts der Legitimierung der Nazi-Terrorherrschaft nur übel werden kann.
Schmids Text zu ...REITET FÜR DEUTSCHLAND (1941) flankieren Ausführungen zu den späten Jahren Rabenalts: um einen späten Skandal bei Rabenalts Ernennung zum Ehrenprofessor der Universität Bayreuth Ende der 1980er Jahre und um seine schriftstellerische Tätigkeit als Autor pornografischer Romane, in denen Rabenalt sexistischen und rassistischen Vergewaltigungs- und Unterwerfungsfantasien in Altherrenmanier frönte. ...REITET FÜR DEUTSCHLAND ist der Film, den Rabenalt nach dem Zweiten Weltkrieg am entschlossensten als „unpolitischen Unterhaltungsfilm“ verteidigte. Würde ich den Film nach dem Gelesenen in zwei Sätzen zusammenfassen, läse sich das wohl so: ein wackerer deutscher Soldat verliebt sich während des Ersten Weltkriegs in ein reinrassiges Pferd, verunglückt damit schwer, bleibt gelähmt zurück, während böse Polen ihm das Tier klauen. Mit gelähmten Gliedern ist er nichts mehr wert, deshalb wird er sich mit eisernem Willen wieder selbst gesunden, um erstens sein geliebtes Pferd wieder zu finden, zweitens es zuzureiten und damit bei einem internationalen Wettbewerb für die Ehre Deutschlands zu gewinnen, und drittens das Herz einer Stute ähm... Frau zu gewinnen, die als echt-deutsche Frau genau weiß, wann sie in Anwesenheit des Mannes die Klappe zu halten hat und die in der Wertschätzungsskala des wackeren Veteranen und zünftigen Reiters ganz offensichtlich nicht über dem Pferd steht. Die leicht zoophil angehauchte Liebesgeschichte zwischen einem Mann, der seine „Glieder“ wieder zum Funktionieren bringen möchte, einem Rassenpferd und einem ur-deutschen Mädel wird von Reinrassigkeits- und teutonischen Überlegenheitsfantasien getrieben und von infamem Sexismus, antisemitischen Darstellungen und einem ekelhaften Neuaufguss der Dolchstoßlegende flankiert. Mit anderen Worten: ein „unpolitischer Unterhaltungsfilm“ – der deshalb in den 1980er Jahren auch ab 6 freigegeben auf Video in der Serie „Die großen Ufa-Klassiker“ erhältlich war (also in dem Jahrzehnt, als die große „Gewaltvideo“-Hysterie herrschte, die sich allerdings nicht auf „harmlose Unterhaltungsfilme“ wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND stürzte).
Nun: Hans Schmids Ausführungen zu ...REITET FÜR DEUTSCHLAND habe ich jetzt etwas ausführlicher paraphrasiert. Aber das ist selbstverständlich kein vollwertiger Ersatz für die Lektüre des kompletten, sehr langen Artikels.

So... nun müsste aber endlich Schluss sein mit den „unpolitischen Unterhaltungsfilmen“ Rabenalts im Dritten Reich. Ist es aber nicht. Schmid bespricht in seiner Reihe „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ noch FRONTTHEATER von 1942. Hier verrät eine junge Frau ihren Ehemann, dem sie versprochen hatte, ihren Beruf als Theaterschauspielerin an den Nagel zu hängen, um voll und ganz nur Ehefrau zu sein, als sie eine Vertretungsstelle in einer Theatertruppe für Truppenbetreuung im Ausland/in besetzten Gebieten annimmt, während der Ehemann irgendwo an der Westfront stationiert ist. Der Konflikt geht dann doch glimpflich aus, als klar wird, dass sie diese Stelle nur bis zum Endsieg besetzen wird. Zwischendurch werden ein paar schmissige Schlager gesungen und leicht frivole Tänze geboten, damit die wackeren deutschen Soldaten mit Schwung Deutschlands Sicherheit am Ärmelkanal bzw. auf der Akropolis verteidigen können, indem sie am Tag nach den schönen Aufführungen ein paar Untermenschen niedermetzeln gehen. Trotz eines Gastuftritts der Verkörperung „unpolitischer Unterhaltung“ im Dritten Reich (also Heinz Rühmanns) galt FRONTTHEATER nach dem Weltkrieg doch nicht als ganz so „unpolitisch“ wie etwa ...REITET FÜR DEUTSCHLAND und wird heute von der Murnau-Stiftung als „Vorbehaltsfilm“ behandelt. Wo Schmid bei ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! die Ansätze zu Genre und Pulp bemerkenswert fand und bei ...REITET FÜR DEUTSCHLAND die Manipulation antisemitischer Ressentiments als besonders perfide und im perversen, menschenverachtenden Selbstverständnis des Films als inszenatorisch gelungen sieht (es gibt zu Beginn jüdische Karikaturen – später werden bösartige Figuren weniger karikaturhaft und wesentlich geerdeter inszeniert, aber audiovisuell doch deutlich so gezeigt, dass der Zuschauer sich an die Karikaturen erinnert), da sieht er in FRONTTHEATER nichts bemerkenswertes, nur das mechanische Abspulen eines völlig lahmen Drehbuchs, in dem lauter Sachen passieren, weil sie im Drehbuch stehen: „Rabenalt [ist] ein zu mittelmäßiger Regisseur, um Schwächen des Drehbuchs durch die Inszenierung auszugleichen“, so Schmid. Der oberste Chef der deutschen Filmindustrie im Dritten Reich verlieh FRONTTHEATER zwar die Einstufung „staatspolitisch und volkstümlich wertvoll“, mochte ihn aber auch nicht, bezeichnete ihn als „schlecht gemacht“ und den Grundkonflikt zwischen den Ehegatten als „an den Haaren herbeigezogen“. Goebbels‘ persönliches, harsches Tagebucheintrag diente Rabenalt später in der Bundesrepublik dann auch als einer von vielen Belegen dafür, dass er eigentlich ein Subversiver und Rebell innerhalb der Filmindustrie des Dritten Reichs gewesen sei.

Von den 16 abendfüllenden Filmen, die Arthur Maria Rabenalt, der „unpolitische Unterhaltungsregisseur“, zwischen 1939 und 1945 drehte, befinden sich also mindestens vier ganz offen nationalsozialistische Machwerke. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Rabenalt entsprechend auch einen Berufsverbot von alliierter Seite für den Bereich Film und wendete sich zunächst dem Theater und dem Kabarett zu (Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich noch gerade „entnazifiziert“ wurden, konnten offenbar recht problemlos einfach den Kunstzweig wechseln). Der Berufsverbot für die Filmindustrie hielt nicht besonders lange an, und CHEMIE UND LIEBE wurde 1948 Rabenalts erster Film nach dem Krieg. Für die DEFA drehte Rabenalt noch 1949 DAS MÄDCHEN MARTINA. Danach wurde er zu einem äußerst produktivsten Regisseur in der Bundesrepublik. Bis 1968 drehte er ununterbrochen jährlich mehrere Filme (1953 gar fünf Stück), ab 1961 vor allem für das Fernsehen. Sein Hauptwirkungsgebiet war der Musik- und der Schlagerfilm. Das ist natürlich der Bereich, den man sich für einen ehemaligen Opernregisseur gut vorstellen kann. Es ist irgendwie auch genau das, was der illusionslose Cinephile so in etwa von einem ehemaligen Nazi-Regisseur erwartete: im Dritten Reich „unpolitische Unterhaltungsfilme“ gedreht, in der Ära des Wirtschaftswunders und von Papas Kino das Publikum mit Musikschnulzen beglückt – während rückkehrende Emigranten wie Fritz Lang und Robert Siodmak als „Vaterlandsverräter“ beschimpft wurden (Fritz Lang zahlt bis heute damit: seine US-amerikanischen Filme, von denen einige richtungsweisend für den film noir waren, werden in Deutschland bis heute stiefmütterlich behandelt – als wäre er 1933 ganz verschwunden).
Nun, ganz so einfach ist das ganze nicht. Ein revisionistischer Blick auf das bundesdeutsche Kino der 1950er Jahre (kürzlich zu finden bei mehreren Festival-Retrospektiven oder auch bei den Eskalierenden Träumern) zeigt, dass da durchaus viel Abgründiges, Irrsinniges, zumindest aber Interessantes lauerte – gerade auch in populären „Schnulzen“. Bei Rabenalt speziell ist da (für die 1940er Jahre) CHEMIE UND LIEBE. Und es gibt ALRAUNE von 1952, diesen erotischen Horrorfilm mit Hildegard Knef als monströse femme fatale und Erich von Stroheim als mad scientist. Hans Schmid erwähnt in einem anderen Artikel (wie alles von Schmid sehr lesenswert, diesmal zur Zensurkultur in Deutschland) diesen Film als einen der wenigen genuinen Horrorfilm der Adenauer-Zeit, bezeichnet ihn aber auch als „singulär“ in Rabenalts Werk.

Mit CHEMIE UND LIEBE wären wir meiner Meinung nach schon bei zwei „singulären“ Werken Rabenalts. ALRAUNE habe ich noch nicht gesehen. Gesichtet habe ich allerdings zwei Mal AM ABEND NACH DER OPER: ein sogenannter Überläuferfilm, 1944 gedreht, aber erst 1945 nach Ende des Dritten Reichs aufgeführt. Erzählt wird in einer langen Rückblende die Geschichte eines Mannes, der seine Frau aus Eifersucht ermordet hat, nach mehreren Jahren Gefängnis wieder freikommt, und sich bei einer Weltreise (die er mit dem Ziel unternimmt, sich erst einmal in der Heimat vergessen zu lassen) in eine neue Frau verliebt. Er heiratet sie und möchte unter allen Umständen verhindern, dass sie von seiner Vergangenheit erfährt. Unglücklicherweise geraten verräterische Papiere in die Hände eines Mannes, der eine Chance wittert und den ehemaligen Mörder erpresst, ihm eine Stelle in dessen Unternehmen abpresst und schließlich sogar mit seiner neuen Frau anbandelt. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Wenn Rabenalt 1933 ins Ausland, schließlich sogar in die USA emigriert wäre, hätte er diesen Stoff Anfang der 1940er Jahre vielleicht als waschechten film noir gedreht. Das Resultat ist nun ein reines period-Melodrama und tatsächlich zwiespältig: AM ABEND NACH DER OPER hat nach einem fulminanten und extrem filmischen Start oft längere Durchhänger, sein Tempo ist eher schleppend, die Verrenkungen mancher Charaktere sind völlig unwahrscheinlich und knistern vor lauter Drehbuchrascheln. Ohne Goebbels zitieren zu wollen, aber das zentrale McGuffin des Films ist an den Haaren herbeigezogen: warum vernichtet der Protagonist seine verräterischen Entlassungspapiere nicht einfach gleich?
Der Film endet damit, dass die Ehefrau schließlich zu ihrem Mann steht, obwohl er früher mal ein Mörder war. Ein Mann mit Dreck am Stecken, der von gemeinen Leuten („Nestbeschmutzer“? „Vaterlandsverräter“?) mit seiner Vergangenheit unter Druck gesetzt wird – aber das ganze geht dann doch glimpflich für ihn aus, weil seine Nächsten überhaupt kein Problem mit diesem uralten Hut haben... Das liest sich rückblickend fast so, als hätte hier jemand die Nazi-Geschichtspolitik der frühen Bundesrepublik vorausgesehen.
Nichtsdestotrotz: immer wieder bricht ein enormer Stilwillen aus AM ABEND NACH DER OPER heraus. Einzelne Tableaus sind durch ihre expressive Ausleuchtung unvergesslich. In einer Szene in einem frivolen Club, wo der Protagonist seine neue Ehefrau hinführt und wo die beiden den Erpresser treffen, spielt die Kamera mit Spiegeln, einer verspiegelten Tischoberfläche und filmt sogar durch facettierte Glasperlen, die am Tischleuchter hängen. Gegen Ende wird die ein Teil der Anfangsszene komplett wiederholt – diesmal aber komplett im Point-of-View des Protagonisten.

Rabenalts AM ABEND NACH DER OPER
Trotz einiger Schwächen immer wieder visuell sehr spannend
CHEMIE UND LIEBE war 2014 eine meiner liebsten Neusichtungen. Damals bezeichnete ich Rabenalt als „biografisch problematisch“ und zugleich als „begnadeter Formalist“. Ersteres war, wie ich jetzt feststellen muss, eine Untertreibung. Dass er einmal ein avantgardistischer, „kulturbolschewistischer“ Theater- und Opernregisseur war, haben die Nazis wohlwollend vergessen, als er Filme wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND drehte. Dass er Filme wie ...REITET FÜR DEUTSCHLAND drehte, wurde nach dem Weltkrieg auch schnell wieder umgedeutet und das Werk in die Kategorie „Ist nicht Harlans JUD SÜß und daher nur harmlose Unterhaltung“ eingeordnet. Nebst theoretischen Schriften über Musiktheater und Oper, pornografischen Romanen sowie Abhandlungen über die Geschichte des Pornofilms oder des erotischen Theaters in der Frühen Neuzeit (die Hans Schmid als Pornografie im Deckmantel des Sachbuchs bezeichnet) schrieb Rabenalt auch ein Buch über das Wirken Goebbels in der Filmindustrie und ein Buch mit dem Titel Film im Zwielicht: über den unpolitischen Film des Dritten Reiches und die Begrenzung des totalitären Anspruchs. In diesen Büchern stilisierte er sich selbst zum getarnten Subversiven innerhalb der Nazi-Filmindustrie. Das könnte zwar daraufhin deuten, dass es doch einige Leute gab, die ihm in der Bundesrepublik Vorwürfe machten. Der Dokumentarfilmer und Autor Erwin Leiser erwähnte in seinem Buch „Deutschland erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reiches auch Rabenalt an prominenter Stelle – das war allerdings 1968, zehn Jahre nach der Erstauflage von Rabenalts Film im Zwielicht. Im Gegensatz zu rückkehrenden Emigranten wie Lang und Siodmak oder zu Außenseitern wie etwa Peter Pewas hatte aber Rabenalt keine größeren Probleme, in der Bundesrepublik Filme zu drehen und eine gute Karriere zu machen.
Was den „begnadeten Formalisten“ betrifft: vielleicht war die Begeisterung zu stürmisch, besonders nach nur zwei Filmen. Dennoch – CHEMIE UND LIEBE sowie AM ABEND NACH DER OPER verbindet personell ausschließlich Rabenalt selbst, so dass ich davon ausgehe, dass in seiner Filmografie wohl das eine oder andere stecken könnte, das sich zu entdecken lohnt. Bei Hans Schmid, der sehr gerne vergessene oder unterschätzte Regisseure in langen, detailreichen Texten würdigt (von Cornel Wilde bis Sergio Martino, von Jess Franco bis Jean Rollin), wird es einen neuen Blick auf Rabenalts Werk, etwa seinen Filmen aus den 1950er Jahren, wohl nicht geben: dafür ist er wohl erst einmal zu angeekelt von Rabenalts Nazi-Filmen und seinen mit Vergewaltigungsfantasien gefüllten Romanen.


Wenn Jud Süß auf Sissi trifft

Zweifelsohne hat bei CHEMIE UND LIEBE der Kameramann keinen geringen Einfluss auf das Gelingen des Films gehabt. Dessen Biografie in der IMDb liest sich sehr knackig: er drehte in den 1920er Jahren großartige Stummfilme, in den 1930er Jahren Revuefilme, in den 1940er Jahren Nazipropagandafilme, in den 1950er Jahren antifaschistische Filme in Ostdeutschland und in den 1960er Jahren Unterhaltungsfilme in Westdeutschland; er sei ein brillanter und innovativer Kameramann gewesen und ein beängstigendes Beispiel für einen perfekten Techniker, dem das Ziel seiner Arbeit egal ist. Die Rede ist von Bruno Mondi, dessen berüchtigste Arbeit Veit Harlans JUD SÜß und beliebteste die SISSI-Trilogie von Ernst Marischka. Mondi begann bereits „groß“: als 18-Jähriger war er Kameraassistent bei Fritz Langs DER MÜDE TOD engagiert. Später prägten drei Zusammenarbeiten Mondis Filmografie als Kameramann. Für den Regisseur Richard Eichberg fotografierte er zwischen 1925 und 1933 insgesamt 18 Filme – mehrheitlich Genrefilme vieler Couleurs (Komödien, Krimis, Melodramen). Gemeinsam erlebten Eichberg und Mondi den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm. Zwischen 1935 und 1945 wurde Mondi zum Stammkameramann Veit Harlans und fotografierte 12 seiner Filme. Darunter befindet sich JUD SÜß (1940). Technisch erwähnenswert ist, dass Harlan und Mondi zusammen zu den Pionieren des Farbfilms in Deutschland wurden: DIE GOLDENE STADT von 1942 gehört zu den ersten deutschen Farbfilmen. OPFERGANG (1944) wurde kürzlich restauriert auf DVD und blu-ray veröffentlicht und in diesem Zuge vor allem in Hinsicht auf seine Farbnutzung positiv besprochen – als morbider Kitsch, der wohl immer wieder in surrealen Irrsinn abdriftet, oder, wie Sebastian vom Kinotagebuch schreibt, in „delirierenden Camp“. In der Nutzung von Farbe sei Harlans und Mondis OPFERGANG ein Vorgänger von Argentos SUSPIRIA, wie man hier in einer sehr ausführlichen Besprechung lesen kann.
Nach einer kurzen Pause bei Kriegsende arbeitete Mondi gleich 1946 wieder weiter, und zwar bei der DEFA. Dort fotografierte er sechs Filme, darunter CHEMIE UND LIEBE, Wolfgang Staudtes ROTATION sowie den Märchenfilm DAS KALTE HERZ – letzterer war erste ostdeutsche Farbfilm. Mit Rabenalt arbeitete Mondi noch bei zwei weiteren Filmen: beim Krimi 0 UHR 15, ZIMMER 9 (1950) und bei der Musikkomödie LIEBE IST JA NUR EIN MÄRCHEN (1955). In den 1950er Jahren war Mondi wie bereits erwähnt Kameramann bei der SISSI-Trilogie. Sieben weitere Filme fotografierte er für Ernst Marischka.

Der Kollaboration mit den Nationalsozialisten völlig unverdächtig ist der berühmte Filmtheoretiker Balázs Béla, weil er erstens Kommunist, und zweitens jüdischer Herkunft war (und intellektuelle Filmkritiker wie ihn mochten die Nazis auch nicht). Allerdings wird sein Name im Zusammenhang mit CHEMIE UND LIEBE eher fallengelassen, als dass man ihn mit dem Projekt wirklich direkt assoziieren könnte. Das Drehbuch des Films wurde „nach einer Idee von Béla Balázs von Marion Keller und Frank Clifford verfasst“ – so kündigt der Erzähler zu Beginn von CHEMIE UND LIEBE den Film an. Manchmal liest man, dass der Film auf einen „Entwurf“, manchmal, dass er auf ein Theaterstück Balázs‘ basiert. Auf die Schnelle habe ich keine Hinweise dafür gefunden, dass der Ungar aktiv am Film beteiligt war.
Über die Autorin Marion Keller an sich finde ich kaum Informationen. Sie inszenierte einen Dokumentarkurzfilm über sowjetische Musiker in Berlin (MUSIKALISCHER BESUCH, 1946), verfasste das Drehbuch für Kurz Maetzigs Kurzdokumentarfilm BERLIN IM AUFBAU (ebenfalls 1946) und später das für CHEMIE UND LIEBE. In der IMDb kommt der nächste Eintrag knapp ein halbes Jahrhundert später: als Dialogautorin für den malisch-französisch-deutschen Film TAAFÉ FANGA („Die Herrschaft der Röcke“) von 1997. In diesem Film finden die Frauen eines Dorfes in Mali eine Zaubermaske, mit der sie einen Gender-Switch einleiten – in dem Ort werden die Frauen zu Männern, die Männer zu Frauen. Marion Keller, die nun Marion von Keller hieß, starb 1998 in Deutschland.
Der zweite Autor, Frank Clifford, ist schon weniger ein unbeschriebenes Blatt. Der gebürtige Hans Heinrich Tillgner arbeitete in den 1920er Jahren als Kinoleiter sowie als Filmproduzent in Berlin, Wien, Paris und sogar in den USA (wo er sich sein Pseudonym zulegte). Unter den namhaften Filmen, die er im Ausland produzierte, befanden sich À NOUS LA LIBERTÉ von René Clair (1931) und Julien Duviviers ALLÔ BERLIN? ICI PARIS! (1932). Clifford blieb nach der Machterlangung der Nazis in Deutschland und produzierte noch einige Filme – zwischen 1937 und 1948 herrschte bei ihm allerdings Funkstille in Sachen Film. Rabenalt kannte Clifford in seiner Eigenschaft als Produzent bereits aus den 1930er Jahren: dessen PAPPI und WAS BIN ICH OHNE DICH (beide 1934) hatte er produziert. Als Autor und Produzent wirkte Clifford nach CHEMIE UND LIEBE noch bei einigen weiteren Rabenalt-Filmen mit.

Hans Nielsen, der Darsteller des Dr. Alland, war vom Ende der 1930er Jahre bis zu seinem frühen Leukämie-Tod 1965 ein vielgesehener Schauspieler (143 Schauspiel-Credits bei IMDb) im deutschen Kino – offenbar meistens als Nebendarsteller, so bei mehreren Edgar-Wallace- und Bryan-Edgar-Wallace-Filmen Anfang der 1960er Jahre. Nebenbei war Nielsen auch ein vielbeschäftigter Synchronsprecher, der so diverse Darsteller wie David Niven, Orson Welles, Victor Sjöström, Fred Astaire, Cary Grant und Gary Cooper synchronisierte. Als etwas steifer Dr. Alland macht Nielsen eine ganz gute Figur, aber irgendwie liegt es natürlich in der Natur der Charaktere, dass Ralph Lothar als der umtriebige Da Costa im Grunde der heimliche Hauptdarsteller des Films ist: das Gesicht von CHEMIE UND LIEBE, das ist der süßlich-schmierig lächelnde und dabei doch stets elegante und charismatische Da Costa, der allen anderen meist die Show stiehlt. Ralph Lothar kam ursprünglich vom Theater, in dem er sowohl als Darsteller wie auch als Regisseur arbeitete. In den 1940er und 1950er Jahren spielte er in einigen Filmen mit – Ende der 1950er Jahre wechselte er auf den Regiestuhl und inszenierte gleichermaßen Kinofilme, Fernsehfilme und TV-Serien-Episoden. Das weibliche Pendant Lothars in CHEMIE UND LIEBE ist Ann Höling, die Darstellerin der Marquise Spaldi, die im Laufe des Films zunehmend mehr Raum mit ihrem Charisma einnimmt. Wie Lothar kam auch Höling vom Theater und blieb auch eher dort. CHEMIE UND LIEBE war ihre erste von nur zwei Dutzend Filmrollen bis 1993. Zwischen 1957 und 1966 gehörte sie zum Ensemble des Stadttheaters Basel und war in dieser Zeit gar nicht in Kino und Fernsehen zu sehen. Die vielleicht undankbarste Rolle, weil die Figur immer etwas zurückhaltend ist, hatte Tilly Lauenstein als Assistentin Martina Höller. Auch Lauenstein kam vom Theater zum Film, war ab den 1960er Jahren zunehmend auch im Fernsehen zu sehen und arbeitete als Synchronsprecherin (unter anderem von Katherine Hepburn, Ingrid Bergman, Barbara Stanwyck, Marlene Dietrich, Jeanne Moreau). Ende der 1960er Jahre nahm sie einige Rollen in Exploitationfilmen. So spielte sie die lesbische „Gräfin“, Teilhaberin eines Zwangsprostitutionsrings in Ernst Hofbauers SCHWARZER MARKT DER LIEBE (1966). Zu sehen war sie auch in Alfred Vohrers Erotikkomödie DAS GELBE HAUS AM PINNASBERG als Ehefrau des Inhabers eines Bordells für Frauen sowie in Cy Endfields und Roger Cormans DE SADE.

Die schillerndste Biografie (gleich vorab: nicht immer im positiven Sinne) unter den Darstellern von CHEMIE UND LIEBE hatte aber zweifelsohne Alfred Braun, der den allwissenden und aktiv intervenierenden Erzähler spielt. 1888 in Berlin geboren, begann Braun als Schüler von Max Reinhardt beim Theater und wirkte bereits in den 1910er Jahren bei einigen Filmen mit. In den 1920er Jahren wurde er in einem anderen Medium nicht nur berühmt, sondern gar zum Pionier, nämlich beim Rundfunk. Als Radiosprecher und -regisseur des Senders Funk-Stunde Berlin (der erste Hörfunksender in Deutschland) machte sich Braun einen Namen und seine Rundfunkbeiträge wurden legendär – ganz besonders seine Live-Reportagen zum Begräbnis Gustav Stresemanns und zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Thomas Mann. Letztere soll er, live vor Ort, offenbar nicht gesprochen, sondern geflüstert haben, um die Feierlichkeit nicht zu stören. Bei einer Umfrage in Berlin Ende der 1920er Jahre wurde Braun – nach Reichspräsident Hindenburg – zum erfolgreichsten Deutschen gewählt. Braun wurde von nationalkonservativen und nationalsozialistischen Kreisen stark angefeindet, weil er Ende der 1920er Jahre der SPD beigetreten war und auch an kirchlichen Feiertagen sendete. Nach der Machterlangung der Nazis wurde der deutsche Rundfunk „gesäubert“ und Braun zusammen mit anderen prominenten Hörfunkpionieren als Vertreter der Weimarer „Systemmedien“ verhaftet und in das Konzentrationslager Oranienburg verschleppt. Nach sechs Wochen kam er, auf Intervention des Schweizerischen Theaterdirektors Ferdinand Rieser, wieder frei – unter der Bedingung, Deutschland zu verlassen. In der Schweiz war er am Stadttheater Basel als Schauspieler und Regisseur tätig. In dieser Zeit fallen seine Bestrebungen, die Nazis bzw. insbesondere das Propagandaministerium dazu zu bewegen, ihm wieder eine Rückkehr nach Deutschland und zum Rundfunk zu ermöglichen, was zunächst erfolglos war. Nach einer Station in Ankara, wo er als Theaterdozent arbeitete, kehrte Braun offenbar illegal nach Deutschland zurück – oder möglicherweise bereits mit der Fürsprache des deutschen Botschafters in Ankara (Franz von Papen, ehemaliger Reichskanzler, dann Vizekanzler unter Hitler). Braun kam nur kurz zum Radio zurück, um über den Angriff auf Polen zu berichten. Veit Harlan und Emil Jannings setzten sich dafür ein, den Rundfunkpionier von seinem Lieblingsmedium zum Film zu transferieren. So begann Brauns Zusammenarbeit mit Harlan. Bei JUD SÜß arbeitete der ehemalige Rundfunkpionier als Regieassistent. Für DIE GOLDENE STADT, IMMENSEE – EIN DEUTSCHES VOLKSLIED, OPFERGANG und KOLBERG schrieb er am Drehbuch mit. Als das dem früheren Rundfunkpionier später vorgeworfen wurde, sagte Veit Harlan aus, dass Braun den Inhalt der Filme nicht bestimmt habe (ob um Braun zu verteidigen oder aus Stolz auf die Autorenschaft der eigenen Filme, ist unklar). Wie stark seine Beteiligung an dubiosen Filmen des Dritten Reichs auch war – sicher ist, dass Braun sich aktiv beim Naziregime angebiedert hatte und offenbar relativ bequem leben konnte, mit einer gutbürgerlichen, schicken Wohnung in Berlin und einer eigenen Wohnung in Gschwend (Ostwürttemberg). Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde Braun nicht erst großartig „entnazifiziert“, sondern konnte gleich bei Radio Stuttgart arbeiten. Schließlich kehrte er 1947 nach Berlin zurück, zum sowjetisch geführten Berliner Rundfunk, wo man dafür bürgte, dass er schon immer ein „aufrechter Antifaschist“ gewesen sei. In diese Zeit fällt sein Auftritt in CHEMIE UND LIEBE. 1950 beendete Braun seine Arbeit beim Rundfunk in Ost-Berlin. Nach einigen Filmengagements als Schauspieler und auch als Regisseur (für sein AUGEN DER LIEBE stand ihm Veit Harlan als Drehbuchautor zur Seite) wurde Braun schließlich der erste Intendant des Senders Freies Berlin – was er bis 1957 blieb. Die Wahl war offenbar nicht unumstritten und einige Medien erinnerten an Brauns opportunistisches Verhalten im Dritten Reich (und – wog das vielleicht schwerer? – in der frühen DDR). Mitte der 1960er Jahre erkrankte Braun und erblindete, aber er produzierte und sprach trotzdem noch regelmäßig Beiträge für den Sender Freies Berlin. 1978 starb Braun 89-jährig in seiner Heimatstadt.

Noch ein kurzer Nachtrag zum Schluss, rasch hineingefügt: Emil Hasler, der Produktionsdesigner von CHEMIE UND LIEBE, hatte einige berühmte Filme in seinem CV. Darunter eine Stelle als Assistent-Produktionsdesigner bei DER BLAUE ENGEL, geteilte Credits für Pabsts TAGEBUCH EINER VERLORENEN – und (ebenfalls geteilt) Credits bei Langs FRAU IM MOND, M und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Meine Vermutung, dass CHEMIE UND LIEBE den späten deutschen Filmen Langs stark verpflichtet ist oder es zumindest eine relativ direkte Verbindung gibt, bestätigt sich.

Dem charismatischen Da Costa (Ralph Lothar) gehört der letzte Auftritt

CHEMIE UND LIEBE ist Teil einer DVD-Box mit dem sperrigen Titel Kontinuitäten und Brüche. Zwischen UFA und DEFA 1942 - 1948. 6 Filme. 3 Regisseure. Vertreten sind Wolfgang Staudte mit DER MANN, DEM MAN DEN NAMEN STAHL (1945), DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) sowie DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES HERRN FRIDOLIN B. (1948) – dann Gerhard Lamprecht mit DIESEL (1942) und IRGENDWO IN BERLIN (1946), sowie Rabenalt mit AM ABEND NACH DER OPER (1945) und CHEMIE UND LIEBE. Das sind also eigentlich sieben Filme, und nicht sechs, wie der Titel suggeriert. Die Box ist zu moderaten Preisen erhältlich – die beiden Rabenalt-Filme sind, im Gegensatz etwa zu DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, nicht einzeln erhältlich. CHEMIE UND LIEBE ist jedenfalls in guter Ton- und Bildqualität zu sehen – da gibt es nichts zu mäkeln. Sollte CHEMIE UND LIEBE eines Tages doch einmal auf Einzel-DVD herauskommen, wird es höchstwahrscheinlich eine fürchterlich ramschige Edition sein, weil er als DEFA-Film rechtlich voll und ganz in den unfähigen Händen von Icestorm liegen dürfte.