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Mittwoch, 5. September 2018

Tutto è film: Bericht vom 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)


Es war einmal das italienische Kino...
(m)ein Sommermärchen

Frankfurt am Main
37°C
35mm



Donnerstag, 26. Juli

18.30 Uhr


LOVEMAKER
Regie: Ugo Liberatore
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1969
96 Minuten
München 1969: Die Studentin Christiane (Doris Kunstmann), ihr Freund Klaus (Roger Fritz), Helga (Christiane Krüger) und deren Freund gehen eines Nachts auf eine Baustelle und verprügeln einen italienischen Gastarbeiter. Der italienische Ingenieur und Bauleiter Giorgio (Antonio Sabato) wird Zeuge des Vorfalls, beendet ihn und wird es den Deutschen nach und nach heimzahlen: indem er erst Helga, später Christiane verführt.
LOVEMAKER erlebte am 26. Juli 2018 im Kino des Frankfurter Filmmuseums seine verspätete Deutschland-Premiere. Obwohl er von Artur Brauners CCC Film koproduziert wurde, kam der Film 1969 nicht in die deutschen Kinos. Brauner soll den fertigen Film gehasst, ihn als "antideutsch" bezeichnet haben und verbannte ihn in den Giftschrank. Wenn man LOVEMAKER heute sieht, kann man nur allzu gut verstehen, warum er nicht in Deutschland gezeigt wurde, und kann nur vermuten, dass er auch heutzutage (bzw. ausgerechnet heutzutage) immer noch keinen regulären Start bekäme. Liberatore hat hier nicht weniger als eine gnaden- und schonungslose Studie über deutschen Rassismus und Heuchelei vorgelegt. Die brillante Klarheit, mit der Liberatore und sein Co-Autor Fulvio Gicca Palli die subtilen Mechanismen von Rassismus offenbart, ist absolut verblüffend, und LOVEMAKER nur wenige Tage nach der großen Özil-Kontroverse zu sehen, passte wie die Faust auf's Auge.
Es ist 1969, aber unter der Oberfläche des "swingenden München" (so das Programmheft) sieht es hässlich aus. Die schick gekleideten, bürgerlichen Studenten fahren nächtens durch München und versuchen zu raten, ob die Helmfarbe der Gastarbeiter auf der Baustelle ihre Nationalität markiert. Der erste, den sie danach fragen, antwortet das, was sich jeder vernünftige Mensch denken könnte (natürlich hat die Helmfarbe damit nichts zu tun!), wird von Christiane bedrängt, bis sie ihm aus heiterem Himmel und völlig zu unrecht vorwirft, sie sexuell zu belästigen, woraufhin die beiden Männer der Studentenbande zum Prügeln hinzukommen. Die Fantasie des sexuell aggressiven Südländers – sie wird im Laufe des Films wie ein Bumerang auf Christiane und Helga zurückkommen.
Giorgio, den das Studentenquartett auf der Baustelle trifft, ist ein "komplizierterer" Gastarbeiter, weil er Ingenieur und Bauleiter ist, Akademiker, gutbürgerlich mit Haus, Frau und Kind in Rom – als Deutscher stünde in der sozialen Hierarchie weit höher als die Studenten. Zwischen ihm und den Deutschen beginnt, wie Festivaldirektor und Kurator Christoph Draxtra im Programmtext wunderschön schreibt, ein "morbide-neurotischer Tanz ambivalenter Gefühle". DoP Dario di Palma (der auch Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO und ARCANA fotografierte und außerdem für Lina Wertmüller, Ettore Scola, Federico Fellini und Michelangelo Antonioni gearbeitet hat) hält diesen "Tanz" oft wortwörtlich fest, indem er die Kamera um zwei Figuren kreisen lässt. Den ersten Walzer, wenn man so will, bestreiten Giogrio und Helga, die beide rasch eine Affäre beginnen, obwohl sie mit ihrem Freund bereits verlobt ist. Die Männer wissen nichts davon, nur Christiane beobachtet stark (ekel)erregt dieses Treiben. Und zwar fast wörtlich: als Helga heiratet, schaut Giorgio mal spontan vorbei; als der Bräutigam irgendwelche Koffer in einem Nebenraum packen geht, gönnt sich Giorgio mit Helga "die erste Nacht" auf dem Hochzeitsbett, während Christiane sich auf die Terrasse zurückzieht. Der Ausdruck glückseliger Befriedigung, den sie dann auf Helgas Gesicht sieht: bringt das Christiane schließlich zum Umfallen?
Christiane, die bis dahin den "mangia-spaghetti" mit sichtlich obsessiver Abscheu aufmerksam beobachtete, beginnt ihrerseits eine Affäre mit Giorgio. Der aufmerksame Zuschauer hat natürlich gemerkt, dass Giorgio den beiden deutschen Frauen nicht primär wegen seines schönen Lächelns gefällt, sondern weil er offenbar extrem gut im Bett ist... also zumindest im Vergleich mit jenen beiden Deutschen, die als lascher Maßstab herhalten können: Klaus und der andere Student neigen zu ausgiebigem Bierkonsum, was ihrer Potenz ziemlich abträglich ist. In einer peinlich langen Szene zu Beginn des Films sehen wir, wie sie im Vollrausch zu brüderlichen Umarmungen und komatösem Schlaf neigen, während ihre Freundinnen nach Sex gieren – bei diesen beiden Schlappschwänzen kann dann auch ein von den beiden Frauen etwas ungelenk eingefädelter Partnertausch-Versuch nicht weiter helfen. Jedenfalls wird Christiane, die vorher die "mangia-spaghetti" verabscheute, eben einem solchen sexuell hörig. Giorgio will sie zu einer "guten italienischen Hausfrau" degradieren, zwingt sie, bei ihm einzuziehen und ihrem ganzen Umfeld das auch mitzuteilen. Christiane wehrt sich – sie möchte nicht, dass man mitbekommt, wie sie mit einem ... "verheirateten Mann" ins Bett geht. Natürlich meint sie damit eigentlich einen "mangia-spaghetti" und Giorgio weiß es natürlich auch und im Grunde weiß sie, dass er es weiß. Das ist wie mit Özil und dem ominösen Bild: 99 % der Leute, die ihm das Foto mit dem türkischen Potentaten vorgeworfen haben, kümmern sich im Grunde einen Dreck um Menschenrechte in der Türkei und hatten kurz vorher ja auch überhaupt keine Probleme damit, eine Veranstaltung abzufeiern, deren Gastgeberland hungerstreikende politische Häftlinge, die aus fremden Staaten (der Ukraine) verschleppt wurden, in sowjetisch anmutenden Knästen vor sich hin darben lässt. Liberatore hatte diese Heuchelei schon 1969 in seinem Film in äußerst treffende Bilder gepackt.
Da wir eben bei Bildern sind: eines spielt in LOVEMAKER auch eine wichtige Rolle. Das Bild von Giorgios Ehefrau und dem gemeinsamen Kind, das vergrößert auf Posterformat über seinem Bett hängt – das gleiche Bett, in das er seine deutschen Affären zum Sex einlädt und in das schließlich auch Christiane landet, nackt und gedemütigt, während Giorgios Frau und Kind vom Wandposter belustigt auf sie herabblicken. Wie viele im Film ist auch dieser ein krasser, äußerst direkter Moment. Manche Zuschauer mögen das vielleicht gar vulgär nennen, aber immer wieder fühlte ich mich an die späteren Filme Paul Verhoevens erinnert (gerade darin, wie Sex als komplexes soziales Macht- und Unterwerfungsmittel präsentiert wird). Ähnlich komplex wie Verhoeven ist auch Liberatores Weigerung, seine Figuren einfach zu machen: so unsympathisch Christiane auch ist, so sehr macht sie die Kamera immer wieder zum visuellen Mittelpunkt des Films, harrt in einer ausgedehnten Szene, als sie alleine etwas gelangweilt durch Giorgios Wohnung bummelt, sehr lange mit ihr. So sehr man mit Giorgio auch prinzipiell sympathisiert darin, wie er der Herrenmenschenattitüde der deutschen Studenten einen Dämpfer verpasst, so selbstgefällig ist er letztlich in seinem Verhalten gegenüber Christiane; so persönlich und egoistisch bleibt seine "Rache".
Auf besondere Weise interessant ist LOVEMAKER auch, weil er ein italienischer Film ist, in dem deutsche Figuren in italienischer Sprache italienische Figuren rassistisch beschimpfen, wobei das ganze von Songs begleitet wird, die auf Deutsch im Original gesungen werden: ein janusköpfiges Verfremdungselement, wobei letzteres wahrscheinlich gerade in italienischen Kinos äußerst befremdlich gewirkt haben muss. Die instrumentale Titelmelodie hingegen, komponiert von Armando Trovajoli, müsste wahrscheinlich in die Top 5 der "Most ass-kicking bass lines in Italian cinema" aufgenommen werden.
Den visuellen Höhepunkt des "Tanzes" bildet eine ganz merkwürdige, fast surreale Szene, etwa in der Mitte des Films (schätze ich): Klaus und der andere Student sind in einer schlagenden Studentenverbindung und nehmen an einer Mensur teil, zu der Klaus tatsächlich Giorgio eingeladen hat (vielleicht nur, um zu sehen, ob der Italiener sich traut, wirklich zu kommen). Was folgt, sehen wir wahrscheinlich leicht verfremdet durch Giorgios Augen. Die Szenerie, die Fechthalle eines Verbindungshauses, wirkt fast retrofuturistisch, mit zahlreichen Männern in bizarr-archaischen Kampfanzügen, die nach einem mysteriösen Regelwerk in Zweierkämpfen gegeneinander antreten (wieder die Kamera, die um Personen-Duos kreist) – wobei es scheint, dass sie weniger kämpfen, als vielmehr wie aufgezogene Automaten hin- und her zucken. Nach Ende des Rituals sind die Männer dann mächtig stolz darauf, zerschnittene Gesichter zu haben – und dann kommt ein italienischer Ingenieur in einem eleganten, cremefarbenen Mantel vorbei und eröffnet ihnen, dass er das ganze für ein völlig groteskes Gladiatorenspektakel hält. Artur Brauner soll von dieser Szene wohl ganz besonders entrüstet gewesen sein.
Ugo Liberatore war mir bislang unbekannt, allerdings kein Terza-Visione-Neuling: sein Südsee-Aussteigermelodrama BORA BORA lief 2015 beim 2. Terza Visione. So ungalant das Bild der Deutschen in LOVEMAKER ist, so sehr schien es Liberatore in seinen Forschungen zu Rassismus, Geschlechterbeziehungen und moderner Heuchelei auch um Universelleres zu gehen. Ich empfehle Oliver Nödings und Silvia Szymanskis Besprechung des Films als Lektüre.
Was zwei der Hauptdarsteller, nämlich Doris Kunstmann und Roger Fritz, zu LOVEMAKER zu sagen haben, hörten die Zuschauer der Deutschlandpremiere im anschließenden Q & A mit den beiden. Zu sehen ist das Gespräch hier auf dem youtube-Channel des Deutschen Filmmuseums.


22.00 Uhr

ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
Regie: Riccardo Freda (Nachdrehs: Filippo Walter Ratti)
Italien / Spanien 1972
91 Minuten
Vier junge Hippie-Urlauber, Jane (Camille Keaton – sechs Jahre vor DAY OF THE WOMAN), Bill, Joe und Fred suchen in einer stürmischen Nacht eine Villa auf. Dessen Hausherr, Lord Alexander (Luigi Pistilli), organisiert zusammen mit seiner Ehefrau und einigen Gästen gerade eine Schwarze Messe. Als die Urlauber da reinplatzen, geraten die Satanisten in Panik und massakrieren sich gegenseitig. Bei ihrer anschließenden panischen Flucht werden die vier jungen Leute nach und nach von schrecklichen Visionen und Ereignissen heimgesucht...



ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein allseitig verstoßener Film, auf gewisse Weise ein film maudit: Regisseur Riccardo Freda selbst hasste ihn so sehr, dass er nicht nur seinen Namen aus den Credits entfernen ließ, sondern ihn in seinen Memoiren komplett unterschlug, so der italienische Filmhistoriker und Freda-Biograph Roberto Curti in seiner Einführung. Der Film lief nur in seinen beiden Produktionsländern und galt offenbar als nicht "exportfähig". 2004, nach einer Projektion im Rahmen einer Retrospektive beim Filmfestival Venedig, wurde er vom Publikum ausgebuht. Das Terza Visione ermöglichte nun nicht nur die Deutschlandpremiere des Films, sondern bot auch einen idealen Rahmen, ihn lieb zu gewinnen – auch, wenn er sich wahrhaftig mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Es ist durchaus möglich, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ein gescheitertes Meisterwerk der unfreiwilligen (?) Dekonstruktion ist: ein grand film malade im Sinne François Truffauts, mit einer ganz eigensinnigen, morbiden Poesie und einer großen Schönheit.
"Auszug aus den Geheimarchiven der Polizei einer europäischen Hauptstadt" – es fängt schon mal dem Titel an, der eher einen politischen Thriller in Form eines "police procedurals" suggeriert, und nicht einen dekonstruierten Horrorfilm, der mit zunehmender Laufzeit bis zur Grenze der Selbstzerstörung in alle möglichen Richtungen aus dem Leim geht. Da ist natürlich die Geschichte des reichen Industriellensohns Bill, der eine leicht ödipal gefärbte Beziehung zu seiner Mutter hat, sie auch mal heimlich beim Baden mit ihrem Liebhaber beobachtet, ihr gerne Halsketten schenkt und wohl hauptsächlich deshalb auf der Urlaubstour gerne mit Jane schlafen möchte, um seinem Muttikomplex ein Ventil zu bieten. Die Szenen mit Bill und seiner Mutter sehen wir in Rückblenden, die urplötzlich in den ersten zehn Minuten des Films einbrechen. Seine Mutter hat die Kette abgelehnt, weil Bill sie bei einer Trödlerin gekauft hat, die eine gruselige Geschichte zu dem Schmuckstück erzählt hat. Vielsagend, dass Bill die Halskette, die seine Mutter abgelehnt hat, nun Jane schenkt, die während der Schenkung dann auch eine irritierende Vision von Bill mit entsetzlich entstelltem, blauem Gesicht bekommt, was erst etwa eine Stunde später wieder eine Rolle spielen wird. Verfluchte Kette, ödipale Lust, schreckliche Zukunftsvisionen – und da sind noch weit und breit keine Satanisten (und kein Luigi Pistilli) in Sicht.
Das erste Drittel lässt zudem auch vermuten, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA eine spielerische Kapitalismus-Groteske sein könnte: die jungen Leute schließen untereinander Wetten ab, deren Schulden nie wirklich beglichen werden können, weil der Verlierer, immer wieder Bill, seine Schulden mit einem Reisescheck bezahlt: eine virtuelle (jenseitige?) Währung, deren Wert in der Wildnis gleich Null ist... vor allem, wenn ein Tankwart sich in der späteren Nacht weigert, den jungen Leuten das Auto vollzutanken, weil sie nicht bar zahlen können, und sich an dieser Stelle ein kleiner Abgrund auftut zwischen den letztlich bürgerlichen Hippies und dem bodenständigen ländlichen Kleinselbständigen. Diese Szene wird geradezu qualvoll lange ausgedehnt, aber dieses Spiel mit dem "virtuellen" Geld wird dann auch relativ rasch wieder fallen gelassen – wieder ein scheinbarer roter Faden, der ins Nichts läuft.
Dann folgt der Part in der Villa, wo die jungen Leute mit dem leeren Auto ankommen. Hier taucht dann auch der unvergleichlich großartige Luigi Pistilli auf, der als Lord Alexander die jungen Leute geradezu drohend ermahnt, dass in seinem Hause Gastfreundschaft heilig sei und sie deshalb gefälligst hier zu bleiben hätten! Und Luigi Pistilli im Dunkeln als Silhouette ist nunmal extrem beunruhigend (und auf großer Leinwand ganz großartig zu betrachten).
In den Villenszenen ist es besonders auffällig, wie in ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA dösige Exposition, Absurdes und morbide Poesie sich die Klinke in die Hand geben. Den Männern aus der Hippie-Clique dabei zusehen, wie sie sich in recht banalen Dialogen am Essenstisch der Villenbediensteten unterhalten, verlangt einiges Sitzfleisch. Parallel ist Jane in ein herrschaftliches Zimmer gebracht worden und von der Hausherrin bei einem warmen Bad sich selbst überlassen worden. Die Großnichte des großen Buster Keaton braucht im Grunde sowieso während des Films nicht viel zu tun, weil ihr etwas melancholisches Gesicht mit den traurigen Augen (das liegt wohl in der Familie?) stets etwas Träumerisch-Jenseitiges ausstrahlt. Immer wieder wird sie isoliert gezeigt, wenn die Männer der Urlaubspartie zusammen gezeigt werden. Immer wieder schwelgt die Kamera mit ihr in leiser Melancholie. Wenn sie dann im leicht flatternden (und ja: leicht durchsichtigen) weißen Nachthemd der bizarren Orgelmusik der schwarzen Messe folgt, in dem sie durch dunkle Gänge mit wehenden Vorhängen läuft (gleitet?), wähnt man sich beinahe wohlig in einem klassischen Gothic-Horror-Film wieder zu finden. Wäre diese merkwürdige Melodie nicht, die eine der Teilnehmerinnen der schwarzen Messe in Dauerschleife auf der Orgel spielt, eine Melodie, die ein stetes emotionales Crescendo ohne Auflösung beschreibt, bei der man das Gefühl hat, sie könnte jederzeit plötzlich in eine Fats-Waller-Jazznummer umschlagen: irgendwie kontrapunktisch zu den Bildern der schwarzen Messe und doch so unglaublich passend (die Credits gehen hier an den großen Stelvio Cipriani).
Nun... Jane überrascht die Teilnehmer der schwarzen Messe, wird als menschliches Opfer gefangen genommen (und leistet in einem tranceartigen Zustand erstaunlich wenig Widerstand dagegen), dann suchen sie die Jungs. Im letzten Moment kann Bill Lady Alexander daran hindern, ein Messer in Jane zu stoßen, tötet sie im Gerangel jedoch aus Versehen. So etwas ist natürlich ein Stimmungskiller, aber das, was danach passiert, rechtfertigt es keineswegs. Die Satanisten verfallen in einen Blutrausch und massakrieren sich gegenseitig: blutige Bauch- und Kopfschüsse, Enthauptungen, hochkant aufgespaltene Gesichter, Verbrennungen. Das ist in vielerlei Hinsicht verwirrend. Erstens macht diese Szene auf brutale Weise tabula rasa: da sind keine weiteren Satanisten mehr, mit dem man den Film noch bestreiten könnte – ein potentieller roter Faden, der wieder ins Leere läuft. Des weiteren wirkt diese bizarr-groteske Szene wie ein furioser Showdown, bietet in anderthalb Minuten so viele Splattereffekte wie manche Gialli in 90, ist aber etwa in der Hälfte des Films angesiedelt: das heißt, eigentlich fängt der Film erst dann wirklich an. Und drittens ist Luigi Pistilli, nachdem er etwa zwanzig Minuten da war, davon vielleicht mit höchstens fünf Minuten Screentime, einfach weg. Zunächst scheinbar, dann aber auch wirklich: die schwarze Messe spielt im restlichen Film dann im Prinzip auch keine Rolle mehr, abgesehen von den letzten zehn Minuten, wo die Bilder als Erinnerung oder Vision Janes wieder auftauchen – dann allerdings als eine Art derangierter Clip voller kleiner Wiederholungsloops: der mit dem Schwert hochkant gespaltene Kopf wird dann gleich vier Mal gezeigt (der Credit für die Splatter-Effekte geht an Carlo Rambaldi, der für den Effekt der Hunde-Vivisektion in Lucio Fulcis UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA gerichtlich vorgeladen wurde und uns beim diesjährigen Terza Visione noch mal bei PROFONDO ROSSO begegnen sollte). 
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA endet schließlich, nein, er endet nicht... – er bricht einfach ab, nachdem Paul Müller (bekannt und geliebt aus diversen Filmen Jess Francos) als Arzt den kompletten Film ohne jegliche Vorwarnung in einem etwa anderthalbminütigen delirierenden Monolog voller komplizierter Schachtelsätze durcherklärt und damit eigentlich wieder mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Fine. Ende. Keine Credits, aber dafür mit Schwarzbild das zärtliche Lied vom Beginn, mit seinem Text, der immer wieder Süßliches und Makabres zusammenbringt ("Ein Mann lacht fröhlich, den Mund schon voller Erde / Eine Frau tanzt, durchsetzt von Würmern – so ist das Leben!"). Aufreizend provokant, fast schon radikal, den Film einfach so abzubrechen.
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein schwieriger und doch wunderschöner Film: langsam, leicht sediert, antiklimaktisch, mit einigen peniblen Expositionsdialogen, die von völlig irrwitzigen Absurditäten gefolgt werden und dabei durchsetzt von wunderschönen, unvergesslichen Bildern. In vielen Szenen ist der Meisterregisseur sehr klar zu erkennen, und zu sehen ist eine Poesie, die mit jener des klassischen Gothic Horrors nur äußerliche Chiffren teilt und eher in Richtung dessen verweist, was Dario Argento und Lucio Fulci nicht ganz ein Jahrzehnt später in INFERNO und L'ALDILÀ machten: eine Poesie des Akausalen, des Irrationalen, jenseits der Genre-Konventionen, mit einem Horror, der sich vor allem als Zusammenbruch jeglicher Ratio offenbart und eine komplett eigene, filmische Logik entwickelt (die sich für "Logik-Anschlüsse" auch gar nicht interessiert). ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA kann mit "Erklärungen" kaum erschlossen werden, weshalb der Endmonolog auch merkwürdig daneben erscheint, aber (das hat eine zweite Sichtung für mich ergeben) er hat eine ganz eigene, atmosphärische und assoziative Kohärenz. Ja, ein störrischer Film, aber auch ein schöner Film – der nun hoffentlich beim Terza Visione endlich mehr Liebe bekommen hat.


Freitag, 27. Juli

12.30 Uhr

SICARIO 77, VIVO O MORTO ("Sicario 77 – Tot oder lebendig")
Regie: Mino Guerrini
Italien / Spanien 1966
98 Minuten
Der britische Geheimagent/Söldner Lester (Rod Dana) soll die Machenschaften des dubiosen George King aufdecken. Auftragsmorde, schöne Agentinnen, Nazis mit Welteroberungsfantasien und peitschende Nebenbösewichte in schwarzem Leder sorgen dabei stets für Bewegung.
Der Erfolg der James-Bond-Filme löste in Kontinentaleuropa eine Welle an Nachahmern aus, die wir heute als "Eurospy" kennen. James Bond blieb jedoch nicht der einzige Bezugspunkt. 1965 ging THE IPCRESS FILE, trotz großer personeller Überschneidungen mit den 007-Filmen, einen ganz eigenen Weg, erzählte seine Agentengeschichte in außergewöhnlichen Bildern mit gekippten Perspektiven, asymmetrischer Kadrage, kompletten Szenen, die durch im Vordergrund hervorragende Gegenstände gefilmt wurden. Furies Film, in seinem Szenario wesentlich nüchterner als die James-Bond-Filme, in seiner Bildästhetik aber bedeutend spektakulärer und verblüffender, machte wohl bei italienischen Filmemachern einen großen Eindruck. SICARIO 77, VIVO O MORTO ist einer der Agentenfilme, der versuchte, in die Fußstapfen von THE IPCRESS FILE zu treten.
Vorab: die gezeigte Kopie war die schlechteste des ganzen Festivals, ihr früherer Glanz war bereits in einem ermatteten Rotstich verglüht. Das nahm dem Film wahrscheinlich viel von seinem Potential, denn von vielen der spektakulär gefilmten Szenen erhielt man als Zuschauer nur eine vage Ahnung. Die Schwächen von SICARIO 77, VIVO O MORTO traten dadurch leider gefühlt deutlicher hervor. Die IPCRESS-Ästhetik, die sich im ursprünglichen Film mit zunehmender Laufzeit immer mehr in delierierende Gefilde radikalisierte, ließ in Guerrinis Film ab der Mitte spürbar nach: zumindest wurden nach meinem Empfinden die exzentrisch gefilmten Szenen, mit Gegenständen und Gesichtern, die im Bildvordergrund hervorragen, immer weniger. Dafür folgten immer mehr Drehbuch-Kapriolen, die allmählich etwas ermüdend wurden. Es half auch nicht, dass die Hauptfigur weder besonders charismatisch noch sonderlich sympathisch wirkte und mit dem großartigen Michael Caine nur die Hornbrille teilte, diese aber gegen Ende dann auch immer seltener trug – als würde sich der Film auch hier (zu seinen eigenen Ungunsten) von seiner Vorlage entfernen.
SICARIO 77, VIVO O MORTO hatte aber auch wirklich Pech, dass ich THE IPCRESS FILE gerade mal vier Tage zuvor zum ersten Mal gesehen hatte. Es bleibt aber trotzdem alles Jammern auf gehobenem Niveau. Die Eröffnungscredits machen mit dem harten Elektrogitarren-Titelstück Giorgio Zinzis noch einmal deutlich, warum die Italiener die Könige der Filmmusik sind. Die Eröffnungsszene, bei der ein furchterregend aussehender Blonder einen Pfandladen betritt, in seinem Violinenkoffer (vor Blicken durch den aufgeklappten Deckel geschützt) eine Maschinenpistole zusammenbaut, den Ladeninhaber erschießt, aus einer Schublade eine einzelne Banknote nimmt und dann kurz vor dem Gehen den heruntergefallenen Kopf einer Papstfigur wieder auf den Torso setzt, während die ganze Zeit im Hintergrund der Kommentar zu einem laufenden Boxkampf zu hören ist, ist Gold wert – ein matching cut von den Beinen des Killers zu den Beinen des Schiedsrichters führt uns dann zu ebendiesem dem Boxkampf. Da wir gerade eh von dieser Person reden: der blonde, fast albinoartige Killer ist, obwohl er glaube ich kein einziges Wort spricht (oder gerade deshalb) für mich die größte Figur dieses Films. Mit seinem Äußeren und seinem extrem intensiven Blick erinnerte er (ist es Enrico Manera? ich kann leider den Schauspieler nicht zuordnen) mich etwas an Frank Doubleday und seinen beinahe wortlosen Auftritten in John Carpenters Filmen. Leider verschwindet die Figur recht schnell wieder aus dem Film, dafür gibt es dann als etwas weniger raffinierten Ersatz einen Handlanger, der ganz in schwarzem Leder gekleidet ist und als Waffe eine lange Peitsche nutzt, deren Spitze mit einem scharfen Haken ausgestattet ist.
Auch einzelne Action-Szenen sind echte Hingucker. Der Kampf zwischen Lester und dem blonden Killer in einem Badezimmer, bei dem ein Duschvorhang, das ein- und ausgeschaltete Deckenlicht und eine störende Leiche auf dem Boden in Aktion treten... Der Kampf im Inneren einer Seilbahn am Hafen von Barcelona, dem eine Fußverfolgungsjagd durch den Hafen der Stadt folgt... Auch in der Action gibt es einen allmählichen Sieg des Groben über das Raffinierte. Beim Showdown lässt unser Agenten-/Söldnerheld Lester schließlich alle Hemmungen fallen, betritt einfach das Anwesen, wo sich die restlichen Böswatze versammelt haben und macht dann die meisten von ihnen mit einer Panzerfaust platt.


16.00 Uhr

LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST ("Die rote Sonne der Rache")
Regie: Sergio Corbucci
Italien / Spanien / Bundesrepublik Deutschland 1972
97 Minuten (Deutsche Fassung)
Der Bandit Jed (Tomás Milián), vom gnadenlosen Sheriff Franciscus (Telly Savalas) gesucht, trifft auf die frischgebackene Waise Sonny (Susan George). Die drängt sich wider Jeds Willen als "partner in crime" auf. Bald machen die beiden den Westen mit Überfällen unsicher, den fanatischen Sheriff auf ihrer Spur.



Die bekanntesten Regisseure, abgesehen von Dario Argento und Mario Bava, waren beim diesjährigen Terza Visione mit ungeliebt-missverstandenen Filmen (Riccardo Freda) oder Filmen aus unterbeleuchteten Karrierephasen (Lucio Fulci, dazu später mehr) oder mit unbekannten "Randwerken" ihres berühmtesten Genres vertreten – wie Sergio Corbucci. Was dafür sorgte, dass selbst das "Vertraute" für schöne Überraschungen sorgen konnte.
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST neigt ein bisschen zum exzentrischen Western, weil er fast aus allen Nähten platzt: er ist gleichzeitig derbe Prollsploitation, morbid-sadomasochistische Screwballkomödie, Stockholm-Syndrom-Drama, herzzerreissender Liebesfilm, eskalierendes Ehemelodrama, schenkelklopfender Slapstickfilm, Bonnie-and-Clyde-Ripoff und melancholische Meditation über die Tragik des Lebens. Corbuccis Film ist wie seine Hauptfigur Jed: er ist launisch, springt unruhig von der einen Episode zur nächsten und macht, worauf er gerade Lust hat (und gefallen zu wollen gehört nicht zu diesen Lüsten).
Zunächst sei erwähnt, dass die Hauptfigur Jed wahrhaftig ein dreckig-räudiger Asozialer vor dem Herren ist (wobei die deutsche Synchronisation dem wohl noch mal ein Dutzend Schippen hinzugefügt hat): er ist wortwörtlich dreckig, fürchterlich vulgär, flucht die ganze Zeit, behandelt sämtliche Menschen in seiner Umgebung mit Verachtung und Arroganz und benimmt sich allgemein furchtbar arschig. Er ist ein Mörder, oder zumindest ein Dieb, der nicht zögern würde, sämtliche Reisende einer Postkutsche kaltblütig zu ermorden. Und als Sonny ihn für einige Zeit verfolgt hat mit dem Ziel, zu seiner Geschäftspartnerin zu werden, prügelt er sie vom Pferd herunter und vergewaltigt sie im Dreck: eines der schockierendsten und verstörendsten Momente des Festivals (die Ankündigung vor dem Film, dass die diesjährige Ausgabe des Terza Visione weniger hart und düster sein würde als letztes Jahr, war inhaltlich insgesamt richtig, fühlte sich aber für diesen Moment sehr lügengestraft an).
Dies lag in der ersten Hälfte des Films sicherlich auch daran, dass Sonny sich die unwürdige Behandlung gefallen lässt, Jed sogar mehr oder weniger offen anhimmelt, während er sie als nutzlose Hündin beschimpft. Das wird sich im Laufe des Films ändern. Zunächst wird sie ihn in einer besonders denkwürdigen Szene in einem Getreideschober fast erschießen, später das Leben retten, ihn zur Heirat überreden – und am Schluss des Films wird schließlich er wie ein treudoofer Hund hinter ihr her hinken.
Die dritte Hauptperson, Franciscus, beginnt zunächst als eine Art Karikatur des fanatischen Law-and-Order-Sheriffs. Doch auch das ist gar nicht so einfach: bei einer Schießerei mit Jed und Sonny wird er schwer verwundet und erblindet, was seine Suche nach den beiden allerdings nicht stoppt. Was für irgendwelche absurden Gadgets oder für schale Witze hätte genutzt werden können, wird eher zu einem weiteren Akzent im tragisch-melancholischen Unterton, der den ganzen Film durchzieht (der sich auch in Ennio Morricones wunderbarem Score – hier ein Ausschnitt – widerspiegelt): Franciscus, wortwörtlich von seinem leidenschaftlichen Hass auf den Kriminellen Jed geblendet, wird zu einer wahrhaftig tragischen Figur. Ein Mann, der die Welt nicht mehr sieht, und trotzdem rücksichtslos mit seinem Stock schlägt oder Handgranaten wirft. Telly Savalas, der zu Filmbeginn wie eine merkwürdige Fehlbesetzung wirkte, spielt allmählich ganz groß auf.
Eher ganz grob spielt Tomás Milián auf, dem Corbucci hier eine freie Bühne für allerlei Absurdes gewährte. Unvergesslich etwa der Moment, in dem er – möglicherweise ein Moment der Genre-Selbstironie? – einen Teller Spaghetti (sic! ja, im Wilden Westen) isst. Wobei nein... "essen" kann man das nicht nennen: mampft, zutscht, zerschmatzt, abschlabbert, dass da im direkten Vergleich selbst die wildesten Fressorgien von Bud Spencer und Terence Hill wie piekfein-gediegene Dîners wirken. Und schließlich dieser Moment, in der er von der Kuh absteigt, die er vor kurzem auf offenem Feld gefunden hat: da er durstig ist, legt er sich eben ungeniert unter die Kuh und fängt an, an deren Zitzen zu nuckeln. Zwischen zwei Schlücken lobt er die "Ausstattung" der Kuh und verflucht Sonnys Oberweite. Spätestens hier wird klar, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auf eine gewisse Weise wesentlich "schwieriger" ist als etwa DJANGO, IL MERCENARIO oder IL GRANDE SILENZIO und für Zuschauer, die ihre Westerns gerne elegisch haben, ein Unding ist.
Ich schrieb weiter oben, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auch ein eskalierendes Ehemelodrama und herzzerreissender Liebesfilm sei. Die Dynamik im letzten Drittel entsteht dadurch, dass Sonny die geschlossene Ehe ernst nehmen möchte und rasend eifersüchtig reagiert, nachdem Jed auf einer feinen Gesellschaft die Dame des Hauses anbaggert (die dummerweise die Ehefrau des Gutsbesitzers ist, der einige mit Jed befreundete Bauern bedrängt). Sonny möchte schließlich die Gesellschaft ausrauben, während Jed die äußerst willige, weil offensichtlich sexuell ausgehungerte Gutsbesitzerehefrau entführt, um sie irgendwo in einer stillen Ecke zu vernaschen. Da das Sonny nicht passt, verrät sie ihn kurzerhand, um ihn dann doch wieder im letzten Moment zu retten. Vielleicht konnte sie sich doch an die besten Momente mit ihrem Ehemann erinnern. Der geneigte Zuschauer kann es auf jeden Fall: wie beide sich kurz vor dem Schlafengehen ordentlich zoffen, schließlich aber sich hinlegen, in eine gemeinsame Decke kuscheln... und dann fängt das Liebespiel an. Es ist ein bisschen wie das vorangehende Spaghettiessen, bloß in zärtlicher: Gesicht an Gesicht werden Nase, Mund, Zungenspitze sanft angeknabbert, geleckt, geküsst. Zwischen allen Scheußlichkeiten, Härten, Albernheiten und Absurditäten ein himmlisch herzlicher Moment, der einfach nur zum Dahinschmelzen ist. Großartig!
Ich muss gestehen, dass ich bestimmt eine gute halbe Stunde gebraucht habe, um in den Film ein wenig reinzukommen. Danach war es noch keine große Liebe, sondern eher ein Staunen über die Unglaublichkeiten, die da präsentiert werden, über die paradoxen Gefühle, die aufeinander prallen. Aber je mehr ich über LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST nachdenke, umso mehr finde ich gefallen an seiner Exzentrik, die sich den gängigen Mustern des Genres und dem Stromlinienförmigen störrisch und bockig widersetzt. Ein feiner kleiner Bastard von einem Western. Die französische DVD des Films (unter dem Titel "Far West Story") werde ich mir wohl demnächst besorgen müssen.

Das märchenhafte, paradiesische Potential des Terza Visione kann sich wunderbar entfalten, wenn man beim gemeinsamen Abendessen einen Co-Zuschauer auf das DUELLE-Rivette-T-Shirt anspricht, das er vor einigen Monaten beim Hofbauer-Kongress trug – und man danach ganz entspannt am Main-Ufer bei einem Bier über Rivette fachsimpeln kann.

Nun folgte der Film, der die Wetterbedingungen, mit denen sich die Terza-Visione-Besucher in Frankfurt (und natürlich nicht nur sie) konfrontiert sahen, wunderbar zusammenfasste.


20.00 Uhr

NELLA CITTÀ L'INFERNO ("Die Hölle in der Stadt")
Regie: Renato Castellani
Italien / Frankreich 1959
105 Minuten (Director's Cut)
In einem Römer Frauengefängnis: das naive Landmädchen Lina (Giulietta Masina) wird unschuldig eingeliefert, nachdem ein Diebstahl ihres betrügerischen Verlobten ihr angehängt wurde. In der Zelle wird sie nolens volens von der fatalistischen Egle (Anna Magnani) unter die Fittiche genommen.



In ihrer wunderschönen Einführung zum Film, die harmonisch eine große Portion Humor mit detailreicher Analyse verband, "bedauerte" Annette Brauerhoch, Professorin für Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Paderborn, dass NELLA CITTÀ L'INFERNO kein waschechter Frauenknastfilm sei, mit Catfights im Schlamm, lesbischen Anzüglichkeiten, viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen. Nein, "bedauern" ist natürlich zu viel gesagt, denn NELLA CITTÀ L'INFERNO ist so, wie er ist, natürlich ein toller Film, wie sie dann auch darlegte und wie sich dann auch auf der Leinwand zeigte.
Renato Castellani kommt ursprünglich vom Neorealismus. Seine Filmkarriere begann 1938 als Drehbuchautor, später führte er Regie – so unter anderem in seiner neorealistischen Trilogie der armen Leute aus SOTTO IL SOLE DI ROMA (1948), È PRIMAVERA... (1950) und DUE SOLDI DI SPERANZA (1952). Er gehörte sozusagen zur "zweiten Reihe" der Bewegung und war weniger bekannter als Namen wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti oder Vittorio De Sica. In den 1950er Jahren wandte er sich dem Melodrama zu (und verlor, wenn ich mich richtig an die einleitenden Worte entsinne, dadurch recht schnell sein Renommee bei der Kritik). NELLA CITTÀ L'INFERNO bildet sozusagen die Verbindung zwischen Neorealismus, klassischem Melodrama und dem Frauenknastfilm (also dem mit viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen).
Das ist sehr interessant, aber was ihn ganz besonders macht, sind seine starken Schwarzweißbilder: es ist der dritte Cinemascope-Film des Tages, und der am schönsten inszenierte in diesem Format. Annette Brauerhoch sah es als dezidiert politisches Statement, als "Geschenk" an die dargestellten Frauen: sie, die Erniedrigten und Ausgestoßenen, erhalten das glamouröse Format, das in dieser Zeit vor allem Epen vorbehalten war. 
Cinemascope "öffnet" ja erst mal den Raum, lässt mehr Luft rein, aber NELLA CITTÀ L'INFERNO ist vor allem ein extrem beengtes Kammerspiel, mit Räumen, deren Handlungsradius wohl etwa fünf mal fünf Meter beträgt, manchmal nur drei mal drei Meter. Wie den Frauen so verweigert der Film auch den Zuschauern den Blick nach draußen. Den "freien" Himmel sieht man nur im Eingangsbild (ein Polizeiauto fährt zum Gefängnis), und auf einer Art Dachterrasse des Knasts. Klaustrophobie und Enge. Und doch welch großartiges Gefühl für den wenigen, begrenzten Raum und vor allem für die Personen in diesem Raum. Das Scope holt die Randfiguren wörtlich in das Bild rein: die jeweilige handelnde oder sprechende Frau füllt nur einen Teil der Leinwand aus und wird meist von vielen anderen Frauen umgeben, die zuhören, oder sich mit anderen unterhalten, oder schlafen. Statt zu schneiden wird eher die Kamera bewegt oder der Blick in die Tiefe gelenkt, auf Zellen, die auf der anderen Seite des Korridors liegen. Ein echtes Panorama der Insassinnen. Neben Egle, der abgebrühten Langzeitinsassin und Lina, dem unschuldig sitzenden Mädchen vom Land, gibt es noch die blutjunge Marietta, die sich in das verkehrte Spiegelbild eines Mannes draußen verliebt; "Moby Dick", die sich regelmäßig kleine Wortgefechte mit Egle liefert; die alte Gräfin, die nach eigenen Aussagen auch unschuldig einsitzt und im Umgang mit Neulingen offenbar nicht so naiv ist, wie sie tut; die schwarzhaarige Zigarettenschmugglerin, deren Namen mir gerade entfällt; die schweigsame jüdische Sara – und viele andere Frauen.
So panoramisch die Bilder, so panoramisch ist auch das Drehbuch. NELLA CITTÀ L'INFERNO lässt sich keineswegs nur auf das Duo Anna Magnani und Giulietta Masina reduzieren. Sicherlich ist die Inhaftierung Linas der Aufhänger des Films. Der lange, nächtliche zweisame Dialog zwischen Egle und Lina bei einem improvisierten Kaffee gehört zu den großen Höhepunkten des Films – besonders der Moment, wo die beiden nur vom flackernden Licht der brennenden Zeitung beleuchtet werden, mit dem sie das Wasser für den Kaffee erhitzen. Und doch geht es NELLA CITTÀ L'INFERNO auch um mehr. Nach und nach entsteht ein ganzer Subplot um Marietta. Diese ganz junge Frau hat die Gewohnheit, sich stundenlang im Badezimmer ihrer Gemeinschaftszelle einzusperren und schließlich fliegt auf, was sie da tut: mit einem kleinen Handspiegel guckt sie kopfüber durch die Lamellen der Fensterläden in die Freiheit, wo zu regelmäßigen Zeiten immer ein junger Mann an der gleichen Stelle steht: eine selbstgebastelte Camera Obscura, wie Annette Brauerhoch in ihrer Einführung so treffend feststellte. Ein handgemachtes Kino des Begehrens. Dieses führt später dann zu einer kleinen Episode, in der eine andere Insassin dieses Mittel nutzen will, um zu einem vereinbarten Zeitpunkt ihre Tochter draußen zu sehen. Dazu muss sie erst mal in die entsprechende Zelle geschmuggelt werden. Das ganz endet nach einem schreckhaften, aber unverletzten Sturz mit dem Bruch der Toilettenschüssel und des Wasserbeckens... Wie Marietta immer mehr Raum einnimmt im Film, tritt Lina nach und nach in den Hintergrund und verschwindet gar für einige Zeit aus dem Film, als sie schließlich entlassen wird. Sie kehrt dann wieder zurück, diesmal als wirkliche "Kriminelle" (als Prostituierte).
Es gehört zu den großen Stärken des Films, dass er sich eindeutig zu seinen vielen Protagonistinnen stellt und unterschwellig deutlich macht, dass wir es hier mit struktureller Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Linas einziges Verbrechen bestand darin, so naiv zu sein, sich von einem Kriminellen um den Finger gewickelt lassen zu haben, der ihre Stellung als Dienstmädchen ausnutzte, um eine Villa auszurauben und sie dann als einfach auszumachende Schuldige sitzen zu lassen. Lina wiederum verfällt im Gefängnis in diesen Sozialdruck krimineller Logik, den Mund zu halten und das ganze auszusitzen, und gerät draußen dann wirklich auf die schiefe Spur. Ein Teufelskreis, den die Kinoversion (zu den Fassungen unten gleich mehr) auch "schließt", indem er mit den fast identischen Bildern eines zum Gefängnis fahrenden Polizeiwagens anfängt und aufhört.
Noch nicht ganz im Reinen bin ich mit der Figur der Egle bzw. mit der Darstellung Anna Magnanis. Egle ist, mit Verlaub, eine asoziale, arrogant-besserwisserische, fürchterlich selbstgefällige Egomanin, die offensichtlich nur tagsüber schläft, um nachts ihren schlafenden Co-Insassinnen im hektischen Wachzustand auf die Nerven zu gehen. Hinterhältig ist sie auch noch, wie sie immer wieder wahlweise Lina oder Marietta ins offene Messer laufen lässt und dann für dumm verkauft. Manchmal habe ich mich gefragt, warum ihre Zellengenossinnen sie so bewundern und mögen – und sie nicht irgendwann auf äußerst brutale Weise lynchen und das dann als "Unfall" tarnen (aber solcherlei gehört wohl eher in spätere Women-in-Prison-Filme). "Histrionisch" fiel als Stichwort in Annette Brauerhochs Einleitung, und tatsächlich forderte Magnani mit ihrer etwas überexaltierten Darstellung  meine Geduld bisweilen aufs Äußerste. Die wichtigsten Darstellerinnen in NELLA CITTÀ L'INFERNO sind alle weder sonderlich subtil oder zurückhaltend, aber Magnani legt immer noch eine Schippe drauf (manchmal zu viel, so meine Meinung). Aber vieles davon ist vielleicht auch mein Problem, und nicht das des Films. Im Verlauf wird deutlich, dass vieles von Egles Verhalten auch eine Schutzfassade ist, die dann auch zunehmend bröckelt.
Ich bekam im Vorfeld des Festivals den Film in der Kinofassung zu sehen, die etwa zehn Minuten kürzer ist als der in Frankfurt gezeigte "Director's Cut". Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in der längeren Fassung tatsächlich keine Szene entdeckt habe, die in der Kinofassung ganz fehlte. Eher schien es mir, dass die eine oder andere Szene hier und da ein zusätzliches Detail von mehreren Sekunden hatte, die in der Kinofassung geschnitten waren. Sehr deutlich war nur, dass das Ende anders montiert war: die Kinofassung hörte kurz nach der Begegnung zwischen Marietta und Piero (dem "Spiegelmann", der über einen Hinweis einer entlassenen Insassin auf Marietta aufmerksam wird) auf und ließ kaum Zweifel daran, dass die beiden nach ihrer Entlassung heiraten werden. Allerdings wird hier auch ein Kreis geschlossen, der von den Figuren, die wir erlebt haben, wieder auf das große Ganze, die Gesellschaft lenkt: die letzten Bilder des Films zeigen, analog zum Beginn, ein Polizeiauto, das vor die Tore des Gefängnisses vorfährt.
Die Begegnung zwischen Marietta und Piero ist auch im Director's Cut drin, kommt allerdings früher. Stattdessen endet der Film damit, dass Lina zurückkehrt und durch ihr abgebrühtes, zynisches Verhalten, das sie von Egle "gelernt" hat, diese so in Rage versetzt, dass sie mit Gewalt in eine Einzelzelle weggeschleppt werden muss: eine Szene, die in der Kinofassung drin ist, aber später von Momenten mit einer wieder gut aufgelegten Egle gefolgt wird. Hier als Filmende wirkt das doch wesentlich drastischer. Das Ende der Kinofassung ist sicherlich kein strahlendes Happy End, aber doch versöhnlicher, etwas hoffnungsvoller. Der Director's Cut endet mit dem unheilvollen Nervenzusammenbruch einer Frau, die zu Beginn noch festen Boden unter den Füßen hatte, damit wesentlich pessimistischer und zugleich persönlicher: niemand kommt mehr rein, aber niemand kommt mehr raus. Egle scheint, wenn nicht in den Wahnsinn, so in totale Verzweiflung zu versinken.
Noch eine kleine Anmerkung zum Schluss: nebst dem handgemachten Kino des Begehrens gibt es auch ein traditionelles Kino mit 35mm-Vorführung im Film zu sehen, nämlich eine Kinovorstellung auf der Dachterrasse des Gefängnisses. Bevor die Vorführung anfängt, sagt eine der Insassinnen zu der anderen, dass da hoffentlich nicht so ein vulgärer italienischer Polizeifilm kommt. Im Rahmen des Terza Visione erschien das natürlich ganz witzig. Einen Genrefilm bekamen die inhaftierten Frauen aber doch noch zu sehen: nämlich einen Musikfilm bzw. Musicarello mit heißen Rock'n'Roll-Beats...



...so was Ähnliches gab es dann im Anschluss als letzten Film des Freitags!


22.45 Uhr

Vor dem Hauptfilm lief eine 35mm-Trailershow, die es wahrhaftig in sich hatte! Der Trailer von WHITE POP JESUS (Luigi Petrini, Italien 1980) versprach das absolut unfassbare Spektakel eines Gottessohnes, der Ende der 1970er Jahre mit Pornoschnurrbärtchen, Goldkettchen und dem Klamottenstil eines Vorstadtzuhälters auf die Erde zurückkehrt, um Horden von wahrscheinlich leicht zugedröhnten Discotänzern mithilfe von saftigen Beats in das Paradies zu führen. Ich glaube und hoffe, dass ich nicht der einzige im Saal war, der sich sehnlichst wünschte, diesen Film bei einer der nächsten Terza-Visione-Ausgaben zu sehen. Der Trailer ist hier zu bestaunen.
Bemerkenswert war auch eine Kinowerbung von Langnese, die wie der Trailer zu einer besonders spritzigen Sexkomödie an einem mediterranen Strand wirkte, und große Lust auf Sex und kindische Späße machte – und auch ein wenig auf Eis. Ich glaube, wenn statt der lustlosen Werbung, die immer mit einem schlecht geshoppten Standbild der verfügbaren Eissorten endet, so ein Clip während der Vorfilmblöcke käme, würde der Eisverkauf großer Kinoketten um etwa 7392 % steigen (aber vielleicht irre ich mich). Hier zu sehen.


DANCE MUSIC ("Breakdance Sensation 1984")
Regie: Vittorio De Sisti
Italien 1984
81 Minuten (Deutsche Fassung)
Eine junge italienische Tanztruppe möchte ganz groß hinaus, hat aber leider kaum Geld, um die eigene WG (mit einem zum Tanzsaal umfunktionierten Wohnzimmer) zu bezahlen – und erst recht keine Kohle, um einen Flug nach New York zu buchen, wo bald ein alles entscheidender Tanzwettbewerb stattfinden wird. Ein paar heiße Moves und kreative Fundraising-Methoden müssen Abhilfe schaffen!
Was für ein Fest! Die spritzige Sexkomödie am mediterranen Strand, die die Langnese-Werbung vorher versprochen hatte, gab es zwar nicht, dafür aber eine spritzige Tanzkomödie in einer ungenannten italienischen Großstadt und im winterlichen New York – und mit Essen wurde da auch... ähm... "gespielt".
DANCE MUSIC war höchstwahrscheinlich der in einem ganz wunderbaren Sinne naivste Film des Festivals: sie sind jung, sexy (aber pleite), sie wollen die besten Tänzer der Welt werden und sie müssen diesen verdammten Wettbewerb in New York gewinnen – und der Film zweifelt keine Sekunde daran, dass das die allerwichtigste Sache auf der Welt ist. Mit vollem Herzen ist er ganz bei seinen jungen Protagonisten, ihren Träumen und ihrem Lebensalltag, und mit dieser positiven Einstellung hat er auch die Herzen der Zuschauer erobern können (und natürlich mit seinen großartigen Tanzszenen und einigen herzerwärmenden 80er-Modesünden).
Der Film beginnt mit einer relativ langen und kunstvollen Plansequenz, in der die Kamera durch die WG der Protagonisten "spaziert" und sämtliche Hauptfiguren einführt, indem sie bei alltäglichen WG-Problemen gezeigt werden: einer blockiert das Bad zu lange, ein anderer, der mit dem Lebensmitteleinkauf betraut worden ist, hat nur Eis mitgebracht und alle necken sich ein bisschen, haben sich aber eigentlich total lieb. Dann wird auch schon getanzt in dem Wohnzimmer, das zu einem Tanzsaal umfunktioniert worden ist: komplett ausgeräumt, eine Wand mit deckenhohen Spiegeln, eine mit Postern der Vorbildfilme (FLASHDANCE, STAYING ALIVE), eine mit Reckleitern. Der Tanz: tatsächlich ein dynamisch gefilmter Rausch aus 80er-Jahre-Musik und bewegten Körpern. Das wird auch im Rest des Films so sein: die Tanzsequenzen mit der Gruppe sind zackig und auf den Punkt gefilmt, dass man am liebsten aufspringen und mittanzen möchte.
Wenn die Tänze das Rückgrat bilden, so sind es die vielen kleinen wunderbaren Einfälle und humoristischen Einlagen, die dem Film das Herz geben. Da ist etwa die ältere Vermieterin der WG, die etwas missgestimmt ist, weil die jungen Leute mit der Zahlung der Miete im Rückstand sind und alle Nachbarn sich oft über die laute Musik beschweren, die es aber sichtlich geniesst, nach einer Tanz-Session vorbeizukommen, die Bewohner an ihre Mieterpflichten zu erinnern und dabei die hübschen, jungen, verschwitzten und muskulösen Männer zu sehen. Genau diese kleine Schwäche macht sich die Gruppe auch zunutze: der teilblondierte* Hauptmieter bezirzt rasch die aufgebrachte Vermieterin, indem er sein T-Shirt auszieht, sich lasziv vor ihr am Reck hin und her schwingt und sich schließlich zum Essen einladen lässt, um diese Mietangelegenheiten in einem gemütlicheren Ambiente zu besprechen. Dort lässt unser Held nichts anbrennen: die Vermieterin, nun in einem tief dekolletierten und eng anliegenden Kleid angezogen, lässt er vor Lust schmachten**, schickt sie immer wieder unter Vorwänden in die Küche und schmeisst, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hat, einen Dîner-Gang nach dem anderen aus dem Fenster, unter dem seine Mitbewohner mit ausgebreiteten Bettlaken die Gaben aufzufangen versuchen. Die Vermieterin wundert sich über den großen Hunger des jungen Mannes, während hinter ihrem Rücken Carpaccio, Lasagne und Chips in hohem Bogen aus dem Fenster fliegen. Natürlich wird nicht alles punktgenau aufgefangen und das sorgt für herzliche Lacher und ein kindliches Staunen über die besondere "Ästhetik fliegender Chips" (so sehr treffend ein Co-Zuschauer). Wem nicht spätestens hier das Herz vor Wonne und Freude zerschmilzt, kriegt am Badestrand das Langnese-Eis ins Ohr gesteckt!
Überhaupt sucht DANCE MUSIC nicht das ganz große Drama, sondern freut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Die WG ist eigentlich keine WG, sondern wird "offiziell" nur von einem der sechs Studenten bewohnt und zum Teil von dessen Papa bezahlt. Als letzterer zu Besuch kommt, bricht zunächst Panik aus, denn natürlich soll der nicht erfahren, dass sein Sohn nicht ernsthaft (Medizin) studiert, fünf Freunde da einfach so untergebracht hat und die "seriöse" Studentenwohnung als Tanzstudio "missbraucht". Fast, aber nur fast, schaffen sie es, die Wohnung zu "tarnen" und sich als Lerngruppe zu auszugeben, doch oh weh! – Papa entdeckt den panisch weggeräumten Tanzkram im Bad. Das ganze würde in einem anderen Film zur großen Vater-Sohn-Auseinandersetzung werden, doch DANCE MUSIC ist da lockerer: von den enttarnten Spiegeln des Tanzsaals sichtlich inspiriert, probiert Papa zur Verwunderung aller Anwesenden gekonnt einige Steptanzschritte, die er in seiner Jugend gelernt hat. Das ganze endet damit, dass sich die beiden Generationen gegenseitig gutgelaunt "ihre" Tänze vorführen und den Stil des anderen in den eigenen integrieren – klassischer Stepptanz meets Breakdance***. Wie viel wunderbarer ist es, das zu sehen als so eine schnöde Vater-Sohn-Auseinandersetzung, zumal es da ja nichts zu diskutieren gibt: Papa sagt am Ende des Szene deutlich, dass der Sohn irgendwann seine Arztpraxis übernehmen wird und damit basta!
Sehr schön ist auch, wie sich unsere kleine WG-Gruppe in ein Kino schmuggelt (der junge teilblondierte Adonis lässt wieder seinen Charme spielen, diesmal mit der Ticket-Kontrolleurin), um einem "Mr. Robot" beim Tanzen zuzuschauen. Was da läuft, ist offenbar ein fiktiver New Yorker Breakdance-Undergroundfilm innerhalb des Films (das Bildformat in diesem Moment ganz authentisch 1.33:1), und man sieht ihn, den von unseren Helden angehimmelten Mr. Robot, wie er auf einem Pier mit der New Yorker Skyline im Sonnenuntergang als Hintergrund tanzt. Jeder "normale" Film würde sich nach einigen Bildern abwenden und mit der "Geschichte" weitermachen, aber nicht so DANCE MUSIC. Der Film-im-Film läuft, und läuft, gut über zwei, drei Minuten, bis nach einiger Zeit der Zuschauer in eine Art rauschhafte Trance im Angesicht dieser Bilder fallen muss. Schließlich wird doch geschnitten, und wir sehen dann die wippenden Füße unserer WG-Gruppe, selbst nun in Trance verfallen (einen unvollständigen Ausschnitt dieser Szene gibt es in den ersten drei Minuten dieses Clips zu sehen bzw. zu erahnen).
New York! Diesen filmischen Sehnsuchtsort wird unsere Gruppe schließlich aufsuchen. Zunächst herrschte zumindest bei mir Unklarheit, ob wir uns nicht schon längst in den USA befinden: sämtliche Figuren sprechen sich gegenseitig mit amerikanischen Namen an, die wie aus einer schlechten Soap geklaut klingen. Einige Außenansichten, vor einem Wohnhaus bzw. in einer Einkaufsgalerie, waren keineswegs als italienisch auszumachen, und wahrscheinlich lag das auch nicht an der deutschen Synchronisation. Nachdem schließlich dann doch das Geld für den Flug gen USA gebucht werden kann, macht einem DANCE MUSIC sehr deutlich, dass wir nun in New York sind. Da werden schöne Second-Unit-Shots der Stadt aneinander gereiht, dass es die reinste Freude ist. "Guck mal: wir sind in New York. Ist das nicht superknorke?" verkündet uns scheinbar der Film in diesen Momenten, wenn uns Wahrzeichen der Stadt und abgeranzte Nebenstraßen mit der gleichen naiven Freude gezeigt werden – als großer Fan von New York als Filmstadt konnte ich dem nicht widersprechen. Diese Stadt kennt der Cinephile aus William Friedkins und Sidney Lumets New-York-Filmen: abgefuckt, kalt, grau, hektisch, brodelnd. Hier laufen scheinbar nur ein Steinwurf entfernt zur gleichen Zeit SCARFACE und TABOO II. Statt uns die Truppe beim Trainieren zu zeigen (wir wissen doch, dass die Jungs und Mädchen gut sind), zeigt uns DANCE MUSIC dann auch lieber wieder ausgedehnte Szenen mit Mr. Robot und anderen Tänzern auf den Straßen New Yorks (unterbrochen von einem Moment, bei dem Mr. Robot ganz offensichtlich vor einer gemalten New-York-Kulisse auftritt, aber das passt schon: das "reale" und das "gebaute" New York hatte Jean-Pierre Melville schon 25 Jahre vorher in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN zusammengebracht – also darf es De Sisti natürlich auch!). Das ganze kulminiert schließlich in einen Tanz am abendlichen Time Square. DANCE MUSIC – keine Stadtsinfonie, sondern ein Stadt-Breakdance! (wieder aus dem gleichen Clip wie oben einige approximative Impressionen).
Konfliktscheuheit gilt in unserer Ellenbogengesellschaft gemeinhin als Schwäche, aber es ist eine der großen Stärken von DANCE MUSIC, dass in seiner Welt keine Probleme existieren, die man nicht einfach in Wohlgefallen und Tanz auflösen könnte. Mieterprobleme? Einfach ein bisschen oben ohne am Reck abhängen! Sich anbahnende Konflikte mit Papa? Wegtanzen! Keine Kohle für die Subway? Einfach kurz zu Mr. Robot, es ihm sagen und in seinen Spendentopf greifen (er wird es schon verstehen)! Aber ganz großes Kino ist schließlich, wie der Film mit der Nebenfigur Michael (Italiener, aber natürlich englisch ausgesprochen) umgeht: ein fürchterlich schmieriger Yuppie, der hartnäckig eine unserer tapferen Tänzerinnen auf ihrer Arbeit in einer Einkaufgalerie anbaggert und schon nach kurzer Zeit wie ein hartnäckiger Stalker mit hohem Creep-Faktor wirkt. Eines Abends lässt sie sich doch auf ein Abendessen mit ihm ein, mit dem Hintergedanken, von ihm Geld für die New-York-Reise zu bekommen. Doch das Szenario geht fürchterlich schief, weil sie sich urplötzlich in ihn verliebt: eigentlich war Michael die ganze Zeit ein total dufter Typ. In einem Giallo hätte man ihn am Anfang sofort als Haupttatverdächtigen ausgemacht. Als er am Schluss die wackeren Tänzer in New York besucht, bekommt er wunderschöne zwei Sekunden geschenkt, in denen er herzallerliebst lächeln und Winke-Winke machen darf. Alles wird gut in der Welt von DANCE MUSIC!
Am Ende des Films schließlich der Wettbewerb: jeder, aber wirklich jeder andere Film hätte die Frage, ob unsere wackere Tanztruppe den Hauptpreis gewonnen hat, zu einem fünfminütigen Spannungsbogen aufgebaut. Doch hier einfach nur ein paar Sekunden Dialog zwischen der Truppe und einem Jurymitglied: 
– "Haben wir gewonnen?"
– "Na was habt ihr denn gedacht: natürlich!"
Wie töricht, wer daran nur eine Sekunde gezweifelt hat!

Nette Trivia: DANCE MUSIC ist wohl einer der Filme mit den meisten Kopien im Bestand des Deutschen Filminstituts, mit weit über einem Dutzend Stück. Unsere lieben Terza-Visione-Kuratoren haben für die Zuschauer exklusiv die beste ausgesucht.

* Teilblondiert: weil nur die eine Seite seiner Frisur blondiert ist. Es gibt in der Truppe noch einen anderen Mann mit blondierten Haaren, der – so ein Co-Zuschauer sehr treffend im Anschluss – wie André Agassi in seiner Vokuhila-Phase aussah. Die 80er-Jahre-Mode-Todessünden, die DANCE MUSIC überhaupt anzubieten hat, sind so oder so unglaublich und könnten Stoff für ganze Abhandlungen bieten. Stichwort: rotes Ensemble mit einer drüber geworfenen, weißen Flocati-Stola.
** Trotz vieler kleiner Schmierhäppchen, und obwohl Vittorio De Sisti in den 1970er Jahren ein Spezialist für commedie sexy war, bleibt DANCE MUSIC größtenteils sexfrei... natürlich bis auf eine fetzige Aufwärm-Montage, bei der unsere wackeren Tänzer (Männlein mit Weiblein, Männlein mit Männlein, Weiblein mit Weiblein, ganz ohne Unterschied) sich gegenseitig die Beine greifen, um sich dann, angelehnt am Reck, hemmungslos zu rammeln – ähm... dehnen. Nach dem lasziven Verspeisen der gebratenen Keule in VIIMNE RELIIKVIA hiermit meine zweitliebste Sexersatzszene dieses Jahres.
*** Wir haben es nicht im engeren Sinne mit "Breakdance" zu tun: der Film wurde in Deutschland mit einem Breakdance-Titel versehen, um auf dem damaligen Breakdance-Hype mit zu schwimmen. Ich kenne mich mit Tanzstilen nicht aus, es wird wohl eine Mischung aus Disco, Breakdance-Elementen und eigenen kreativen Moves sein. Ist ja egal: sie tanzen und es sieht meist sehr gut aus.

Lukas Förster schrieb über DANCE MUSIC im Rahmen eines Textes zu "Off-Filmfestivals" (der ganze Text, hier zu finden, ist super, und wunderschön dieser Satz: "Jede Projektion ein Akt der Zärtlichkeit").


Mit viel Zärtlichkeit (und auch einigen Härten und Tränen) geht es in Kürze auch im zweiten Teil meines Terza-Visione-Berichts weiter.

Hier geht es zum zweiten Teil des Terza-Visione-Berichts.

Montag, 21. Mai 2018

No Future in Riga? Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 2)


4. Festivaltag
Samstag, 21. April


ca. 12 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

NOVEMBER
Regie: Rainer Sarnet
Estland / Niederlande / Polen 2017
115 Minuten, DVD
Estland, so ungefähr im 19. Jahrhundert? Das Bauernmädchen Liina liebt den Bauernjungen Hans – doch der hat nur Augen für die traurige, schlafwandelnde Tochter des lokalen deutschen Gutsherren. Als ob das alles nicht schwierig genug wäre, tummeln sich noch sogenannte Kratts (beseelte Gegenstände), wahlweise nationalistische oder hormonstaugeplagte Landarbeiter, Walddämonen, wiederkehrende (aber gänzlich friedliche) Untote und die personifizierte Pest durch diese Geschichte.
© goEast Filmfestival
Erneut hatte ich Pech, diesen Film in schummeriger DVD-Qualität auf einem suboptimalen Bildschirm zu schauen, denn NOVEMBER ist zunächst einmal eine schier überwältigende Bildgewalt in Schwarzweiß! Überhaupt ist er ein überbordender Film: voller visueller Ideen, voller Nebenplots, voller humoristischer Einfälle, voller hemmungsloser Melodramatik – fast zu voll.
Steampunk trifft auf traditionelle estnische Folklore trifft auf eine übergroße melodramatische Liebesgeschichte trifft auf barock-grotesk-derben Humor mit Fäkalnote. Alles geht hier völlig informell, nahtlos, ohne sichtliche Brüche ineinander über. Bedrohliche Kratts, bestehend aus großen Sicheln und Heugabeln, marschieren wie Roboter durch die Landschaft, entführen Kühe und schmeissen diese durch die Luft. Nächtens besuchen die toten Verwandten die im Diesseits zurückgebliebene Familie, nehmen dann ein Dampfbad, bei dem sie sich in Hühner verwandeln. Die Bauern besuchen die Messe, doch die Hostien schlucken sie nicht, sondern spucken sie vor den Toren der Kirche gegen Bezahlung einem Schamanen in die Hand, der damit Walddämonen bekämpfen möchte. Der Walddämon, der nächtens immer an einer Wegkreuzung auftaucht und der für ein paar Tropfen Blut und die Seele einen Kratt belebt (Kratts sind nämlich nicht böse, sondern werden meist als Haushaltshilfen gebraucht) – dabei aber von den Bauern getäuscht wird, die unter der Hand Beeren zerdrücken, statt sich in den Finger zu schneiden. Während ein Landarbeiter aus Stuhl, Achselschweiß und Schamhaaren ein Liebesbrot bäckt (das geht allerdings gehörig schief!), entwickelt sich ein Schneemann-Kratt zu einem wahren Poeten, einem Dichter Venezianischer Liebestragödien bzw. zu einem Liebesgedicht-Ghostwriter für den verliebten Hans...
Jede Episode von NOVEMBER ist wunderbar gefilmt und doch schafft es der Film nicht wirklich, aus seinen Einzelteilen mehr als eine Summe zu bilden. Gleich zwei Personen, die den Film zwei Mal gesehen haben, meinten, dass sich dieser Eindruck bei wiederholter Sichtung noch verstärkt. Ja, NOVEMBER krankt ein wenig an Überambitionierung, will vielleicht zu viel auf einmal und seine fast zwei Stunden wirken letztlich zu lang, aber das ist doch Jammern auf relativ hohem Niveau. Ich habe während meines Aufenthalts in Wiesbaden viele tolle estnische Filme aus der sowjetischen Zeit gesehen – NOVEMBER ist sicherlich kein Meisterwerk, aber er bestätigt doch, dass das estnische Kino nach wie vor quicklebendig und spannend ist. Und vor allem ist Rainer Sarnet ein Name, den man sich merken sollte. Der Film hat jedenfalls den Hauptpreis der Jury beim diesjährigen Festivalwettbewerb gewonnen.


ORATORIUM PRO PRAHU („Oratorium für Prag“)
Regie: Jan Němec
Frankreich / USA / ČSSR 1968
26 Minuten, DVD
Dieser Film sollte eine Art Bestandsaufnahme der Tschechoslowakei im Prager Frühling werden. Doch dann marschierten sowjetische und Warschauer-Pakt-Einheiten in das Land ein...
© goEast Filmfestival
Wieder ein Film aus der kleinen Reihe zu „Prag 68“ (den ich wegen Terminkonflikten letztlich nicht bei einer richtigen Projektion sah). Die ersten zwei Drittel von ORATORIUM PRO PRAHU erzählen zunächst eine nicht völlig unkritische, aber doch recht optimistische Erfolgsgeschichte des Prager Frühlings. Begeisterung zunächst für die Abschaffung der Zensur im März. Dann aber auch ein Blick auf die zunehmenden größer werdenden gesellschaftlichen Forderungen, die noch viel mehr fordern (unter anderem wird, soweit ich mich erinnere, auch das Manifest der 2000 Worte erwähnt). Und vor allem einige sehr interessante Bilder einer höchst lebendigen alternativen Hippie-Kultur, die sich mit sozialistischer Kultur gewissermaßen verbindet: Blumenkinder, Jugendliche, die in Woodstock nicht weiter aufgefallen wären, helfen auf dem Acker bei einer Ernte mit.
Vom Stadtportrait wandelt sich ORATORIUM PRO PRAHU zu einem echten Kriegsfilm (was der Sprecher auch selbst explizit sagt). Eine eigentlich harmlose Fahrt durch die Gegend, auf der Suche nach weiteren Bildern für das Prag-Portrait, wird zum Schock, als erste Panzer durch die Straßen fahren. Dann die ersten Massenproteste. Schließlich Straßenschlachten und regelrechte Kriegsszenen. Aus einem Portrait des blühenden Prags wird eine Todeshymne. Eine Niederlage.

Es war sehr klug von mir, ORATORIUM PRO PRAHU direkt vor dem nächsten Film zu schauen. Was für ersteren als Niederlage endet, ist für letzterer der Beginn einer siegreichen Kehrwende und erfolgreichen Abwehr einer Katastrophe.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ („Tschechoslowakei, das Jahr der Herausforderungen“)
Regie: Anatolij Kološin
Sowjetunion 1969
68 Minuten, digital (tschechischsprachige Fassung)
Der Prager Frühling wurde im August 1968 durch den Einmarsch sowjetischer und Bündnis-Truppen abgewürgt. Der Film ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ erklärt, warum der Einmarsch richtig war.
Auf manche Filme habe ich mich ganz besonders gefreut – dass ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ allerdings eher ein Ausdauertest und eine Grenzerfahrung sein würde, war mir allerdings klar.
Formal gesehen funktioniert ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wie ein gnadenlos voran rückender, alles zermalmender sowjetischer Panzer. Die Erzählung: kapitalistisch-faschistische Verräter in der Tradition Hitlers haben sich die Tschechoslowakei gekrallt, um hier ein kapitalistisch-faschistisches System inklusive Todeslagern zu errichten, das Land dem Warschauer Pakt zu entreissen und an den Westen zu übergeben, während die Amerikaner sich an die Grenze heranmachten, um in den Bereich des Warschauer Pakts einzufallen – und als die Sowjetische Armee mit Bündnispartnern intervenierte, um Abhilfe zu schaffen, wurde diese von feigen Provokateuren hinterrücks angegriffen...
Nun... so ganz explizit sagt das der Film niemals, sondern er arbeitet (wie zum Beispiel die CSU, Vorsitzende „liberaler“ Parteien oder die Besorgti-Braunis) mit begrifflichen und visuellen Assoziationen, die nie wirklich ausgesprochen werden, die aber doch jeder verstehen soll. Die intellektuellen Vordenker des Prager Frühlings? Waren, so der Film, bestimmt wohlwollende Leute, die nur ein bisschen reformieren wollten. Wie ihr „liberalisierter Sozialismus“ aussehen sollte? An dieser Stelle werden kurz hintereinander Portraits der Reformvordenker montiert, als letzter Ota Šik – und danach folgen gleich Bilder von Nazi-Massenaufmärschen und KZ-Leichenbergen. Dies ist mir als ganz besonders abscheulich, geschmacklos und pietätlos in Erinnerung geblieben. Ota Šik, der Vordenker der Wirtschaftsreformen, war jüdischer Herkunft, kämpfte während des Weltkriegs aktiv gegen die Nazi-Besatzung, gehörte seit 1940 der Kommunistischen Partei an und war jahrelang im KZ Mauthausen inhaftiert. Er hatte mit anderen Worten wahrscheinlich mehr moralische Autorität und eine längere Zugehörigkeit zum Kommunismus als jene, die ihn ab 1968 diskreditierten.
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ ist praktisch in seiner ganzen Laufzeit so krude und so assoziativ in seiner Machart: er springt von Thema zu Thema, ohne wirklich irgendetwas abzuschließen. Das ist auch nicht nötig, wenn er die Zuschauer erst einmal völlig überrollt hat. Fast vollkommen pausenlos spricht eine ganze Horde von Off-Kommentatoren (jedes Mal, wenn irgendjemand zitiiert wird, kommt gefühlt eine neue Stimme), während eine irrsinnig schnelle Flut an Bildern den Betrachter zuschüttet. Es gibt hier keine Ruhepausen, keine Momente der Introspektion, keine einzige Sekunde Luft, in der man als Zuschauer mal kurz durchatmen könnte. In seiner solchen Intensität nicht fünf, zehn oder zwanzig, sondern fast 70 Minuten durchzuhalten, zeugt von einer gnadenlosen Konsequenz. Wer als Zuschauer danach nicht besiegt auf dem Boden liegt...?
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wurde als russischsprachiger Film für die Sowjetunion gedreht, doch es wurden dann auch Exportversionen in den entsprechenden Sprachen gezogen (unter anderem gab es auch eine deutsche Fassung für die DDR). Die tschechischsprachige Version, die wir sahen, war gemäß der Kuratorin wohl wesentlich „softer“ als die originale russische Version, sowohl, was den Textinhalt wie auch den Sprachton der Sprecher betrifft. Als etwas Weichgespültes habe ich den Film allerdings keineswegs empfunden.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

JAUSMAI („Gefühle“)
Regie: Almantas Grikevičius, Algirdas Dausa
Sowjetunion (Litauen) 1968
90 Minuten, DCP
Litauen während der Nazi-Besatzung: ein verwitweter Bauer flieht zusammen mit seinem Baby vor einer drohenden Konfiskation seines Viehs und landet im Haus seines Zwillingsbruders und dessen Frau – mit der er einst eine Affäre hatte...
© goEast Filmfestival
Ich erwähnte im ersten Teil meines goEast-Berichts einen besonders hölzernen Darsteller, der in meinen gesichteten litauischen Filmen immer wiederkehrte. Nun... Regimantas Adomaitis spielte jetzt in JAUSMAI nicht nur eine der vielen zweiten Geigen, sondern den fliehenden Bauern, die Hauptrolle. Ich könnte nichts Böses über ihn sagen: er hat halt ein nettes Gesicht, das er meist recht nett in die Kamera reinhält, das mich allerdings völlig kalt gelassen hat.
Wie überhaupt insgesamt JAUSMAI recht unbemerkt an mir vorbeigeflossen ist. Ohne tödliche Langeweile, aber auch definitiv ohne Höhepunkte, die einen hochrücken ließen. Früh im Film fährt der flüchtige Bauer zusammen mit seiner einzigen Kuh und mit einem Wehrmachtssoldaten in einem Boot über ein Stück Meer. Der Wehrmachtssoldat ist dem Litauer gefolgt, um ihn eigentlich aufzuhalten, aber so richtig viel Elan hat er nicht reingelegt: de facto ist er jetzt ein Deserteur. Zwei Männer, ein Baby und eine Kuh auf einem Boot – mit einem anderen Hauptdarsteller und vielleicht auch einem anderen Regisseur (warum nicht den Esten Kaljo Kiisk bei einem kleinen Ausflug nach Litauen) hätte ich wohl liebend gerne diese unglaubliche Situation in einem abendfüllenden Film gesehen. JAUSMAI hat daraus herzlich wenig gemacht. Später kommt also der Witwer mit seinem Baby an, der Wehrmachtssoldat verduftet und das ganze wird zum Gebrüder-Loveinterest-Zwist-Melodrama.
Nebst dem Herzschmerz-Plot gibt es auch noch Geschichten mit den lokalen Machthabern, von denen ich nicht sicher bin, ob sie Kommunisten sein sollten. Vielleicht wird die „Banalität“ von JAUSMAI hier gewissermaßen zu einer Stärke: wie in NIEKAS NENORĖJO MIRTI spielen lokale Handlungsmöglichkeiten eine größere Rolle als ideologische Grabenkämpfe.
Am Ende flieht der Witwer, trotz des Verbots der lokalen Machthaber (wahrscheinlich doch die Sowjetmacht), mit einem Boot... Schnitt. Texttafel „Zehn Jahre später“. Dann kehrt der Bruder nach 10 Jahren Lager zurück, um seinen Bruder und seine mittlerweile zu Teenagern angewachsenen Kinder zu besuchen. Ende. Punkt. Für einen Film mit dem Titel „Gefühle“ floß er doch recht unbemerkt an mir vorbei.


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? („Ist es leicht, jung zu sein?“)
Regie: Juris Podnieks
Sowjetunion (Lettland) 1986
78 Minuten, DCP
Nach einem Konzert der später verbotenen Rockband Pērkons verwüsten einige Jugendliche auf der Rückfahrt nach Riga einen ganzen Zugabteil. Der einzige volljährige Verhaftete wird zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ausgehend von Interviews mit mehreren der Konzertbesucher zeichnet der Dokumentarfilm ein vielseitiges Portrait der lettischen Jugend zwischen Tschernobyl, Punk und Afghanistankrieg.
© goEast Filmfestival
Nē! – So lautet die Antwort auf die Titelfrage. Die Perestroika mag zwar begonnen haben, aber es ist verdammt schwer, anno 1986 in der Sowjetunion zu leben und dabei jung zu sein. Schwer, teilweise sogar regelrecht beschissen – aber nicht vollkommen hoffnungslos.
Fangen wir mit dem ersten an. Die Breschnew-Clique ist von einer reformbereiten Politikergeneration an der Spitze der UdSSR abgedrängt worden, aber auf lokaler Ebene tritt der sowjetische Staat weiterhin repressiv und intolerant gegenüber Abweichungen auf. Junge Männer werden, ohne eine große Wahl zu haben, in die Armee eingezogen (was das bedeutet, wurde im litauischen Dokumentarfilm VĖLIAVA IŠ PLYTŲ schon gezeigt) und dann auch nach Afghanistan in einen Krieg geschickt, an den niemand mehr glaubt. Delinquenten werden zu harter Zwangsarbeit verurteilt. Jugendliche, deren Kleidungs- und Frisurstil nicht „normgemäß“ aussehen, werden ruppig von Polizisten abgeführt.
Besonders in der zweiten Hälfte kehrt VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? immer wieder zu zwei jungen Afghanistan-Veteranen zurück. Für ein lettisches Publikum war es nichts Fremdes, aber gerade in Westeuropa ist es natürlich interessant, noch einmal explizit erwähnt zu bekommen, dass keineswegs nur Russen gekämpft haben und dass das Trauma von „Sovietnam“ auch in die Peripherie reichte. Einer der beiden Interviewten hat ein dauerhaftes Leiden am Bein davon getragen, aber beide sind auch seelisch vom Krieg markiert. Schwere Traumata sind nicht ersichtlich, aber beide erzählen, dass sie große Mühe haben, in ihren Alltag zurück zu kehren. In einem sehr emotionalen Moment trifft einer der beiden Veteranen einen Offizier aus dem Kriegseinsatz wieder und umarmt ihn stürmisch, weil er für ihn die einzig greifbare Bezugsperson geblieben ist.
Tschernobyl hängt ebenfalls über das Leben junger Letten, aber das wird nur kurz erwähnt. Die moralische Orientierungslosigkeit und die ökonomische Unsicherheit wiegen schwerer. Die Perestroika-Reformer mögen ein erhöhtes Tempo in Richtung kommunistisches Paradies eingeschlagen haben, aber die Bilder von Riga, die VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? präsentiert, sind von Verfall geprägt: marode Gebäude, ein trist-graues Stadtbild. Die Jugend möchte gerne einen guten Job, gutes Geld verdienen, Familien gründen – an Kommunismus glaubt niemand. Sie, von der man annehmen könnte, dass sie von der Perestroika profitieren könnte, wird zum ersten Opfer der drakonischen, aber völlig kopflos umgesetzten neuen Anti-Alkohol-Politik: des dionysischen Rausches weitestgehend beraubt flüchten die jungen Menschen zunehmend in die Drogensucht...
VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ist auch ein sehr düsterer, oft trostloser, trister, pessimistischer und harter Film – aber eben nicht nur. Regisseur Juris Podnieks spricht nicht über die Rigaer Jugend, und tatsächlich spricht er so gut wie gar nicht: der Film enthält keinen „neutralen“ Off-Kommentar, sondern ausschließlich die Stimmen der interviewten Jugendlichen und jungen Menschen (höchstens eine Zwischenfrage ist ab und an zu hören); er lässt seine Protagonisten selbst ihre eigene Geschichte erzählen. Das verleiht VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? große Unmittelbarkeit, Direktheit, Wärme und Intimität.
Und die Protagonisten lassen sich auch nicht entmutigen: wenn die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, ihrem Leben nichts bieten kann, dann holen sie sich ihr schönes Leben eben selbst. VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? beginnt mit einer feiernden Menge von Jugendlichen bei einem Rockkonzert, die sich nicht davon beeindrucken lassen, dass einige anwesende Erwachsene sauertöpfisch und zur Wache aufgestellte Polizisten skeptisch reinschauen. Im Publikum dieses Konzerts hat sich Podnieks einige der zentralen Protagonisten für seine Interviews ausgesucht: Stimmen, die immer wiederkehren. Und von dieser recht großen Veranstaltung wirft der Film einige Schlaglichter auf kleinere Subkulturen, damit viele verschiedene lettische „Jugenden“ portraitierend.
Die Punk-Subkultur florierte nicht nur in den großen russischen Städten Moskau und Leningrad, sondern ebenso in Riga. Auch auf den Straßen der lettischen Hauptstadt machen sich jugendliche Bürgerschrecks mit wildem Kleidungs- und Frisierstil dran, die wohldenkenden und gesetzestreuen Bürger (Bourgeois? in einem sozialistischen Land!) mit ihrem Aussehen zu schockieren, und ihre „No Future“-Parolen mit Graffiti an verfallende Häuserwände festzuhalten.
Im übertragenen und wörtlichen Sinne esoterischer geht es bei den Hare Krishnas zu, die sich in Privatwohnungen zu gemeinsamen Meditationen treffen. Im Gespräch mit einem Anhänger der Bewegung kommt es zum einzigen Moment, in dem der Interviewer ganz offen Skepsis und Misstrauen ausdrückt und nachfragt, ob der unbedingte Gehorsam zum Guru nicht vergleichbar ist zum Gehorsam der Nazis zum Führer und ob er (der junge Krishna-Anhänger) auch töten würde. Es gehört zum Stil des Films, dass der Interviewte dann doch das letzte Wort hat und glaubhaft betont, dass Mord nichts im Hare-Krishna-Glauben zu suchen habe.
Weniger „subkulturell“ zeigen sich die jungen Freiwilligen einer privaten, zivilgesellschaftlichen Initiative, die sich das einfache (oder doch recht umfangreiche) Ziel gesetzt hat, liegen gebliebene Bauschuttruinen in Riga zu reinigen und damit die Stadt zu verschönern. Ebenfalls nichtstaatlich-alternativ bzw. privat haben sich einige junge Filmbegeisterte zusammen getan, um abseits des Studios einen Film zu drehen. Als Kulisse dient ein verschlungener, düsterer und sehr verfallener Keller, für eine andere Szene der Strand und das Meer. Gedreht wird auf 16mm (oder gar 8mm?), schwarzweiß, und das ganze wird offenbar ein Gruselfilm, leicht kafkaesk, leicht surreal, spontan und ohne Drehbuch, „on the fly“ gedreht. Wo der gezeigt werden soll, ist scheinbar unwichtig: der Dreh an sich ist das Abenteuer. Mit hoffnungsvollen Bildern (so der junge Underground-Regisseur selbst dazu) aus dem unbenannten Film – viele Komparsen, die bis zu den Knien im Wasser stehen und hinaus in das offene Meer blicken – endet VAI VIEGLI BŪT JAUNAM?
Je mehr ich über VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? nachdenke und schreibe, umso mehr schließe ich diesen Film ins Herz. Für viele mag es vielleicht öde klingen, seinen Samstag Abend damit zu verbringen, eine Dokumentation zu sehen über lauter anonymer Menschen, die von ihrem größtenteils tristen Alltag sprechen. Und dennoch war es bislang (abgesehen von PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM im Jahr 2012) mein bislang tollster Samstagabend-Film beim goEast: zum Weinen, Lachen, Staunen, Lernen, Mitfühlen und Abrocken. Übrigens war der Film tatsächlich so etwas wie ein echter Blockbuster in der Sowjetunion: gemäß dem englischen Wikipedia-Eintrag sahen 28 Millionen Zuschauer diesen Film in den Kinos, und er wurde in 85 Ländern exportiert. Kein Wunder, dass VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ganze zwei Sequels nach sich zog, nämlich VAI VIEGLI BŪT...? („Ist es leicht ... zu sein?“) im Jahr 1997 und VAI VIEGLI...? PĒC 20 GADIEM („Ist es leicht ... 20 Jahre danach?“) im Jahr 2010. Beide Fortsetzungen, in dem einige der Interviewten aus dem ersten Film (nunmehr natürlich älter) erneut befragt wurden, hat Antra Cilinska inszeniert, die zunächst als Schnittassistentin Juris Podnieks' begonnen hatte. Juris Podnieks selbst starb im Sommer 1992 mit nur 42 Jahren bei einem Tauchunfall. Mit ihm verschwand wohl eine der interessantesten Figuren des lettischen Dokumentarfilms, ein Regisseur, der nicht nur über lettische Jugendliche, sondern auch über die letzten Veteranen der Roten Lettischen Schützen, Dirigenten, usbekische Demonstranten, armenische Erdbebenopfer, Tschernobyl-Heimkehrer, die baltische Folk- bzw. Protestlied-Bewegung oder über die Straßenkämpfe zwischen lettischen Unabhängigkeitsaktivisten und sowjetische Soldaten (dabei starben zwei Kameramänner der Filmcrew) Filme drehte. Podnieks wurde dank des durchschlagenden Erfolgs von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und durch Koproduktionsverträge mit dem britischen Fernsehen relativ wohlhabend und gründete noch in der späten Perestroika-Ära sein eigenes, unabhängiges Filmstudio, das er auch ausländischen Filmcrews zur Nutzung vermietete. Das Juris Podnieks Studio blieb auch nach seinem Tod bestehen und wird nun seit vielen Jahren von Antra Cilinska geleietet.
Und jetzt noch eine letzte kleine Bemerkung: Nach der Sichtung von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und damit auch der höchst interessanten Ausschnitte des Films, die einer der Interviewten drehte, hoffe ich sehr, dass es irgendwann bei einem zukünftigen goEast-Festival mal eine Retrospektive zum sowjetischen Underground-Kino der 1980er Jahre geben wird (ein Film von Evgenij Jufit wurde vor ein oder zwei Jahren gezeigt, doch leider zu einem Termin nach meiner Abreise).


5. Festivaltag
Sonntag, 22. April

11.00 Uhr, Caligari FilmBühne

TLMOČNIK („Der Dolmetscher“)
Regie: Martin Šulik
Slowakei / Tschechien / Österreich 2018
113 Minuten, DCP
Der pensionierte slowakische Dolmetscher Ali Ungár (Jiří Menzel) fährt nach Wien, um dort aus Rache den ehemaligen SS-Sturmbannführer Kurt Graubner zu erschießen, der einst im Zweiten Weltkrieg unter anderem Ungárs Eltern ermorden ließ. Doch in der Wohnung trifft er nur dessen Sohn Georg (Peter Simonischek), der ihn darüber informiert, dass Kurt Graubner gestorben ist. Nach einigen Streitigkeiten brechen die beiden in die Slowakei auf, um die Tatorte des Vaters bzw. des Elternmörders zu erkunden.
© goEast Filmfestival
TLMOČNIK ist ein Wohlfühl-Film mit kleinen Holocaust-Spitzen. Wahrscheinlich könnte ich ewig schreiben, warum dieser Film verwerflich ist, weil er den Holocaust für ein relativ klischeehaftes Stück Gefühlsduselei missbraucht. Aber dagegen sprechen zwei Sachen: erstens seine deutlich erkennbare Ernsthaftigkeit oder besser gesagt, seinen erkennbaren guten Willen. Und zweitens die Tatsache, dass TLMOČNIK als reines Schauspielerkino fantastisch ist.
Ja, mehr als alles andere lebt TLMOČNIK von seinem großartigen Schauspieler-Duo Menzel und Simonischek. Der Österreicher hat sicherlich die einfachere und auch dominantere Rolle, denn sein Georg Graubner ist ein recht lauter und derber Bonvivant, der auch schon vor um vier gerne mal einen hebt, leichten Flirts nicht abgeneigt ist und überhaupt ein ziemlicher Spaßvogel ist (was ihm im Laufe des Films immer mehr vergeht – oder deckt sich nur eine Melancholie auf, die er schon immer hatte). Menzel als etwas steifer, pedantischer und gänzlich humorloser Dolmetscher hat die etwas unsichtbarere und weniger spektakuläre Rolle, die er mit viel Würde und leiser Melancholie spielt. Beide zusammen sprengen fast die Leinwand.
Da vergisst man auch gerne, dass TLMOČNIK eben doch ein recht einfach gestrickter Tränendrücker ist, das über den Holocaust und den Umgang mit ihm kaum etwas zu sagen hat und der dem Zuschauer an manchen Momenten etwas zu sehr mit seiner Rührmusik die Tränen aus den Augen prügeln wollte. Ein sehr starker Moment bleibt mir aber doch in Erinnerung. Ungár und Graubner besuchen auf ihrem Trip durch die Slowakei auch Ungárs Tochter. Bei einem Zweiergespräch sagt Georg, dass es bestimmt genau so schwer sei, Kind eines Holocausttäters wie Kind eines Holocaustopfers zu sein. Das kennt man sowohl aus gewissen deutschen Filmen wie auch aus manchen Debattenbeiträgen zur Geschichtskultur, diese Relativierung à la „Der Krieg war ja ganz schrecklich und eigentlich sind wir alle Opfer“. Ungárs Tochter lässt das Georg aber keineswegs durchgehen und befragt ihn in einem sehr scharfen Ton, ob er sein insgesamt behagliches Leben gleichsetzen will mit ihrem Leben im Wissen, dass fast ihre gesamte Familie kaltblütig ermordet wurde und ihrem Unwissen, ob ähnliches vielleicht nicht noch mal passieren oder wiederkehren könnte. Da bleibt der sonst eloquente Georg sprachlos...
Vielleicht werde ich meine Bedenken, TONI ERDMANN zu schauen (seit VICTORIA habe ich eine sehr heftige Grundskepsis gegen überhype-te deutsche Filme entwickelt), doch überdenken.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

Filmblock „Pärn, Nukufilm & Co. – Kleines Estland, große Animation II“

AJA MEISTRID („Die Meister der Zeit“)
Regie: Mait Laas
Estland 2008
72 Minuten, DCP
Späte 1950er Jahre: Vor den Toren Tallinns entsteht im Studio Nukufilm eine besonders experimentierfreudige Keimzelle des Animations- und Stop-Motion-Films. An dessen Spitze stehen die Regisseure Elbert Tuganov und Heino Pars, die zu den Großmeistern des estnischen Animationsfilms avancieren.
Elbert Tuganov und Heino Pars, darstellt als Stop-Motion-Puppen
© goEast Filmfestival
Der höchst sympathische Mait Laas, der beim Screening anwesend war, den Film kurz einführte und nach dem Filmblock den Zuschauern ein unvergessliches Q & A bescherte, ist kein trockener Dokumentarist, sondern gewissermaßen ein „(Enkel)kind“ der beiden portraitierten Regisseure. Die klassischen Archivmaterialien, die man in so einem Portrait-Dokumentarfilm sieht, sind zwar auch vorhanden, aber immer wieder werden Animationsszenen eingefügt, teils gezeichnet, teils Stop-Motion mit Puppen.
Tuganov und Pars gründeten in den 1950er Jahren eine Abteilung für Animationsfilm innerhalb des offiziellen Tallinn-Filmstudios. Mit diesem hatten sie offenbar wenig zu tun, sondern bezogen eine Art Sommerhaus am Stadtrand der estnischen Hauptstadt, um sich dort ganz ihren filmischen Visionen bewegter Puppen zu widmen. Dort, so der Film AJA MEISTRID, entstand eine Kommunen-ähnliche Arbeitsgemeinschaft mit einem eingespielten Team aus fähigen und experimentierfreudigen Handwerkern des Animationsfilms. Eine Kommune mit zwei Gurus an der Spitze, von denen jeder allerdings völlig eigenständig (wenn auch mit geteiltem Personal) seine Filme drehte. Tuganov sei ein eher autoritärer und strikter Regisseur gewesen, während Pars mehr auf offene und demokratische Kooperation setzte – so einige ehemalige Mitarbeiter der beiden estnischen Filmpioniere im Interview.
Die 1960er und 1970er Jahre waren die große Zeit von Nukufilm. In den frühen 1980er Jahren floh Tuganov aus der Sowjetunion und blieb erst in Spanien, dann in Westdeutschland. Eine Schmutzkampagne gegen seine Person und Schikanen durch die Behörden (ich denke darin begründet, dass er einen großen Teil seiner Schullaufbahn in den 1930er Jahren in Deutschland absolviert hat) bewogen ihn zur Flucht. In den 1980er Jahren begann im estnischen Animationsfilm auch eine Art Revolte gegen die beiden „Überväter“: eine Gruppe von jungen Regisseuren wollten noch wesentlich experimentierfreudigere und radikalere Filme drehen – eine Art „nouvelle vague“-Rebellion gegen die „Qualitätsfilmer“ Tuganov und Pars (einige dieser Filme wurden in einem anderen Kurzfilmblock gezeigt, zu dem ich es terminlich aber nicht schaffte).


PARK
Regie: Elbert Tuganov
Sowjetunion (Estland) 1966
7 Minuten, DCP
Eine Stadt bekommt einen neuen Park. Die Wegführung, wie sie sich die Planer vorgestellt haben, wird allerdings von den Spaziergängern nicht genutzt. Ständig neue Baumaßnahmen führen zu mehr Verwirrung.
PARK ist kein Stop-Motion-Film, sondern ein klassischer gezeichneter Animationsfilm. Es ist ein Film darüber, wie Pläne zur Gestaltung des öffentlichen Raumes letztendlich durch den Eigensinn des Publikums ad absurdum geführt werden, weil dieses seine Bedürfnisse gegen die Pläne letztlich durchsetzt. Konkret: wenn die Spaziergänger im Park nicht den umständlich geschlungenen Weg nutzen wollen, sondern querein durch ein Wiesenstück laufen, dann werden auch die größten Verbotsschilder nicht dagegen helfen. Klingt sperrig? Ist es aber nicht: PARK ist ein kurzweiliger und witziger Film mit einem köstlichen Humor.

PARK
© goEast Filmfestival
NAEL: Nägel, die sich in der Öffentlichkeit prügeln, werden von der (magnetischen) Polizei abgeführt
© goEast Filmfestival

NAEL („Nagel“)
Regie: Heino Pars
Sowjetunion (Estland) 1972
8 Minuten, DCP
Nägel nageln sich gegenseitig, suchen Zärtlichkeit bei großen, strammen Hämmern, betrinken und prügeln sich hemmungslos oder versuchen, Zirkuslöwen zu bändigen (letzteres eine ganz schlechte Idee!)... 
Vielleicht mag das verblüffend klingen, aber die Protagonisten von NAEL sind tatsächlich... Nägel! In vier kurzen Vignetten (die allesamt von jeweils unterschiedlichen Animateuren gefertigt wurden – hier scheint der „demokratische“ Ansatz Pars' durchzublicken) und knapp 8 Minuten wird das ganze erzählerische, erotische und humoristische Potential ausgelotet, das in verbogenen Nägeln so steckt. Es ist eine schlichte Idee, die mit großer Konzentration kurz und knackig umgesetzt wird und sogar noch mehr als PARK universell verständlich ist: statt Worten gibt es suggestive Musik und passende Ambientegeräusche. Im Grunde gibt es nicht viel mehr zu sagen. Ich empfehle: anschauen, staunen, lachen!

Das anschließende Q & A mit dem Dokumentar- und Animationsfilmregisseur Mait Laas und dem Geschäftsführer des immer noch existierenden Nukufilm-Studios Andres Mänd gehört zu den schönsten, die ich je erlebt habe. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Mait Laas als ein unglaublich freundlicher, offener, begeisterter Mensch herüberkam: witzig und smart, dabei doch bescheiden. Er sprach auf Englisch, aber er hielt ein Büchlein in der Hand: wie er erzählte, ein Band von Goethe-Gedichten, das er am frühen Nachmittag in einer Rumpelkiste in der Nähe des Caligari-Kinos gefunden hat (eine Rumpelkiste, die ich nach TLMOČNIK auch durchwühlte). Das erklärte er dann mitten während des Gesprächs, und dann schlug er eine Seite auf und las ein ganzes Gedicht auf Deutsch vor. Was das Gedicht konkret mit dem estnischen Animationsfilm zu tun hat, könne er nicht sagen, aber Goethe wird es schon wissen, und außerdem könne es nicht schaden, bei einem Gedicht inne zu halten.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

511 PARIMAT FOTOT MARSIST („Die 511 besten Fotos vom Mars“)
Regie: Andres Sööt
Sowjetunion (Estland) 1968
15 Minuten, digital
Bilder aus Kaffeehäuser Tallinns, dazwischen manchmal ein Off-Kommentar mit astronomischen Betrachtungen.
Ich würd mal sagen: 15 % Prätention, 85 % toller Film.


VIIMNE RELIIKVIA („Die letzte Reliquie“)
Regie: Grigori Kromanov
Sowjetunion (Estland) 1970
86 Minuten, HD-File
Während der Livländischen Kriege im späten 16. Jahrhundert: der adelige Hans möchte die schöne Agnes heiraten, doch die Kirche fordert, dass er eine Reliquie, die ihm sein Vater auf dem Totenbett vermacht hat, der Kirche überlässt, um die Hochzeit genehmigen. Agnes wird von Aufständischen entführt, genauer gesagt: von dem wackeren Reiter Gabriel (mit dem die Entführung eher zur Flucht wird). Die Reliquie kommt dabei auch abhanden, und einige intrigante Klerikale, der hoffnungslos verliebte und trottelige Hans sowie der hundsgemeine Ivo von Schenkenberg versuchen, Agnes und die Reliquie wieder zu bekommen. Agnes wiederum hat sich in Gabriel verliebt und macht mit den Aufständischen gemeinsame Sache. 
© goEast Filmfestival
Hui... das klingt alles fürchterlich kompliziert. Ist es irgendwie auch, aber angesichts des völlig entfesselten Kintopps, das VIIMNE RELIIKVIA auf den Zuschauer loslässt, ist die Frage nach der titelgebenden letzten Reliquie irgendwie auch die letzte, die sich der geneigte Zuschauer stellt. Bauernaufstände, Klassenfragen, antikirchliche Untertöne... bla bla bla... VIIMNE RELIIKVIA ist in erster Linie pures Attraktionskino, ein rasanter Genrefilm, der sich genüsslich in seinen stolz ausgestellten Schauwerten suhlt. Abenteuerfilm, schenkelklopfende Screwball-Komödie, garstiger Rachethriller, Gothic-Castle-Gruselfilm, Blockbuster-Actionspektakel, ein bisschen Nunsploitation – alles da, was Kino-Auge und Kino-Herz begehren.
Wirklich angefangen zu lieben habe ich den Film wohl, als Gabriel und die eher volens als nolens „entführte“ Agnes nach ihrem ersten gemeinsamen Tag auf der Flucht bei einem Gasthof ankommen. Agnes verkleidet sich mehr oder minder (eher: minder) erfolgreich als Mann, um ungesehen zu bleiben. Die beiden setzen sich an einen Tisch und werden bedient. Der vorherige Austausch der beiden machte klar, dass sich da zwei offenbar ganz gern haben und sich bereits vorsichtig beschnuppern. Aber Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Nun: zum Abendessen gibt es eine große Lammkeule für beide – so fein, dass es da Teller und Besteck gäbe, ist der Gasthof nicht. Jeder muss jeweils die Keule in die Hände nehmen und reinbeissen, um dann während des Kauens und Schmatzens die gegenübersitzende Person mit den Augen zu verschlingen. Irgendwann hält Gabriel Agnes die Keule hin, und sie beugt sich vor und beisst genüsslich rein. Mit welch gierigen Augen und hemmungsloser Laszivität sie das tut, das muss man schon selbst gesehen haben, um diesen absolut unfassbaren Moment zu glauben.
Ab diesem Zeitpunkt gab es für mich kein Halten mehr. Und tatsächlich auch keine Gründe zum Halten, denn kleine Ideen und große Schauwerte geben sich die Klinke. Ausgedehnte Prügeleien, bei denen sich zwischendurch gefesselte Beteiligte auch wieder befreien, um dann gleich wieder mit brennenden Fackeln zu werfen. Das ausgeklügelte Rohrpostsystem, das sich die kirchlichen Intriganten, der Abt und die Äbtissin, so eingerichtet haben, dass ihnen die Nachrichten auf das Schachfeld fällt. Der trottelige Hans, der trübsalblasend in seinem Badezuber sitzt und vor den Augen des Dienstmädchens ganz freudig erregt aufspringt, als er erfährt, dass er doch Agnes heiraten kann. Agnes, die von den Schergen des Superschurken Ivo von Schenkenberg (allein dieser Name: so deutsch, so böse!) festgehalten wird und mit Sklavin der Bande die Kleidung tauscht, um sich davon zu machen: mit einem Schleier vorm Gesicht ist sie getarnt, der Rest ist in einem äußerst knappen Leder-Outfit, der auch Barbarella passen würde, voll und ganz den Blicken der Bewacher (und ja: des geneigten männlichen Zuschauers) ausgesetzt. Diese völlig wahnwitzige Verfolgungsjagd mit Kutsche und Pferd, die jedem angehenden Actionregisseur als Musterbeispiel für Raum- und Tempogefühl dienen könnte. À propos Raumgefühl: die verschlungenen Labyrinthe des Klosters, voller geheimer Falltreppen, versteckter Türen und beweglichen Gittern, durch die sich gegen Ende ein halbes Dutzend Figuren gegenseitig verfolgen – ein kleines Meisterstück. Wenn wir schon in einem Kloster sind, fehlt nur noch eine Nonnenauspeitschung. Ah... Moment: die gibt es ja! Wenn die Äbtissin die nackte Agnes auspeitscht, ihr dann die Peitsche hinwirft und dazu auffordert, es selber zu machen, weht ein kleiner Hauch Jess Franco durch diese sowjetische Produktion.
Man könnte VIIMNE RELIIKVIA vorwerfen, dass er nur die Summe seiner Teile ist, dass er relativ beliebig einen kleinen Knaller nach dem anderen reiht. Im Angesicht eines der mitreissendsten unter den „reinen“ Unterhaltungsfilmen, die ich je beim goEast-Festival gesehen habe, werde ich diesen Vorwurf ganz bestimmt nicht erheben.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VELNIO NUOTAKA („Die Teufelsbraut“)
Regie: Arūnas Žebriūnas
Sowjetunion (Litauen) 1973
78 Minuten, DCP
Ein gefallener Engel taucht in einem litauischen Dorf des 19. Jahrhunderts auf und sorgt dort für erotischen Trubel, dionysischen Wahnsinn und endlose Gesangseinlagen...
Jenseits des Eisernen Vorhangs (aus osteuropäischer Sicht) gab es JESUS CHRIST SUPERSTAR. Diesseits sahen die Zuschauer VELNIO NUOTAKA. Da ich selbst das Rock-Musical über den revolutionären Prediger nicht gesehen habe, aber zumindest zwei Musikfilme eines sehr exzentrischen britischen Regisseurs kenne, würde ich es so formulieren: die erste halbe Stunde von VELNIO NUOTAKA lässt die Musikfilme Ken Russells wie trockenen Neorealismus aussehen.
VELNIO NUOTAKA beginnt im Himmel (gefilmt wurde in einer alpenartigen Berglandschaft – vielleicht im Kaukasus?): Gott, der ein wenig verschlafen auf seinem Thron sitzt, gibt eine Audienz vor seinen Engeln, aber die haben eigentlich nichts anderes im Kopf, als sich auf das in der Nähe stehende, üppige Buffet zu stürzen. Das tun sie dann auch, und einige Engel fangen dann auch an, sich gegenseitig zu befummeln (völlig unabhängig vom Geschlecht übrigens – auch zwei männliche Engel streicheln sich gegenseitig). Gott ist davon angefressen (also: dass seine Engel überhaupt das Buffet vor Ende der Audienz stürmen – nicht die gleichgeschlechtlichen Streicheleinheiten) und lässt einen großen Teil der Bande auf die Erde fallen. Von hier folgen wir nun einem rothaarigen, teuflischen Engel, der ein klein wenig an Gene Wilder in seiner Willy-Wonka-Rolle erinnert...
Vieles, was ab da passiert, konnte ich mir nur sehr intuitiv erschließen. VELNIO NUOTAKA enthält keine einzige gesprochene Dialogzeile: sämtliche Worte werden gesungen und damit auch in lyrische Phrasen verpackt, und die Untertitel waren teils erheblich schneller als ich. Ob die etwas ältere (vielleicht Anfang bis Mitte 40) Frau, an die sich der gefallene Engel ranmacht, die ältere Schwester der jungen Heldin (Anfang 20) oder doch ihre Tante bzw. die Schwester des Müllers ist? Sicher ist nur, dass die junge Protagonistin tendentiell eher auf den wackeren, bärtigen Wandergesellen (Regimantas Adomaitis nun schon zum dritten Mal) steht – der allerdings durch die Intrigen des gefallenen Engels, und durch die Intervention einiger gefallener weiblicher Engel in flammend orangefarbenen Röcken immer wieder den Weg zu seiner Liebsten „verpasst“. Etwa in der Mitte des Films geht der gefallene Engel noch einen (für ihn selbst) unglücklichen Deal mit einem Besucher aus der Dorfkneipe ein.
Aber das ist irgendwie alles nicht so wichtig, denn VELNIO NUOTAKA ist eine audiovisuelle Wucht, die ihresgleichen sucht. Die grandiose Nutzung des Cinemascope-Formats, die extrem starke Farbdramaturgie, schwankend zwischen natürlicher Belichtung in den Freilicht-Szenen und expressionistischem Licht bei den Innenszenen, die mitreissende Musik, die durch die Zuordnung einzelner Themen zu Figuren durchaus eine erzählerische Funktion einnimmt – das alles macht VELNIO NUOTAKA ziemlich großartig. Vor allem ist es aber ein absolut kompromissloser Film: es gibt nichts, was den Gesamteindruck irgendwie verwässern würde.
Einen nicht unbeachtlichen Beitrag zum Film leistet Viačeslavas Ganelinas bzw. auf russisch (und international unter diesem Namen auch berühmter) Vjačeslav Ganelin. Ganelin war von Haus aus nicht Filmkomponist, sondern Jazzpianist, der 1968 das Ganelin Trio gründete und mit dem Schlagzeuger Vladimir Tarasov (Vladimiras Tarasovas) und dem Saxofonisten Vladimir Čekasin (Vladimiras Čekasinas) einen der wildesten und experimentellsten Free Jazz in Europa spielte. Das hört man erst mal nicht so deutlich heraus: der Score ist größtenteils eher im Rockig-Poppigen anzusiedeln. Und doch sind viele Lieder durchaus auch ein bisschen „off“. Merkt man die besondere Sensibilität eines Komponisten, der eigentlich nicht im Musical zuhause ist? Jedenfalls ist Ganelin wahrlich eine tour de force gelungen. Er ist nicht weniger als Regisseur Arūnas Žebriūnas (vorher ein Spezialist für Kinderfilme bzw. Filme mit Kinderprotagonisten) als Erschaffer von VELNIO NUOTAKA zu sehen. 
Dass der Film nicht in den höchsten Pantheon meines diesjährigen goEas-Festivals kommt, hängt damit zusammen, dass ich mich an seine ausgestellten Exzesse (dazu gehört auch, dass zwischendurch Szenen abbrechen, und dann noch ein zweites Mal abgespielt werden) irgendwann „gewöhnt“ habe und dass sich dann eine gewisse Monotonie einstellte, weil der Film kaum „Luft“ ließ. Als er schließlich für etwa 10 Minuten innerhalb einer kleinen Kammer verblieb, in einer vergleichsweise sehr statischen Szene, erschien mir das dann eher öde als wie eine willkommene Ruhepause. Das klingt erst mal sehr negativ, aber ich glaube, dass VELNIO NUOTAKA mich letztlich überwältigt und überfordert hat. Er ist und bleibt ein absolut außergewöhnlicher Film, den ich erst mal setzen lassen muss und den ich gerne einmal wieder sehen werde.


6. Festivaltag
Montag, 23. April

ca. 10 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

BUDAPEST NOIR
Regie: Gárdos Éva
Ungarn 2017
95 Minuten, DVD
Ungarn, Ende der 1930er Jahre: das Horthy-Regime drängt immer weiter nach rechts, Pfeilkreuzler spielen sich in der Öffentlichkeit zunehmend aggressiv auf. In dieser Atmosphäre versuchen ein Reporter und eine Fotografin, den mysteriösen Mord an einer Prostituierten aufzuklären.
© goEast Filmfestival
Manchmal bin ich doch ein sehr simpel gestrickter Mensch: selbstverständlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich einen Titel wie BUDAPEST NOIR lese und natürlich will ich diesen Film unbedingt gucken. Wahrscheinlich würde ich auch TALLINN NOIR, RIGA NOIR, VILNIUS NOIR, BELGRAD NOIR, BUCHAREST NOIR, WIESBADEN NOIR und vielleicht sogar APOLDA NOIR oder GROßSCHWABHAUSEN NOIR anschauen.
BUDAPEST NOIR ist durchaus ein netter Film, aber leider ist das vielleicht auch seine Schwäche, weil ein film noir doch eigentlich nicht nett sein sollte. Die Hauptfigur, Reporter Gordon Zsigmond, ist gleich auf den ersten Blick als archetypischer noir-Detektiv erkennbar: kettenrauchend, mit coolem Mantel und einem schicken Hut versehen, einem steifen Drink um 10 Uhr morgens nicht abgeneigt, den Zyniker raushängend, um damit seinen eigentlich weichen Kern zu verstecken. Kolovratnik Krisztián macht den Gordon schon ganz gut, aber ein Bogart ist er nun auch gerade nicht.
Die Idee, einen period-noir in der Ära des bereits stark rechtsradikalisierten Horthy-Regimes anzusiedeln, ist sehr interessant, bleibt aber größtenteils nur Staffage, von ernsthafter Auseinandersetzung mit der faschistischen Ära und dem ungarischen Antisemitismus kann kaum die Rede sein. Vielleicht sehe ich das zu negativ: das autoritäre Regime, das im Hintergrund seine Fäden zieht, die Pfeilkreuzler, die Cabarets stürmen und die Kommunisten, die mit eher ruppigen Methoden gegen den Staat kämpfen – sie alle werden als genuin ungarisch gezeigt. Das ist im Ungarn der Orbán-Ära vielleicht schon eine ganze Menge.
Weder großer Ärger, noch große Freude kamen bei mir auf. Das period-Setting ist nett, die Hauptfigur schnüffelt ein bisschen in Budapester Hinterhöfen herum, zwischendurch gibt eine kleine Autoverfolgungsjagd durch enge Gassen. BUDAPEST NOIR wirkt über weite Strecken wie ein etwas gediegener 08/15-TV-Krimi, den man nebenbei (für manche Leute: beim Bügeln) gucken kann. Oder ist das der Einfluss dieser ganzen gehype'ten „Qualitätsserien“? Das Ende des Films deutet – nachdem die Geschichte akurat und fein säuberlich abgeschlossen wurde – weitere Abenteuer (bzw. Folgen) mit dem Journalisten und Hobby-Detektiven Gordon an. „Boykottieren“ würde ich sie keineswegs, wirklich brauchen täte ich sie – zumindest in dieser lediglich „netten“ Form – allerdings nicht...