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Freitag, 22. November 2019

Volljährig, schlaflos & lustvoll in Nürnberg (Teil 1)

Euphorien vom 18. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos


Anfang des Jahres, vom 2. bis 6. Januar 2019, fand in Nürnberg wieder der Hofbauer-Kongress statt: ein fünftägiger Filmrausch, bei dem die Zuschauer das verfemte, verfluchte, verschüttete Kino der Lust wiederentdecken und zelebrieren konnten und das größtenteils präsentiert im originalen analogen 35mm-Format (manchmal auch 16mm oder 8mm).
Diese 18. Ausgabe – unter dem Motto "Endlich 18!" – war meine zweite Ausgabe (zum 17. Hofbauer-Kongress schrieb ich hier und hier). Leider erst meine zweite: vorherige Hofbauer-Kongresse verpasst zu haben, dürfte zu den Dingen gehören, die ich am meisten im Leben bereue. Aber umso größer die Freude, beim "Volljährigkeits-Kongress" mit dabei gewesen zu sein.





Mittwoch, 2. Januar

17.00 Uhr

THERESE AND ISABELLE ("Therese und Isabell")
Regie: Radley Metzger
Frankreich/USA/Niederlande/BRD 1968
35mm, DF
Therese (Essy Persson) besucht als erwachsene Frau das Internat, auf das sie einst als Teenagerin ging – und wo sie eine leidenschaftliche, aber heimliche Liebe mit ihrer Mitschülerin Isabelle (Anna Gaël) erlebte.
Isabelle und Therese
THERESE AND ISABELLE beginnt wie ein Puzzlespiel à la Resnais, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, Wahrnehmung und Erinnerung einander die Klinke in die Hand geben. Therese, gespielt von der wunderbaren Essy Persson (die grausamste aller Puppen in Rolf Olsens DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN, der beim Kongress 2018 lief), läuft durch das wahrscheinlich aufgrund der Schulferien praktisch leere Internat, hört die Stimmen der Vergangenheit, durchschreitet den Park, die Hallen, die Räume, die Toiletten, in denen sich ihre Erinnerungen vor ihrem Auge manifestieren. "Isabelle, mon amour" – ohne Atombombe und deutsche Besatzung, dafür aber mit einer umso tabuisierteren Teenagerliebschaft und Bildern in atemberaubenden Scope. Dieses Scope, das oft kleine "Gesichter-Duells" aufbaut: ein Gesicht in einem Bilddrittel, die restlichen zwei Drittel von Hinterkopf und Rücken der anderen Person ausgefüllt.
Der Film handelt von lesbischer Liebe und tut das auf eine angenehm nüchterne Weise: in den Annäherungen und Intimitäten zwischen den beiden Protagonistinnen gibt es keinerlei Kinkiness. Die Sexszenen zwischen Therese und Isabelle sind stets respektvoll distanziert, man könnte auch sagen unterkühlt gefilmt (einmal in Isabelles Zimmer – größtenteils als Spiegelung in einer Zinnvase gefilmt; einmal in einer Kapelle hinter einer Sitzreihe – in einer sehr langen, elegischen, sich entfernenden Kamerafahrt gefilmt; einmal im Internatpark – hier soweit ich mich erinnere relativ statisch). Sie werden immer von einem ausführlichen Offkommentar Thereses begleitet, meistens Gedichterezitationen – das war nach meinem Geschmack manchmal zu viel des verbalen Guten.
(Der Sex zwischen Therese und einem jungen Mann, der sie vorher praktisch gestalkt hat, ist hingegen extrem unangenehm, zieht sich äußerst unschön in die Länge, wirkt nicht direkt wie eine offene Vergewaltigung, ist aber so die letzte oder vorletzte Stufe davor. Therese lässt es über sich ergehen, aber es ist sichtlich unangenehm für sie. Er verschwindet hingegen nach der Triebabfuhr für immer aus dem Film.)
Der erotisch-sinnliche Höhepunkt des Films war aber die Aufnahme eines Fingers, der sanft über einen Arm streichelt – ein Moment, wo die Zeit und das Leben kurz stehen blieben. Dabei ist THERESE AND ISABELLE gewissermaßen ein Film über die Unaufhaltbarkeit der Zeit und des Lebens: die Liebe der beiden Titelfiguren steht immer unter dem Damoklesschwert des voranschreitenden Semesters (dessen Ende die beiden für immer trennen wird) und von dem Druck, den das "Leben" auf die beiden stetig ausübt: Thereses Mutter und Stiefvater (ein unangenehmer Typ, der heuchlerische Respektabilität ausstrahlt und dem man ohne weiteres Übergriffigkeiten gegenüber seiner Stieftochter zutrauen würde), die sie aus Konvention heraus nach ihren (männlichen) Verehrern ausfragen; reale männliche Verehrer, die sich – wie oben erwähnt – als äußerst hartnäckig herausstellen; das drakonische Regiment des Internats, das sinnliche Annäherungen unterbinden möchte (und von homosexuellen Begierden wohl nicht mal zu träumen wagt). Unter diesem Druck wird die Liebe immer mehr zermürbt. Ein Tagesausflug der beiden nach Paris endet in totaler Trostlosigkeit: sie gehen in ein Stundenhotel, doch das schmierige Ambiente erstickt die Lust. Ab diesem Moment geht irgendetwas für immer kaputt, leise, latent, ohne großen Knall. Es ist auch nur konsequent, dass THERESE AND ISABELLE nicht so sehr "endet" als vielmehr relativ abrupt "abbricht", als das Semester endet und die Sommerferien beginnen. Einfach aus...

Ein schöner, bittersüßer, melancholischer Einstieg in den Kongress. Vor dem unerbittlich harten nächsten Film war das Abendessen programmatisch gut gesetzt, denn eine Stärkung war vonnöten vor...


21:15 Uhr

DIE TOTENSCHMECKER aka DER IRRE VOM ZOMBIEHOF aka DAS MÄDCHEN VOM HOF ("Der Irre vom Zombiehof")
Regie: Ernst Ritter von Theumer
BRD 1979
35mm, OV
Klassische Heimatfilmidylle in den Alpen – oder fast. Ein Patriarch alter Schule betreibt einen Bauernhof. Zwei seiner Söhne, Felix (William Berger) und Kurt, kümmern sich um die harte Arbeit, der dritte, Franz, ist geistig behindert. Es rumort schon zwischen den beiden Erstgeborenen, die um das künftige Erbe streiten. In dieser Situation siedelt sich eine Romafamilie auf einem peripheren Stück Land der Großbauern an. Anna, die Enkelin, Tochter von Felix, verliebt sich in Joschi, dem jüngsten Mitglied der Familie. Doch währenddessen tötet der geistig zurückgebliebene Franz aus Versehen eine Romnja, die beim Hof um Lebensmittel gebeten hat. Ihre Begleiterin wird als Zeugin sogleich von Felix ermordet. Nach diesen Affekthandlungen beginnen Felix und Kurt, systematisch sämtliche Angehörige der Romafamilie zu massakrieren...
DIE TOTENSCHMECKER hat dem deutschen Kinopublikum anno 1979 wenig gemundet. Da gerade George Romeros DAWN OF THE DEAD gut lief, wurde er dann unter dem neuen Verleihtitel DER IRRE VOM ZOMBIEHOF noch mal in die Kinos gebracht, um die Zuschauer mit dem Reizwort "Zombie" zu ködern (die gesichtete, übrigens wunderschöne, fast ungespielte Kopie trug auch diesen Titel). Lief auch nicht so gut. Der dritte Versuch, das als Neo-Heimatfilm mit dem Titel DAS MÄDCHEN VOM HOF zu verkaufen, war wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Irgendwann lief der Film (unter welchem Titel auch immer) im Fernsehen. Vierzig Jahre nach seinem Kinostart begeisterte und verstörte der Film die im KommKino versammelten Kongressbesucher. Ich denke, dass nicht nur mir immer wieder eiskalte Schauer des Grauens und des Schreckens über den Rücken liefen.
Der Patriarch und die zwei Söhne vereinigt beim Morden
In der Hülle eines Heimatfilms entpuppt sich DIE TOTENSCHMECKER als abgründiger Quasi-Backwood-Horrorfilm und als unverstellter, chirurgisch scharfer Blick in das kackbraune Herz des deutschen (Alltags)faschismus. Zur Entstehungszeit des Films lagen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust über 30 Jahre in der Vergangenheit – oder besser geschrieben: in der "Vergangenheit". Wir sehen Protagonisten, deren Hass in kurzer Zeit von verbalen Entgleisungen über eliminatorische Phantasien in den Massenmord führt. Der Blick in die "Vergangenheit" ist auch ein eher pessimistischer Blick in die Gegenwart und Zukunft. Man sieht Deutsche, die ethnische "Andere" systematisch ermorden, anschließend deren Leichen beseitigen – und am Ende sieht das alles so aus, "als wären sie nie hier gewesen", wie es ein Polizeibeamter dann auch im Film tatsächlich ausspricht. Es gibt kein Happy-End: am Ende werden die schrecklichen Morde unentdeckt (und damit auch ungesühnt) bleiben. Felix und Kurt richten sich selbst gegenseitig in einem Streit über das Erbe.
DIE TOTENSCHMECKER als "historisches Dokument" zu bezeichnen, wäre zu schön, ist aber leider unmöglich. Das kommt nicht davon, dass die gezeigte Kopie fast ungespielt war und geradezu kristallin wirkte, sondern weil das Stammtischgerede, das hier die Figuren vom Stapel lassen, heutzutage genauso zu hören ist (und leider immer geläufiger und alltäglicher wird). Wer "Zigeuner" durch "Flüchtlinge" ersetzt, dem werden die Parolen, mit denen Felix und Kurt ihre Verbrechen rechtfertigen, gar nicht mehr so fremd erscheinen. Rassismus ist oft auch eine Projektion der eigenen Mängel auf das "Andere": gewalttätig, anarchisch, durstig nach Blutrache – so bezeichnen die Brüder Felix und Kurt die "Zigeuner" (nachdem Felix bereits einen Menschen ermordet hat). Felix und Kurt vollziehen den Schritt von der Stammtischparole zur Gewalttat und auch, wenn sie im weiteren Verlauf des Films manchmal in ihrer schieren Brutalität einem Slasherkiller à la Jason in nichts nachstehen: sie sind und bleiben doch "ganz normale Männer" in einem völlig alltäglichen Setting, das in anderen Filmen als Kulisse für entspannte Familienkomödien dient.
À propos Alltag: als Anna den Joschi auf der Straße begegnet, beginnt sie aus heiterem Himmel ein antiziganistisches Spottlied zu singen. Die absolute Natürlichkeit, mit der sie das tut, ist niederschmetternd (ja, fast noch schlimmer als der Inhalt selbst) und ist wohl der erste große Schockmoment des Films. Hat sie es zuhause gelernt? In der Schule? Die von Verachtung und Hass erfüllten Worte sprudeln einfach so aus dem jungen Mädchen heraus – wie in einem "normalen" Heimatfilm vielleicht ein junges Mädchen irgendein Lied über die Schönheit der Berge singen würde? Dieser Moment ließe einen völlig zerstört zurück – wird aber von dem vielleicht einzigen Funken Hoffnung des ganzen Films "gesühnt": Joschi spielt ihr etwas auf der Geige vor und die Schönheit der Melodie bringt sie dazu, ein normales Gespräch mit ihm anzufangen. Und sich später mit ihm auch anzufreunden. Es gibt also noch Hoffnung bei den Kindern. Später wird sie ihre eigene Familie in der Öffentlichkeit als Mörder bezeichnen – nur, um anschließend von ihren eigenen Eltern im Dorf als geistig labiles Gör diffamiert zu werden.
Joschi und Anna, die "Dissidentin" der Familie
Es ist auch faszinierend, wie DIE TOTENSCHMECKER ganz nebenbei eine Art Gewaltsoziologie der "deutschen Familie" entwickelt. Besonders interessant und erhellend ist da die Figur des geistig behinderten Bruders Franz, der regelmäßig von seinen Familienangehörigen verprügelt, eingesperrt und wie ein Tier behandelt wird. Wahrscheinlich schützt ihn nur die Blutsverwandtschaft letztendlich davor, einfach ermordet zu werden und in den nahegelegenen See geworfen zu werden (wir wissen, dass Felix und Kurt zu solchen Taten bereit sind). In ihm äußert sich dann auch das latent Inzestuöse, das hermetisch geschlossenen Familienverbänden (und -institutionen) inne wohnt: so versucht er mehrmals, seine eigene Nichte Anna zu vergewaltigen. Am Ende vergewaltigt und erschlägt er im Affekt seine Schwägerin (unbeachtet von seinen Brüdern, die zu sehr damit beschäftigt sind, andere Leute kaltblütig zu morden). Franz ist das erste Opfer der mörderischen Familie und zugleich auch der erste Mörder. Und wahrscheinlich ist er zumindest das "ehrlichste", integerste Familienmitglied. Er vergewaltigt und tötet wie ein wildes Tier, sozusagen aus "unzivilisiertem" Instinkt – nicht planmäßig und mit aufwendigen Rechtfertigungen wie ein "zivilisierter" Mensch.
Sehr passend zu seinem Inhalt wirkte DIE TOTENSCHMECKER extrem karg und roh. Die geringe Budgetierung scheint an allen Ecken auffällig zu sein, doch mit zunehmender Laufzeit entpuppt er sich als extrem minutiös inszeniert (ein Co-Zuschauer meinte danach – halb im Spaß, halb im Ernst – dass da Hawks'ianische Formalökonomie im Spiel gewesen sei). Der Film hat auch Elemente eines Alpenwesterns. Die idyllische, in teils wunderschönen Bildern am Rande des Kitsch festgehaltene Berglandschaft ist wie ein eigener Protagonist, ein stiller, ruhiger Beobachter der schauererregenden Verbrechen, die sich abspielen. An einer Stelle zieht ein kleiner Sturm auf, und ein Paar Fensterläden klappt im stürmischen Wind auf und zu, gibt beim Aufklappen einen Blick auf wunderschöne Berggipfel frei, während sich der Sturm (meteorologisch und metaphorisch) zusammenbraut.
Einige Kongressniki erinnerte die Musik an den Harmonika-Score von C'ERA UNA VOLTA IL WEST: eine manchmal stark elektronisch verfremdete Geigenmelodie, oft aus der Ferne vom flüchtenden Joschi gespielt – für die Mörder immer wieder eine Quelle von Irritation. Ein Signal, dass eines ihrer Opfer noch nicht tot ist. Nach ihrem Ermessen eine Verfluchung: beim Versuch, die Leichen der Mordopfer zu verbrennen, verbrennt sich der alte Patriarch das Gesicht und erblindet dabei, und als Schuldiger dafür wird sofort Joschi und seine Melodie ausgemacht. Es ist natürlich auch ein Anklagelied, das den Mördern immer wieder ihre niederträchtigen Verbrechen in Erinnerung ruft... bis sie schließlich auch Joschi für immer zum Schweigen bringen.

DIE TOTENSCHMECKER war ohne Zweifel einer der großen Höhepunkte des Kongresses, ein Meisterwerk, aber natürlich auch ein brutaler, fieser Faustschlag von einem Film. Eine Swinging-London-Komödie im Anschluss zur Lockerung war also durchaus angebracht... Nun ja... das Lachen kam etwa bis zur Mitte des Halses, bevor es dort abrupt stecken blieb...


23:15 Uhr

COOL IT, CAROL! ("Die Liebesmuschel")
Regie: Pete Walker
UK 1970
35mm, DF
Carol (Janet Lynn) und Joe (der ein bisschen wie der vergessene gemeinsame Cousin von Mick Jagger und Brian Jones aussieht, gespielt von Robin Askwith) brechen aus der tristen englischen Provinz nach "Swinging London" auf, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Hoffnungen auf eine glamouröse Model- und Popstar-Karriere zerschlagen sich nach und nach. Auf Joes Betreiben prostituiert sich Carol immer öfter an ältere, zahlungswillige Herrschaften.
Carol und Joe erkunden Sleazing London
DIE TOTENSCHMECKER war ein Film über die Banalität des Bösen. Ist COOL IT, CAROL! ein Film über die Naivität des Bösen? Oder die Bosheit des Naiven?
COOL IT, CAROL! ist eine locker-fluffige Swinging-London-Komödie, die sich nach und nach in einen zappendusteren und fiesen Prostitutions-Sleaze-Hobel verwandelt. Besonders verwirrend ist allerdings, dass das Komödiantische der ersten Hälfte immer wieder Einzug hält in die zunehmend unangenehme Geschichte von Carols und auch Joes Hineinstrudeln in die Welt der Prostitution. Lebensweltlich ergibt das durchaus Sinn: dass im Swinging London eine Tür neben dem fetzigen Popclub ein Herrenclub angesiedelt ist, der sich als Bordell entpuppt, dürfte kaum verwunderlich sein. Doch dass das Glamouröse und Witzige immer wieder eruptiv in den Schmutz und die Niedertracht einbricht, gibt dem Film eine sehr eigenartige Atmosphäre: eine Komödie, bei der einem das Lachen regelmäßig im Hals stecken bleibt – ein Milieu-Schocker, der immer wieder unterbrochen wird von merkwürdig unpassenden Humoreinschüben.
Gesehen haben wir nicht COOL IT, CAROL!, sondern die deutsche Synchronfassung "Die Liebesmuschel", die den ohnehin starken Eindruck von Gegensätzlichkeiten noch verstärkte. Findige deutsche Verleihe haben internationale Filme nicht nur geschnitten, um wahlweise der Zensur oder Gewinnmarge zugute zu kommen – sondern manchmal im Gegenteil mit eigenen Inserts verlängert. "Die Liebesmuschel" beginnt mit einer recht uninspiriert gefilmten Orgie, die mit dem restlichen Film nichts zu tun hat. Während COOL IT, CAROL! den Sex recht dezent darstellt (am explizitesten bei der Bahnfahrt gen London, als Carol Joe verführt), blendet "Die Liebesmuschel" bei jeder Andeutung sogleich die gefühlt immer gleichen Nachdreh-Szenen ein: ein Mann und eine Frau in einem weißen Bett, die jeweils mit keinem der sonstigen Darsteller von COOL IT, CAROL! die entfernteste Ähnlichkeit haben, beleuchtet mit dem ekelhaftesten weißen Neonlicht, das man sich vorstellen kann, die eher unmotivierte Akrobatik besonders uninspiriert und statisch gefilmt. Letzteres fällt besonders auf, da COOL IT, CAROL! ansonsten recht dynamisch und elegant inszeniert ist. Und so beginnen sich Carol und Joe im Hotelzimmer bei ihrer ersten Nacht in London zu küssen – harter Schnitt zum Insert. Carol knutscht mit einem (später zwei Herren) in einem schummerigen Nachtclub – harter Schnitt zum Insert. Carol geht mit ihrem ersten Kunden auf's Zimmer – harter Schnitt zum Insert. Beim nächsten Date wartet eine ganze Schlange an Männern darauf, zu ihr ins Zimmer gehen zu dürfen – und schon wieder kommt der unsägliche Insert.
Letzteres ist ein besonders geschädigter Moment. Carol und Joe haben nach einigen ungeschickten Bemühungen einen Kunden auf der Straße gefunden. Dieser wiederum "vermittelt" Carol bei einem nächsten Date an einen anderen Mann (und kassiert eine Provision). Beim nächsten Date sind es schon ein halbes Dutzend Männer. Die sammeln sich im Wohnzimmer von Carols erstem, äußerst geschäftstüchtigen Kunden. Nachdem die junge Frau mit dem ersten Gast ins Schlafzimmer verschwindet, verweilt die Kamera im Wohnzimmer, wo die Kunden und Joe versammelt sind – letzterer sehr unangenehm berührt, besorgt, sich sehr bewusst, was gerade passiert, während andere Gäste sich in Smalltalk versuchen. Im Originalfilm dürfte das eine sehr, sehr, sehr lange, sehr intensive einzelne Einstellung sein, doch in der deutschen Fassung wird sie durch Inserts mehrfach unterbrochen.
Der Pornoregisseur? Oder die unbeabsichtigte Darstellung
der Nachdrehs von "Die Liebesmuschel"?
COOL IT, CAROL! wusste sich gegen "Die Liebesmuschel" ironischerweise zu wehren. Carol und Joe haben völlig naiv ihre Abwärtsspirale in die Welt der Prostitution für Altherren vorangetrieben: sie versichern sich jedes Mal, dass der nächste Termin nun der letzte sein würde (und dann der wirklich letzte, und dann der wirklich aller-allerletzte). So landen sie dann auch bei einem Termin, wo sie, kaum eingetreten, aufgefordert werden, sich auszuziehen und Sex zu haben: sie sind bei einem Pornodreh gelandet. Das Bett ist steril weiß, die Beleuchtung unangenehm blendend – während der Kameramann recht professionell aussieht, sitzt etwa 30 cm vom Bett ein alter Mann mit schweissiger (oder angeleckter?) Oberlippe auf einem Sessel, der das ganze still, aber offenbar stark aufgegeilt anschaut. Der Regisseur? Der Produzent? Der Verleiher? In "Die Liebesmuschel" entwickelte diese Szene einen ganz eigenen Drive: sollte man sich ungefähr so die Nachdrehs des deutschen Verleihs vorstellen? Dieser Moment wirkte so, als würde COOL IT, CAROL! sich über "Die Liebesmuschel" lustig machen.


Donnerstag, 3. Januar

13.30 Uhr
TrÜF – Der triste Überraschungsfilm

L'OSCENO DESIDERIO
Regie: Giulio Petroni
Italien/Spanien 1978
35mm, OV mit live eingespielten Untertiteln
Die Amerikanerin Amanda (Marisa Mell) und der Italiener Andrea (Chris Avram) ziehen in eine gotisch anmutende Villa irgendwo in der italienischen Provinz. Die Ehe der beiden wurde zwar kürzlich geschlossen, ist aber eher kalt. Die Belegschaft benimmt sich gegenüber Amanda eher merkwürdig. In den Gesprächen mit ihrem Landsmann, dem Archäologen Clark (Lou Castel) findet Amanda etwas Abwechslung. Als sie (nach einer nun doch vollzogenen Ehenacht) schwanger wird, mehren sich die mysteriösen Ereignisse in der Villa: ist Amanda in einen Kreis von Teufelsanbetern geraten?
L'OSCENO DESIDERIO gilt ein später Vertreter jener italienischen Filme, die auf der Erfolgswelle von THE EXORCIST reiten wollten, doch in den ersten zwei Dritteln erscheint mehr ROSEMARY'S BABY der Impuls gewesen zu sein. Regisseur Giulio Petroni, der einige wunderbare Westerns in seiner Filmografie zählt (darunter den grimmigen Rachefilm TEPEPA im Umfeld der mexikanischen Revolution und das großartige Trinker-Melodrama LA NOTTE DEI SERPENTI, der beim vierten Terza Visione lief), war offenbar alles andere als begeistert von dem Film, ließ seinen Namen in den Credits durch ein Pseudonym ersetzen. Die Produzenten, die das fertige Produkt ursprünglich als Exorzisten-Film vermarkten wollten, entschieden sich anders, versuchten, ihn zu einem Sexfilm umdrehen zu lassen, ließen den spanischen Kameramann Leopoldo Villaseñor noch passende Sexszenen mit den beiden Hauptdarstellern nachdrehen und gaben ihm einen ausdrucksvollen neuen Titel ("Obszöne Begierde"). Das Resultat war weder Fisch noch Fleisch: als Sexfilm ist er zu unsexy, als Horrorfilm trübt er etwas unspannend vor sich hin, als reiner Atmosphärenfilm wird er immer wieder von unspannender Füllhandlung unterbrochen. Da gibt es nichts Obszönes. Und Begierde gibt es nur in Spuren zu finden.
Geweihtes Gebäck gegen teuflische Besessenheit
Ganz entfernt hat mich das ganze an Riccardo Fredas ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA erinnert, der 2018 beim Terza Visione lief: ein merkwürdiger Film, den niemand mögen wollte, den sein Regisseur verstoßen hatte, mit schwierigen Produktionsbedingungen und Nachdrehs. Wo Fredas faszinierender Film einen wahrhaft dekonstruktiven Wahn und eine ganz eigene Poesie entwickelt, ließ mich der insgesamt doch allzu gemächliche L'OSCENO DESIDERIO leider ziemlich kalt. Mehr denn als Sexfilm (dazu hat er eigentlich zu wenig Sex) oder als Horror-Thriller hat er für mich am ehesten als Atmosphärenfilm funktioniert. Die Gothic-Villa, die den Hauptschauplatz des Films bildet, ist zwar groß, aber auch leicht verfallen, der umliegende Park ist irgendwie ungepflegt – das sieht alles so aus wie das Set eines Mario-Bava-Films, das man zehn Jahre den Naturkräften überlassen hat. Und genau dieser latente Verfall verlieh L'OSCENO DESIDERIO in seinen besten Momenten eine ganz eigensinnige, manchmal jenseitige Atmosphäre.
Der Exorzisten-Moment ist relativ kurz gehalten. Clark alias Lou Castel, der während fast des ganzen Films wie bestellt aber nicht abgeholt aussieht, entpuppt sich als Priester, versucht Amanda zu exorzieren, aber als sie ihm eine Hostie ins Gesicht spuckt, rennt er völlig hysterisch weg, raus auf die Straße und lässt sich dort von einem LKW überfahren. Sollte mit dieser einfachen "Lösung" Spezialeffekte für etwas gruseligere Vorkommnisse als nur Spucke im Gesicht eingespart werden? Wer jedenfalls einen wirklich gruseligen Exorzisten-Wiedergänger sehen möchte, sollte sich eher an Alberto De Martinos großartigen L'ANTICRISTO halten (ein Film übrigens, dem der Titel "Obszöne Begierde" auch inhaltlich wesentlich besser stehen würde; den ich persönlich, auch als großer Friedkin-Fan, besser als das "Original" finde und hiermit jedem mit missionarischem Eifer ans Herz lege!).
L'OSCENO DESIDERIO ist ein "geschädigter" und dadurch irgendwie auch sehr zärtlichkeitsbedürftiger Film, aber so richtig warm bin ich damit nicht geworden. Ich wäre es gerne... Vielleicht bei einer neuen Sichtung irgendwann?

Lukas Foerster hat einen wunderschönen Text über einen Artefakt in der vorgeführten, leider schon ziemlich rotstichigen Kopie geschrieben (und bezeichnet den Film ziemlich treffend als "schläfrig").


15:30 Uhr

DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK
Regie: Peter Heller
BRD 1989
16mm, OV
Martin Humers Lebensinhalt dreht sich um Pornografie: mit großer Leidenschaft arbeitet dieser Mann daran, diese mit allen Mitteln aus Österreich zu verbannen – mit der Beantragung von Strafanzeigen, spektakulären Aktionen, Amtsanmassung und teils auch Erpressung.
Mit Rechtsradikalen zu reden ist nicht nur heutzutage dämlich. Es war schon 2014 dämlich. Und 1932. Und selbstverständlich war es das auch 1989. Das sieht man sehr schön im Gespräch zwischen Martin Humer und seinem Erzfeind, einem großen Wiener Verleger von Pornozeitschriften: beide kommen im Wartesaal eines Wiener Gerichts ins Gespräch, der Verleger gibt sich sichtlich Mühe, mit Humer zu reden, doch dieser brüllt ihn immer wieder mit weiteren Beleidigungen, Obszönitäten, Unterstellungen und Schimpftiraden nieder...
Der TV-Dokumentarfilm DER PORNOJÄGER gehörte für mich zu den großen Highlights des Hofbauer-Kongresses. Wie DIE TOTENSCHMECKER ein Blick in das kackbraune Herz des teutonischen Alltagsfaschismus. Humer, der selbsternannte Kämpfer für Anstand, scheut sich nicht davor, Gegner systematisch zu dehumanisieren: immer wieder bezeichnet er sie als "Schweine". Die "Massenpornografie" ist für ihn ein Mittel des Weltkommunismus, der Marxisten und der Ausländer, um das deutsche Volk zu destabilisieren. Humer spricht meist von "deutsch" und "Deutschland" und entpuppt sich damit als echter "Großdeutscher". Den aktuellen österreichischen Staat bezeichnet er als Diktatur, die wesentlich schlimmer sei als das Dritte Reich und scheut sich nicht, seine Gegner als Nazis zu beschimpfen. Er beteuert immer wieder, dass er natürlich den Frauen im Pornomilieu helfen wolle, nur um sie wenig später außer sich vor Zorn als "Huren" und "Schlampen" zu bezeichnen, denen alles "Mütterliche" fehle – als liege der einzige Existenzgrund von Frauen, (sexlose) Mutter zu sein. Wilde Verschwörungstheorien mit Linken und Ausländern als Sündenböcke, vulgärer Sexismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Beschimpfung der Gegner als Nazis... Wer bei der Sichtung des Films das höchst unangenehme Gefühl bekommt, das alles kürzlich schon ähnlich gehört zu haben – tja, so "neuartig" ist die sogenannte "Neue Rechte" halt auch wieder nicht...
Martin Humer erklärt seiner Tochter schematisch die
Beziehung zwischen Weltkommunismus, Immigration
und Pornografie
DER PORNOJÄGER "redet" nicht mit Humer, aber er beobachtet ihn beim Reden. Ohne jeglichen Off-Kommentar lässt er den selbsternannten Tugendwächter seine Tiraden ausspucken und voller Stolz die vielen angesammelten Regalmeter an Pornozeitschriften (Beweismittel) in seinem Büro zeigen. Zwischendurch kommen natürlich auch weitere Personen zu Wort: am häufigsten der Geschäftsführer eines Pornomagazins, aber auch Staatsanwälte und Richter (von denen einige tatsächlich fast ihre komplette Arbeitszeit den Strafanzeigen Humers widmen müssen) sowie Humers erste Ehefrau. Der Film lässt sämtliche gezeigte Personen für sich sprechen, nutzt keinerlei Off-Kommentar und greift auch so gut wie nicht ein. Das ist natürlich weder "neutral", noch heißt es, dass Regisseur und Autor Peter Heller zu dem Gezeigten keine Position beziehen würde, denn die Kadrage und die Montage werden doch immer wieder als ironisierende Mittel eingesetzt (für Zuschauer natürlich, die das so sehen wollen). So stellt sich Humer einmal in seiner Arbeitszentrale ganz stolz vor eine grotesk überdimensionierte, gefühlt fünf Meter hohe Regalwand, in der sorgfältig Pornozeitschriften sowie Aktenordner mit Beweismitteln verstaut sind. Die Kamera schwenkt auch mal genüsslich über die Ordnerrücken (ein ziemlich dicker Ordner ist mit "Pasolini" beschriftet). Putin hat einmal gesagt, dass er Terroristen bis aufs Klo verfolgen würde, aber das hat der Pornojäger Humer schon Jahrzehnte vor dem russischen Präsidenten gemacht: die Kamera folgt Humer und seiner ihn assistierenden Tochter durch mehrere Räume voller Regale, und eines dieser Räume ist dann auch das stille Örtchen, vollgestellt mit Ordnern voller Beweismittel (also Pornozeitschriften). Hier ging wahrscheinlich das lauteste Lachen durch den ganzen Saal.
Natürlich ist Humer irgendwo auch eine "komische" Figur. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit großem Ernst nennt er auch mal einige Dutzend völlig bestialische und absurde Titel von Pornofilmen, die er gerade rechtlich verfolgen will (was auch für große Erheiterung im Saal sorgte). Das Lachen bleibt einem aber auch regelmäßig im Hals stecken, denn Humer und seine Leute schrecken auch vor Amtsanmaßung, latenter Bedrohung und schließlich auch Erpressung nicht zurück. Ein unkenntlich gemachter Interviewpartner entpuppt sich als Besitzer eines Pornoladens, den Humer erfolgreich zur "Kollaboration" erpresst hat: Insider-Hinweise werden getauscht gegen den Verzicht auf eine Strafanzeige (die in Fällen kleiner Betriebe durch die potentielle, juristisch angeordnete Unterbrechung der Geschäftstätigkeit während der Untersuchung tatsächlich zum Konkurs führen kann – Humers Tätigkeiten haben also in seinem Sinne manchmal durchaus Erfolg). Auch wenn DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK durchaus in einigen ironischen Momenten ein lustiger Film war (und der Saal hat an einigen Stellen sehr herzlich gelacht), ist er doch auch beklemmend.

DER PORNOJÄGER hätte wahrscheinlich ein sehr schönes Double-Feature mit Lucio Fulcis LA PRETORA ergeben, in dem Edwige Fenech eine Richterin spielt, die gnadenlos Pornografie verfolgt, und zugleich deren naiv-freizügige Zwillingsschwester verkörpert, die schließlich als Mittel ausgenutzt wird, um die Richterin zu diffamieren, als sie sich in anderen Belangen als zu störend, weil nicht-korrupt erweist...
Das vom Hofbauer-Kommando kuratierte Folgeprogramm war aber auch sehr passend... Nach DER PORNOJÄGER gab es nämlich erst einmal einen Porno.


17:30 Uhr

CITY OF SIN ("Ashley – Sattelfest in allen Betten")
Regie: Henri Pachard
USA 1991
35mm, DF
Intrigen in der Stadt der Sünde! Die Dokumentenmappe eines korrupten Kandidaten zum Posten des Bürgermeisters von L.A. geht in einem Bordell verloren. Die Geschäftsführerin Ashley nimmt die brisanten Dokumente an sich und taucht damit – von den Häschern des Fieslings und besonders ihrem Ex-Geliebten Mosie verfolgt – unter. Eine Hatz zwischen Betten und Sofas beginnt...
Oder so ungefähr. Durch diverse Verzögerungen im Vorprogramm folgte CITY OF SIN fast nahtlos an DER PORNOJÄGER – während ich mit Pinkelpause und einer Auffrischung meines Getränks beschäftigt war. So verpasste ich die ersten fünf bis vielleicht zehn Minuten: die oben aufgeschriebene Synopsis ist – bis auf den letzten Satz und den vorletzten Halbsatz – eher eine Vermutung darüber, was da so passiert. Natürlich dient das alles in erster Linie dazu, Männlein und Weiblein zu ertüchtigender Gymnastik in diversen Betten und Sofas zusammen zu bringen. Wirklich atemberaubend war der Film für mich nicht – aber wirklich schlecht war das auch nicht, zumal CITY OF SIN mit vielen kleinen, liebevollen Details und einigen sehr netten Figuren zu unterhalten weiß.
Kurz zu den Figuren: es gibt also Ashley, die Geschäftsführerin eines mehr oder minder mondänen Bordells, die mit brisanten Dokumenten flieht. Eine toughe Frau, die Männer und Frauen gleichermaßen vernascht. Ihr einziger wunder Punkt: ihre emotionale Last von ihrer vergangenen Beziehung mit Mosie – der jetzt für den korrupten Politiker arbeitet und ihr die Dokumente abluchsen will, aber selbst doch eigentlich ein ganz lieber Typ ist, der ebenfalls noch nicht emotional über Ashley hinweg ist. In einer ausgedehnten Sexszene zwischen den beiden wußte besonders ein riesiger Wandteppich mit Katzenmotiv im Hintergrund die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders schön: Ashley (bzw. Hauptdarstellerin) hatte ein Zierfisch-Tattoo auf einer Pobacke – so dass unterschwellig auch die Jagd einer Katze nach einem Goldfisch zu sehen war. Wie passend, da sie gerade die Verfolgte ist, die mit ihrem Verfolger auf dem Sofa liegt.
Bei den Antagonisten gibt es den ultraschmierigen Bürgermeisterkandidaten (oder ist er schon Bürgermeister?). Seine Sonnenbrille ist ihm möglicherweise fest im Gesicht angetackert, zumindest setzt er sie auch beim Sex nicht ab. Dass er irgendwelche verfänglichen Dokumente hat und korrupt ist, dürfte nicht das Schlimmste sein: wirklich widerwärtig ist, wie er seine Frau behandelt. Vor lauter Verzweiflung, mit so einem Fiesling verheiratet zu sein, trinkt sie. Zumindest versucht sie es verzweifelt: in einer sehr ausgedehnten und rein inhaltlich wahrscheinlich etwas langweiligen Dialogszene unterhält sich der Politiker mit seinen Schergen über die verschwundenen Dokumente, seine Frau serviert sich in der Zwischenzeit einen Drink – und er nimmt ihn ihr weg. Immer wieder versucht sie in dieser langen Szene das Glas zu ergreifen, aber ihr Ehemann nimmt es ihr immer wieder weg. Eine tragikomische Szene für eine wahrhaftig tragische Figur, denn es ist ganz eindeutig, dass ihr Mann sie nicht nur lebensweltlich, sondern auch sexuell nicht befriedigen kann. In der gemeinsamen Sexszene nimmt er sich, was er will, und lässt sie, die Durstige, auch hungrig zurück. Ich hoffte bis zum Schluss des Films, dass sie noch mit Mosie ins Bett landet: Mosie, der im Laufe des Films mit gefühlt fast jeder weiblichen Figur Sex hat, nur eben nicht mit der Frau des Politikers. Ihr einziger Trost ist, dass in ihren Szenen immer ein stilvoller Jazz-Score zu hören ist, während die anderen mit einem auf die Dauer etwas langweiligen Spätachtziger-Fahrstuhl-Muzak beschallt werden.
Für mich war aber Johnny "Tatta" die absolute Lieblingsfigur. Der loyale rechte Arm Ashleys ist immer im Dienst: mögen alle anderen um ihn herum ihrer Libido hemmungslos nachgeben, und möge ihn die deutsche Synchro als "Tschonni Tatter" bezeichnen (wie in: Tattergreis) – Johnny bewahrt immer seinen kühlen Kopf und sein völlig von Schweiß getränktes Hemd unter seinem schwarzen Anzug. Für seine Chefin würde er sich zweifelsohne um Kopf und Kragen schwitzen. Nur zweimal darf er sich mal erfrischen: einmal mit einer rothaarigen Schergin des korrupten Politikers (eine ganz fiese Falle, die ihm gestellt wird, um ihm die Dokumente abzunehmen) und einmal mit einer schnellen Dusche...
Mosie, Johnny Tatta und Katzen-Teppichkunst
CITY OF SIN spielt in L.A., an einem helllichten Sommertag (gleichwohl der Titel einen noir'ischen Nachtfilm suggeriert – diese Version von CITY OF SIN würde ich natürlich auch gerne sehen) und die Kamera fängt diese kalifornische Sonne in manchen Momenten geradezu magisch auf – die wunderschöne 35mm-Projektion dürfte vielleicht nicht ganz unschuldig daran sein. Es ist eine sehr warme Sonne, die es Ashley ermöglicht, sich meist sehr knapp bekleidet von A nach B zu bewegen und die Johnny ausgiebig zum Schwitzen bringt. Auch Mosie, nachdem er ein lose verschlossenes Einfahrtstor übermäßig umständlich passiert hat (was für große Erheiterung sorgte – manchmal ist es eben doch besser, den ersten, "verpatzten" Take zu nutzen), wird ganz warm, und er zieht sein T-Shirt aus, während er zu Ashleys Versteck läuft, einer ziemlich hübschen Gartenlaube auf einem Hügel in Sichtweite der Engelsstadt. So passiert das eben: die Figuren lockern ihre Kleidung, und schon kommt es zur Sache. Angekommen in Ashleys Versteck wartet allerdings nicht Ashley auf ihn, sondern Johnny "Tatta", frisch geduscht, mit einem Badetuch um die Hüften (und einem frischen, also noch nicht vollgeschwitzten Hemd). Es hätte zum natürlichen Fluss der Szene gepasst, wenn die beiden nun Sex gehabt hätten, aber dann gab es doch nur einen Expositionsdialog, um die sexuelle Spannung zwischen Mosie und Johnny aufzulösen. Schade... natürlich bleibt CITY OF SIN den Regeln eines heterosexuellen Mainstream-Pornofilms verpflichtet (zur größeren sexuellen Offenheit des schwulen Pornofilms folgt später noch mehr).
Seinen ganzen Charme hätte CITY OF SIN vielleicht besser in einer Late-Night-Vorstellung entwickeln können. Ein bisschen langweilig fand ich den Film bei der Sichtung schon, aber es war wohl doch dieses "geil-langwelig" – rückblickend mag ich ihn irgendwie ganz gerne!

Abendessen in der Gruppe!


21:15 Uhr

LE DICIOTTENNI ("Mädchen von 18 Jahren")
Regie: Mario Mattòli
Italien 1955
35mm, DF
Auf einem Mädcheninternat: die Gefühle der Schülerinnen fahren gerade Achterbahn, denn der neue Physiklehrer (Anthony Steffen) ist ein absolut unwiderstehlicher junger Mann. Er selbst, der noch bei seiner Mutter (einer verarmten und trotz ihres vordergründigen Humors leicht verbitterten Adeligen) wohnt, kriegt davon nichts mit. Die Schuldirektorin, die sämtliche Tagebücher ihrer Schutzbefohlenen zu eben ihrem Schutz konfisziert hat, liest hingegen von der allgemeinen Verliebtheit. Eskalationen folgen...
Klavierlektion mit Komplikationen
Ich muss zugeben, dass mir von LE DICIOTTENNI nicht viel mehr hängen geblieben ist als ein wunderschönes, angenehmes Gefühl von Glück, Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Ein toll gemachter Film, mit tollen Figuren, die von mir größtenteils unbekannten Schauspielern dargestellt wurden, mit einem flotten Timing, mit einem schönen Gefühl für einzelne Szenen und für den großen Bogen, mit einer guten Balance zwischen Komik und Melodramatik.
In meinem Notizbuch, in das ich mir im Hotel nach dem Aufwachen jeweils Notizen zu den Filmen des Vortags machte, stand zu LE DICIOTTENNI nur "Scope! Tiefenschärfe!". Der Film unterhielt nicht nur wunderbar, sondern war auch visuell ziemlich großartig. Wie diese "kleine" italienische Komödie mit dem gerade mal zwei Jahre alten Cinemascope umgeht, hat mich immer wieder erstaunt und beglückt: die Kamera fängt das Setting, die Figuren und die Räume zwischen den Figuren geradezu brillant ein – als wäre Scope das natürlichste Filmformat auf der Welt (und nicht eine gerade mal zwei Jahre alte Innovation, über die sich viele noch lustig machten).
LE DICIOTTENNI wäre auch ein sehr schöner Film für's Terza. Die Kopie war noch knackig scharf und ohne große Gebrauchsspuren, an einigen Stellen aber leider schon leicht angerötet.

Nicht weniger unterhaltsam, aber doch in einer sehr viel härteren Gangart:


23:30 Uhr

WU FA WU TIAN FEI CHE DANG ("Die wilden Engel von Hong Kong")
Regie: Kuei Chih-Hung
Hong Kong 1976
35mm, DF
Zwei gutbürgerliche Pärchen aus Hongkong werden auf dem Weg zu ihrem Wochenendhäuschen auf einer kleinen Insel von einer Motorradgang belästigt. Die kultivierten Städter wissen den zunehmend bedrohlicheren Rowdies (zunächst) wenig entgegen zu setzen. Die Situation eskaliert...
Tschechows sprichwörtliches Gewehr muss nicht immer ein Gewehr sein. Manchmal ist es auch der Propeller eines Motorboots!
Auch wenn "Die wilden Engel von Hong Kong" für mich nicht so eine Kino-Epiphanie war, wie für das Hofbauer-Kommando, so hat er mich doch mit seiner unaufhörlichen Eskalationsspirale von bestialischen Gewalttaten wie wahrscheinlich die meisten im Kinosaal gut weggefegt. Dabei ist der Film so minimalistisch in seiner Dramaturgie, dass er umso mehr Platz hat, um unglaublich viele kleine oder größere Ideen umzusetzen.
Die wilden Engel von Hong Kong – bereit zum Angriff
Es gibt eine sehr ausgedehnte Sequenz, in der die Motorradgang einen Fahrwettbewerb am Strand organisiert. Einige der Frauen bieten sich dem Gewinner als Hauptgewinn an. Das ganze beginnt als völlig halsbrecherisches Rennen durch die Dünen der Insel, gefolgt von einem wilden Zweierkampf am Rand des Wassers, bei dem die Kontrahenten auf den Motorrädern aufeinander zufahren und sich mit Ketten (oder Stöcken?) prügeln und endet schließlich mehr oder weniger in einer großen Orgie. Diese Szene könnte man "Selbstzweckhaftigkeit" vorwerfen – doch ich würde eher sagen, dass dies der Moment ist, in dem der Film sich selbst Zeit zum Atmen gibt und ganz und gar in sich aufgeht. Seine rohe Kraft entwickelt der Film nicht zuletzt durch die spektakulären Motorrad-Rennen und die entsprechenden Stunts, von denen viele höllisch gefährlich aussehen (und es wahrscheinlich auch waren).
Am Ende entpuppen sich die männlichen Städter als doch ziemlich wehrhaft und als nicht minder bestialisch als die "unkultivierten" Rowdies. Da kommt, wie bereits angedeutet, der Propeller eines Motorboots ebenso zum Einsatz wie ein großer, mit siedendem Öl gefüllter Kochtopf. Die schwer traumatisierte junge Städterin, die nur "Ich will zurück nach Hong Kong!" vor sich hin jammern kann, wird dann sogar als "Köder" für die Biker ausgesetzt. Am Ende gibt es ein "apokalyptisches" Tableau der massakrierten Biker, mit einem elegischen Kameraschwenk über ihre Leichen, unterlegt von Bachs "Toccata und Fuge".

Der angekündigte VELLUTO NERO des italienischen Regie-Außenseiters Brunello Rondi (dessen INGRID SULLA STRADA beim Terza Visione 2017 lief) konnte aufgrund des letztlich zu kritischen Zustands der Kopie leider nicht gezeigt werden. Als Ersatz wurde ein "Videoknüppel" kredenzt.


01:45 Uhr

HOT STEPS ("More Than Feelings")
Regie: Gerry Lively
Italien/USA 1990
2K-Abtastung einer VHS, DF
Zwei Gruppen von Jugendlichen bereiten sich auf einen Tanzwettbewerb vor. Eifersüchteleien, Intrigen, Seitenwechsel, Liebe und vieles mehr folgen...
Ich muss gestehen, dass mir von diesem Film nicht so vieles im Gedächtnis geblieben ist und meine Notizen nicht gerade besonders reichhaltig ausfielen. Das hatte nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen Zeit zu tun.
Nur ein paar Bruchstücke... Einer der reichen Schnösel-Kids mit Namen Kevin fährt einen teuren Sportwagen mit dem Nummernschild "KEV-IN". Ein nächtliches Tanztraining im Autogeschäft. Die Rivalen werden mit dem Feuerwehrschlauch nassgespritzt. Der eine Junge möchte bei einem Radio-Gewinnspiel unbedingt gewinnen (es geht darum, ein nur wenige Sekunden lang eingespieltes Lied zu erkennen), doch leider ruft er immer einen Tick zu spät an. Biertrinken und Abhängen am Strand. Beim finalen Tanzwettbewerb meint einer der geladenen Väter, unter den Tänzerinnen eine junge Version seiner Ehefrau zu erkennen, ist von diesem Anblick sichtlich angegeilt – bis er merkt, dass das seine eigene Tochter ist. Ich selbst wiederum habe mich etwas in die schwarzhaarige Tanzlehrerin verliebt, die die finanziell nicht ganz so gut situierte Tanzgruppe (mit hohem Anteil an Latinos – die besser situierten sind fast alle weiß und angelsächsisch) trainiert...



Warum Kakao zum Kultgetränk des Volljährigkeitskongresses avancierte, wie nahe Ozu und Pinku eigentlich sind, was gastronomische Verkostungen mit Sexstellungen zu tun haben und wie man die Sau richtig (oder eben doch falsch) rauslässt – dazu gibt es demnächst hier Antworten.

Fortsetzung folgt... (hier zum zweiten Teil)


Wer noch ein bisschen mehr zu den eben besprochenen Filmen bzw. auch zu anderen, später gezeigten Kongressfilmen etwas lesen möchte, dem sei die wunderschöne "XXL-Collage an Festivaleindrücken" vieler anderer Kongressniki auf critic.de empfohlen. Auch sehr empfehlenswert: Roberts Einträge zum Kongress in seinem Filmtagebuch auf Eskalierende Träume.

Sonntag, 10. März 2019

Die cinephile Klasse kommt ins Paradies


Highlights beim 1. Paradies-Filmfestival in Jena, 4. bis 7. Oktober 2018


Jena ist kein Paradies. Dafür sind die Stimmergebnisse für die Braunen in letzter Zeit viel zu hoch, die namensgebende Wiese hinter dem gleichnamigen, trostlosen Bahnhof ist nicht gerade das schönste Fleckchen Grün auf Erden und die Kino-Highlights der Stadt haben die Größe und Dichte kleiner Oasen inmitten einer trockenen Wüste. Zumindest bei letztgenanntem Problem haben zwei Jenaer Cinephile Abhilfe geschafft, indem sie nicht weniger gemacht haben, als ein Kino-Paradies (oder Paradies-Kino) selbst zu bauen, für ein intensives und aufregendes Wochenende voller Filme!

Das Filmparadies in der Trafo-Station
Die Location, das TRAFO, sieht von außen etwas unscheinbar, gar leicht verfallen aus.  Aber Sessel kündeten vor dem Eingang bereits Gemütliches und Gutes an, zumal bei meiner Ankunft am ersten Abend ein älterer Herr mit einem schicken Panamahut sich bei einer Zigarette schon gemütlich in eine dieser Sitzgelegenheiten niedergelassen hatte (mehr zu diesem Herrn gleich). Drinnen wartete ein großer Saal mit einer von den Organisatoren selbst gebauten (sic!) Kinoleinwand sowie einer ebenfalls selbstgebauten Untertitelleinwand, mehrere Sitzreihen mit den ehemaligen Sitzen des Jenaer Schillerhof-Kinos (die wesentlich bequemer waren und sind als die neuen), einem ebenfalls selbst gebauten (sic!) Projektionsraum mit zwei 35mm-Projektoren (aus dem Privatbesitz einer der Veranstalter) sowie einer relativ steilen Treppe, die zur Raucher-Lounge-Bar-Empore führte – mit einem direkten Blick auf die Leinwand. Eine Toilette gab es auch, allerdings nur eine einzige für alle Besucher. Die Wartezeiten vor dem stillen Örtchen konnte man sich allerdings mit einer kleinen Partie Minigolf vertreiben, denn im kleinen Vorraum war ein kleiner Corso aufgebaut und es war gar nicht so einfach, den Ball in die mittlere Tasche zu schlagen!
Ich muss zugeben: am Anfang war ich etwas skeptisch. Dass es sich um eine ehemalige Transformatorenhalle handelt, sah man der sehr rohen Location an. Aber spätestens nach dem ersten Film, dem ersten Gang zum Bar-Lounge-Empore-Raucherbereich war das Eis gebrochen, das Herz erobert, die Liebe unwiderruflich gewonnen. Einzig der Körper blieb wortwörtlich etwas kühl, weil das Gebäude etwas zugig ist. Das Höllenfeuer, das zwischen den Filmen in diesem Paradies immer entfacht wurde (ein gasbetriebener Feuerstrahler), sorgte zumindest in der Empore für Wärme, da die heiße Luft nach oben entweichte, im Kinosaalbereich brachte es nur ein bisschen Atmosphäre – immerhin, gemeinschaftlich konnte man sich um den Heizer wie um eine brennende Mülltonne versammeln, um sich ein bisschen die Beine und Hände anzuwärmen.
Die beiden Veranstalter legten für das Programm ihre jeweiligen Vorlieben zusammen, um ein Festival zusammen zu machen: italienisches Genre-Kino und vergessene DEFA-Filme. Klingt komisch, erwies sich aber durch die Kontraste als äußerst interessant.

Das italienische Programm (oder: das inoffizielle Ennio-Morricone-Festival)
Ein Gang ins Kino kann ein bisschen wie ein Gottesdienst sein und in dem kleinen Paradies im Trafo hieß unser Gott Aldo Lado! Der Ehrengast dieser ersten Festivalausgabe, der auch mit einem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, war im Programm mit fünf Filmen vertreten, von denen leider nur zwei auf 35mm zu sehen waren. Nun, die analogen Kultgegenstände des Kinos sind in den Religionskriegen der digitalen Medien gegen das Materielle oft verschütt gegangen – so geht es auch CHI L'HA VISTA MORIRE (Italien/BRD 1972), von dem heutzutage auch bei den größten Bemühungen, die sich die Organisatoren gegeben haben, keine analoge Kopie aufzufinden ist. Der Film musste deshalb auf DVD gezeigt werden.


Lados zweiter Film zerfällt klar in zwei Teile. Beginnen tut er als Kindermord-Geschichte, die sich zunächst wie ein schwerer Schleier auf die Beziehung zwischen dem Künstler Franco (George Lazenby – kaum drei Jahre nach seinem Bond-Film schockierend gealtert, aber trotzdem großartig) und seiner kleinen Tochter Roberta legt. Da wir einen brutalen Mord an einem anderen rothaarigen Mädchen vor den Credits gesehen haben, kann es keine Ruhe geben in dem ungezwungenen Miteinander des Vaters mit dem kleinen Kind. Mehrmals schleicht sich die alte Mörderin an Roberta heran, bis es ihr schließlich gelingt... Für mehrere Minuten wirkt es so, als würde der Film das Genre hinter sich lassen, sich komplett in eine schmerzhafte Meditation über Trauer und Verlust ergeben. Der Sex zwischen Franco und Elizabeth nach dem Tod der Kleinen: eine einzelne, glänzende Träne in Anita Strindbergs Gesicht, ein Schwenk zu Lazenbys Kopf, abgewandt, auf den ersten Blick vor lauter Rohheit und Runzeln wie eine Attrappe wirkend... Danach (oder davor?) der Akt, lustlos, mechanisch und zwanghaft – dabei ist eine verblüffende, ziemlich große Narbe an Lazenbys Bauch (oder dem seines Doubles) zu sehen, die den Schmerz geradezu exemplarisch visualisiert... Extreme Trauer in einigen wenigen, schauerlich schönen Bildern konzentriert. Da ist der Film wohl knapp eine halbe, dreiviertel Stunde alt. Vielleicht war es vermessen, zu erwarten, dass er auf diesem emotionalen Niveau weitermacht, weiter durchhält.
CHI L'HA VISTA MORIRE? mündet dann relativ plötzlich in etwas, was man wohl einen klassischen Giallo nennen kann und muss, mit Mörderjagd, Befragungen, falschen Fährten, weiteren schauerlichen Morden, einigen Verfolgungsjagden und schließlich dem Showdown nach der überraschenden Entlarvung des Täters. Das ganze mit einer kleinen Überdosis an Wendungen, etwas zu plotgetrieben – dass hier eigentlich ein vor Trauer halb wahnsinniger Vater und nicht ein kauziger Hobbyermittler mit zu viel Freizeit nach einem Mörder sucht, kann leicht vergessen werden. Trauer und Verlust verschwinden, übrig bleibt, wahlweise "leider" oder "immerhin" – ein solider Giallo. Die Enttäuschung, dass CHI L'HA VISTA MORIRE? nicht etwas Größeres geworden ist (etwas wie Lucio Fulcis NON SI SEVIZIA UN PAPERINO, der knapp vier Monate später herauskam – ähnlich durch die Thematik des Kinderserienmords und der finalen Enthüllung), nagt seit der Sichtung an mir und lässt mich nicht los. Ein enttäuschender Film zwar, aber in seiner Enttäuschung trotzdem ganz auf eigene Weise ganz groß.
Wie viele italienische Filme ist auch CHI L'HA VISTA MORIRE? nicht von seiner Musik zu trennen, ja ohne sie geradezu unvorstellbar. Ennio Morricone hat viele unvergessliche Scores komponiert, aber möglicherweise hat er sich hier selbst übertroffen. Als kurz nach dem Prolog, nach dem brutalen Mord an einem kleinen rothaarigen Mädchen im Schnee, mit dem höchst beunruhigenden, vokalisierenden Kinderchor, der Titelsong perfekt getaktet zum blutroten Filmtitel mit den Worten "CHI L'HA VISTA MORIRE?" geradezu aufschrie, jagte mir das ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ebenso bei dem emotional härtesten Moment des Films, dem Mord an Roberta, der parallel mit einer Sexszene zwischen Franco und Elizabeth montiert wird.

Lados erster Film LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO (Italien/BRD/Jugoslawien 1971) bzw. MALASTRANA, wie der Film ursprünglich tatsächlich heißen sollte und schließlich in Deutschland sowie Brasilien hieß, wird oft auch als Giallo bezeichnet, aber das passt nur, wenn man eine sehr offene Definition nutzt – mit Serienmördern in schwarzen Lederhandschuhen hat der Film wenig am Hut. Vielmehr ist er ein sehr intensiver Paranoia-Thriller, der sich von einem sehr latenten Unbehagen (in vielen Szenen an der Grenze der Wahrnehmungsschwelle) langsam steigert bis zu seinen grauenerregenden letzten fünfzehn Minuten und dem absolut ungeheuerlichen, unvergesslichen Finale. Der Vergleich ist eher eine sehr grobe Stütze: LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO steht den Thrillern Roman Polanskis wesentlich näher als dem "handelsüblichen" italienischen Giallo. Atmosphärisch nimmt er eindeutig Francesco Barillis singulären (ebenfalls nur unzureichend als solchen zu bezeichnenden) "Giallo" IL PROFUMO DELLA DONNA IN NERO von 1974 vorweg, dessen Finale dem von Lados Film noch eins draufsetzt – Barilli arbeitete vor seinem ersten und gleichzeitig vorletzten abendfüllenden Kinofilm mit Lado als Drehbuchautor bei CHI L'HA VISTA MORIRE mit.


Sicherlich trägt einiges zur Atmosphäre bei, dass der Film aus der Perspektive eines ganzkörpergelähmten Scheintoten erzählt wird, der in einem Park als "tot" aufgefunden wurde, nun in der Kühlkammer einer Pathologie liegt und sich zu erinnern versucht, wie er in diese Lage kam. Was in anderen Film als ein Eine-Idee-Gag verbraten worden wäre, nutzt Lado sehr geschickt als Element zum Aufbau von Spannung und Unbehagen. Im klassischen, "handelsüblichen" Giallo erforscht meist ein Hobbydetektiv in mondänen Umgebungen Mordfälle, deren Lösung in der Vergangenheit gesucht werden muss. Hier jedoch ist der Hobbydetektiv der Tote selbst, seine Erforschungen finden in seinem Kopf (für uns als Rückblenden statt). Mondäne Umgebungen gibt es in LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO kaum, denn das Prag, in dem es spielt, ist äußerst trostlos, kalt, monochrom-gräulich, verfallen, staubig. Die Kulisse war das reale Prag (gedreht wurde ohne ordentliche Drehgenehmigung, ganz offen, ohne Scheu und teils vor den Augen von Polizisten: niemand konnte sich zwei Jahre nach der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings vorstellen, dass jemand wirklich die Chuzpe haben würde, tatsächlich ohne Genehmigung zu drehen – deshalb wurde die Crew nicht kontrolliert), das Prag der frühen 1970er Jahre, mit seinen bereits sichtbaren Erscheinungen realsozialistischer Vernachlässigung. Was Lado vorschwebte, war keineswegs eine kaltkriegerische Anklage des Kommunismus, sondern ein Plädoyer gegen die autoritäre Herrschaft der Älteren. Lados Prag sieht ein wenig aus wie eine Zombie- oder Vampir-Version von Kafkas Prag: ein Ort zum Paranoid-Werden, bevölkert von komischen Leuten, die mit ihren geisterhaft blassen Gesichtern tatsächlich wie Untote aussehen. (Ich glaube überhaupt, dass der Film seine Kraft mehr aus einer "habsburgischen" denn aus einer "realsozialistischen" Atmosphäre zieht – vielleicht hätte der Film auch in Wien spielen können.)
LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO gehörte zu den großen Highlights des Festivals. Der Film gab dem Festival seinen Titelbanner, war am Samstagabend nach der Preisverleihung an Aldo Lado programmiert, entpuppte sich als der am besten besuchte Block des Wochenendes. Wir wurden alle Zeugen von etwas Besonderem, denn die Kopie aus einem italienischen Archiv war wunderschön. Das Technicolor machte das Blut an den entsprechenden Stellen sehr rot, ansonsten zeigte sich der Film in sehr pastelligen, weichen Farben mit rauchigem Licht, wie unter dem Nebelschleier eines fiebrigen Alptraums – und Lado hat hier einen sehr intensiven Alptraum erschaffen. Genau zu sagen, wie ihm das gelungen ist, fällt mir schwer, weil die ganzheitliche Atmosphäre des Unbehagens stärker wirkt als einzelne Szenen. Wie die physische Kälte des Trafos breitete der Film sein Unbehagen langsam aus: zunächst ist ein kaum bemerkbarer Windhauch an den Füßen, dann kriecht die Kälte langsam an den Beinen hoch, nimmt Besitz vom Oberkörper, packt einen am Nacken und am Ende schüttelt sich der ganze Körper vor lauter Schauern.
Natürlich war da wieder die Musik Ennio Morricones (der zu neun Filmen Lados den Score beisteuerte). Eines der Titel nennt sich "Walzer" (siehe/höre hier), aber hinter den (scheinbar) sanften Elementen begrüßt einen nicht die Leichtigkeit eines Strauss, sondern das Grauen...

Von Aldo Lado liefen noch sein aktuellster Film IL NOTTURNO DI CHOPIN (2013), den ich aufgrund der frühen Terminierung am Sonntagmorgen nicht sah, sowie sein großartiger Rape-and-Revenge-Kracher L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE (1975), der am Samstag Abend als "Italo-Überraschungsfilm" lief (leider nur von einer blu-ray) und den ich sausen ließ, weil ich ihn eine Woche zuvor in "Vorbereitung" auf das Festival schon gesehen hatte. Auf 35mm, allerdings bereits rotstichig, wurde noch L'UMANOIDE (Italien, 1979) gezeigt. In seiner Einführung zum Film hat sich Lado nicht direkt vom Film distanziert, wies aber deutlich darauf hin, dass es nicht das geworden ist, was er eigentlich machen wollte. Von Personen, deren Äußeres nicht der gesellschaftlichen "Norm" entspricht, war Lado stets fasziniert und er wollte einen Film über einen bösartigen Hünen drehen, der in der Begegnung mit einem kleinen Kind langsam lernt, menschlich zu werden. Die Produzenten drangen ihn aber schließlich dazu, einen Star-Wars-Ripoff zu drehen und von der Grundidee blieben vielleicht 5 bis 10 Minuten im fertigen Film zu sehen – tatsächlich einige der schönsten und poetischsten Momente. Gerne würde ich L'UMANOIDE mehr mögen, wäre er im Mittelteil nicht so fürchterlich langweilig, dass einem davon Kopf, Gehirn, Augen und Füße einschlafen.
Dennoch gibt es genug liebenswürdige Momente. Natürlich ist da zunächst das Casting: L'UMANOIDE sieht aus wie eine Star-Wars-Kostümfeier, die irgendjemand in den Drehpausen eines zeitgenössischen James-Bond-Films veranstaltet hat, mit Richard Kiel, Corrine Cléry und Barbara Bach als Stars der Party. Zwischendurch enthält der Film den wahrscheinlich selbstzweckhaftesten Wet-Dress-Moment in der Geschichte des Kinos, wenn Corinne Cléry auf der Flucht vor irgendwelchen Böswatzen durch verschiedene Räume rennt, und schließlich in einen Raum gelangt, in dem aus völlig unerklärlichen Gründen ein Wasserbecken eingelassen ist – in das sie natürlich hineinfällt, damit sie für die nächsten Minuten zur Freude der geneigten Zuschauer mit feucht-durchsichtigem Kleid durch die Gegend rennen muss. Währenddessen labte sich Barbara Bach als oberböse Galaxis-Hexe am Blut junger Frauen, deren Lebenssaft sie dadurch gewinnt, dass sie ihre Opfer in eine futuristisch-durchsichtige Variante einer Eisernen Jungfrau mit langen Injektionsnadeln hineintreibt – gruselig, aber nicht ganz so gruselig wie die Tatsache, dass die Frau, die in einem anderen Film die schöne Anja "Triple X" Amasova spielte, auf dem Kopf ein totes und offenbar schwer verstümmeltes Pelztier trägt. Darth Vader wird von Ivan Rassimov fast inkognito, dafür mit aber mit einem wesentlich eindeutigeren S&M-Touch gespielt – mehr schwarzes Leder als glänzendes Metall! Außerdem braucht er keine Waffen: er schießt die blauen Blitze einfach so aus seiner Hand. R2-D2 ist in L'UMANOIDE auch kein stinklangweiliger Roboter, sondern ein Roboter-Hund und ist als solcher auch unglaublich sympathisch: er wedelt regelmäßig mit dem Schwanz, rettet zwischendurch mit eben diesem durch unfreiwlliges Drücken eines Knopfs seine Leute und uriniert (sic! ja, wirklich!) zwischendurch klebrig-gelbe Pfützen, auf denen die Böswatze ausrutschen und sich flachlegen können. Und jeder Film, in dem Richard Kiel einen Stahlträger irgendwo herausrupft, diesen schwungvoll wirft und damit gleich ein halbes Dutzend Gegner, die sich dafür extra in eine Linie aufgereiht haben, köpft, kann nicht vollkommen schlecht sein! Diese Aufzählung ist letztlich doch eine eher kleine Summe, die nie ein Ganzes bildet, aber immerhin sind es viele Gründe, diesen Film zu mögen zu versuchen. Zumindest ein bisschen. Ein kleines bisschen...

Ein bisschen... natürlich auch, weil Aldo Lado sich im Verlauf einiger Tage als äußerst liebenswürdiger Mensch erwies, der sich sehr freute, dass verhältnismäßig junge Menschen sich so sehr für sein Werk interessierten und begeisterten. Äußerst freundlich, das Beste aus elegantem Gentleman und coolem Bohemien kombinierend, einem kleinen Bier, deutschen Kroketten und einigen Zigaretten nicht abgeneigt, war Aldo Lado ein bisschen wie ein dritter Großvater, den einige von uns gerne gehabt hätten. Am ersten Abend, bei einem Essen mit den anwesenden Zuschauern in einem dem Trafo-Paradies nahe gelegenen Lokal, plauderte er aus dem Nähkästchen über seine Jugend, über seine Arbeit nach dem Zusammenbruch der italienischen Filmindustrie in den Achtzigern und vielem mehr... Lado war dann auch mehr als nur ein Ehrengast, sondern auch ein leidenschaftlicher Zuschauer. Seine eigenen Filme schaute er erwartungsgemäß nicht und ging in dieser Zeit immer durch Jena spazieren, aber mit großem Enthusiasmus schaute er mehrere Filme aus dem DEFA-Programm: mit nur sehr rudimentären Deutschkenntnissen schaute er die Filme, ohne die Dialoge zu verstehen und ließ sich einzig von den Bildern mitreissen und begeistern. Einen anwesenden deutschen Kameramann fragte er beim Q & A gar nach den verwendeten Kameras, Objektiven, Linsen. Mit 83 Jahren so leidenschaftlich film-entdeckungsfreudig, wie manch 20-Jähriger es nur träumen kann...

Zweifelsohne war Elio Petris INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO (Italien 1970) außerhalb der Lado-Retrospektive der Höhepunkt des italienischen Programmblocks. Für mich war es eine Erstsichtung, auch wenn ich den Film schon als kleiner Schuljunge vor über zwanzig Jahren bereits "kennen lernte": die Titelmelodie war einer der vielen Scores auf meinem persönlichen Ennio-Morricone-Mix-Tape, das ich auf Grundlage einer Ennio-Morricone-Best-Of-CD aus der brüderlichen Diskografie zusammengestellt hatte.


Petri ist im Grunde ein Thesenfilm gelungen, der sich nicht wie ein Thesenfilm anfühlt und präsentiert das geradezu dystopische Portrait eines nach ultrarechts abdriftenden Staatsapparats, der nur noch seiner eigenen Logik folgt und eine konsequente Sündenbock-Politik betreibt: gegen Frauen, Schwule, progressive Studenten. Ultrarechte Wirrköpfe, die an entscheidenden Stellen in Justiz und Polizeiapparat sitzen, sind leider bekanntermaßen nicht nur eine Fantasie linker italienischer Regisseure der 1970er Jahre. Nur wenige Tage vor der Projektion dieses fast 50 Jahre alten Films hatte sich ein gewisser Beamter des Innenministeriums mit Äußerungen bemerkbar gemacht, die man eher von Aluhutträgern erwarten würde, deren Beobachtung eigentlich zur Zuständigkeit eben dieses dieses Beamten gehört – kurz danach hat er zur "Strafe" eine Beförderung bekommen, die mittlerweile doch rückgängig gemacht wurde, aber das ändert nichts daran, dass INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO oftmals keineswegs absurd, kafkaesk, übertrieben oder grotesk wirkte, sondern von einer verblüffenden Aktualität und Wirklichkeitsnähe.
Unabhängig von dem, was der Film über Politik zu sagen hat, ist Petri auch ein exzellenter Film über männlichen, (selbst)zerstörerischen Größenwahnsinn gelungen. Der perfide Dottore dient nicht nur einem allmächtigen autoritären Staatsgebilde bzw. der Idee davon, sondern auch seinem eigenen Ego, seinem Narzissmus. Gian Maria Volonté verkörpert diesen scheusslichen Narzissten grandios, und in sehr kurzer Zeit reisst er den Film komplett an sich. INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO ist nicht nur Petris, nicht nur Morricones, sondern vor allem Volontés Film. Er bringt einen dazu, es zu lieben, den Dottore zu hassen. Und gegen Ende vielleicht sogar ein bisschen mitzufühlen, als er nach und nach immer mehr zusammenbricht, aus Verzweiflung darüber, dass es sein Ego ebenfalls enorm kränkt, wenn man ihn des Mordes an seiner Geliebten auch trotz größter Bemühungen nicht verdächtigt bzw. nicht verdächtigen will.
(In LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO, den ich noch nicht gesehen habe, soll Volonté noch großartiger sein und Morricones Score noch nervenzerfetzender. Der Film würde rein vom Titel natürlich super für eine Projektion in Jena passen und musste erst mal in Form eines hoffentlich verzeihbaren Wortwitzes für den Titel dieses Textes herhalten).

INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO war der zweite und wesentlich rabiatere Teil eines inoffiziellen Double Features "Justiz und Polizei gehen (rechts) den Bach runter". Vorher lief IL VERO E IL FALSO (Italien 1972) von Eriprando Visconti, dem Neffen des wesentlich berühmteren Luchino. Es geht um eine Frau (Paola Pitagora), die zu Unrecht des Mordes an der Geliebten ihres Mannes angeklagt und verurteilt wird. Nachdem sie ihre Strafe abgesessen hat, trifft sie zufällig die Frau, die sie angeblich ermordet haben soll – und ermordet sie dann tatsächlich. Ihr damaliger Anwalt (Terence Hill) steht nun im Gerichtssaal zum zweiten Mal dem skrupellosen, karrieristischen Staatsanwalt (Martin Balsam) gegenüber. Der hatte im ersten Prozess eine entlastende Zeugin erbarmungslos eingeschüchtert, um zum Wohle seiner Karriere den Fall um jeden Preis zu gewinnen.


Neben einem ganz soliden Terence Hill in einer ungewöhnlichen, ernsthaften Rolle und einer exzellenten Paola Pitagora, die ihrer Figur Verletzlichkeit und Tragik verleiht, ist es vor allem eine Wonne, Martin Balsam als verabscheuungswürdigen, opportunistischen Karrieristen zu sehen, der ohne mit der Wimper zu zucken Zeuginnen wegen Meineid zu einem Monat Haft verurteilt, wenn ihre Aussagen ihm nicht passen und es offensichtlich recht locker nimmt, wenn ihm seine Frau beim Besteigen der Karriereleiter hilft, indem sie mit noch höher gestellten Justizbeamten schläft (das wird sehr schön in einem einzigen Bild aufgelöst: er und seine Frau haben gerade seinen Vorgesetzten zu einem Cocktail bei sich zu Hause, als er wegen eines dringenden Termins aufbrechen muss; der Vorgesetzte und die Frau warten nicht mal, bis der Staatsanwalt draußen ist, um auf der Couch rumzumachen, der Staatsanwalt steht noch im Korridor vor der Wohnungstür und hört sich das, offenbar nur sehr wenig angefressen, an, bevor er schließlich geht – das ganze in einem einzigen Scope-Bild erzählt.) Ja, Balsam hat 1972/73 in einigen italienischen Filmen mitgespielt. Einer der Kuratoren des Terza Visione, der als Dauerkartenbesitzer anwesend war, erzählte dann auch, dass einige amerikanische Darsteller in den 1970er Jahren nach Italien kamen, wenn es in den USA gerade nicht so gut lief: die Bezahlung war nicht so gut wie in den USA, dafür wurden sie aber von der italienischen Filmindustrie sehr hochachtungsvoll behandelt und konnten nebenbei sich etwas im schönen Italien entspannen. Tatsächlich wirkt Balsam ziemlich entspannt.
IL VERO E IL FALSO war sicherlich kein großes Highlight des Festivals, aber dennoch ein ganz guter Start in den Samstag. Die Grundidee (wenn man für einen Mord verurteilt wird, kann man nach Absitzen der Strafe nicht für das selbe Verbrechen verurteilt werden) hätten andere Filme wahrscheinlich zu Tode geritten und gemolken, hier ist sie im Prinzip nur ein Aufhänger für einen figurenzentrierten Film. Nichts spektakuläres, nichts aufregendes, eher kurzweilig und nett. Ein gutes Aufwärmen für den darauffolgenden INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO.


Zu den meist erwarteten Filmen des Festivals gehörte SACCO & VANZETTI von Giuliano Montaldo (Italien/Frankreich 1971), den ich in meiner Kindheit wohl irgendwann schon mal gesehen hatte – damals, weil mich natürlich der tolle Score begeistert hat, den ich regelmäßig auf meiner selbstgemachten Kassette hörte. Als Schuljunge konnte ich mit dem Film nicht viel anfangen, aber ich war ja wahrscheinlich auch zu unreif. Knapp zwanzig Jahre später hat mich der Film, der als zweiter Block am Eröffnungstag lief, leider wieder enttäuscht. Die erste halbe Stunde ist erst einmal nicht weniger als atemberaubend. Die semidokumentarischen, schwarzweiß gefilmten Handkamerabilder der antikommunistischen Razzien im Prolog haben es tatsächlich in sich und sind auf ganz unmittelbare Weise emotional und beklemmend (was Morricones Score noch verstärkt). Die ersten Gerichtssitzungen überraschen mit ihrer tumultartigen, chaotischen, unkontrollierten Atmosphäre: alles geht drunter und drüber, alles redet durcheinander – und zwischendurch sehen wir Rückblenden mit harten Crashzooms auf die Gesichter der Zeugen zum Zeitpunkt des diskutierten Verbrechens. Ich behelfe mich mal mit Parallelen, aber die erste halbe Stunde wirkt tatsächlich, als hätte hier Alain Resnais in HIROSHIMA-MON-AMOUR-Sturm-und-Drang-Laune ein puzzleartiges Anarchisten-Biopic inszeniert. Dann wird es zunehmend ruhiger und auch zunehmend anstrengender, bis wir an dem Punkt sind, wo SACCO & VANZETTI so wirkt, als hätte Bertolt Brecht mit großen didaktischen Gesten eine besonders scharchige Folge von PERRY MASON im Sozrealismus-Stil gedreht. Die audiovisuellen Attacken und Irritationen der ersten halben Stunde weichen einem allzu gemütlichen und statischen Gerichtsfilm mit stark predigendem Ton (Unterton wäre zu wenig gesagt). Wohlgemerkt stehe ich der politischen Haltung des Films keineswegs negativ gegenüber – aber linkes Kino gab es im Paradies sowohl bei Lado wie auch bei Petri in wesentlich interessanterer und aufregenderer Form zu entdecken. Trotzdem war es natürlich ein Ereignis, diesen Film auf 35mm wieder zu sehen. Alleine für die atemberaubende erste halbe Stunde!

Das DEFA-Programm (oder: das inoffizielle Jaecki-Schwarz-Festival)
Die DDR war kein Paradies, aber trotzdem wurden in diesem Land zahlreiche Filme gedreht, denen man kaum anmerkt, dass sie in einer miefigen, spießigen, provinziellen, gleichermaßen politisch, sozial sowie kulturell repressiven und wortwörtlich wie mental eingemauerten Diktatur entstanden sind. Filme, die selbst ihr kleines Paradies erschaffen – in das sie dann mit eskalierenden Kinderstreichen, verirrten Amorspfeilen und delirierenden Tanzchoreografien ein bisschen wohltuendes Chaos einpflanzen.

Wenn man bei den Anfangs-Credits von DIE SCHÖNSTE (Ernesto Remani: DDR 1957 / Deutschland 2002) die Hinweise auf die DEFA rausnähme, würden viele Zuschauer annehmen, eine stark amerikanisch geprägte westdeutsche Komödie zu sehen, und das liegt nicht nur am westdeutschen Setting, sondern an seiner sinnlichen Lust an schönen, opulenten, bunten und glänzenden Dekoren und Kostümen. Ja selbst für eine durchschnittliche westdeutsche Komödie dieser Zeit ist der Film fast zu barock – da denkt man eher an die Werke eines gewissen deutschen Emigranten in Hollywood...
Aber zuerst ein paar Worte zur interessanten und sehr schwierigen Rezeptionsgeschichte... Der 1957 gedrehte DIE SCHÖNSTE war der erste DEFA-Film, der komplett verboten wurde. Der südtirolische Regisseur Ernesto Remani, geboren Ernst Rechenmacher, dessen etwas dubiose Vergangenheit (Mitglied der italienischen faschistischen Partei, Aufsteiger während des Dritten Reichs, Produzent in der besetzen Tschechoslowakei, nach dem Zweiten Weltkrieg für mehrere Jahre nach Südamerika emigriert, damit man ihn in Europa etwas vergisst) vorher keine Rolle gespielt hatte, bekam Einreiseverbot. Sein Film wurde stark geschnitten, umgeschnitten, mit vielen nachgedrehten Szenen versehen – und dann schließlich auch in der verstümmelt-editierten Fassung wieder verboten. Als die Wende kam, wurde er schlicht vergessen: in das öffentliche Interesse gerieten 1989 und 1990 die Filme, die im Zuge des "Kahlschlag-Plenums" von 1965 verboten wurden (z. B. DAS KANINCHEN BIN ICH oder KARLA). DIE SCHÖNSTE bekam später Aufmerksamkeit und erlebte seine Weltpremiere erst im Jahre 2002, ganze 45 Jahre nach seiner Fertigstellung.
Handlungsort ist Westberlin. Der kleine Sohn eines steinreichen Ehepaars streitet sich mit seinem besten Freund, Sohn des Inhabers einer nahegelegenen Autowerkstatt, darüber, wer von den beiden die schönere Mutter habe. Der Junge mit der reichen Mutter kann mit deren Bildern in einer Revue über die Reichen und Schönen der Stadt prahlen – ihre Schönheit liege aber doch bestimmt nur an der glänzenden Halskette, so der Arbeitersohn. Beide beschließen, ihrer Mutter jeweils den wertvollsten Schmuck zu klauen, um zu demonstrieren, dass deren Schönheit auch ohne Klunker besteht. Gesagt, getan, doch bei einer Soiree in der Villa führt das "verschollene" (und vor allen Dingen: noch nicht abbezahlte!) Collier zu einem kleinen Skandal: statt wie geplant dank seiner schön geschmückten Ehefrau gute Geschäfte abschließen zu können, gerät der Papa des kleinen Diebs in die Bredouille, seine Kreditwürdigkeit platzt wie eine Seifenblase, er sieht sich vor dem Ruin stehen, und seine Ehefrau muss am Ende möglicherweise gar für ein Darlehen ihren Körper einem der Geschäftspartner anbieten. Währenddessen suchen die beiden Jungs verzweifelt nach dem nunmehr wirklich verschollenen Collier, und das führt sie bis nach Hamburg!
DIE SCHÖNSTE handelt von kapitalistischer Dekadenz, von der Verkommenheit des Geldadels, davon, dass schneller Reichtum nur eine Illusion ist: das klingt alles erst mal durchaus im Sinne der realsozialistischen Ideologie in der DDR, aber das absolut "Böse" wird in diesem Film einfach viel zu sinnlich, verführerisch, geradezu erotisch dargestellt. Die opulent eingerichtete Villa, mit ihren riesigen Räumen, ihren weichen, flauschigen Teppichen, ihren glänzend-glitzernden Lichtern, dem elegant dunklen Holz der Möbel, den blitzblanken Spiegeln – das könnte alles nach DDR-Begriffen Sodom und Gomorrha sein, und im Prinzip ist es das auch, aber der Film zeigt andererseits doch ganz klar: Luxus ist unendlich sexy! Bei so viel visuell gefeierter Glanz und Glorie wurde den fleißigen ostdeutschen Zensoren wohl ganz übel. Dass die Wohnung der Arbeiterfamilie selbst ziemlich bequem aussieht, diese zu Weihnachten ohne jegliches Klassenbewusstsein nicht nur flaschenweise Sekt vernichtet, sondern auch Konservendosen mit Ananas (sic! Südfrüchte!) und Orangen (sic!! noch mehr Südfrüchte!), als würden diese einfach vom Himmel regnen – nein, so etwas Dekadentes und Verkommenes konnte man den Zuschauern in ostdeutschen Kinos niemals zumuten, so Ralf Schenk von der DEFA-Stiftung in seinem einführenden Vortrag über die schwierige Editionsgeschichte des Films. DIE SCHÖNSTE badet visuell völlig hemmungslos in dem Luxus, den er auch ein bisschen verurteilt. Der einzige Abstecher aus dem engeren Umkreis der herrschaftlichen Villa führt die Zuschauer dann noch weiter weg, nach Hamburg, in das Hafenviertel, wo die Jungs schließlich das Collier wieder finden, dafür aber von der Polizei verfolgt werden und nur dank der Hilfe äußerst zwielichtiger Gestalten aus der kriminellen Hafenunterwelt entkommen können.
Remani ist nicht nur ein wunderschöner Film gelungen, sondern auch eine herausragende Komödie mit einem perfekten Timing. Alles geht wie am Schnürchen, die Gags geben sich locker die Klinke in die Hand, und als Zuschauer wird man fröhlich zwischen Gelächter und dem Staunen ob der spektakulären Schauwerte und zwischendurch auch der verblüffenden Schmierwerte hin- und hergerissen.
Zwei kleine Details noch... In einem etwas ernsteren Moment – der Ruin der Familie ist geradezu greifbar – steht die Ehefrau vor einer Fensterfront, auf der einen Seite eingerahmt von einem Stück Vorhang, in einem prachtvollen blauen Kleid (ich glaube es war blau) gekleidet, aber mit einem tieftraurigen Blick im Gesicht. In diesem Moment steht gerade kurz davor, sich für ein bisschen Geld an einen der Geschäftspartner ihres Mannes zu verkaufen, um den ganzen Luxus, der um sie herum schweigend, still und doch furchtbar obszön vor sich hinprotzt, zu retten. "Douglas Sirk!" war der Gedanke, der mir wie ein Blitz durch den Kopf schoss. Diese Art, eine wohlhabende und trotzdem todunglückliche, weil von den drückenden Fesseln gesellschaftlicher Zwänge eingeschnürte Frau durch ein Fenster zu filmen... Mit seinem gierigen Auge für visuell barocken und doch emotional leeren Luxus wirkte DIE SCHÖNSTE tatsächlich Sirk'ianisch.
Des weiteren war die Farbe Schwarz in diesem Film geradezu radioaktiv aufgeladen: jegliches Stück schwarzer Kleidung strahlte in DIE SCHÖNSTE einen kleinen Halo aus. Der elegante schwarze Anzug des kleinen Jungen, die Smokings der Herren und vor allem die pechschwarze Pelzmütze der persönlichen Kostümdesignerin des Hauses – sie alle schienen innerlich zu strahlen und waren von einem leichten Lichtschimmer umgeben. Das hat nicht mal Sirk in Hollywood auf diese Art hinbekommen!

Dass die DEFA durchaus dazu in der Lage war, sich hinter der Mauer ein eigenes kleines Heiligholz aufzubauen, demonstrierte auch das Musical REVUE UM MITTERNACHT aus dem Jahr 1962, inszeniert von Gottfried Kolditz (dessen irrsinniger, geradezu psychedelischer Science-Fiction-Film IM STAUB DER STERNE ich hier schon besprochen habe).


Ein findiger Produzent lässt einige Künstler – einen Autoren, einen Komponisten, einen Dramaturgen – entführen und in eine Villa bringen. Dahinter steckt allerdings keine verbrecherische Absicht, nein: es soll einfach nur ein Revuefilm vorbereitet und später gedreht werden. Das versammelte Personal sitzt also in nun eingesperrt in dieser Villa und denkt sich allerlei aus... Die rudimentäre Rahmenhandlung ist geradezu ein putziges kleines Feigenblättchen, damit REVUE UM MITTERNACHT sich konzentriert und ganz ungestört einem einzigen Rausch aus Revuenummern hingeben kann. Natürlich gibt es nebenbei noch eine kleine, obligate Romanze zwischen der Produktionsassistentin Claudia (Christel Bodenstein) und dem Komponisten Alexander (Manfred Krug), und mehrere versuchte und geglückte Ausbruchsversuche der Künstler, die nicht alle begeistert davon sind, an einem Revuefilm mitzuarbeiten. Aber das ist sozusagen Beiwerk bzw. das I-Tüpfelchen in einem Film, der ohne jegliche Scham und Hemmung, dafür aber mit umso genussvoller mit spektakulären Tanz- und Revuenummern in wunderbarer Totalvision-Agfacolor-Farbpracht badet. REVUE UM MITTERNACHT braucht sich in seinen Musical-Nummern keinesfalls vor seinen Hollywood-Vorbildern zu verstecken, ganz im Gegenteil. Zu Beginn ist das noch eine Abfolge von Nummern, die einzig in der Vorstellungswelt der zusammengebrachten Künstler bestehen: "stell dir vor, so und so sähe das aus"... und dann sehen wir es. Die Nummern und Rahmenhandlung sind separate Entitäten. Im weiteren Verlauf des Films löst sich die Rahmenhandlung aber immer mehr in den Musical-Nummern auf und mündet schließlich in eine ausgedehnte Suche Claudias und des Dramaturgen (?) nach dem verschollenen Alexander, die als eine lange Musicalnummer präsentiert wird. Die Revue siegt schließlich über die Realität!
Wer Musicals nicht mag, wird REVUE UM MITTERNACHT wahrscheinlich nicht ausstehen, weil es wohl wenige Musicals gibt, die so "selbstzweckhaft" sind – sozusagen ohne "Handlung", die die Nummern groß unterbrechen könnte. Alle Nummern spielen sich zudem in gebauten, stilisierten Bühnenkulissen ab: REVUE UM MITTERNACHT feiert hemmungslos seine eigene Künstlichkeit. Ich persönlich hatte zwischendurch Angst, dass der Film sich nach dem fulminanten Start "verwässern" würde, dass er der Vorstellung, wonach Film ja irgendeine "Geschichte" "erzählen" müsse, nachgeben würde. Er tat es zu meiner großen Erleichterung nicht.
Warum ich diesen Film so lieb gewonnen habe, wurde mir spätestens an einer Stelle klar. Das Tanzen und Singen hat sich an einer stilisierten Tankstelle verlagert. Zu sehen sind große Zapfsäulen mit durchsichtigen Behältern, und darin sprudelt das Benzin in einem geradezu blendenden Orange (dieses Agfacolor auf dieser wunderschönen 35mm-Kopie!) – als wäre das überhaupt kein Benzin, sondern ein erfrischender Cocktail, der nur darauf wartet, das man ihn sich in ein Glas zapft.
REVUE UM MITTERNACHT war vielleicht der Höhepunkt des Paradies-Festivals. Wäre da natürlich nicht Lados Debütfilm...

...Oder DU UND ICH UND KLEIN-PARIS (1971). In seiner Leipziger "rom com" erzählt Werner Wallroth von der schwierigen Liebe zwischen dem Philosophiestudenten Tommy (Jaecki Schwarz) und der eben kürzlich in die Stadt gezogene Abiturientin Angelika (Evelyn Opoczynski). Es ist eine schwierige Liebe, weil beide zunächst – im Gegensatz natürlich zum Zuschauer – überhaupt nicht merken, dass sie ineinander verliebt sind. Angelika hat zahlreiche Verehrer, unter anderem der Leutnant, der sich schon auf ihrer Fahrt gen Leipzig an sie rangemacht hat. Tommy ist davon genervt, dass die junge Frau nicht nur sein größeres Zimmer vermietet bekommt und er in ein kleineres umziehen muss, dass sie zu lange im Bad bleibt: auch die endlose Schar an Besuchern, die um sie werden, geht ihm auf die Nerven – wecken zugleich aber auch seinen Beschützerinstinkt...


Klingt wie eine konventionelle Liebeskomödie? Im Prinzip ist DU UND ICH UND KLEIN-PARIS das auch, wenn man das auf dem Papier sieht. Auf einer farbkräftigen 35mm-Kopie in absolut glorrreichem Scope sieht das aber noch mal viel großartiger aus. Schon in den ersten Minuten entwickelt der Film einen ungeheuren Sog, mit atemberaubenden Montagen, die um etwa 30 Jahre das vorwegnehmen, was man wohl als Wes-Anderson-Stil bezeichnen könnte, bloß weniger kalt und mechanisch. DU UND ICH UND KLEIN-PARIS ist überhaupt nicht kalt, sondern ein Film voller Lust. Vor allem voller Lust an der Farbe Rot, an roten Schildern, Jacken (James Dean alias Jimmy Stark wäre auf die knallrote Lederjacke Angelikas schwer neidisch geworden!), Socken, Hosen, Schals, Fahrradshirts, Mützen, Polstergarnituren, Bademänteln, Haarschleifen, Fahrradhelmen, Töpfen, Luftballons, Spielbälle, Autos. Man muss nicht lange warten in diesem Film, bis die lustvollste und sinnlichste aller Filmfarben wieder auftaucht.
Und dann dieses Scope! Heutzutage ist es fast ein Standardformat (auch wenn die aktuelle "Qualitätsserien"-Mode offenbar das 16:9 immer mehr als "heutige Sehgewohnheit" durchzuprügeln scheint), mit dem aber oft nichts angefangen wird. In DU UND ICH UND KLEIN-PARIS ist ein müheloses, atmendes, spielerisches Scope zu sehen. Ein Scope, der genau weiß, wie erotisch es ist, eine von unruhigen, vielleicht sinnlichen Träumen geplagten schlafende Person von oben quer zu filmen – und dieses mit einer anderen unruhig schlafenden Person im nächsten Raum zu montieren. Was für ein fantastisches Bild für ein unbewusstes, gegenseitiges Begehren, das unsere beiden sympathischen Protagonisten von innen verzehrt!
Bei aller formalen Meisterschaft bleibt DU UND ICH UND KLEIN-PARIS tatsächlich immer spielerisch, und nimmt sich auch Zeit für ausgiebige Exkurse. Am liebsten gefiel mir, wie die Vermieterin (Angelikas Leipziger Tante) in die Wohnung nach einem abendlichen Rendezvous zurückkehrt. Da lässt der Film Tommy und Angelika auch mal alleine, begleitet die offensichtlich nach ihrem Date sehr gut gelaunte Tante in die Küche, wo sie sich erst mal ein geradezu grotesk riesiges XXL-Gurkenglas aus dem Schrank holt und sich erst mal eine schöne, große Gurke gönnt.
Auch wenn ich die Qualität der Icestorm-DVD fürchte, würde ich diesen Film gerne demnächst noch mal schauen. An diese fantastische 35mm-Projektion, die das Paradies-Festival am Sonntagabend fulminant abschloss, wird das leider niemals rankommen...

Im DEFA-Programm des Paradies-Filmfestivals gab es natürlich nicht nur kunterbunt-fröhliche Fantasiewelten zu sehen. Maxim Dessaus ERSTER VERLUST (DDR/Deutschland 1990), eine Adaption von Brigitte Reimanns Erzählung "Die Frau am Pranger", bot mit seinen düsteren Schwarzweißbildern und seinem trostlosen Setting in einem deutschen Bauerndorf während des Zweiten Weltkriegs ein drastisches, gleichwohl faszinierendes Kontrastprogramm zu DU UND ICH UND KLEIN-PARIS und Co.


Wir befinden uns also in einem deutschen Dorf in den frühen 1940er Jahren. Die Bevölkerung besteht fast nur aus Frauen, älteren Männern – und Kriegsgefangenen, die als kostenlose Arbeitskraft den kriegsbedingten Personalmangel bei der Bestellung der Felder ausgleichen sollen. Manchmal gleichen sie auch andere Sachen aus. Zu Beginn schläft eine Frau mit einem Mann – wenig später kommt heraus, dass es sich um einen französischen Kriegsgefangenen handelt, der kurz darauf an einen anderen Ort gebracht wird. Der Hof von Kathrin und Frieda, der Hauptschauplatz des Films, ist nun wieder ohne männliche Arbeitskraft. Zwischen beiden Frauen herrscht eine starke, unterschwellige Animosität, die daher kommt, dass sie zwei Menschen sind, die nur durch einen anderen Menschen miteinander verbunden sind – einen Mann, der Bruder der einen Frau, der überhastet vermählte Ehemann der anderen, der gerade an der Front ist. Durch das Fehlen des Bruders bzw. Ehemannes sind beide Frauen dazu verdammt, gemeinsam zu leben. Kurz nach dem Abtransport des französischen Kriegsgefangenen wird eine Gruppe von sowjetischen Kriegsgefangenen in das Dorf gebracht. Die beiden Frauen stellen einen Antrag auf einen Helfer für ihren Bauernhof, und bekommen Alexei zugeteilt, einen vollkommen ausgemergelten, stark apathischen, womöglich schwer traumatisierten Gefangenen. Trotz seiner Apathie weckt Alexei bald ein ambivalentes Begehren in den beiden Frauen. Es entwickelt sich etwas, was man – wäre Alexei freiwillig in dieser Situation – als sadomasochistisches Dreiecksspiel bezeichnen könnte.
ERSTER VERLUST ist ein sehr intimer Film über unfreiwillige Nähe, unterdrückte Leidenschaften, über die Banalität des Niederträchtigen, über komplex verzweigte soziale Hierarchien. Es geht um sexuelle Spannung, um "Liebe" (ohne Anführungszeichen wäre es das falsche Wort), die nicht zwischen gleichberechtigten Partnern entsteht, sondern aus einem komplexen Herrschaftsverhältnis. Die beiden Frauen, die Alexei zunehmend begehren, lassen immer wieder ihren Frust über eben ihr unterdrücktes Begehren, über ihre unglückliche Wohnsituation auf oft grausame Weise an Alexei aus: beschimpfen ihn, schreien ihn an. Sie selbst sind aber nicht nur Herrscherinnen über Alexei, sondern selbst einem Herrschaftsverhältnis unterworfen. Als Deutsche gelten sie im Dritten Reich natürlich als Nicht-Deutschen überlegen, aber als Frauen sind sie doch Personen zweiter Klasse. Sie sind auf das Wohlwollen eines älteren Soldaten (Jaecki Schwarz) angewiesen, der sich in der Administration für sie einsetzt – und das offenbar nicht nur aus uneigennützigen Gründen. Der namenslose Soldat ist nicht mehr kriegstauglich, aufgrund einer Verletzung hinkt er zudem leicht, ein potentiellen Aufstieg in der Armee wird für ihn nicht mehr kommen und ob das Dorf seine Heimat ist oder er dort an der "Heimatfront" abkommandiert ist, bleibt meiner Erinnerung nach unklar. Jedenfalls: auch keine besonders angesehene Person, zumal als älterer lediger Mann auch noch in einer zusätzlichen Außenseiterposition. Seine persönlichen Frustrationen baut er ab, indem er sich an die beiden Frauen heranwirft. Zunächst während eines gemeinsamen, abendlichen Umtrunks, der auch in einen gemeinsamen Tanz mündet – der vielleicht ausgelassenste Moment im Film. Später überrascht er eine der beiden Frauen (ich weiß nicht mehr, welche; ich glaube die Schwester des abwesenden Hausherren) in der Scheune, wie sie sich gerade intim an Alexei heranmacht. Im beklemmendsten Moment des Films wird er nicht wütend, droht nicht damit, die Frau zu denunzieren – nein, er teilt ihr kaltblütig für den kommenden Abend ein Rendezvous inklusive festem Termin und Ort mit und geht dann weg.
ERSTER VERLUST ist auch ein sehr vielschichtiger Film über das Dritte Reich. Wo der "klassische" Nazi-Film gerne mit schreiend-brüllend-sadistischen Nazi-Karikaturen in schnittigen Armeeuniformen aufwartet, hält sich Dessaus Film angenehm zurück und zeigt etwas, was der historischen Realität wohl näher kommt: Menschen, die das System des Nationalsozialismus so gut verinnerlicht haben, dass sie es gar nicht mehr groß zu thematisieren brauchen; die Russen völlig selbstverständlich als Untermenschen bezeichnen; die offene, meist aber eher latente und strukturelle Gewalt als selbstverständliches, alltägliches Mittel der Konfliktlösung nutzen – sei es, indem sie einen sowjetischen Gefangenen demütigen oder Frauen zu sexuellen Diensten erpressen.
Ich muss zugeben, dass ich eine ganze Weile gebraucht habe, um in diesen extrem langsamen Film reinzukommen. Während der Sichtung wuchs mein anfänglicher Respekt jedoch zu immer größerer Bewunderung, schließlich in Faszination. Am augenscheinlichsten sind natürlich die fantastischen, elegischen Schwarzweißbilder, die oft in sehr langen Takes das Geschehen festhalten. Unvergesslich, weil trotz ihrer "Trivialität" sehr beunruhigend, sind die immer wieder zwischendurch, als "pillow shots" eingesetzte Bilder eines Weizenfeldes, das vom Wind durchweht wird. Am Anfang wirkten sie beliebig, aber jedes weitere Weizenfeldbild bekam dann mit der Zeit mehr und mehr Spannung.
ERSTER VERLUST wurde in einem thüringischen Dorf gedreht und war somit gewissermaßen ein "regionaler" Beitrag zum Festival. Der Dreh verlief wohl alles andere als harmonisch. Während in dem Dorf dieser ruhige, fast meditative Film mit seiner Geschichte aus der Vergangenheit gemacht wurde, ging es in der europäischen und deutschen Tagespolitik drunter und drüber. Ein Teil der Crew, der die aufkeimende Opposition unterstützte, wollte ausführlicher und länger über Tagespolitik debattieren, als es der enge Drehplan vorsah, und warf dem Regisseur Maxim Dessau vor, ein dogmatischer Regimeanhänger zu sein – eine Spannung, die wohl während des kompletten Drehs anhielt.
Mehr als die Spannungen beim Dreh brachte aber die gewandelte Kinokultur der untergehenden DDR den Film um zahlreiche Zuschauer: gelockerte Einfuhrbeschränkungen für westdeutsche und amerikanische Filme führten dazu, dass sich ein großer Teil des ostdeutschen Publikums noch viel weniger für "sperrige" Schwarzweißfilme "made in GDR" interessierte. ERSTER VERLUST kam am 6. Oktober 1990 (manche Quellen nennen den 5. Oktober) in die Kinos: weltgeschichtlich wohl einer der schlechtesten Premierentermine aller Zeiten, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu generieren. Der von den Zuschauern weitestgehend ignorierte Film bekam, so Kameramann und Co-Drehbuchautor Peter Badel, wohl eine gute und eine schlechte Filmkritik in zwei verschiedenen Zeitungen, sprich: auch da kaum Aufmerksamkeit.
Badel war beim Screening von ERSTER VERLUST dabei, führte danach ein Podiumsgespräch und beantwortete in einem Q & A Fragen aus dem Publikum. Die Frage, ob der visuelle Stil des Films von Tarr Belá beeinflusst sei, verneinte er mit der Begründung, dass er Tarrs Filme zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. Badel sprach zudem nicht nur über die wie bereits erwähnt sehr schwierige Situation beim Dreh, sondern auch über technische Herausforderungen: die Kamera-Crew wurde von Regisseur Maxim Dessau wohl dazu gezwungen, mit musikbeschallten Kopfhörern zu arbeiten, um sich beim Filmen nicht am Dialog, sondern ausschließlich an der Bewegung der Darsteller zu orientieren.
Zu den Zuschauern, die ERSTER VERLUST mit großer Begeisterung sahen, gehörte auch Aldo Lado, der wie die Kameracrew beim Dreh wohl so gut wie nichts von den Dialogen mitbekommen konnte. Als das Q & A mit Kameramann Peter Badel eröffnet wurde, meldete er sich gleich als erster, sprach seine große Bewunderung für den visuellen Stil des Films aus, lobte die Intensität der Bilder, die er auch ohne die Dialoge zu verstehen gespürt hatte und fragte Badel ausführlich über die verwendeten Kameras, Objektive und Linsen aus. Das war wahrscheinlich eine der schönsten Offenbarungen cinephiler Offenheit und Neugier, die ich letztes Jahr erlebte: ein über 80 Jahre alter Herr setzt sich in einen vollkommen obskuren, vergessenen Film rein, von dem er kein Wort versteht...

Mit mehreren Monaten Abstand muss ich zugeben, dass ich vieles aus dem Jutta-Hoffmann-Egon-Günther-Double-Feature DER DRITTE und DIE SCHLÜSSEL vergessen habe – sogar, welche Nebenrolle Jaecki Schwarz in erstgenanntem eigentlich hatte.
DER DRITTE (Egon Günther, 1972) handelt von Margit (Jutta Hoffmann), einer alleinerziehenden Frau Ende 30, die sich nach zwei gescheiterten Beziehungen nach einer neuen Liebe, nach dem "Dritten" sehnt. Der Film ist in der Gegenwart angesiedelt, greift aber immer wieder auf längere Rückblenden zurück, die Margits bisherige Lebensgeschichte aufarbeitet: ihre Zeit als Jugendliche in einem Kloster, ihre erste gescheiterte Beziehung, ihre zweite gescheiterte Beziehung mit einem blinden Musiker (Armin Mueller-Stahl). Jutta Hoffmann ist natürlich toll, und der Aufbau des Films mit seinen zahlreichen Rückblenden ist nicht uninteressant, aber wirklich gepackt hat mich DER DRITTE nicht. Es gibt eine recht witzige Sexszene, bei der im Hintergrund ein Englischkurs auf Band zu hören ist: "The iron is getting hot!"

Bei Egon Günthers DIE SCHLÜSSEL von 1974 hatte ich ein wenig das gleiche Problem: kein schlechter Film, aber irgendwie ist doch sehr wenig hängen geblieben. Ein unverheiratetes Paar, sie Arbeiterin (Jutta Hoffmann), er Student (Jaecki Schwarz), reist zum Urlaub nach Krakau. Sie sparen sich das Hotel, weil sie beim Hinflug von einem polnischen Paar die titelgebenden Wohnungsschlüssel geliehen bekommen haben. In Krakau geniesst das Paar zunächst den Urlaub, doch dann kommt es zu ersten Konflikten: die üblichen Pärchenstreitereien, gekoppelt mit dem meist unausgesprochenen "Klassenunterschied" zwischen ihnen. Der Urlaub endet jäh, als sie bei einem Verkehrsunfall auf der Straße unter eine Straßenbahn gerät und stirbt... Günther wollte mit DIE SCHLÜSSEL einen besonders realistischen Film drehen, der konventionelle Dramaturgie zugunsten von Improvisation aufgibt, was meiner Meinung nach nur bedingt gelungen ist. Die Pärchen-Szenen mit ihren Dialogen fühlen sich in meiner Erinnerung oft sehr steif und gestelzt an, zwischen Hoffmann und Schwarz gibt es keine richtige Chemie (was natürlich insofern passt, als sie ein Paar in einer konfliktreichen Beziehung spielen). Viel interessanter ist es, dass DIE SCHLÜSSEL sich nebenbei als Stadtportrait von Krakau versucht, voller semidokumentarischer Impressionen, unter anderem von einem traditionellen, karnevalsartigen Stadtfest. Dafür nimmt sich der Film zwischendurch viel Zeit. Am unvergesslichsten ist sicherlich die lange, emotional sehr intensive und dabei fast komplett dokumentarisch gefilmte Szene kurz nach dem Unfall: wir sind auf der Straße, eine Straßenbahn ist umgekippt, Schaulustige kommen vorbei, Polizisten erscheinen und eruieren die Situation, er, der Student, ist auch da, und beobachtet, wie der Unfall geräumt wird, die Straßenbahn wieder auf die Räder gehievt wird. Das dauert viele, viele Minuten und der Film nimmt sich diese Zeit auch auf sehr konsequente Weise. Was danach kam, erschien mir fast etwas überflüssig.

Der härteste Brocken, aber auch eine der interessantesten Sichtungserfahrungen, die das Paradies-Festival zu bieten hatte, war REIFE KIRSCHEN (Horst Seemann, 1972). Das rührige Melodrama handelt vom wackeren Brigadenchef Helmut, der auf der Großbaustelle Neu-Lobeda in Jena die strahlende Zukunft des Sozialismus mit Beton formt. Der Endvierziger hat zwar schon eine erwachsene Tochter, aber seine Frau wird urplötzlich schwanger (wie das denn bloß passieren konnte?). Das führt natürlich zu existentiellen und politischen Dilemmata: noch mal ein Kind großziehen, oder weiter an der glorreichen Heimatfront des Beton-Sozialismus kämpfen? Als seine Frau direkt nach der Niederkunft bei einem Autounfall stirbt und aus dem hohen Norden (na ja: Ostsee) ein Ruf erschallt, dass Helmut auch da zum Aufbau des Beton-Sozialismus gebraucht wird, spitzt sich die Situation noch weiter zu!


Während der Einführung zum Film fiel der Begriff "Propaganda-Soap", und tatsächlich: REIFE KIRSCHEN ist ein melodramatisch-schnulziges Rührstück, das sich ganz in den Dienst der strahlenden sozialistischen Zukunft stellt – die allerdings stark dem feuchten Traum eines kleinkarrierten Provinzspießers gleicht. Mit welcher Konsequenz er das macht, ist bewundernswert und doch unfassbar verstörend (nach dem Film sagte ein Co-Zuschauer irgendwas von "hat sich wie Simmel-Film angefühlt"). Unter dem ganzen Pathos, den Seemanns Film auffährt, erkannt man die DDR in ihrer ganzen bestialischen Hässlichkeit.
REIFE KIRSCHEN evoziert müdes Sonntagsbaden am grauen, schlammigen Baggersee, kitschiges Herumtollen mit den Kindern auf der grünen Wiese hinter der Datsche und Besäufnisse in der von KAHLA-Zwiebelmuster-Spießigkeit triefenden und wahrscheinlich nach abgestandenem Jagdwurstgulasch riechenden Kneipe als die größte Glückseligkeit überhaupt, als das große Paradies auf Erden. Es wird an keiner Stelle explizit thematisiert, dass es hier um ein eingemauertes Land geht, aber implizit spürt man das: REIFE KIRSCHEN  spielt in einem ganz und gar eingemauerten Universum. 
Zu sehen, wie der Film seine Konflikte dramaturgisch aufbaut, war so verblüffend wie schockierend. Zunächst einmal gehört er zu diesen unfassbar zynischen Filmen, die eine Frauenfigur (hier: Helmuts Ehefrau) sehr umständlich, letztlich aber doch recht oberflächlich aufbauen, um sie dann in einem entscheidenden Moment sterben zu lassen – mit dem einzigen Ziel, dem männlichen Protagonisten eine emotionale Bürde aufzuerlegen und ihn damit zum Märtyrer machen zu können (DAS LEBEN DER ANDEREN, LEVIAFAN und COCONUT HERO fallen mir als absolute Tiefpunkte dieser zynischen Erzählform ein).
Der Grundkonflikt – die neue Vaterschaft vs. den sozialistischen Aufbau – rückt zahlreiche andere Punkte in den Hintergrund. Dass ein Paar Mitte Vierzig, von dem mindestens einer Akademiker ist, nicht in der Lage ist, ordentlich zu verhüten, scheint völlig nebensächlich (von den gesundheitlichen Fragen einer späten Schwangerschaft abgesehen). Dass Helmut kaum je mit seinem Neugeborenen zu sehen ist, weil er das Baby die meiste Zeit einfach (ohne groß nachzufragen) in die Obhut seiner erwachsenen Tochter übergibt oder genauer gesagt, es ihr reindrückt, geht vollkommen an der Perspektive des Films vorbei. Vielmehr scheint in dieser Welt logisch zu sein, dass die Tochter sich um das Kind kümmern muss, denn schließlich steht die Zukunft des Sozialismus hier auf dem Spiel: die tristgrauen Betonwüsten an der Ostsee müssen ja von echten, kernigen Männern wie Helmut aufgebaut werden.
Derweilen wird seine Tochter, die sich um den Säugling kümmert, ohne, dass irgendjemand ihr dafür groß danken würde, von ihrem Verlobten bzw. Ex-Verlobten vergewaltigt. Zu sehen ist nur der Anfang der Vergewaltigung, denn REIFE KIRSCHEN widmet sich dann doch lieber schnell Helmuts Heldentaten. Rape Culture made in GDR! Ich kenne mich mit der Geschichte der Familien- und Geschlechterpolitik der DDR zu wenig aus: ob es "liberale" Phasen und eher "konservative" Phasen gab, weiß ich spontan nicht. Sehr wahrscheinlich lohnt sich dazu ein Blick in Eva Schäfflers Dissertationsschrift "Paarbeziehungen in Ostdeutschland: auf dem Weg vom Real- zum Postsozialismus" (Wiesbaden 2017). Wenn es tatsächlich Anfang der 1970er Jahre zu einem konservativen "Rollback" in der Ehe- und Familienpolitik gekommen ist, dann war REIFE KIRSCHEN auf jeden Fall ein cineastisches Flagschiff dieser Tendenz. Der Arbeiterheld ist in der Welt dieses Films ein kerniger Macho, der seinen Mann steht. Das Leben der Frauen scheint hier rein dekorative Zwecke zu haben, sie dienen nur dem Wegschaffen von Drecksarbeiten, zum Spiegeleierbraten bei der Rückkehr des Mannes von der Baustelle (was für eine unfassbar trostlose Szene – mit scheusslichen Gardinen direkt aus der Hölle als Hintergrund), zum schnellen, manchmal ungeschützten und manchmal auch nichteinvernehmlichen Sex. Ihr Tod dient dazu, die Märtyrerpunkte der Männer aufzubessern.
Wie der Film diesen fürchterlichen, provinziellen, patriarchalischen Spießbürgermief völlig hemmungslos abfeiert und zugleich ohne jegliche Scham tote Ehefrauen und kleine Kinder in Kinderwägen ausnutzt, um den Zuschauern große Gefühle abzuwürgen, ist schon ziemlich einzigartig und unfassbar anzusehen. Das macht REIFE KIRSCHEN auf die Dauer aber auch sehr unangenehm. Trotz nur 97 Minuten Laufzeit war er, zumindest mit gefühlten 140 Minuten, der längste Film des Festivals. Eine Szene, in der Ingenieure zunächst auf dem Reißbrett, und später noch mal an einem unberührten Strand geradezu schwärmend davon träumen, eine graue Betonwüste zu errichten, führte dazu, dass ich dem anwesenden Hofbauer-Kommando einen Neologismus zur Erweiterung des Material-Jargons vorschlug: "stählerne" Filme aus dem realsozialistischen Osten sollten nicht als "Stahl", sondern als "Beton" bezeichnet werden. Die Adjektivierung stellt allerdings gewisse Probleme ("betönern"?).
REIFE KIRSCHEN war in der Tat hart, stählern, ja betönern, teils schier unerträglich, eine Geduldsprobe, aber dennoch ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Als "Zeitdokument" über gewisse Aspekte des Lebens in der DDR-Provinz ist der Film eine absolute Wucht.
Leider war das Paradies-Festival nicht so gut besucht, wie er es verdient hätte oder wie die Organisatoren es erhofft hatten. Besonders auffällig war die Diskrepanz in der Zuschauerstruktur zwischen den DEFA-Filmen und den italienischen Filmen: abgesehen von einem harten Kern an Dauerkartenbesitzern, die querbeet den Großteil des Programms besuchten, lockten beide Programmsegmente jeweils komplett einige Zuschauergruppen an, die das jeweilig andere Segment des Programms ignorierten. Bei den DEFA-Filmen waren immer wieder ältere Zuschauer im Saal, die man im Italo-Programm nicht sah, und ich habe das ungute Gefühl, dass einige von ihnen nur in die Filme gingen, um DDR-Nostalgiegefühle zu befriedigen. Selbstverständlich betrifft das nicht alle. Eine Zuschauerin zum Beispiel, die ein gutes Stück DDR miterlebt haben dürfte, hat nach REIFE KIRSCHEN gänzlich ohne Nostalgie geäußert, dass sie die in dem Film dargestellte Macho-Kultur durchaus selbst erlebt habe: offiziell wurde Gleichberechtigung verlautbart – im kleinen Lebensalltag hatten aber dennoch Männerbünde das Sagen.
Nach der Projektion von REIFE KIRSCHEN sprach mich ein älterer Herr in der Kloschlange an und geriet über den Film ins Schwärmen: "Das war damals genau so, wie der Film es gezeigt hat!", drückte er mit einer fast unkontrollierten, sehr erregten Freude aus. Für ihn waren da glückliche Erinnerungen geweckt worden... Des einen Gift ist des anderen Glückselixier.

Für erstere hatte das Paradies-Festival das passende Gegengift in petto. Es ist eine kuratorische Meisterleistung, ja nicht weniger als absolut genial, dass nach REIFE KIRSCHEN direkt DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR (Michael Kann, 1988) folgte und den Abend in einen unglaublich kenntnisreichen, faszinierenden und dialektischen Double-Feature verwandelte. Vom großen Cinemascope-Propagandaschinken aus der morastigen Provinz mit seinen großen Träumen vom betönernen Sozialismus ging es direkt in das lebensfrohe, lustvolle, musikalische und verspielte Herz des Ostberliner Bohemien- und Slacker-Milieus der späten 1980er Jahre – in einem Film, der eher am Rand der DEFA angesiedelt war und heute fast vergessen ist. Leider hatte die Kopie aus dem Privatbesitz der Organisatoren etwas an Farbe eingebüßt und neigte stark zum Bläulichen. Das war aber nicht so schlimm, denn mittlerweile ist klar: DEFA-Filme mit Und-Ketten-Titeln sind toll!
Der Aufhänger ist eine Reportage. Die Journalistin Marga möchte die Sängerin Anna interviewen. Die stellt sich allerdings als nicht sonderlich kooperativ im Sinne eines Interviews heraus. Robert, der Ex-Freund Annas, sucht gerade in der ehemals gemeinsamen Wohnung ein paar seiner Sachen zusammen und ist gegenüber Marga weitaus redeseliger. Also interviewt Marga eben Robert, und das läuft für beide ziemlich befriedigend, denn sie landen mit der Zeit zusammen im Bett. Doch leider ist Anna die einzige dauerhafte Verbindung zwischen Marga und Robert – außerdem kommt er von seiner ehemaligen Geliebten offenbar nicht dauerhaft los...
DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR ist vor allem eine Atmosphäre – und ein Gefühl der tiefen Entspannung. Es ist ein ausgesprochener "Abhäng-Film", in dem Leute die meiste Zeit einfach nur miteinander abhängen. Das umfasst Plaudern, Biertrinken, Spazieren, Liebemachen, Currywurst-Essen, Schachspielen. Trotz vieler Jumpcuts über Zeitebenen hinweg keine Spur von Hektik. Viel Zeit für alles, was nebensächlich erscheint. Robert, der zusammen mit einem guten Kumpel auf einer Parkbank Schach spielt, mit ihm darüber spricht, wie man Frauen am besten anspricht, damit im Grunde Marga meint – bis dann plötzlich Marga bei ihnen auftaucht. Marga und Robert, die nach dem Sex (oder vorher? Ist ja egal: in diesem Film ist nach dem Sex auch vor dem Sex) zusammen in der Wanne baden. Die kleinen Wort- und teilweise Saugnapfpfeil-Gefechte zwischen Margas kleinem Sohn und Robert. Zwischendurch die eher mäßig aufgenommenen Auftritte von Anna und ihrer Band... DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR hat sich in meiner Erinnerung ein bisschen verflüchtigt. Retrospektiv sehe ich eine gewisse Ähnlichkeit zu den Filmen der "Schwabinger Nouvelle Vague" (May Spills, Marran Gosov, Klaus Lemke). Eben "Abhäng-Filme", die dorthin gehen, wo es sie gerade verschlägt, und gerne auch verweilen, wenn sie Lust haben...

DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR beendete das Filmprogramm des Festivalfreitags. Und ich beende hiermit meinen Bericht (ist ja mittlerweile auch lange genug). Das Paradies bleibt. Natürlich zuallererst in den Herzen vieler Zuschauer, die vier wunderbare Kinotage verbracht haben. Einen Riesendank an die Festivalleiter und Organisatoren Falko und Leo: die tollsten Kinoengel in Jena!

Und das Paradies kommt wieder: dieses Jahr vom 12. bis zum 16. Juni. Es wird wieder DEFA-Filme geben, diesmal mit den Schwerpunkten Iris Gusner, Kinder- und Märchenfilme und "4. Generation" (also die "letzten" Filme der DDR). Im internationalen Programm wird Antonio Bido zu Gast sein mit einer Retrospektive. Sein Debütfilm, der Giallo IL GATTO DAGLI OCCHI DI GIADA (1977), wurde bereits angekündigt. Des Weiteren wird es einen Schwerpunkt zu Yılmaz Güney geben (das Paradies geht also noch etwas weiter südlich und östlich). Mehr dazu gibt es auf der Seite des Film e. V. Jena bzw. auf der facebook-Seite des Paradies-Festivals zu lesen.