Posts mit dem Label Frankreich werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Frankreich werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 6. Mai 2018

MIQUETTE - Henri-Georges Clouzot auf Abwegen

MIQUETTE ET SA MÈRE
Frankreich 1950
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Danièle Delorme (Miquette Grandier), Louis Jouvet (Monchablon), Saturnin Fabre (Marquis Aldebert de la Tour Mirande), Bourvil (Graf Urbain de la Tour Mirande), Mireille Perrey (Hermine Grandier), Pauline Carton (Perrine), Henri Niel (Prosper Lahirel), Madeleine Suffel (Noémie), Maurice Schutz (Larborissière), Raymond Dandy (Panouillard), Jean Témerson (de Saint-Giron)

"Le Cid" von Monchablon und Corneille
Henri-Georges Clouzot, ein Regisseur, dem profunde Humorlosigkeit nachgesagt wurde (was er selbst freimütig bestätigte), drehte im Herbst 1949 eine Komödie - die einzige seiner Laufbahn. MIQUETTE ET SA MÈRE, was "Miquette und ihre Mutter" bedeutet (es gibt aber keinen offiziellen deutschen Titel), hatte bei der Kritik ebenso wie beim Publikum wenig Erfolg, geriet ein wenig in Vergessenheit und gilt heute als einer der schwächsten Filme von Clouzot. Angesichts vorhergehender (LE CORBEAU, QUAI DES ORFÈVRES) und nachfolgender Großtaten (LE SALAIRE DE LA PEUR, LES DIABOLIQUES) könnte man MIQUETTE ET SA MÈRE tatsächlich als Durchhänger bezeichnen. Aber das würde ihm nicht gerecht, denn so schlecht ist der Film gar nicht.

Miquette und ihre Mutter im Theater
Es handelt sich um die Verfilmung eines schwankhaften Theaterstücks von Flers & Caillavet. Marie Joseph Louis Camille Robert de Pellevé de La Motte-Ango, marquis de Flers, und Mathurin Cyprien Auguste Gaston Arman de Caillavet, oder etwas griffiger Robert de Flers (1872-1927) und Gaston Arman de Caillavet (1870-1915), schrieben manchmal einzeln, aber oft gemeinsam Theaterkomödien, Opern- und Operettenlibretti. Ihr "Miquette et sa mère" erschien 1906, und es war anscheinend recht erfolgreich, denn Clouzots Version war schon die dritte Verfilmung. MIQUETTE ET SA MÈRE (1934) wurde von gleich drei Regisseuren inszeniert (wie es zu diesem Triumvirat kam, weiß ich nicht). Aus der Besetzung stechen zwei Namen hervor - Michel Simon spielt Monchablon (hier wäre der direkte Vergleich mit Jouvet interessant), und Roland Toutain (der Flieger André Jurieux in Renoirs LA RÈGLE DU JEU) gibt den Urbain. Auch MIQUETTE (1940) von Jean Boyer kann mit einem prominenten Namen aufwarten: Lilian Harvey spielt in ihrem letzten Film die Titelrolle.

Monchablon taucht im Tabakladen auf
Die Handlung spielt um 1900 herum in Frankreich, nacheinander an drei verschiedenen Orten, und entsprechend kann man den Film in drei Akte einteilen, wenn man mag. Es beginnt in einer Kleinstadt irgendwo in der Provinz. Dort gastiert gerade eine drittklassige reisende Schauspieltruppe, die geleitet wird von dem pompös-genialischen Schauspieler Monchablon, der auch abseits der Bühne theatralische Auftritte liebt und mit pathetischer Stimme großspuriges Zeug schwurbelt. Man spielt gerade "Le Cid" von Monchablon und Corneille. Nun ja, eigentlich "Le Cid" von Corneille, aber Monchablon hat das Stück "modernisiert", um auch seinen eigenen Namen als Autor daruntersetzen zu können - so macht er das öfters. Unter den Zuschauern sind die junge Miquette Grandier und ihre verwitwete Mutter Hermine, die zusammen einen Tabakladen in der Stadt betreiben. Miquette ist begeistert von dem Stück, von der Welt der Schauspielerei im Allgemeinen und von Monchablon (der zufällig im Tabakladen auftaucht) im Besonderen, dagegen ist Hermine etwas indigniert wegen unmoralischer Tendenzen, die sie in dem Stück ausgemacht hat. Miquette hat einen heimlichen Verehrer, den schüchternen und schusseligen Grafen Urbain de la Tour Mirande. Auch Miquette schwärmt für ihn, doch vorerst wissen beide nichts davon, dass ihre Liebe erwidert wird. Dieser Urbain, man muss es sagen, er ist schon ein ziemlicher Depp. Gewiss, er ist schüchern und nervös in der Gegenwart von Miquette, aber eben auch doof. Einmal steht er triefnass im prasselnden Regen, und als Miquette dazukommt, sagt er, dass er seinen Schirm vergessen habe - dabei hängt er zusammengeklappt an seinem Arm. Man mag sich fragen, was Miquette eigentlich an ihm findet, aber es ist halt ein Schwank, und da stellt man solche Fragen besser nicht.

Urbain klitschnass im Regen
Schließlich schaffen es die beiden doch noch auf recht umständliche Art, sich ihre Liebe zu erklären, und wollen heiraten. Doch da haben sie die Rechnung ohne Urbains Onkel gemacht, dem Marquis Aldebert de la Tour Mirande, auf dessen Schloss auch Urbain wohnt. Der durchsetzungsstarke alte Herr hat gerade die Ehe seines Neffen mit einer wenig ansehnlichen, aber reichen Dame arrangiert, und das Weichei Urbain lässt sich erst mal widerstandslos überfahren. Miquette fühlt sich nun von ihm hintergangen und will sich rächen, indem sie nach Paris geht und Schauspielerin wird. Klingt etwas dämlich, aber wir erinnern uns: Wir sind in einem Schwank. Auf jeden Fall spielt sie dem Marquis in die Karten, denn der verfolgt zur Abrundung seiner Pläne einen doppelten Zweck: Der alte Bock und Schürzenjäger hat nun selbst ein Auge auf Miquette geworfen. Deshalb bietet er ihr an, sie nach Paris in seine Stadtvilla mitzunehmen und ihr Kontakte zur Theaterwelt zu vermitteln. Gleichzeitig würde sie damit endgültig außer Reichweite für Urbain sein. Und Miquette geht tatsächlich darauf ein. Sie packt hastig ihre Koffer, schreibt nur einen Brief für ihre Mutter, in dem sie die Lage erklärt, und verduftet mit dem Marquis.

Urbain weint vor Liebesglück, doch das währt vorerst nicht lange
Zweiter Akt, ein paar Tage später. Es sind nun alle in Paris versammelt: Monchablon und seine Theatertruppe, Miquette und der Marquis, und schließlich auch noch Hermine, die ihrer Tochter sofort hinterhergefahren ist, um sie dem Sündenpfuhl Paris zu entreißen und sie in ihr braves Leben zurückzuholen. Miquette wird als Elevin in Monchablons Truppe aufgenommen, und als Hermine in der Stadtvilla auftaucht, um dem Hausherrn die Leviten zu lesen und Miquette zu "retten", wird sie vom Marquis in kürzester Zeit "umgedreht", entdeckt ihre lang verschüttete flamboyante Ader - und heuert stante pede ebenfalls als Schauspielerin bei Monchablon an. "Glaubwürdig" geht anders, aber wiederum gilt: In einem Schwank fragt man nicht danach. Die Pläne des Marquis gehen aber nicht ganz auf: Miquette verweigert "Aldebert" (wie er sich von ihr gerne nennen lassen möchte) das erhoffte Techtelmechtel und hält ihn auf Distanz. Und Urbain entwickelt ungeahnte Willensstärke und taucht ebenfalls in der Villa auf. Allerdings verhält er sich dabei so ungestüm und ungeschickt, dass der Graben zwischen ihm und Miquette eher noch größer wird.

Der Marquis macht sich an Miquette heran - oben im Laden, unten in Paris
Dritter Akt, ein halbes Jahr später. Miquette und Hermine sind Teil von Monchablons Truppe, und der Marquis ist sozusagen als Miquettes Privatbegleiter (aber immer noch nicht als ihr Liebhaber) mit von der Partie. Man ist wieder auf Tournee, in irgendeiner Kleinstadt im südlichen Frankreich, und gibt auf einer Freiluftbühne ein historisches Stück um die Belagerung von La Rochelle durch die Truppen Kardinal Richelieus. Dabei kommt es nun zu sich steigernden Turbulenzen, und die Geschehnisse auf und hinter der Bühne beginnen sich zu vermengen. Der schon etwas tattrige Larborissière, ältestes Mitglied der Schauspieltruppe und momentan Darsteller von Kardinal Richelieu, vermisst seinen (anzuklebenden) Ziegenbart, der nun mal zwingend zu Richelieu gehört. Hermine kommt zu spät zur Aufführung und gesteht zerknirscht den Grund: Sie war im Spielcasino und hat die gesamten bisherigen Tourneeeinnahmen, 40.000 Francs, verzockt. Und Urbain taucht auch wieder mal auf. Mal will er es wieder mit Miquette versuchen, aber sie will nicht, mal ist es umgekehrt. Aber nach allerhand Konfusion auf und hinter der Bühne fügt sich schließlich alles so, wie man es erwartet: Der Marquis lässt von Miquette ab und erobert nun schnell und ohne Probleme deren Mutter (womit auch die Frage von Hermines Schulden geklärt ist), und Miquette und Urbain finden endlich zueinander. Die Vorstellung (auf der Bühne ebenso wie im Film) ist zu Ende, alle verbeugen sich vor dem Publikum. Vorher hatte der Film noch in einer kleinen Wendung eine selbstbezügliche Meta-Ebene erklommen: Die jungen Theaterautoren Robert de Flers und Gaston Arman de Caillavet aus Paris tauchen auf, um die begabte Miquette für ihr Theater zu engagieren (was im Vergleich zu Monchablons chaotischer Truppe ein Karrieresprung für sie wäre). Miquette lehnt ab, weil sie ja jetzt auf den Hafen der Ehe zusteuert, aber als Ausgleich wollen die beiden Autoren ihre Geschichte zu einem Theaterstück mit dem Titel "Miquette et sa mère" verarbeiten.

Schauspieler. Links oben Monchablon und Noémie, rechts oben Lily und Larborissière,
links unten de Saint-Giron, rechts unten in der Mitte Panouillard
Über Clouzots Leben und Werk habe ich in meinem Artikel über LE CORBEAU ausführlich berichtet. Wenn man glaubt, was zu lesen ist, dann wollte Clouzot MIQUETTE ET SA MÈRE gar nicht machen, war aber vertraglich dazu verpflichtet. In Anbetracht seiner schon erwähnten Humorlosigkeit ist der Film dann gar nicht schlecht gelungen. Zwar hat er schon einige Längen (die Dauer beträgt 102 Minuten), und Urbains Doofheit am Anfang ist schon ziemlich klamottig und könnte einem sogar auf die Nerven gehen. Aber der Film nimmt dann doch Fahrt auf, vor allem im letzten Drittel, wo Clouzots Regie Drive und Witz entfaltet. Auch vorher schon gibt es nette Regieeinfälle. Gelegentlich gibt es Zwischentitel wie in einem Stummfilm, oder einer der Darsteller durchbricht die "vierte Wand" und spricht einen Kommentar direkt in die Kamera. Wie schon in LE CORBEAU, genehmigt sich Clouzot im ersten Teil ein paar böse Kommentare zum französischen Kleinstadtleben, etwa darüber, wie schnell sich Gerüchte ausbreiten. Aber hier fehlt dann doch der Zynismus des früheren Films, letztlich ist alles ins Versöhnliche gewendet. Vor allem erweist sich der Marquis, der in einem Drama eine sehr negative Figur hätte sein können, hier letztlich als ein Sympathieträger, auch wenn es am Anfang nicht so aussah.

Urbain entwickelt Initiative und taucht in Paris auf
Clouzot, der immer viel Wert auf Schauspielerführung legte, konnte sich hier auf ausgezeichnete Darsteller stützen. Wie ich erst neulich schrieb, war Louis Jouvet eigentlich immer grandios, und das bestätigte er auch hier. Es war eine maßgeschneiderte Rolle: Der großspurige Monchablon, der sich nur einmal eingesteht, dass er eigentlich ein Schmierenkomödiant ist, bietet Jouvet viel Raum zur Entfaltung. Aber auch der Marquis bot eine dankbare Rolle, und der knorrige Saturnin Fabre spielt ihn mit Schalk im Nacken und wendet den durchaus fragwürdigen Charakter ins Positive. Bourvil als romantischer Liebhaber, noch dazu aus der Aristokratie, das ist erst mal gewöhnungsbedürftig, wenn man seine spätere Karriere kennt, wo er eher auf bäuerliche Typen abonniert war (auch wenn er mal einen harten Kommissar bei Melville oder eine James-Bond-Parodie spielen durfte). Aber er gibt den liebenswürdigen und etwas trotteligen Urbain durchaus überzeugend. Und Danièle Delorme schließlich spielt die Titelheldin lebhaft und sympathisch. Sie hatte kurz zuvor in GIGI (1949) ihren Durchbruch geschafft, einer Verfilmung der Novelle von Colette, die auch dem Musical mit Leslie Caron zugrunde liegt. In ihrer langen Karriere spielte sie in so unterschiedlichen Werken wie Jean Isidore Isous radikalem Avantgardefilm TRAITÉ DE BAVE ET D'ÉTERNITÉ (1951), in der Sartre-Verfilmung HUIS-CLOS (1954), in CASA RICORDI (1954), in VOICI LE TEMPS DES ASSASSINS... (DER ENGEL, DER EIN TEUFEL WAR, 1956) von Julien Duvivier an der Seite von Jean Gabin, in LES MISÉRABLES (1958) mit Gabin und Bernard Blier, im sehr bösen LA SEPTIÈME JURÉ (DER SIEBTE GESCHWORENE, 1962) von Georges Lautner, in LE VOYOU (1970) von Claude Lelouch an der Seite von Jean-Louis Trintignant, und in UN ÉLÉPHANT ÇA TROMPE ÉNORMÉMENT (EIN ELEFANT IRRT SICH GEWALTIG, 1976) von Yves Robert. Mit Letzterem war Danièle Delorme seit 1956 bis zu Roberts Tod 2002 verheiratet. Sie spielte auch in einigen weiteren Filmen von Robert, und gemeinsam mit ihm produzierte sie auch Filme anderer Regisseure. Sie starb 2015 kurz nach ihrem 89. Geburtstag.

Hochdramatisches vor La Rochelle
Nachdem MIQUETTE ET SA MÈRE auch in Frankreich für längere Zeit der relativen Obskurität anheimgefallen war, wurde er 2017 restauriert und als Blu-ray/DVD-Combo mit englischen Untertiteln veröffentlicht.

Freitag, 20. April 2018

MISTER FLOW - Robert Siodmak übt schon mal für Hollywood

MISTER FLOW
Frankreich 1936
Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Fernand Gravey (Antonin Rose), Edwige Feuillère (Lady Helena Scarlett), Louis Jouvet (Achille Durin alias Mr. Flow), Vladimir Sokoloff (Merlow), Jean Périer (Sir Philipp Scarlett), Tsugundo Maki (Tsugundo Maki)

Maître Rose im seriösen Brille-und-Bart-Modus
Hitzewelle in Paris. Alles schwitzt und ächzt, auch der junge und erfolglose Rechtsanwalt Antonin Rose. Im letzten Jahr hat er gerade mal 875 Francs verdient, und jetzt ist er nicht nur verschwitzt, sondern auch pleite. Nicht einmal der Bart, den er sich wachsen ließ, um seriöser zu wirken, konnte daran etwas ändern. Da erscheint die vermeintliche Rettung in Person des hüftsteifen und undurchsichtigen Monsieur Merlow, der einen etwas seltsamen Auftrag für Maître Rose hat: Ein gewisser Achille Durin, Kammerdiener bei Sir Archibald Scarlett, Baronet, und dessen Frau Lady Helena, wurde dabei ertappt, eine wertvolle Krawattennadel aus dem Besitz des Baronets zu stehlen, und sitzt nun im Gefängnis. Merlow bittet nun Antonin im Auftrag des Baronets, Durin zu verteidigen und ihn unverzüglich im Gefängnis aufzusuchen. Der Baronet habe den irregeleiteten Durin im ersten Zorn angezeigt, was er aber nun bedaure, weil Durin eine zweite Chance verdient habe. Antonin nimmt den Auftrag sogleich an, und die 2000 Francs Vorschuss, die er an Ort und Stelle von Merlow ausgehändigt bekommt, heben seine Stimmung beträchtlich.

Der undurchsichtige Monsieur Merlow
Antonin begibt sich also in die Zelle zu Achille Durin. Dieser erweist sich als ein öliger, sich windender Zeitgenosse, der weinerlich eine recht hanebüchene Geschichte erzählt, und man weiß sofort, dass man einen Schmierenkomödianten vor sich hat. Wohlgemerkt, nicht der wie immer grandiose Louis Jouvet ist der Schmierenkomödiant, sondern Durin, und Jouvet spielt das mit Perfektion. Achille Durins Geschichte geht so: Er, Durin, war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gerade dabei, einen sehr delikaten Auftrag Lady Helenas zu erfüllen. Er sollte bis spätestens übermorgen einen Koffer und einen verschlossenen Umschlag aus einer bestimmten Wohnung in Paris holen. Sollte der Auftrag nicht erfüllt werden, würde ein Skandal drohen, wohl wegen einer Affäre von Lady Helena. Sir Archibald würde vor Schreck und Gram wohl tot umfallen, Lady Helena sähe sich zum Selbstmord genötigt, und er, Durin, müsste sich dann auch umbringen. Rein zufällig hat er die Schlüssel zur fraglichen Wohnung bei sich, und so bleibt Antonin, der die Räuberpistole glaubt, nichts anderes übrig, als die Schlüssel zu übernehmen und den Auftrag selbst auszuführen. Und damit bringt er sich richtig in die Bredouille.

Achille Durin ...
Denn Durin ist der weltweit gesuchte Einbrecherkönig "Mister Flow", Lady Helena seine Geliebte und Komplizin, die sich vor Monaten an den Baronet herangemacht und ihn geheiratet hat, um den alten Geldsack auszunehmen, und Merlow ist der dritte Komplize im Bunde. Durch das Missgeschick seiner Verhaftung muss Mr. Flow jetzt etwas improvisieren. Er hat dafür gesorgt, dass es nach Antonins Besuch der konspirativen Wohnung eine genaue Beschreibung von ihm gibt und er von der Polizei für Mr. Flow gehalten wird. Auf diese Art zum Sündenbock aufgebaut, bleibt Antonin nur übrig, Mr. Flows Anweisungen zu befolgen. Mit weiteren 4000 Francs aus Merlows Kasse versehen, mit abrasiertem Bart, um nicht erkannt zu werden, und mit dem Koffer (der Mr. Flows Einbruchswerkzeuge enthält) und dem Umschlag macht er sich auf zu Lady Helena in ein Hotel nach Deauville, einem mondänen Badeort in der Normandie, um Koffer und Umschlag zu überbringen. Auf Mr. Flows Anweisung nennt er sich in Deauville "Mr. Prim".

... windet sich ...
All das passierte in den ersten 18 Minuten. Nun also Szenenwechsel nach Deauville, wo der überwiegende Rest des Films spielt. Und Auftritt von Edwige Feuillère als Lady Helena, die nun im Mittelteil den Film dominiert, während der in Paris einsitzende Mr. Flow etwas in den Hintergrund tritt. Als Zuschauer weiß man, dass sie zur Bande gehört, weil Merlow zwischen ihr und Mr. Flow pendelt und Botschaften überbringt, doch Antonin hat vorerst keine Ahnung von ihrer Rolle, und so kann sie ihn ziemlich an der Nase herumführen. Er soll weiterhin, nun als Mr. Prim (eine der Rollen, die früher Mr. Flow selbst in Maske und Verkleidung ausgefüllt hatte), als potentieller Sündenbock dienen. Und Antonin fällt zunächst auf alle ihre Possen herein und verliebt sich obendrein in sie. Das gehörte auch zum Plan, denn Helena spielt ihm gegenüber auch die Verliebte. Nachdem sie mit Antonin zum Schein in eine Villa eingebrochen ist (die in Wirklichkeit ihre eigene ist), geht sie allein im Hotel auf echten Raubzug, erleichtert die anderen gut betuchten Gäste um ihre Wertsachen und hinterlässt dabei frech Visitenkarten von Mr. Flow. Doch Antonin kommt ihr nun endlich auf die Schliche und will nicht mehr das Opferlamm spielen. Und es kommt, wie es kommen musste: Helena hat sich inzwischen tatsächlich in ihn verliebt. Doch Mr. Flow, von Merlow auf dem Laufenden gehalten, beginnt Verdacht zu schöpfen ...

... und bricht in Tränen aus
Nach einigen weiteren Verwicklungen in Deauville, denen hier nicht weiter nachgegangen werden soll, kommt es im Schlussteil des Films, nun wieder in Paris, zum Prozess gegen Mr. Flow. Der ist nun wieder ganz der weinerliche und sich windende Achille Durin. Der Prozess nimmt eine jähe Wendung, als ein Zeuge auftaucht, der sich sozusagen selbst vorgeladen hat: Der aus London angereiste Sir Philipp Scarlett, der Bruder des Baronet Sir Archibald (der mittlerweile praktischerweise verstorben ist, so dass Helena frei für Antonin ist). Sir Philipp hat seiner Schwägerin und dem Hausdiener Achílle Durin (der seinerzeit von einem gewissen Mr. Prim empfohlen wurde) immer misstraut, und er ließ Helena durch den angeblich (aber nicht wirklich) taubstummen japanischen Diener Maki ausspionieren, freilich ohne Erfolg, weil Helena Maki frühzeitig ertappte und "umdrehte". Dennoch glaubt Philipp nun, vor Gericht beweisen zu können, dass Achille Durin Mr. Flow ist. Doch Antonin gelingt es, ihn lächerlich und unglaubwürdig zu machen. Trotzdem sitzt Antonin in der Zwickmühle. Wenn er Durin freibekommt, wird er als Mr. Flow sofort seinen Anspruch auf Helena erneuern, und Antonin wird keine Chance gegen den ausgebufften Profiverbrecher haben. Aber wenn er ihn in die Pfanne haut, so dass er im Gefängnis versauert, dann wäre das nicht nur gegen seine Berufsehre als Anwalt, sondern dann würde Mr. Flow auspacken und ihn selbst und Helena hinter Gitter bringen. Doch auch Mr. Flow hat viel zu verlieren, und so handelt der entschlossene Antonin mitten im Gerichtssaal einen Kompromiss mit seinem Klienten aus. Und einmal mehr zieht der Schmierenkomödiant Achille Durin eine ganz große Show ab ...

Mr. Flow zeigt sein wahres Gesicht - gar nicht weinerlich
Robert Siodmak gehörte bekanntlich zu der illustren Schar von Regisseuren und Drehbuchautoren, die Anfang 1930 mit dem gemeinsam hergestellten MENSCHEN AM SONNTAG debütierten, und bis 1933 arbeitete er weiterhin in Deutschland. In den 40er Jahren war der jüdische Emigrant mit Filmen wie PHANTOM LADY, THE DARK MIRROR, THE KILLERS, THE SPIRAL STAIRCASE oder CRISS CROSS einer der führenden Vertreter des Film Noir. Von der Neuen Sachlichkeit zum Film Noir, das ist ein weiter Weg. Doch da lagen ja nicht nur rund 15 Jahre dazwischen, sondern auch ein ungefähr sieben Jahre dauernder Aufenthalt in Frankreich. Zwischen 1933 und 1939 inszenierte Siodmak in Frankreich sieben Spielfilme (oder acht, wenn man die englische Fassung von LA VIE PARISIENNE getrennt zählt), und bei drei weiteren war er Co-Regisseur. Er war also in diesen Jahren nicht schlecht ausgelastet. Zu den deutschen und österreichischen (meist jüdischen) Emigranten in Paris, zu denen Siodmak damals in Kontakt stand, zählte auch sein Cousin Seymour Nebenza(h)l, der auch drei seiner französischen Filme produzierte (allerdings nicht MISTER FLOW). Seymour und dessen Vater Heinrich Nebenzahl waren auch schon die Produzenten von MENSCHEN AM SONNTAG.

Lady Helena ...
Siodmaks französische Filme sind hierzulande wenig bekannt, und die meisten sind auch schlecht zugänglich. Das galt bis vor einiger Zeit auch für MISTER FLOW, aber das hat sich erfreulicherweise geändert. Tatsächlich galt der Film sogar lange als verschollen, aber dann tauchte in der Cinémathèque suisse eine Kopie auf. MISTER FLOW lässt sich als Krimikomödie charakterisieren. Er ist aber kein Schenkelklopfer und auch keine völlig überdrehte Farce wie etwa DRÔLE DE DRAME, in dem Louis Jouvet ebenfalls brilliert. Es gibt durchaus dunkle Untertöne in der Handlung, und auch in der Kameraarbeit zeigt sich gelegentlich das Wechselspiel von Licht und Schatten - ein Film Noir ist MISTER FLOW freilich noch lange nicht. Als Meisterwerk sollte man ihn auch nicht bezeichnen. Es gibt doch ein paar kleinere Längen, und an die Logik der Geschichte sollte man natürlich keine strengen Maßstäbe ansetzen. Aber insgesamt ist Mr. Flow über seine eineinhalb Stunden hinweg doch ein recht unterhaltsamer Film. Das liegt vor allem an den Darstellern. Fernand Gravey als der unbedarfte Maître Rose macht seine Sache sehr gut, muss aber gelegentlich aufpassen, von der fulminanten, sehr spielfreudigen Edwige Feuillère nicht überrollt zu werden. Die Attraktion ist aber wieder mal Louis Jouvet, der alle Register ziehen darf. Ich kenne keinen Film mit ihm, in dem er mich nicht begeistert hätte. Aber auch Vladimir Sokoloff als der sinistre Merlow ist ohne viel Aufwand ausgezeichnet.

... bringt "Mr. Prim" unter ihre Kontrolle
Das Drehbuch von MISTER FLOW schrieb Henri Jeanson nach einer Vorlage von Gaston Leroux (1868-1927), dem Autor von "Das Phantom der Oper". Ähnlich wie Marcel Allain und Pierre Souvestre, die Schöpfer von Fantômas, war Leroux ein sehr produktiver Pulp-Autor, dessen Romane meist zunächst in Fortsetzungen in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen. "Mister Flow" erschien 1927, es war also offenbar eines seiner letzten Werke. - Vor dem Prozess am Schluss werden auf einer Tafel die bereits abgehakten und die noch ausstehenden Verhandlungen des Tages aufgeführt, wobei jeweils die beiden Prozessgegner genannt werden, und dabei erlaubt sich Siodmak einige Scherze, die ich hier als Abschluss aufzählen will. Da gibt es neben der Verhandlung Scarlett gegen Durin noch folgende Paarungen:

- LE BON gegen (Marc oder Yves) ALLEGRE(t)
Roger Le Bon war ein französischer Regisseur, der in den 30er Jahren bei einigen UFA-Filmen, die in einer deutschen und einer französischen Fassung entstanden, die franz. Version inszenierte (und bei zweien davon spielte Edwige Feuillère die Hauptrolle). Gut möglich, dass Siodmak ihn schon aus Deutschland persönlich kannte (auch von drei oder vier von Siodmaks UFA-Filmen gab es franz. Fassungen). Auf jeden Fall war Le Bon einer der beiden Produktionsleiter bei MISTER FLOW.

Ein Koffer mit Einbruchswerkzeug
- (Marcel) ACHARD gegen (Maurice) CHEVALI(er)
In dem von Marcel Achard inszenierten L'HOMME DES FOLIES BERGÈRE spielte Chevalier die Hauptrolle, und in Lubitschs THE MERRY WIDOW, ebenfalls mit Chevalier in der Hauptrolle, war Achard am Drehbuch beteiligt. Achard ist auch mit Marc Allégret verbunden, für den er etliche Drehbücher schrieb. - 1939 spielte Chevalier auch unter Siodmak eine Hauptrolle, nämlich in PIÈGES (ja, auf den ersten drei Seiten geht es um PHANTOM LADY, aber man sollte den gesamten Artikel im Zusammenhang lesen).

Licht und Schatten wie in einem Film Noir ...
- MISTINGUETT gegen SHIRLEY T(emple)

- BOROTRA gegen VON KRAM - gemeint sind der französische "Tennis-Musketier" Jean Borotra und der deutsche "Tennis-Baron" Gottfried von Cramm

... aber nur sporadisch
- (Ewald André) DUPONT gegen PRUNIER
Bei "Prunier" bin ich nicht sicher, wer oder was das sein soll. Es gibt in Paris ein Restaurant mit diesem Namen in der Avenue Victor Hugo, in dem in den frühen 30er Jahren mal Joe May gespeist hatte, wie aus einem Telegramm hervorging, das er 1933 aus den USA an Billy Wilder nach Paris schickte - Wilder sollte May 120 Flaschen Anjou-Wein aus dem Restaurant mitbringen, als er sich selbst zum Sprung über den großen Teich anschickte. Vielleicht kannte Siodmak die Geschichte, oder er frequentierte das Lokal selbst. Aber vielleicht ist mit "Prunier" auch etwas anderes gemeint.

Vor Gericht ...
- THUVIES gegen VANLAC (oder VAN LAC) - und hier bin ich nun völlig ratlos, was damit gemeint ist.

Die in der Schweiz aufgefundene Kopie von MISTER FLOW wurde 2016 digital in 2K abgetastet. Von dieser Vorlage erschien der Film in Frankreich auf einer Blu-ray/DVD-Combo mit engl. Untertiteln (auch das Bonusmaterial ist mit Untertiteln versehen, doch das gibt in Bezug auf Siodmak oder MISTER FLOW nichts her). Bei Interesse kann man ruhig zugreifen, denn bis der Film in Deutschland erscheint, kann man wohl lange warten.

... zieht "Achille Durin" eine große Show ab
Happy End

Samstag, 17. März 2018

Die Mauern von Malapaga

DIE MAUERN VON MALAPAGA (ital. LE MURA DI MALAPAGA, franz. AU-DELÀ DES GRILLES, auch LES MURS DE MALAPAGE)
Italien/Frankreich 1949
Regie: René Clément
Darsteller: Jean Gabin (Pierre), Isa Miranda (Marta/Malin), Vera Talchi (Cecchina/Janine), Andrea Checchi (Giuseppe), Robert Dalban (Bosco)


Der nicht mehr ganz junge Pierre ist auf der Flucht: In Frankreich hat er in einem Anfall rasender Eifersucht seine junge Frau oder Geliebte getötet, und die französische Polizei ist ihm schon auf den Fersen. Mit Hilfe des Matrosen Bosco kann er unter Deck eines Frachtschiffes entkommen, aber das fährt erst mal nur bis Genua und liegt da einige Tage vor Anker. Am besten sollte Pierre auf dem Schiff bleiben und die Weiterfahrt abwarten, doch dummerweise wird er gerade von unerträglichen Zahnschmerzen geplagt. So geht er, ohne Italienisch zu können, von Bord, um sich vom erstbesten Zahnarzt behandeln zu lassen und dann so schnell wie möglich zurückzukommen. Weil er nur Francs bei sich hat, wechselt er im Hafenviertel einen Teil davon in italienisches Geld, doch dabei gerät er an einen Ganoven, der ihm Falschgeld andreht und den Rest des Geldes klaut, ohne dass es Pierre zunächst bemerkt. Die ca. zwölfjährige Cecchina (in der deutschen Synchronfassung Janine), die ihm über den Weg läuft, bringt ihn zum Zahnarzt - sie spricht Französisch, denn sie ist mit ihrer Mutter erst kürzlich aus Nizza nach Genua gekommen. Beim Zahnarzt bemerkt Pierre den Verlust des Geldes, aber der Doktor zieht ihm den eitrigen Zahn trotzdem, freilich ohne Betäubung. Jetzt hat Pierre richtig Hunger, zugleich ist sein Kampfgeist auf ein Minimum geschwunden, und so beschließt er, sich der Polizei zu stellen - im Gefängnis wird man ihn wenigstens durchfüttern. Als ihn auf dem Polizeirevier zunächst mal niemand beachtet und eine Kellnerin aus einem Restaurant um die Ecke eine Mahlzeit bringt, ändert Pierre seinen Plan etwas: Er folgt der Kellnerin in ihr Lokal, um sich kostenlos den Bauch vollzuschlagen und danach zur Polizei zurückzukehren - mehr als der Totschlag wird ihm die Zechprellerei auch nicht einbringen.


Pierre gönnt sich also ein üppiges Essen und unterhält sich dabei mit Marta, der Kellnerin (in der deutschen Synchro heißt sie Malin). Wie sich erweist, ist sie die Mutter von Cecchina, und sie hat gerade Probleme: Sie hat sich in Nizza von ihrem herrschsüchtigen Mann Giuseppe, der zudem eine anrüchige Bar betreibt, getrennt und ist nach Genua geflohen, doch jetzt hat sie Giuseppe aufgespürt. Er bedroht Marta und will Cecchina mit sich nach Nizza nehmen. Just während Pierres Festmahl taucht er im Lokal auf, und Cecchina entkommt ihm nur, weil Pierre gerade im Weg steht. Als es ans Bezahlen geht, nimmt Marta die falschen Scheine entgegen und dreht es so hin, dass für den Wirt nicht mehr erkennbar ist, wer mit Falschgeld bezahlt hat, und sie gibt Pierre sogar noch echtes Wechselgeld zurück. Danach begleitet er Marta noch ein Stück auf ihrem Weg nach Hause, und er wehrt dabei souverän einen erneuten Angriff von Giuseppe ab, der ihr aufgelauert hat. Nun will Pierre, gut gestärkt und mit frischem Mut, nicht mehr zur Polizei, sondern bei Dunkelheit zurück auf das Schiff. Doch man kommt leichter aus dem Hafen heraus als in ihn hinein - Pierre schafft es nicht, an den Wachen vorbeizukommen. Damit er nicht auf der Straße übernachten muss, geht er zurück zu Martas Wohnhaus und fragt sich zu ihr durch. Marta ist von seiner Rückkehr überrascht und zwar einerseits nicht unerfreut, aber andererseits will sie seine Anwesenheit vor Cecchina geheim halten, und so bringt sie Pierre in ein Turmgeschoß, das als Dachboden dient, und bereitet ihm dort eine notdürftige Schlafstelle, die er mit Cecchinas Huhn teilt.

Giuseppe auf der Lauer
In Genua beginnen bekanntlich gleich hinter der Küste die Berge, und so ist ein Teil der Stadt von schmalen, steilen Gassen geprägt. Die "Mauern von Malapaga", das sind ein Teil der umfangreichen alten Stadtmauern, von denen sich in Genua mehr als in jeder anderen italienischen Stadt erhalten hat. Da gab es einst Forts und Kasematten, auch einen Schuldnerturm, und viele dieser trutzigen Gemäuer beherbergen nun, nach dem Zweiten Weltkrieg, schäbige Mietskasernen für die Gestrandeten. Auch Marta wohnt mit Cecchina in so einer von den äußeren Dimensionen her eindrucksvollen, aber halb verfallenen Wohnburg, die mal ein Kloster war, weit über der Küstenlinie. - Pierre schläft sich also auf dem Dachboden gründlich aus, und bei seiner Unterhaltung mit Marta am nächsten Vormittag hat sich an seinen Plänen nichts geändert - er will immer noch versuchen, so schnell wie möglich auf das Schiff zu kommen. Marta dagegen will ihn überreden, in Genua zu bleiben und eine falsche Identität anzunehmen. Sie sagt es noch nicht, aber es ist offensichtlich, dass sie auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm hofft. Unterdessen hat Giuseppe Cecchina auf dem Schulweg aufgelauert, um sie zu entführen. Doch sie macht soviel öffentlichen Aufruhr, dass Giuseppe, Marta und Cecchina zur Klärung des Vorfalls bei der Polizei landen. Bis zu einer endgültigen gerichtlichen Klärung behält Marta recht, und Giuseppe kündigt an, vorerst nach Nizza zurückzufahren. Er wird nun nicht mehr im Film auftauchen.


Marta hatte nach Pierres Übernachtung seine Anwesenheit immer noch vor Cecchina verheimlicht, doch die hat längst den Braten gerochen. Cecchinas Haltung Pierre gegenüber ist komplex und wechselhaft. Zunächst fand sie ihn interessant und war sichtlich stolz darauf, dass er ihre Hilfe benötigte, um den Zahnarzt zu finden. Doch jetzt, wo sie bemerkt, dass sich ihre Mutter für ihn interessiert (und sie auch noch ausschließt, indem sie nichts davon erzählt), wird sie eifersüchtig und empfindet Pierre als Eindringling, den sie loswerden will. Doch bei der Polizei ist sie natürlich loyal und erzählt nichts von Pierres Anwesenheit, weil das ein schlechtes Licht auf Marta werfen würde. Aber danach wird der Konflikt zwischen Mutter und Tochter deutlich, und Marta und Pierre fragen sich nun, ob Cecchina auch etwas von Pierres nächtlichem Mordgeständnis Marta gegenüber mitgekriegt hat. Cecchina sieht ihre Chance, Pierre loszuwerden, indem sie ihn mitten am Tag durch den Vordereingang in den Hafen schleust - mit ihr als Begleiterin erregt er keine Aufmerksamkeit. Nun ist es an Pierre, eine Entscheidung zu treffen. - Als Cecchina danach Marta im Lokal trifft, erzählt sie nur die halbe Wahrheit, nämlich dass Pierre auf dem Schiff ist und nicht mehr zurückkommt. Ihre eigene Rolle dabei unterschlägt Cecchina. Doch als die beiden nach Hause kommen, ist Pierre zu ihrer Überraschung schon da. Er hat sich im Hafen für Marta entschieden und ließ sich nur noch von Bosco seinen Koffer aushändigen, der noch an Bord war, und in dem er auch noch eine größere Menge Geld und einige Wertsachen hatte.

Mietskaserne; rechts unten: dort, im Turm, hat Pierre übernachtet
Pierre nutzt den bescheidenen Geldsegen, um Marta einige neue Kleider zu kaufen, und die beiden machen einen Ausflug. Die Welt der beiden scheint nun in guter Ordnung zu sein, doch in Wirklichkeit ist sie zum Untergang verdammt. Die französische Polizei hat sich mit der italienischen in Verbindung gesetzt, bei dem Ganoven, der Pierre beklaut hatte, fand man seinen Ausweis, und über den Zahnarzt hat sich die Genueser Polizei inzwischen zu Martas Restaurant vorgearbeitet und ihre Adresse herausgefunden. Auch wenn in der Mietskaserne kein Mensch der Polizei gegenüber jemals von Pierre gehört hat (obwohl alle von seiner Anwesenheit wissen, weil es hier keine Geheimnisse gibt) - es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn schnappen und nach Frankreich ausliefern wird. Cecchina, nun wieder loyal, will Pierre vor der Polizei warnen, wenn er vom Ausflug zurückkommt. Doch Pierre und Marta übernachten irgendwo (und schlafen wahrscheinlich miteinander, doch das wird zumindest in der deutschen Fassung ausgeklammert), so dass Cecchina Warnungen mit Kreide an die Mauern kritzelt und dann draußen auf den Stufen einschläft. Dort sehen sie dann Pierre und Marta bei ihrer Rückkehr, wollen sie umgehen - und laufen gerade deshalb der Polizei in die Arme. Pierre wird verhaftet, und er resigniert umgehend. Marta bleibt mit Cecchina zurück. Sie wird ihn wohl nie wiedersehen.

Cecchina mit Huhn, und beim Grübeln: Was soll sie mit Pierre anfangen?
Poetischer Realismus trifft Kino der Qualität trifft Neorealismus. So ungefähr könnte man DIE MAUERN VON MALAPAGA in einem Satz zusammenfassen. Fangen wir mit dem Neorealismus an. Dafür war einerseits der Schauplatz Genua zuständig. Zwar entstanden die Innenaufnahmen in Rom, aber es wurde viel on location in den Straßen und Gassen von Genua gedreht. Kameramann Louis Page fängt hier wuselndes Leben in den Straßen ebenso wie reichlich Spuren des Zerfalls ein, und gelegentlich fragt man sich, ob das Spuren des Krieges sind, oder ob der Verfall hier schon seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten am Werk ist. Dem Neorealismus zuzurechnen waren auch Cesare Zavattini und Suso Cecchi D'Amico, die zusammen mit Alfredo Guarini, dem Produzenten des Films (und Ehemann von Isa Miranda), die erste Drehbuchfassung schrieben. Cesare Zavattini war nicht nur ein sehr produktiver Drehbuchautor, sondern auch ein Vordenker und Theoretiker des Neorealismus. Besonders eng war seine Zusammenarbeit als Autor mit De Sica, für den er bei rund zwei Dutzend Filmen am Drehbuch mitarbeitete, darunter Hauptwerke des Neorealismus wie SCHUHPUTZER (SCIUSCIÀ), FAHRRADDIEBE und UMBERTO D. Aber auch mit anderen Regiegrößen von Antonioni über Fellini bis Visconti hat Zavattini zusammengearbeitet. Nicht minder beeindruckend ist das Œuvre von Suso Cecchi D'Amico, die ebenfalls an FAHRRADDIEBE beteiligt war, aber vor allem mit Visconti (u.a. SENSO, WEISSE NÄCHTE, ROCCO UND SEINE BRÜDER, DER LEOPARD) und später Zefirelli eng zusammenarbeitete. - "Kino der Qualität", das klingt zunächst mal positiv, aber es war ein negativ besetzter Kampfbegriff. So wie die Regisseure des Jungen Deutschen Films gegen "Papas Kino" antraten, so hatten die Kritiker der Cahiers du cinéma und baldigen Regisseure der Nouvelle Vague eben das "Kino der Qualität" (cinéma de qualité) oder die "Tradition der Qualität" (tradition de la qualité) als Feindbild auserkoren, gegen das sie unermüdlich polemisierten. Verstanden wurde darunter der französische Nachkriegsfilm, der sich ihrer Meinung nach durch ein Übermaß an sterilen Literaturverfilmungen auszeichnete. Typische und von den Cahiers-Kritikern angegriffene Regisseure waren etwa Claude Autant-Lara, Jean Delannoy, Henri-Georges Clouzot und auch René Clément.

Über den Dächern von ... nicht Nizza, sondern Genua
Nun muss man die damaligen Bilderstürmer von den Cahiers du cinéma in ihrem jugendlichen Überschwang zwar verstehen (und sie ließen ihren Worten ja auch Taten folgen), aber ihren Urteilen über die Geschmähten muss man sich nur partiell anschließen - oft schossen sie über das Ziel hinaus oder lagen ganz daneben, und das gilt auch für den vor allem von Truffaut angegriffenen Clément. Der hatte nach Lehrjahren als Mitarbeiter von Jacques Tati und als Dokumentarfilmer 1946 seinen semidokumentarischen ersten Spielfilm BATAILLE DU RAIL (SCHIENENSCHLACHT) vorgelegt, der ein Kapitel aus der Geschichte der Résistance in der französischen Eisenbahn rekapituliert. Im selben Jahr war Clément als technischer Berater oder (ungenannter) Co-Regisseur an Jean Cocteaus LA BELLE ET LA BÊTE beteiligt (mir ist nicht ganz klar, wie groß sein Anteil daran tatsächlich war). DIE MAUERN VON MALAPAGA war Cléments vierter Spielfilm, 1952 hatte er mit JEUX INTERDITS (VERBOTENE SPIELE) seinen vielleicht größten Erfolg. Auch danach hatte er interessante Filme vorzuweisen. Er probierte dabei viele Stile und Genres (was manchmal zu seinen Ungunsten ausgelegt wurde). René Cléments letzter Film erschien 1975, aber er lebte noch bis 1996.


Geradezu archetypische Vertreter des "Kino der Qualität" waren Jean Aurenche und Pierre Bost, die das Drehbuch von Zavattini, Cecchi D'Amico und Guarini noch überarbeiteten und insbesondere für die französischen Dialoge zuständig waren. Fast immer gemeinsam (bis zu Bosts Tod 1975) schrieben sie Drehbücher wie am Fließband. Der direkteste Cahiers-Angriff auf das Kino der Qualität bestand in Truffauts Artikel "Eine gewisse Tendenz im französischen Film" (Une certaine tendance du cinéma français) vom Januar 1954, und darin griff er auch Aurenche und Bost frontal an. Aber auch wenn Truffaut und seine Mitstreiter zeitweise die Meinungshoheit errangen, so überstanden das Aurenche und Bost unbeschadet. Sie blieben produktiv und schrieben in späteren Jahren beispielsweise die (meiner Meinung nach) besten Filme von Bertrand Tavernier.

Zerfall
War da nicht noch was? Ach ja, Poetischer Realismus. Da denkt man an Filme wie Duviviers PÉPÉ LE MOKO, Renoirs LA BÊTE HUMAINE und Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE. In all diesen Filmen treibt Jean Gabin seinem scheinbar unentrinnbaren Schicksal entgegen, und am Schluss des Films wird er verhaftet (PÉPÉ LE MOKO) oder er stirbt (in den anderen drei Beispielen). DIE MAUERN VON MALAPAGA nimmt quasi als Reprise dieses Handlungsmuster noch einmal auf. Aber 1949 war nicht nur der Schauspieler Jean Gabin sichtlich um ein Jahrzehnt gealtert, sondern auch die Figur Pierre lässt viel vom Mut und der Energie der Vorgänger aus den 30er Jahren vermissen. Nur halbherzig kämpft er um seine Zukunft, und mehr als einmal will er vorzeitig aufgeben und sich der Polizei stellen. Für Gabin waren die 40er Jahre ein schlechter Abschnitt, was seine Karriere betraf. Nur sechs Filme mit ihm kamen in diesem Jahrzehnt heraus, ein herber Rückschritt gegenüber seinem Triumphzug in der zweiten Hälfte der 30er Jahre. Erst in den 50er Jahren, als er sich in das neue Rollenbild des gesetzten älteren Herrn eingefügt hatte (der dann immer noch Gangster ebenso wie Kommissar sein konnte), startete er wieder durch. DIE MAUERN VON MALAPAGA fällt also in eine Übergangsperiode für ihn.

Der letzte Ausflug
Gabin hat gelegentlich seine Filmpartnerinnen an die Wand gespielt, in geradezu peinlichem Ausmaß beispielsweise in LES BAS-FONDS (NACHTASYL). Doch in DIE MAUERN VON MALAPAGA hat er in Isa Miranda eine in jeder Hinsicht gleichwertige Partnerin. Von ihren Anfängen in den 30er bis in die 50er Jahre war sie einer der größten weiblichan Stars im italienischen und europäischen Film (auch einen kurzen Abstecher nach Hollywood machte sie). Danach begann ihr Ruhm zu verblassen, auch wenn sie weiter aktiv blieb, und sie geriet in finanzielle Nöte. In DIE MAUERN VON MALAPAGA sieht man mit ihr keinen Star am Werk, sondern eine gänzlich unprätentiöse und ausdrucksstarke Darstellerin. Es ist einfach wunderbar, wie sie die Kellnerin verkörpert, die mit 34 schon die Hoffnung auf das große Glück aufgegeben hat, die nun die sich bietende Chance mit aller Kraft festhalten will und dafür auch den Konflikt mit ihrer Tochter in Kauf nimmt. Miranda bekam dafür 1949 in Cannes den Preis für die beste Darstellerin, wie auch Clément den für die beste Regie bekam. Und schließlich gab es für DIE MAUERN VON MALAPAGA auch noch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Cecchina kritzelt Warnungen an die Mauern - und schläft dann ein
DIE MAUERN VON MALAPAGA ist in Italien und Frankreich auf diversen DVDs erschienen. - Eine gewisse Verwirrung herrscht bezüglich der Laufzeit des Films. Die üblichen Quellen nennen 104 Minuten für Italien, 95 Minuten für Frankreich und 87 Minuten für Deutschland. Doch die Zensurfreigabe für Italien vom Juni 1949 nennt eine Länge von 2410 Metern, was einer Laufzeit von 88 Minuten entspricht. Wo da noch Platz für eine 104-minütige Version ist, weiß ich nicht. Und die 88 Minuten sind schon nah an den 87 Minuten der deutschen Version (woraus im Fernsehen durch den PAL-Speedup 83 Minuten werden). Falls die italienische Version einen längeren Vorspann hat als die deutsche, könnten die beiden Versionen sogar ansonsten gleich lang sein. Auf YouTube findet man derzeit eine französische Fassung von 83 Minuten, also exakt die Länge der deutschen Version. Ist das (bzw. im Kino 87 oder 88 Minuten) womöglich die tatsächliche Originallänge? Doch für die französischen DVDs wird auf Amazon eine Laufzeit von 95 Minuten angegeben (was dann im Kino sogar 99 Minuten ergeben müsste). Ich werde da nicht schlau daraus. - Wie dem auch sein mag: Die deutsche Synchronfassung (die ich bis jetzt als einzige kenne) mit einer TV-Länge von 83 Minuten findet man in ausgezeichneter Bildqualität auf archive.org als Stream und Download. Quelle ist eine Ausstrahlung im MDR. Ob man dieses Angebot auch in Deutschland als legal betrachten kann, entzieht sich meiner Kenntnis.

Sonntag, 3. Dezember 2017

Wiesbaden XXX – Eindrücke vom 30. exground Filmfest


Donnerstag, 23. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne


Vorfilm 1
youth-days-Trailer
Regie: diverse
Deutschland 2017
Die youth days, eine feste Rubrik des exground, vereint Filme über Jugendliche und/oder von Jugendlichen. Der Trailer dazu wurde von einem Kollektiv geflüchteter Jugendlicher aus Afghanistan, Pakistan, Somalia, Irak und Syrien gedreht, die bei der Vorführung auch anwesend waren. Es ist bisschen schade, dass es etwa zehn Minuten dauerte, bis sowohl Bild wie auch Ton funktionierten (und das auch noch gleichzeitig und synchron) – aber davon ließen sich die Macher nicht ihre gute Laune verderben. Der kurze Trailer, der die Daten der bisherigen youth days mit popartig verfremdeten Bildern der jeweiligen Plakate und grafischen Schriftspielereien präsentiert, haut einen nicht aus den Socken, aber es ist ja auch ein Amateurfilm, der zudem auch angenehm frisch und nicht so glattgebügelt wie der Hauptfestival-Trailer wirkte.


Vorfilm 2
MORSEN
Regie: Simon Spitzer, Jessyca R. Hauser
Österreich 2017, 6 Minuten
Zwei Mädchenmannschaften spielen die kanadische Sportart Lacrosse (so eine Art Hockey, wo man den Ball nicht schlägt, sondern ihn in einem am Ende des Stocks befestigten Korb trägt). Ein faires, aber auch hartes Spiel.
MORSEN ist wie ein Musikvideo inszeniert. Es wechseln sich Szenen auf dem Rasenspielplatz im Freien ab mit nachgespielten Momenten vor einem tiefen Schwarz – letztere sind besonders beeindruckend auf einer großen Leinwand. Die großen Pathosmomente eines Spiels, besonders wenn zwei Mädchen knüppelhart aneinandergeraten, werden in ausgedehnten, stilisierten Zeitlupen präsentiert. Jungs gibt es auch zu sehen, nämlich als Bläserkapelle, die den Mädchen einen deftigen, leicht Balkan-Beat-angehauchten Soundtrack zu ihren Bewegungen liefert.
Kurzweilig, gekonnt inszeniert, sehr schön.
Ich bin mir nicht sicher, ob möglicherweise das Team „integrativ“ ist, denn zwei Mädchen sahen so aus, als hätten sie Down-Syndrom. Der Film thematisiert das allerdings überhaupt nicht, was ich absolut bewundernswert fände (die sind im Team, und was anders zählt hier nicht).



Hauptfilm
WEIRDOS
Regie: Bruce McDonald
Kanada 2016, 84 Minuten
Nova Scotia am 3. Juli 1976. Die beiden Jugendlichen Kit und Alice reißen von Zuhause aus, um in Sydney (nicht die australische Metropole, sondern die Kleinstadt an der kanadischen Ostküste) eine Strandparty zu besuchen und einige Tage bei Kits Mutter zu verbringen. Für das Pärchen wird der Trip zu einem größeren und schwierigeren Abenteuer als gedacht.
WEIRDOS war in meinem Veranstaltungsplan als der Höhepunkt des ersten Tages vorgesehen. Die Erwartungen waren recht hoch, denn Bruce McDonald ist mir als der Regisseur des außergewöhnlichen PONTYPOOL bekannt, in dem ein Radiomoderator in seinem Studio nur über Funk Anzeichen einer Apokalypse bzw. einer durch „infizierte“ Worte ausgelöste Zombieseuche draußen wahrnimmt. Dieser recht einzigartige Film (als Orientierung könnte man sagen: eine Mischung aus Oliver Stones TALK RADIO und George Romeros DAY OF THE DEAD) hat die Messlatte vielleicht zu hoch gelegt. WEIRDOS war im Vergleich eine milde Enttäuschung.
McDonalds neuer Film ist ein Roadmovie in Cinemascope und Schwarzweiß. Ein Retro-Film sozusagen, der sich keineswegs nur auf seinem Post-1968-Feeling ausruht, sondern in vielerlei Hinsicht recht ambitioniert ist. Vielleicht zu ambitioniert. Road-Movie, Coming-Of-Age, Coming-Out, Generationen-Clash, Pop- und Undergroundkultur, 1968, seine Folgen und sein Katzenjammer – da kommt sehr vieles zusammen. WEIRDOS verbindet das ganze zu einer Ansammlung von kleinen Vignetten, die im einzelnen manchmal ganz reizvoll sein mögen, aber schlussendlich ein wenig beliebig und ohne Rhythmus erscheinen. Wenn Kit und ein Jugendlicher aus einer Gruppe von Bekannten, die die beiden trampenden Ausreisser mitgenommen haben, sich über sehnsüchtige Blicke langsam annähern, zeigen sich kleine Perlen visueller Erzählkraft. Wenn Kit einsam auf dem Sand liegt, im Hintergrund ein brennendes Feuer oder später eine aufgehende Sonne, erweist sich das Cinemascope als das richtige Format (in anderen Momenten erscheint er komplett beliebig). Wenn Kit Visionen davon hat, dass Andy Warhol ihm erscheint und ihm irgendwelche Tips für unterwegs gibt, wirkt die Komik allerdings etwas krampfhaft.
Das strahlende Licht von WEIRDOS ist allerdings ganz eindeutig die zwanzigjährige Julia Sarah Stone als Alice: frisch, keck, natürlich, charismatisch, aber geerdet – ein echter Star ohne oberflächliche Starallüren. Ihr Gesicht und ihre Mimik bilden eine ganz eigene, nonverbale Gefühlswelt. Der Film merkt das zwischendurch, verweilt manchmal wesentlich länger als dramaturgisch nötig auf ihrem Gesicht. Dass er sich zwingt, dann doch weiter zu erzählen, gehört zu seinen großen Schwächen. WEIRDOS wirkt daher auch sehr dissonant: das Drehbuch interessiert sich ganz offensichtlich mehr für Kit und das Drama seines Coming-Out und seiner schwierigen Beziehung zu seiner Mutter – doch das ganze Charisma des Films trägt die Figur Alice. Dylan Authors ist keineswegs schlecht als Kit, aber er spielt eben nur nach Drehbuch und verblasst gegenüber Stone.



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne

Internationaler Kurzfilm-Wettbewerb, Teil 1


THE DOCKWORKER‘S DREAM
Regie: Bill Morrison
Portugal / USA 2016 18 Minuten
Portugal in den 1920er, vielleicht auch 1910er Jahren: Einblicke in Häfen, Textil- und Papierfabriken, Straßenszenen und schließlich Safari-Aufnahmen aus Afrika (wahrscheinlich dem portugiesisch kolonisierten Teil).
Bill Morrison, über dessen Dokumentarfilm um die Bergung mehrerer Hunderter Filme im kanadischen Norden (DAWSON CITY: FROZEN TIME) Manfred hier kürzlich schrieb, präsentiert hier eine 18-minütige Collage, eine Art „Best-Of“ von dokumentarischen Stummfilmszenen, teilweise vielleicht Amateuraufnahmen, die er in portugiesischen Filmarchiven gefunden hat und die größtenteils aus den 1920er Jahren stammen dürften. Das ganze wird mit einer elektronischen Musik unterlegt, bei der sich die Interpreten ganz offensichtlich etwas gedacht haben: die präzise Montage der Ausschnitte erzeugt zusammen mit der Musik einen faszinierenden, hypnotischen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. THE DOCKWORKER‘S DREAM wirkt paradoxerweise gleichzeitig von einer archaischen Kraft und einer großen Modernität.
Bill Morrison ist voll und ganz Materialist und nimmt die Ausschnitte so, wie sie sind. Die Bildqualität der gezeigten Filme schwankt zwischen erstaunlich gut und so-la-la mittelmäßig, und an einigen Stellen ist die Zerstörung des Materials so weit, dass nur noch Schemen der Motive zu erkennen sind (woraus er in DECASIA einen ganzen Film machte). Was angesichts des Materials erstaunlich ist, ist die technische Gewandtheit: eine Szene in einer Textilfabrik (wahrscheinlich ein Industriefilm?) erforderte ganz offensichtlich einen sehr ausgeklügelten Dolly. Die Safari-Szenen sind noch beeindruckender: da hat sich ein Kameramann (nur ein Amateur?) tatsächlich teilweise aus halsbrecherisch schnell fahrenden Auto gelehnt und dabei die vorbeiflitzende Landschaft und galoppierende Tiere gefilmt.


SHEEPO
Regie: Ian Robertson
UK 2017, 4 Minuten
Ein Schafscherer erzählt von seinem Arbeitsalltag...
... klingt langweilig? SHEEPO ist kein Mini-Kitchen-Sink-Drama, sondern wird wie eine Art Actionfilm inszeniert, als würde hier nicht ein Mann mehrere Schafe scheren, sondern mit einem Rennwagen durch die Kurve fahren. Aus einer rasanten Montage der Bilder und des Tons wird der Rausch des Wettbewerbs um das schnellste Scheren, von dem der Protagonist erzählt, sichtbar und fühlbar gemacht.



HAMBRE („Hunger“)
Regie: Alejandro Montalvo
Mexiko 2017, 15 Minuten
Der Protagonist, der gerade Sex mit einer sehr dicken Frau hat und dabei stirbt, erzählt in Rückblende von seinem monotonen Leben als langweiliger, biederer Musterbeamter und Musterehemann, und davon, wie er an seinem 57. Geburtstag explodiert, all seiner Familie und Freunden unbequeme Wahrheiten auftischt und ausbricht.
Der Kurzfilmwettbewerb geht auf höchstem Niveau weiter. Die Erzählung in präzise kadrierten Tableaus erinnert zu Beginn ein wenig an Wes Andersons Stil, später kommt ein ätzender, schwarzer Humor hinzu, der irgendwo zwischen Chabrol und Chatiliez angesiedelt ist. Formal ist HAMBRE absolut vollendet. Das zeigt sich bei der großen Geburtstagsfeier, die mit fröhlichem Anstoßen und einer zunächst klassischen Ansprache des Erzählers beginnt, bis dieser abdriftet und zu einem allgemeinen verbalen Rundumschlag der Selbstanklage und Anklage ausholt und schließlich die verdatterten Familienangehörigen und Gäste sitzen lässt – der allmähliche Spannungsaufbau wird auch dadurch begünstigt, dass dies alles als eine einzige, fließende Plansequenz gefilmt ist.


IN A NUTSHELL
Regie: Fabio Friedli
Schweiz 2017, 6 Minuten
Gemüse, S-&-M-Kleidung, Bomben und ihre Bestandteile und überhaupt die ganze Welt hängen zusammen – eines geht in das andere über.
Ein experimenteller Spot-Motion-Film.
Zunächst dachte ich, dass der Macher der Bücher „Kunst aufräumen“ dahinter steht (der auch Schweizer ist): schließlich werden in IN A NUTSHELL auch Gegenstände einfach nur durch ihre systematische, „aufgeräumte“ Anordnung verfremdet, aber das hat sich dann doch als Täuschung erwiesen. Wer „Kunst aufräumen“ mochte, wird aber auch IN A NUTSHELL toll finden. Ich tat es.



ASFALT („Asphalt“)
Regie: Süleyman Demirel
Türkei 2016, 11 Minuten
Ein Mann und eine Frau sitzen im Taxi, scheinen sich aber nicht zu kennen. Durch einen Anruf kommt heraus, dass die Ehefrau des männlichen Gasts gerade eine Fehlgeburt erlitten hat. Später wird klar, dass der weibliche Taxigast besagte Frau ist.
Ein kurzes Kleinod in Cinemascope! In ausgedehnten Takes erzählt ASFALT nicht von Patriarchat, Familientragödien, Entfremdung in der Ehe, sondern behandelt diese Themen auf einer fast rein visuellen Ebene. Das Cinemascope-Format lässt nämlich sehr, sehr viel Platz zwischen den beiden Passagieren zu. Zwischendurch dreht sich die Kamera zum Fenster, drängt die Köpfe der Protagonisten an den Rand und blickt für etwa eine Minute hinaus: die Landschaft ist leicht verschwommen, weil der Schärfefokus auf die Wassertropfen am Fenster gesetzt ist. Später guckt die Kamera wieder aus dem Fenster und draußen ist mittlerweile der helle Wahnsinn ausgebrochen: in leicht verschwommenen Schemen erkennt man, wie ein Baum niederstürzt, ein Feldbrand beängstigende Ausmaße erreicht und Dutzende abgeschlachtete Kühe in großen Blutpfützen liegen. Familientragödie vermischt sich mit einer schaurigen, apokalyptischen Horror-Atmosphäre. ASFALT dauert nur 11 Minuten, ist aber dennoch großes Kino.


FATIMA MARIE TORRES AND THE INVASION OF SPACE SHUTTLE PINAS 25
Regie: Carlo Francisco Manatad
Philippinen 2016, 16 Minuten
Das philippinische Raumfahrtprogramm schickt zum ersten Mal Astronauten ins All. Das hat Auswirkungen auf das Leben eines älteren Ehepaars. Sie verzehrt sich geradezu vor Lust für ihren neuen Tanztrainer, findet es ganz normal, dass Sachen aus dem All auf ihre Terrasse fallen und hat einen Koffer, der beim Öffnen goldenes Licht ausstrahlt und furchterregende Geräusche macht (KISS ME DEADLY lässt grüßen). Er (der entfernt wie Mr. Miyagi aus THE KARATE KID aussieht) kann Messer schweben lassen, fällt aber zwischendurch auf der Straße in einen offenen Abwasserschacht hinein.
Die Langfilmfassung dieses merkwürdigen, surrealistischen Etwas würde ich mir wohl lieber nicht unbedingt antun wollen. Aber wenn er auch kein Highlight des Abends war: irgendwie mochte ich diesen Film doch ganz gut. Und dass man mit Weihnachtslichterketten nicht nur seine Fenster ausleuchten, sondern auch Schwung ins Ehebett bringen kann, ist doch auch gut zu wissen!


ALCLGLT
Regie: Nick Teplov
Deutschland 2017, 5 Minuten
Eine Art grafisch-elektronische Spurensuche nach der Ursprache der Menschheit.
Der Film beginnt mit einer Texttafel: der Mensch habe vor so und so vielen Jahren angefangen, Sprache zu entwickeln. Dann folgen verzerrte Film-, meist jedoch rein computergenerierte Bilder: ein ununterbrochener Fluss, der sich von rechts nach links bewegt (ein bisschen wie die Stargate-Sequenz von 2001: A SPACE ODYSSEY – bloß mit horizontaler statt vertikaler Bewegung). Dazu gibt es elektronische Musik, teils kakophonische elektronische Rückkoppelungsgeräusche. Ab und zu werden einige fremdartige Worte eingeblendet, die von einem Sprecher vorgelesen werden. Ich glaube, wenn man den Film in Dauerschleife spielen würde, könnte man ihn problemlos als Videoinstallationskunst präsentieren, was ich tatsächlich nicht negativ meine (dem restlichen Publikum schien er aber mehrheitlich nicht zu gefallen). Der Versuch, die Entstehung von Sprache in Urzeiten filmisch darzustellen, ist meiner Meinung nach gar nicht so schlecht gelungen. Trotz der elektronischen Mittel entwickelt der Film rasch eine sehr archaische Kraft: als hätte eine Kamera die Träume eines „Ur-Sprechers“ gefilmt.
Der Regisseur war anwesend und erzählte von dem, wenn man so will, wesentlich trivialeren Entstehungshintergrund. Bei einem Seminar an der Bauhaus-Uni Weimar kamen Dichter und Filmemacher zusammen, um Gedichte audiovisuell zu adaptieren. Nick Teplov visualisierte das Gedicht eines Kaukasiers, das in einer nahezu ausgestorbenen kaukasischen Bergsprache verfasst war.


DIE BRÜCKE ÜBER DEN FLUSS
Regie: Jadwiga Kowalska
Schweiz 2016, 6 Minuten
Ein Mann möchte wegen seines Herzschmerzes von einer Brücke springen. Eine Menschenansammlung auf einer etwas weiter flußaufwärts stehenden Brücke hält ihn durch Zurufen davon ab – und bringt sich selbst in Gefahr.
Ich bin zwiegespalten. Einerseits versprüht dieser animierte Film etwas, was man durchaus als visuelle Poesie bezeichnen könnte. Andererseits hat er etwas von einem nihilistischen Kneipenwitz mit bitterem Beigeschmack.



Freitag 24. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne

Vorfilm
ELASTIC RECURRENCE
Regie: Johan Rijpma
Niederlande 2017, 2 Minuten
Ein Porzellanteller wird fallen gelassen, zerbricht – und die Scherben wiederum entfalten sich zu immer längeren Ketten.
Ein schönes visuelles Gedicht.



Hauptfilm
120 BATTEMENTS PAR MINUTE
Regie: Robin Campillo
Frankreich 2017, 140 Minuten
Anfang der 1990er Jahre: Der Pariser Ableger von Act-Up inszeniert provokante Aktionen, um die politische und gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber AIDS zu bekämpfen und die pharmazeutische Forschung zur Freigabe von Ergebnissen zu bewegen.
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES war von mir als erwarteter Höhepunkt des Tages vorgesehen, aber auch heute kam es anders. Alleine wegen 120 BATTEMENTS PAR MINUTE hat sich meine Reise nach Wiesbaden gelohnt, auch wenn ich in den der ersten Dreiviertelstunde kaum Zeit hatte, das überhaupt zu merken. Mit einem furiosen Tempo stürzt Robin Campillo (selber ein ehemaliger Act-Up-Aktivist) den Zuschauer mitten in die hitzigen Debatten bei den wöchentlichen Meetings, in die aufrührerischen, teilweise eskalierenden Aktionen der Gruppe bei Vorträgen der staatlichen AIDS-Kommission oder in den Büroräumen eines Pharmakonzern, in die stroboskop-beleuchteten Nachtclubs, in denen die Aktivisten nach mehr oder minder gelungenen Aktionen tanzen und feiern.
Etwa zwei Dutzend Figuren werden dabei „nebenbei“ vorgestellt. 120 BATTEMENTS PAR MINUTE interessiert sich nicht für konventionelle Dramaturgie, ist vor allem ein radikal demokratischer Ensemble-Film. In der ersten Hälfte gibt es keine eigentliche Hauptfigur. Im weiteren Verlauf rücken Sean und Nathan etwas mehr in den Fokus: ersterer ein Aktivist, den man wohl dem „ultraradikalen“, eskalationsbereiten Flügel der Gruppe zurechnen könnte, letzterer ein HIV-negativer, eher schüchterner Mann, der Seans neuer Liebhaber wird. Dass die beiden in der zweiten Hälfte etwas mehr in den Mittelpunkt rücken, ist eher strukturell als wirklich dramaturgisch motiviert. Ihre Beziehung, die in einem anderen Film zum Tränendrüsendrücker ausgeschlachtet werden würde, wird zum Kristallisationspunkt der behandelten Themen. In den intimen Zweierszenen der beiden, ihren langen Gesprächen, geht es im Grunde immer um harte politische Fragen. „Das Private ist politisch“ und auch Seans Sterben und schließlich sein Tod gegen Ende des Films ist politisch. Kein Unfall, sondern ein Opfer von Gleichgültigkeit, von politischen Verzögerungstaktiken – auch wenn Sean selbst nach seinem Tod gleichgültigen Versicherungsvertretern ans Bein pinkelt bzw. ihr Essen verdirbt.
So dramaturgisch offen die Struktur, so groß ist die intellektuelle und emotionale Komplexität, die 120 BATTEMENTS PAR MINUTE seinen Zuschauern guten Gewissens zumutet. Die portraitierte Act-Up-Gruppe ist extrem heterogen: HIV-Positive und -Negative, junge, flamboyante linksradikale Schwulen-Aktivisten und unscheinbar, bieder-respektable Mittvierziger-Damen, Alpha-Männchen und stille Teenager. Den erbitterten Grabenkämpfen zwischen Radikalen und Pragmatikern zuzusehen, die auch noch durch ganz persönliche Animositäten genährt werden, ist bisweilen schmerzhaft – und in ihrer durchaus gerechten Sturheit wirken die Radikalen manchmal grenzwertig unsympathisch. In einer Schule, wo die Aktivisten Flyer verteilen: Lehrer, die ihnen Sexualisierung der Jugend vorwerfen, andere die ihnen gerne das freie Wort erteilen, weil die Sache so wichtig ist; Schüler, die bei der Erwähnung von Oralverkehr kichern, andere, die die Aktivisten wie Helden bewundernd anschauen und die nächsten, die sie als Tunten beschimpfen. Nathan erzählt zärtlich von einem vergangenen Geliebten – und davon, dass er sich weigerte, ihn im Krankenhaus zu besuchen, als er dort wahrscheinlich sterbend lag. Der unbändige Zorn der Act-Ups bei der Besetzung des Pharma-Konzerns betrifft zunächst ganz offensichtlich Personen, die mit der Medikamentenzulassungspolitik nichts zu tun haben. Seans Mutter, die den Aktivismus ihres Sohns wohl eher nolens volens tolerierte, verhandelt nach seinem Tod mit dessen Act-Up-Kollegen über die gerechte Verteilung seiner Asche. Kurz: Die Gesellschaft und die Gefühle, die 120 BATTEMENTS PAR MINUTE zeigt, sind gespalten und komplex. Der Film entscheidet sich dagegen, irgendetwas zu vereinfachen.
Robin Campillo hat nicht nur einen sehr demokratischen Film gedreht, sondern auch einen Film, der genauso zornig und bewegt ist wie die Aktivisten, die er portraitiert. Und es ist auch ein Film für das Leben – auch wenn einige der Protagonisten ihren eigenen frühen Tod bereits vor den Augen haben. Spielerische Debatten, lustvoller Sex, größenwahnsinniges Phantasieren über praktisch unrealisierbare Aktionen – 120 BATTEMENTS PAR MINUTE ist auch ein Film von unbändiger Lebensfreude. „Des molécules pour qu‘on s‘encule!“ (Moleküle, damit wir arschficken können) soll das Motto von Act Up bei einer Gay Pride werden – politisch und witzig, nicht resigniert und trist. Die ganze Seine soll blutrot gefärbt werden, so eine der überambitionierten Ideen für eine Aktion. Diese Phantasie kann das Kino (mit ein paar Computereffekten) realisieren. Dieses letzte Bild: vielleicht ein Traum von Seans Seele, dessen Asche in einer herzerwärmenden Szene zuvor von seinen Genossen auf das köstliche Partybüffet eines Pharmaunternehmens geschmissen wird (so etwas in der Art hatte Sean in seinem Testament gewünscht).
Die 120 Schläge pro Minute sind die schnellen Tanzbeats in der Feierabend-Disco; sie sind die Herzfrequenz, wenn man gerade illegal das Büro eines Pharmakonzerns betreten hat und ein Wasserballon mit Kunstblut auf das Logo an der Wand schmeißt; 120 BATTEMENTS PAR MINUTE läuft seit 30. November in einigen deutschen Kinos.



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne

COPA-LOCA
Regie: Christos Massalas
Griechenland 2017, 14 Minuten
Am griechischen Touristenort Copa-Loca ist außerhalb der Touristensaison im Sommer tote Hose. Um das auszugleichen, schläft Paulina gerne mit jedem Mann am Ort, der nicht bei drei auf den Bäumen ist und philosophiert mit ihnen über die Cocktail-Saisonkarte und über Dilemmata à la „Wenn du eine Deformation an der Hand hättest, was wäre dir lieber: vier oder sechs Finger?“
Gezwungen skurril. Irgendwie nicht meins.



SULUKULE MON AMOUR
Regie: Azra Deniz Okyay
Türkei 2016, 6 Minuten
Im Istanbuler Stadtteil Sulukule revoltieren zwei Mädchen gegen ihre patriarchalische Umgbung, indem sie in der Öffentlichkeit tanzen.
Die beiden Hauptfiguren werden dafür angefeindet, begafft, angepöbelt, von Sicherheitskräften vertrieben. Dass sie auch noch keine ethnische Türkinnen, sondern Romnja sind, ist dabei auch keine große Hilfe. SULUKULE MON AMOUR steht aber voll und ganz zu ihnen und in spektakulären Zeitlupenbildern, Untersichten und ausgesuchten Posen vor atemberaubenden Istanbul-Panoramen werden die beiden rein visuell zu verwegenen Heldinnen gemacht.



MANIVALD
Regie: Chintis Lundgren
Estland / Kroatien / Kanada 2017, 13 Minuten
Der 32-jährige, hochgebildete, aber offenbar arbeitslose Manivald lebt bei seiner überdominanten Mutter. Als die heimische Waschmaschine kaputt geht, kommt ein muskulöser, attraktiver Handwerker vorbei. Der lässt sich zunächst bereitwillig von Manivald verführen, schläft aber wenig später auch mit der Mutter. Eine Mutter-Sohn-Krise und ein lange überfälliger Auszug folgen...
...ach ja, und das ganze ist übrigens ein Animationsfilm mit anthropomorphen Füchsen als Figuren! Dass es so gut funktioniert, liegt wohl daran, dass MANIVALD das ganze ohne jegliche Selbstironie vollkommen ernsthaft durchzieht. Ein frecher, frischer und ganz un-jugendfreier Humor durchzieht diesen Film, der genauso als absurde Komödie funktioniert wie auch als kurzes Drama über ein verspätetes Coming-of-Age.


THREE STEPS
Regie: Ioseb Bliadze
Georgien / Deutschland, 19 Minuten
In einem Elendsvorort von Tiflis leben unter anderem Mariam und ihr Vater. Das junge Mädchen hat es da schwer: erste Perioden, latente Gewalt, patriarchalischer Irrsinn, Heuchelei und Väter, die ihre Töchter zum Diebstahl zwingen oder gar prostituieren.
THREE STEPS wurde von der Jury zum Gewinner des internationalen Kurzfilmwettbewerbs gekürt. Für mich persönlich ist dies angesichts der tollen Filme, die da liefen, eine völlig unverständliche Entscheidung. THREE STEPS mag zwar eine „realitätsnahe“ (man könnte auch sagen trostlose) Perspektive auf Elendsviertel bieten, aber diese Mischung aus demonstrativ ausgestellter „Problemorientierung“ und exploitativem (aber dennoch verklemmten) Voyeurismus sagt mir überhaupt nicht zu.



AYNY
Regie: Ahmad Saleh
Deutschland 2016, 11 Minuten
Irgendwo im Nahen Osten: zwei Brüder hören von ihrer Mutter ein Märchen. Wenn Häuser zerstört werden, wachsen Blumen nach, in denen sich wiederum neue Häuser befinden. Eine gute Gelegenheit für die beiden Kinder, diese mysteriöse Welt zu erforschen – doch in der Realität lauern viele Gefahren.
Ein sehr poetischer Stop-Motion-Film mit Puppen, der auf universelle Weise von den Schrecken des Krieges erzählt (auch wenn einem natürlich Syrien in den Sinn kommt). AYNY schafft mühelos den Balanceakt zwischen leiser Verträumtheit und einigen drastischen Bildern.



ORPHAN
Regie: Anna Isabell Matutina
Philippinen 2017, 3 Minuten
Ein kleines Mädchen erinnert sich daran, wie Todesschwadronen des gegenwärtigen philippinischen Präsidenten Duterte (im offiziellen Sprachgebrauch: War on Drugs) ihre Eltern bei einer Razzia hinrichteten.
ORPHAN ist auf eine gewisse Weise der krasse Ergänzungsfilm zu AYNY: ebenfalls ein Stop-Motion-Puppenfilm, der von kriegerischer Gewalt aus kindlicher Perspektive handelt. Wo AYNY poetisch-verträumt ist, wirkt ORPHAN absolut „krude“ (das meine ich analytisch, nicht wertend), wie ein harter Faustschlag in den Magen. Papa ist als Superheld-Spielzeugfigur zu sehen, Mama als Barbie-artige Puppe, der kleine Bruder ist eine wesentlich größere Baby-Figur als das erzählende Mädchen – die ersten beiden werden ohne Vorwarnung „erschossen“, Ketchup-Sauce wird auf die Körper und Gesichter der Puppen geschmiert, und fertig ist ein 3-minütiger Horrorfilm, der zugleich auch das Dokument realer politischer Gewalt aus der Jetzt-Zeit ist, aus einem Land, das im Westen gemeinhin als guter Partner gilt.
Anna Isabell Matutina war bei der Vorführung anwesend und sprach anschließend bei einem Q & A. Sie engagiert sich schon seit Jahren für Menschenrechte. Diesen Film hat sie auch dazu konzipiert, um das philippinische Publikum, dessen Mehrheit mit großer Begeisterung Dutarte gewählt hat und dessen Massaker ausdrücklich befürwortet, aufzurütteln – mit eher gemischten Ergebnissen, wie sie erzählte. ORPHAN darf gezeigt werden, wird aber meist sehr negativ rezipiert. Matutina selbst gilt in ihrem Land als staatsgefährdende Aufrührerin.



LES MISÉRABLES
Regie: Ladj Ly
Frankreich 2017, 16 Minuten
In einem Pariser Elendsvorort: drei Männer befinden sich auf Streifentour. Allmählich wird klar, dass sie Polizisten sind und keine Gangster. Der Neue in der Gruppe tötet bei einer Verhaftung einen jungen Mann und wird bei der Tat von der Drohne eines Teenagers gefilmt. Eine Jagd gegen die Zeit nach dem Besitzer der Drohne beginnt.
Der nächste Schlag in den Magen sitzt wieder und zwar auf ganz eigene Art und Weise. Während ein Teil der Berichterstattung die Probleme der „banlieues“ als kulturelles (heißt: ethnisches) Problem behandelt, sieht LES MISÉRABLES die „Problemvororte“ eher als Orte einer allumfassenden, systematischen Korruption, in denen eine repressiv auftretende Staatsgewalt und kriminell-mafiöse Strukturen nicht diametral gegenüber stehen, sondern eine unheilvolle Symbiose eingehen.
Polizist und Gangster als Spiegelbild – das ist ein total alter Hut, wird aber hier eben nicht als Genre-Stereotyp aufgepropft, sondern tatsächlich quasi als soziologisches Analysemittel genutzt. In den ersten fünf Minuten ist überhaupt nicht klar, wer die drei Männer sind, die in Zivilkleidung, in einem Zivilauto durch die Straßen fahren. Ihre Ausdrucksweise, ihre Verhaltensmuster, ihre demonstrativ ausgestellte Männlichkeit lässt zunächst an Gangster denken. Tatsächlich sind es aber richtige Polizisten, die besonders angesichts ihrer offensichtlich sehr begrenzten intellektuellen, professionellen, emotionalen und allgemein zwischenmenschlichen Kapazitäten mit viel zu viel Exekutivmacht ausgestattet sind – der Ausnahmezustand seit den Terroranschlägen im November 2015 sei Dank. Diese Vollmachten nutzen sie auch reichlich aus, um Passanten zu schikanieren, Teenager-Mädchen an Bushaltestellen sexuell zu belästigen, Verdächtige zu foltern oder sich großzügig „bavures“ zu leisten. Letzteres wird für das unheilvolle Polizeitrio nur durch die Videoaufnahme zum echten Problem. Mit dem inoffiziellen Bürgermeister der „cité“ (man könnte auch sagen: dem örtlichen Mafia-Chef) einigen sich die Polizisten schließlich auf einen kostengünstigen Deal, und zwar so rasch, dass einem kalt der Rücken herunter läuft.
LES MISÉRABLES, so sehr er auch als Diskussionsbeitrag über Polizeigewalt in Elendsviertel gesehen werden kann, ist aber vor allem auch ein ungemein spannender, mitreissender, zackig und effizient inszenierter kleiner Bad-Cop-Thriller. Großes Genre-Kino sozusagen – in knapp einer Viertelstunde!



SILENT LONDON
Regie: Ivelina Ivanova
UK 2017, 3 Minuten
Eindrücke aus dem Londoner Nachtleben...
SILENT LONDON ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen britischen Stummfilmblog, sondern zeigt Szenen der Londoner Straßen und des Nachtlebens in Aquarell-Skizzen. Das klingt banaler, als es ist, denn das Resultat sieht unglaublich gut aus. Das Luftige und Ätherische der Wassermalerei verwandelt den Film in eine Art impressionistisches Bewegtbild: zunächst auf weißem, dann auf schwarzem Hintergrund (letzteres machte auf der großen Leinwand richtig was her!).
Regisseurin Ivelina Ivanova erklärte beim Q & A, dass sie eigentlich einen klassischen Dokumentarfilm über das Londoner Musikclubsterben durch Gentrifizierung drehen wollte. Ihre Recherchemethode bestand zunächst darin, die noch bestehenden Clubs zu besuchen, wo sie allerdings lieber feierte als ernsthaft zu recherchieren. Bald verlor dann die Lust auf einen konventionellen Dokumentarfilm und drehte stattdessen mit ihrer liebsten künstlerischen Ausdrucksform (nämlich Aquarell) lieber dieses wunderschöne Kleinod.


XIAO CHENG ER YUE („A Gentle Night“)
Regie: Qiu Yang
China 2017, 15 Minuten
Ein Elternpaar vermisst in der Nacht zum neuen Jahr seine 13-jährige Tochter. Nach der Aufgabe der Vermisstenmeldung bei der Polizei streift die Frau alleine durch die Stadt auf der Suche nach der verlorenen Tochter.
XIAO CHENG ER YUE bietet in knapp einer Viertelstunde eine übersichtliche Darstellung all der Mittel, die man als „internationale Arthouse-Ästhetik“ bezeichnen könnte: fixe Tableaus, Leute, die wenig reden und ausdruckslos starren, keine intradiegetische Musik, ein bemüht „offenes“ Ende. Das ist in dieser zumal auch noch recht leblosen Form irgendwie ausgelutscht, oft ziemlich austauschbar. Nicht meins.


22.00 Uhr, Caligari Filmbühne


Vorfilm
MARTIEN
Regie: Maxime Pillonel
Schweiz 2016, 9 Minuten
Der taube Tankstellenangestellte Martien ruiniert wieder einmal einen Turm aus Energy-Drink-Dosen und wird gefeuert. Bevor er geht, wechselt er die Batterie seines Hörgeräts aus und merkt dabei (zunächst) nicht, dass die Tankstelle überfallen wird.
In seiner sehr geradlinigen Eskalationslogik ist MARTIEN etwas simpel gestrickt, aber das ganze wird so schnörkellos durchgezogen, dass es kurzweilig bleibt. Nett für zwischendurch.



Hauptfilm
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES
Regie: John Cameron Mitchell
UK / USA 2016, 102 Minuten
1977, im Londoner Stadtteil Croydon. Die Queen feiert ihr silbernes Thronjubiläum, die Punk-Jugend probt den Aufstand bzw. feiert auf ihre Weise. So auch Henry, der mit zwei Kumpels eines Nachts auf einer mysteriösen Party mit merkwürdigen Gästen landet. Handelt es sich um eine radikale, kannibalistische Selbstmörder-Sekte oder um Außerirdische, die die Erde erforschen? Zan, Angehörige dieser Sekte/Außerirdischengruppe, rebelliert gerade selbst gegen die ihren und schließt sich den jungen Punks an.
Slight auteurism disappointment no 2... John Cameron Mitchell ist mir als Regisseur von SHORTBUS bekant, diesem Ensemblefilm um einige frustrierte und depressive Menschen aller sexueller Orientierungen, die die Lösung ihrer Probleme in einem Swingerclub namens „Shortbus“ finden. SHORTBUS wurde berühmt-berüchtigt für seine expliziten, teils nicht-simulierten Sexszenen, ließ allerdings diesen „Tabubruch“ im Angesicht seiner humanistischen Perspektive und schieren Lebensfreude völlig vergessen. HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES war daher mein erwarteter Höhepunkt des Freitags und fiel dann vergleichweise mild enttäuschend aus.
Die radikal-demokratische Herangehensweise in SHORTBUS, wo jeder Charakter wichtig ist, weicht in HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES wieder klassischeren Gefilden, in denen viele Figuren eben auch reine Klischees sind und bleiben. Als Genre-Hybrid zwischen Retro-Punk-Komödie, Science-Fiction, Liebesfilm und Coming-of-Age hat der Film zwar durchaus seine Berechtigung, aber immer wieder wirkt der Film von seinem eigenen Drehbuch und seinen vielen, nicht immer ganz so originellen Einfällen gehetzt. Dadurch erscheint er gleichzeitig zu lang(wierig) und zu kurz. Ich hätte mir viel mehr ruhige, zweisame Momente mit Henry und Zan gewünscht. „Do more punk to me!“ fordert sie ihn am Anfang auf – viel davon kommt dann allerdings nicht. Die Liebe zwischen den beiden Figuren, also das eigentliche Herz des Films, bleibt stets mehr Behauptung als dass da wirklich eine Chemie fühlbar wäre. Am ehesten gibt es das in einer ausgedehnten, videoclip-artigen Szene, die man wohl als die „Stargate-Sequenz“ von HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES bezeichnen könnte.
Ansonsten huscht der Film von kleinen Einfällen, Plotpoints, uninteressanten Nebenfiguren zu den nächsten. Das Schild „Clapton‘s bin here“ auf Henrys Zimmermülleimer wird mir mehr im Gedächtnis bleiben als vieles andere. Als einer von Henrys Kumpels von einer Außerirdischen offenbar gefistet wird und sie sich dabei selbst klont, ist das eher wie ein Outtake von MR. BEAN gefilmt als wie „body horror“ à la Cronenberg und die „Ruckel-Zeitluppen“, mit denen der Film immer wieder arbeitet, sehen schlichtweg fürchterlich aus. Eine weitere maßgebliche Schwäche liegt meiner Meinung auch darin, dass die merkwürdige Gruppe rasch eindeutig als Außerirdische identifiziert werden: die Unsicherheit, dass es sich vielleicht um gehirngewaschene Mitglieder einer Selbstmord-Sekte handeln könnte, war wohl doch zu unbequem – zum Punk-Motto „No Future“ hätte das allerdings schmerzhaft treffend gepasst und dem Film auch eine weitaus größere emotionale Fallhöhe gegeben.
Allerdings muss ich auch zugeben, dass es spät war, und dass ich immer wieder große Mühe hatte, bei der reinen OV-Vorstellung dem extremen englischen Slang der Dialoge ohne Untertitel zu folgen. Gerade beim Epilog habe ich wortwörtlich kein einziges Wort verstanden und ich frage mich, wie dieser Film in den USA laufen wird. Und Nicole Kidman in ihrer, nennen wir sie mal „mittleren“ Karrierephase gefällt mir immer besser. Hier ist sie als eine Art Vivienne-Westwood-Wiedergängerin zu bewundern.



Samstag 25. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne

Vorfilm
UND WAS SAGST DU...
Regie: Schülerkollektiv der Heinrich-von-Kleist-Schule Wiesbaden
Deutschland 2017, 13 Minuten
Einige Schüler der Heinricht-von-Kleist Schule in Wiesbaden werden zum Thema Mitbestimmung befragt.
Eindeutig eher ein pädagogisches als ein cineastisches Projekt.



Hauptfilm
ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW
Regie: Claus Withopf
Deutschland 2017, 80 Minuten
Ein Portrait der Punk-/Post-Punk-/New-Wave-/Spoken-Word-Sängerin, -Autorin und -Künstlerin Anne Clark – erzählt von ihr selbst und ihrer Musik.
Anne Clark war für mich eine vollkommene Neuentdeckung. Ich habe von ihr bisher noch niemals in meinem Leben gehört. Nach diesem Dokumentarfilm weiß ich allerdings, dass sie eine extrem interessante Künstlerin ist: einige der gezeigten/abgespielten Songs bzw. Auftritte fand ich sehr interessant, einiges war nicht so meins – ihr Werk ist jedenfalls so eigensinnig wie vielfältig. Außerdem ist sie ein sehr sympathischer Mensch und eine echte Humanistin.
Die Form dieses Dokumentarfilms hat sich mit zunehmender Laufzeit immer mehr als  interessant und erfrischend anders erwiesen. Es gibt wohl wenige Film-Genres, die ich so sehr verabscheue wie der abendfüllende Talking-Head-Dokumentarfilm. Tatsächlich war Anne Clark die einzige sprechende Protagonistin von ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW: Anne Clark spricht, Anne Clark singt, Anne Clark trägt ihre Lyrik vor, Anne Clark tritt beim Konzert auf – niemand sonst, der ständig dazwischen quasselt und selbstgefällig über sie spricht. Wenn Musik lief, gab es manchmal statt Anne Clark grafische Elemente zu sehen: Texteinblendungen der Songtexte bzw. Lyrik oder auch „impressionistische“ Naturbilder (aufgenommen mit einer 16mm-Kamera, wie ich beim Q & A erfuhr). Das war zunächst gewöhnungsbedürftig, doch schließlich stellte sich ein ganz eigener Rhythmus aus Anne Clark in verschiedenen Vortrags-Modi und visuellen „Impressionen“ ein.
Die Überraschung des Abends (die allerdings schon bei einer Vorführung am Vortag angekündigt worden war): Anne Clark erschien selbst zur Vorführung, zusammen mit dem Regisseur, vier Kamerapersonen sowie einer Schriftdesignerin. Einen der Kameramänner der Second Unit erkannte ich als einen Co-Zuschauer des diesjährigen Terza-Visione-Festivals, der bei fast allen Filmen anwesend war und bei DIABOLIK gar mein direkter Sitznachbar war. So klein ist die Welt!



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne


ALBÜM
Regie: Mehmet Can Mertoğlu
Türkei / Frankreich / Rumänien 2016, 104 Minuten
Ein gutbürgerliches Ehepaar ist schwanger... Nun, nicht ganz: ihr Bauch ist eine Attrappe. Denn niemand darf erfahren, dass Cüneyt und Bahar eigentlich keine Kinder bekommen können und im Geheimen eine Adoption planen. Mit dem erfolgreich adoptierten Kind zieht das Paar schließlich in eine neue Stadt, wo ihn eine bessere Stellung erwartet, während sie den neuen Freunden stolz ihr Kind präsentieren kann. Mehrere Zwischenfälle bringen das „Projekt eigenes Kind“ aber in Gefahr...
ALBÜM ist Gift und Galle und absolut gnadenlos. Mit der Türkei kenn ich mich persönlich nicht so aus, aber das Portrait, das Mehmet Can Mertoğlu von dem kleinkarriert-spießigen Ehepaar zeichnet, das seine Kinder in der Öffentlichkeit aggressiv als Status- und Prestigesymbol präsentiert und hinter unter einem freundlichen Gebaren eine gärende, stinkende Brühe aus Klassendünkel, sozialer Geltungs- und Aufmerksamkeitssucht, Rassismus, Sexismus und purer Heuchelei deckelt – das ist durchaus sehr universell. Auf eine gewisse Weise könnte der Film genauso gut in Deutschland anno 2017 spielen: Kinder sind Kinder, syrische Flüchtlinge bleiben syrische Flüchtlinge, Kurden aus dem Osten können auch durch Polen aus dem Osten ersetzt werden – und was heißt „besorgte Bürger“ auf Türkisch?
Gefilmt ist ALBÜM größtenteils in statischen Tableaus, die allerdings keine Ideenlosigkeit kaschieren, sondern visuell extrem spannend sind. Das beginnt schon mit dem ersten Bild: wir befinden uns in einem Kuhstall, und angesichts des lauten Muhens könnte man denken, dass sich daneben eine Schlachterei befindet. Auftritt des Bullen, der abgeführt wird – ein kleiner Schwenk zeigt uns dann, dass er zur Begattung einer Kuh geführt wird. Der Akt ist so kurz wie unspektakulär – nach dem Schwenk zurück: Abgang Bulle.
Wie meisterhaft Mertoğlu den filmischen Raum beherrscht, zeigt sich bei den Audienzen der Adoptionsbeamten. Cüneyt und Bahar sitzen auf Stühlen etwas tiefer als der auf dem Bürosessel thronenden Beamten (der allerdings selbst einem obligaten Atatürk-Portrait an der Wand hinter ihm überragt wird). Nachdem das Paar ein Kind „besichtigt“ hat und es ablehnt, weil es ein Mädchen ist und die Kleine wie eine Kurdin (wie er meint) oder wie ein syrischer Flüchtling (so sie) aussähe, wechselt die Kamera, als wir im Büro zurück sind, die Perspektive und befindet sich hinter dem Beamten. Im Gespräch mit den beiden Adoptionswilligen sucht der Beamte konzentriert nach Daten auf seinem Computer – spielt also Karten. Hinter einer „objektiven“ Realität steckt oft eine andere „objektive“ Realität. Wie die Bilder, die Cüneyt während Bahars „Schwangerschaft“ immer wieder von ihr und ihrem „Babybauch“ schießt: „Du schläfst gerade, mach den Mund etwas auf [Pause] Nicht so weit, du bist hier nicht beim Zahnarzt!“.
Mit „klassischem“ Realismus hat ALBÜM wenig am Hut. Die Orte der Macht, der Bürokratie, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wirken immer leicht grotesk verzerrt. Eine scheinbar endlos lange Kamerafahrt durch eine tobende Schulklasse erinnert möglicherweise nicht ganz umsonst an den Stau in Godards WEEKEND. Eine ähnlich aufgebaute Fahrt führt uns durch das Finanzamt, in dem Bahar arbeitet, wo sämtliche Mitarbeiter mit dem Gesicht auf der Tischplatte tief schlafen.
Beim Q & A mit dem Regisseur Mehmet Can Mertoğlu und dem Second Unit Director Mustafa Emin Büyükcoşkun wurde nicht nur unter anderem Jacques Tati, sondern besonders die „Neue Rumänische Welle“ der letzten Jahre als Inspirationsquelle genannt. Die Inspiration wirkte bis zur personellen Besetzung der Crew: als Director of Photography arbeitete der Rumäne Marius Panduru, der einige Filme der „Welle“ fotografiert hat. Auch wenn ALBÜM durch zahlreiche internationale Filmfestivals tourt: in der Türkei selbst haben viele Zuschauer den Film gehasst (aber einige auch sehr geliebt), so Mertoğlu. In Wiesbaden war das Verhältnis nicht völlig anders. Vielleicht sind ganz viele Leute während des Q & A gegangen, aber vom Gefühl her hat ALBÜM etwa zwei Drittel des Saals während der Vorführung leer gefegt. Auch zwei Zuschauerinnen, die neben mir saßen, gingen etwa zur Hälfte des Films. Auf ihre ausgesucht klugen Kommentare (à la „Das ist aber ein hässlicher Mann!“ für den wunderbaren, sehr expressiven Nebendarsteller eines stocksteifen Adoptionsbeamten) musste ich in der zweiten Hälfte leider verzichten.



22.00 Uhr Caligari Filmbühne

Vorfilm
APOLLO 11 1/2
Regie: Olaf Held
Deutschland 2016, 6 Minuten
Die US-Flagge auf dem Mond hat sich aus unerfindlichen Gründen bewegt, verdeckt deshalb durch den Schatten, den sie wirft, ganz Wyoming und taucht den Bundesstaat in tiefe Finsternis. Die geheime Mondmission „Apollo 11 1/2“ wird geschickt, um die Flagge wieder zu verrücken.
Mit Archivbildern montiert, jedoch einem eigenen Off-Kommentar versehen, präsentiert sich der Film wie ein Wochenschau-Film. Nicht schlecht, aber letztlich einer dieser etwas zu ausgedehnten One-Joke-Kurzfilme.



Hauptfilm
ALIVE IN FRANCE
Regie: Abel Ferrara
Frankreich 2017, 79 Minuten
Abel Ferrara wird in Frankreich eine tourende Retrospektive gewidmet. Passend dazu organisiert er eine Reihe von Konzerten, bei denen er mit seinem langjährigen Filmkomponisten Joe Delia und dem Schauspieler Paul Hipp zusammen Songs aus seinen Filmen spielt.
Im Grunde ist ALIVE IN FRANCE ein Heimvideo von Abel Ferrara. Mit Frau, Kind, Familienangehörigen und Kumpels wird durch Hotelfoyers und Straßen flaniert, dann bei einem Q & A einige Zuschauerfragen beantwortet (Nein, für Gangster und Polizisten interessiere er sich nicht mehr, es wird also kein BAD LIEUTENANT 2 oder KING OF NEW YORK 2 geben), später die Bühne aufgebaut und schließlich (mit oder ohne Zuschauer, das scheint egal zu sein) gespielt, gejammt, gesungen, gerappt. Zwischendurch breitet Ferrara ein paar Konzertflyer auf einen Tisch aus und legt noch eine Mappe dazu, die er mit „That‘s my next movie“ kommentiert. Mehr passiert dann auch nicht, aber das muss ja auch nicht... Dafür gibt es Abel Ferrara zu sehen, der immer wieder ein bisschen wie ein Außerirdischer in menschlichem Kostüm wirkt und so fürchterlich nuschelt, dass man kaum ein Wort versteht (cool klingt es trotzdem); und Joe Delia, der wie der vergessene Zwillingsbruder von Mick Jagger aussieht; und Paul Hipp, der so was wie der Gute-Laune-Motor der Veranstaltung ist. Man möchte nicht unbedingt mit diesen Personen ein Bier trinken (besonders Ferrara scheint doch ein schwieriger Mensch zu sein), aber ihnen beim Musizieren, Plaudern und Flanieren zuzuschauen und dabei ein Bier zu trinken, das ist nicht die allerschlechteste Beschäftigung für einen Samstagabend.
Ich war aber nur eine von ganz wenigen Personen, die das so sehen. Zunächst völlig unglaublich und verwunderlich, dann enttäuschend und schließlich auch irgendwie traurig ist die Tatsache, dass nach meiner Zählung inklusive meiner Wenigkeit gerade mal 14 (vierzehn) Zuschauer anwesend waren. Darunter befanden sich eine Co-Organisatorin des Festivals, zwei Filmregisseure (von Kurzfilmen) und mindestens ein Pressemensch (ich). Also nicht mehr als zehn „normale“ Zuschauer, wenn überhaupt. In so einem großen Kinosaal wie dem Caligari wirken 14 Leute echt mickrig. Meine Güte! Abel Ferrara! An einem Samstag Abend, wenn also schon nur durch die Laufkundschaft der Saal halb gefüllt sein sollte. Und ich hatte vorher Angst, keinen guten Platz zu bekommen, weil der Saal krachend voll sein könnte – denkst du!
Ein Glück, dass Paul Hipp, der eigentlich nach Wiesbaden kommen wollte, es doch nicht geschafft hat und stattdessen eine herzallerliebste Videobotschaft geschickt hat, mit seinem Hund Django als Komparsen und einigen 100%-ig richtigen Deutsch-Versuchen.