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Sonntag, 10. März 2019

Die cinephile Klasse kommt ins Paradies


Highlights beim 1. Paradies-Filmfestival in Jena, 4. bis 7. Oktober 2018


Jena ist kein Paradies. Dafür sind die Stimmergebnisse für die Braunen in letzter Zeit viel zu hoch, die namensgebende Wiese hinter dem gleichnamigen, trostlosen Bahnhof ist nicht gerade das schönste Fleckchen Grün auf Erden und die Kino-Highlights der Stadt haben die Größe und Dichte kleiner Oasen inmitten einer trockenen Wüste. Zumindest bei letztgenanntem Problem haben zwei Jenaer Cinephile Abhilfe geschafft, indem sie nicht weniger gemacht haben, als ein Kino-Paradies (oder Paradies-Kino) selbst zu bauen, für ein intensives und aufregendes Wochenende voller Filme!

Das Filmparadies in der Trafo-Station
Die Location, das TRAFO, sieht von außen etwas unscheinbar, gar leicht verfallen aus.  Aber Sessel kündeten vor dem Eingang bereits Gemütliches und Gutes an, zumal bei meiner Ankunft am ersten Abend ein älterer Herr mit einem schicken Panamahut sich bei einer Zigarette schon gemütlich in eine dieser Sitzgelegenheiten niedergelassen hatte (mehr zu diesem Herrn gleich). Drinnen wartete ein großer Saal mit einer von den Organisatoren selbst gebauten (sic!) Kinoleinwand sowie einer ebenfalls selbstgebauten Untertitelleinwand, mehrere Sitzreihen mit den ehemaligen Sitzen des Jenaer Schillerhof-Kinos (die wesentlich bequemer waren und sind als die neuen), einem ebenfalls selbst gebauten (sic!) Projektionsraum mit zwei 35mm-Projektoren (aus dem Privatbesitz einer der Veranstalter) sowie einer relativ steilen Treppe, die zur Raucher-Lounge-Bar-Empore führte – mit einem direkten Blick auf die Leinwand. Eine Toilette gab es auch, allerdings nur eine einzige für alle Besucher. Die Wartezeiten vor dem stillen Örtchen konnte man sich allerdings mit einer kleinen Partie Minigolf vertreiben, denn im kleinen Vorraum war ein kleiner Corso aufgebaut und es war gar nicht so einfach, den Ball in die mittlere Tasche zu schlagen!
Ich muss zugeben: am Anfang war ich etwas skeptisch. Dass es sich um eine ehemalige Transformatorenhalle handelt, sah man der sehr rohen Location an. Aber spätestens nach dem ersten Film, dem ersten Gang zum Bar-Lounge-Empore-Raucherbereich war das Eis gebrochen, das Herz erobert, die Liebe unwiderruflich gewonnen. Einzig der Körper blieb wortwörtlich etwas kühl, weil das Gebäude etwas zugig ist. Das Höllenfeuer, das zwischen den Filmen in diesem Paradies immer entfacht wurde (ein gasbetriebener Feuerstrahler), sorgte zumindest in der Empore für Wärme, da die heiße Luft nach oben entweichte, im Kinosaalbereich brachte es nur ein bisschen Atmosphäre – immerhin, gemeinschaftlich konnte man sich um den Heizer wie um eine brennende Mülltonne versammeln, um sich ein bisschen die Beine und Hände anzuwärmen.
Die beiden Veranstalter legten für das Programm ihre jeweiligen Vorlieben zusammen, um ein Festival zusammen zu machen: italienisches Genre-Kino und vergessene DEFA-Filme. Klingt komisch, erwies sich aber durch die Kontraste als äußerst interessant.

Das italienische Programm (oder: das inoffizielle Ennio-Morricone-Festival)
Ein Gang ins Kino kann ein bisschen wie ein Gottesdienst sein und in dem kleinen Paradies im Trafo hieß unser Gott Aldo Lado! Der Ehrengast dieser ersten Festivalausgabe, der auch mit einem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, war im Programm mit fünf Filmen vertreten, von denen leider nur zwei auf 35mm zu sehen waren. Nun, die analogen Kultgegenstände des Kinos sind in den Religionskriegen der digitalen Medien gegen das Materielle oft verschütt gegangen – so geht es auch CHI L'HA VISTA MORIRE (Italien/BRD 1972), von dem heutzutage auch bei den größten Bemühungen, die sich die Organisatoren gegeben haben, keine analoge Kopie aufzufinden ist. Der Film musste deshalb auf DVD gezeigt werden.


Lados zweiter Film zerfällt klar in zwei Teile. Beginnen tut er als Kindermord-Geschichte, die sich zunächst wie ein schwerer Schleier auf die Beziehung zwischen dem Künstler Franco (George Lazenby – kaum drei Jahre nach seinem Bond-Film schockierend gealtert, aber trotzdem großartig) und seiner kleinen Tochter Roberta legt. Da wir einen brutalen Mord an einem anderen rothaarigen Mädchen vor den Credits gesehen haben, kann es keine Ruhe geben in dem ungezwungenen Miteinander des Vaters mit dem kleinen Kind. Mehrmals schleicht sich die alte Mörderin an Roberta heran, bis es ihr schließlich gelingt... Für mehrere Minuten wirkt es so, als würde der Film das Genre hinter sich lassen, sich komplett in eine schmerzhafte Meditation über Trauer und Verlust ergeben. Der Sex zwischen Franco und Elizabeth nach dem Tod der Kleinen: eine einzelne, glänzende Träne in Anita Strindbergs Gesicht, ein Schwenk zu Lazenbys Kopf, abgewandt, auf den ersten Blick vor lauter Rohheit und Runzeln wie eine Attrappe wirkend... Danach (oder davor?) der Akt, lustlos, mechanisch und zwanghaft – dabei ist eine verblüffende, ziemlich große Narbe an Lazenbys Bauch (oder dem seines Doubles) zu sehen, die den Schmerz geradezu exemplarisch visualisiert... Extreme Trauer in einigen wenigen, schauerlich schönen Bildern konzentriert. Da ist der Film wohl knapp eine halbe, dreiviertel Stunde alt. Vielleicht war es vermessen, zu erwarten, dass er auf diesem emotionalen Niveau weitermacht, weiter durchhält.
CHI L'HA VISTA MORIRE? mündet dann relativ plötzlich in etwas, was man wohl einen klassischen Giallo nennen kann und muss, mit Mörderjagd, Befragungen, falschen Fährten, weiteren schauerlichen Morden, einigen Verfolgungsjagden und schließlich dem Showdown nach der überraschenden Entlarvung des Täters. Das ganze mit einer kleinen Überdosis an Wendungen, etwas zu plotgetrieben – dass hier eigentlich ein vor Trauer halb wahnsinniger Vater und nicht ein kauziger Hobbyermittler mit zu viel Freizeit nach einem Mörder sucht, kann leicht vergessen werden. Trauer und Verlust verschwinden, übrig bleibt, wahlweise "leider" oder "immerhin" – ein solider Giallo. Die Enttäuschung, dass CHI L'HA VISTA MORIRE? nicht etwas Größeres geworden ist (etwas wie Lucio Fulcis NON SI SEVIZIA UN PAPERINO, der knapp vier Monate später herauskam – ähnlich durch die Thematik des Kinderserienmords und der finalen Enthüllung), nagt seit der Sichtung an mir und lässt mich nicht los. Ein enttäuschender Film zwar, aber in seiner Enttäuschung trotzdem ganz auf eigene Weise ganz groß.
Wie viele italienische Filme ist auch CHI L'HA VISTA MORIRE? nicht von seiner Musik zu trennen, ja ohne sie geradezu unvorstellbar. Ennio Morricone hat viele unvergessliche Scores komponiert, aber möglicherweise hat er sich hier selbst übertroffen. Als kurz nach dem Prolog, nach dem brutalen Mord an einem kleinen rothaarigen Mädchen im Schnee, mit dem höchst beunruhigenden, vokalisierenden Kinderchor, der Titelsong perfekt getaktet zum blutroten Filmtitel mit den Worten "CHI L'HA VISTA MORIRE?" geradezu aufschrie, jagte mir das ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ebenso bei dem emotional härtesten Moment des Films, dem Mord an Roberta, der parallel mit einer Sexszene zwischen Franco und Elizabeth montiert wird.

Lados erster Film LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO (Italien/BRD/Jugoslawien 1971) bzw. MALASTRANA, wie der Film ursprünglich tatsächlich heißen sollte und schließlich in Deutschland sowie Brasilien hieß, wird oft auch als Giallo bezeichnet, aber das passt nur, wenn man eine sehr offene Definition nutzt – mit Serienmördern in schwarzen Lederhandschuhen hat der Film wenig am Hut. Vielmehr ist er ein sehr intensiver Paranoia-Thriller, der sich von einem sehr latenten Unbehagen (in vielen Szenen an der Grenze der Wahrnehmungsschwelle) langsam steigert bis zu seinen grauenerregenden letzten fünfzehn Minuten und dem absolut ungeheuerlichen, unvergesslichen Finale. Der Vergleich ist eher eine sehr grobe Stütze: LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO steht den Thrillern Roman Polanskis wesentlich näher als dem "handelsüblichen" italienischen Giallo. Atmosphärisch nimmt er eindeutig Francesco Barillis singulären (ebenfalls nur unzureichend als solchen zu bezeichnenden) "Giallo" IL PROFUMO DELLA DONNA IN NERO von 1974 vorweg, dessen Finale dem von Lados Film noch eins draufsetzt – Barilli arbeitete vor seinem ersten und gleichzeitig vorletzten abendfüllenden Kinofilm mit Lado als Drehbuchautor bei CHI L'HA VISTA MORIRE mit.


Sicherlich trägt einiges zur Atmosphäre bei, dass der Film aus der Perspektive eines ganzkörpergelähmten Scheintoten erzählt wird, der in einem Park als "tot" aufgefunden wurde, nun in der Kühlkammer einer Pathologie liegt und sich zu erinnern versucht, wie er in diese Lage kam. Was in anderen Film als ein Eine-Idee-Gag verbraten worden wäre, nutzt Lado sehr geschickt als Element zum Aufbau von Spannung und Unbehagen. Im klassischen, "handelsüblichen" Giallo erforscht meist ein Hobbydetektiv in mondänen Umgebungen Mordfälle, deren Lösung in der Vergangenheit gesucht werden muss. Hier jedoch ist der Hobbydetektiv der Tote selbst, seine Erforschungen finden in seinem Kopf (für uns als Rückblenden statt). Mondäne Umgebungen gibt es in LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO kaum, denn das Prag, in dem es spielt, ist äußerst trostlos, kalt, monochrom-gräulich, verfallen, staubig. Die Kulisse war das reale Prag (gedreht wurde ohne ordentliche Drehgenehmigung, ganz offen, ohne Scheu und teils vor den Augen von Polizisten: niemand konnte sich zwei Jahre nach der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings vorstellen, dass jemand wirklich die Chuzpe haben würde, tatsächlich ohne Genehmigung zu drehen – deshalb wurde die Crew nicht kontrolliert), das Prag der frühen 1970er Jahre, mit seinen bereits sichtbaren Erscheinungen realsozialistischer Vernachlässigung. Was Lado vorschwebte, war keineswegs eine kaltkriegerische Anklage des Kommunismus, sondern ein Plädoyer gegen die autoritäre Herrschaft der Älteren. Lados Prag sieht ein wenig aus wie eine Zombie- oder Vampir-Version von Kafkas Prag: ein Ort zum Paranoid-Werden, bevölkert von komischen Leuten, die mit ihren geisterhaft blassen Gesichtern tatsächlich wie Untote aussehen. (Ich glaube überhaupt, dass der Film seine Kraft mehr aus einer "habsburgischen" denn aus einer "realsozialistischen" Atmosphäre zieht – vielleicht hätte der Film auch in Wien spielen können.)
LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO gehörte zu den großen Highlights des Festivals. Der Film gab dem Festival seinen Titelbanner, war am Samstagabend nach der Preisverleihung an Aldo Lado programmiert, entpuppte sich als der am besten besuchte Block des Wochenendes. Wir wurden alle Zeugen von etwas Besonderem, denn die Kopie aus einem italienischen Archiv war wunderschön. Das Technicolor machte das Blut an den entsprechenden Stellen sehr rot, ansonsten zeigte sich der Film in sehr pastelligen, weichen Farben mit rauchigem Licht, wie unter dem Nebelschleier eines fiebrigen Alptraums – und Lado hat hier einen sehr intensiven Alptraum erschaffen. Genau zu sagen, wie ihm das gelungen ist, fällt mir schwer, weil die ganzheitliche Atmosphäre des Unbehagens stärker wirkt als einzelne Szenen. Wie die physische Kälte des Trafos breitete der Film sein Unbehagen langsam aus: zunächst ist ein kaum bemerkbarer Windhauch an den Füßen, dann kriecht die Kälte langsam an den Beinen hoch, nimmt Besitz vom Oberkörper, packt einen am Nacken und am Ende schüttelt sich der ganze Körper vor lauter Schauern.
Natürlich war da wieder die Musik Ennio Morricones (der zu neun Filmen Lados den Score beisteuerte). Eines der Titel nennt sich "Walzer" (siehe/höre hier), aber hinter den (scheinbar) sanften Elementen begrüßt einen nicht die Leichtigkeit eines Strauss, sondern das Grauen...

Von Aldo Lado liefen noch sein aktuellster Film IL NOTTURNO DI CHOPIN (2013), den ich aufgrund der frühen Terminierung am Sonntagmorgen nicht sah, sowie sein großartiger Rape-and-Revenge-Kracher L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE (1975), der am Samstag Abend als "Italo-Überraschungsfilm" lief (leider nur von einer blu-ray) und den ich sausen ließ, weil ich ihn eine Woche zuvor in "Vorbereitung" auf das Festival schon gesehen hatte. Auf 35mm, allerdings bereits rotstichig, wurde noch L'UMANOIDE (Italien, 1979) gezeigt. In seiner Einführung zum Film hat sich Lado nicht direkt vom Film distanziert, wies aber deutlich darauf hin, dass es nicht das geworden ist, was er eigentlich machen wollte. Von Personen, deren Äußeres nicht der gesellschaftlichen "Norm" entspricht, war Lado stets fasziniert und er wollte einen Film über einen bösartigen Hünen drehen, der in der Begegnung mit einem kleinen Kind langsam lernt, menschlich zu werden. Die Produzenten drangen ihn aber schließlich dazu, einen Star-Wars-Ripoff zu drehen und von der Grundidee blieben vielleicht 5 bis 10 Minuten im fertigen Film zu sehen – tatsächlich einige der schönsten und poetischsten Momente. Gerne würde ich L'UMANOIDE mehr mögen, wäre er im Mittelteil nicht so fürchterlich langweilig, dass einem davon Kopf, Gehirn, Augen und Füße einschlafen.
Dennoch gibt es genug liebenswürdige Momente. Natürlich ist da zunächst das Casting: L'UMANOIDE sieht aus wie eine Star-Wars-Kostümfeier, die irgendjemand in den Drehpausen eines zeitgenössischen James-Bond-Films veranstaltet hat, mit Richard Kiel, Corrine Cléry und Barbara Bach als Stars der Party. Zwischendurch enthält der Film den wahrscheinlich selbstzweckhaftesten Wet-Dress-Moment in der Geschichte des Kinos, wenn Corinne Cléry auf der Flucht vor irgendwelchen Böswatzen durch verschiedene Räume rennt, und schließlich in einen Raum gelangt, in dem aus völlig unerklärlichen Gründen ein Wasserbecken eingelassen ist – in das sie natürlich hineinfällt, damit sie für die nächsten Minuten zur Freude der geneigten Zuschauer mit feucht-durchsichtigem Kleid durch die Gegend rennen muss. Währenddessen labte sich Barbara Bach als oberböse Galaxis-Hexe am Blut junger Frauen, deren Lebenssaft sie dadurch gewinnt, dass sie ihre Opfer in eine futuristisch-durchsichtige Variante einer Eisernen Jungfrau mit langen Injektionsnadeln hineintreibt – gruselig, aber nicht ganz so gruselig wie die Tatsache, dass die Frau, die in einem anderen Film die schöne Anja "Triple X" Amasova spielte, auf dem Kopf ein totes und offenbar schwer verstümmeltes Pelztier trägt. Darth Vader wird von Ivan Rassimov fast inkognito, dafür mit aber mit einem wesentlich eindeutigeren S&M-Touch gespielt – mehr schwarzes Leder als glänzendes Metall! Außerdem braucht er keine Waffen: er schießt die blauen Blitze einfach so aus seiner Hand. R2-D2 ist in L'UMANOIDE auch kein stinklangweiliger Roboter, sondern ein Roboter-Hund und ist als solcher auch unglaublich sympathisch: er wedelt regelmäßig mit dem Schwanz, rettet zwischendurch mit eben diesem durch unfreiwlliges Drücken eines Knopfs seine Leute und uriniert (sic! ja, wirklich!) zwischendurch klebrig-gelbe Pfützen, auf denen die Böswatze ausrutschen und sich flachlegen können. Und jeder Film, in dem Richard Kiel einen Stahlträger irgendwo herausrupft, diesen schwungvoll wirft und damit gleich ein halbes Dutzend Gegner, die sich dafür extra in eine Linie aufgereiht haben, köpft, kann nicht vollkommen schlecht sein! Diese Aufzählung ist letztlich doch eine eher kleine Summe, die nie ein Ganzes bildet, aber immerhin sind es viele Gründe, diesen Film zu mögen zu versuchen. Zumindest ein bisschen. Ein kleines bisschen...

Ein bisschen... natürlich auch, weil Aldo Lado sich im Verlauf einiger Tage als äußerst liebenswürdiger Mensch erwies, der sich sehr freute, dass verhältnismäßig junge Menschen sich so sehr für sein Werk interessierten und begeisterten. Äußerst freundlich, das Beste aus elegantem Gentleman und coolem Bohemien kombinierend, einem kleinen Bier, deutschen Kroketten und einigen Zigaretten nicht abgeneigt, war Aldo Lado ein bisschen wie ein dritter Großvater, den einige von uns gerne gehabt hätten. Am ersten Abend, bei einem Essen mit den anwesenden Zuschauern in einem dem Trafo-Paradies nahe gelegenen Lokal, plauderte er aus dem Nähkästchen über seine Jugend, über seine Arbeit nach dem Zusammenbruch der italienischen Filmindustrie in den Achtzigern und vielem mehr... Lado war dann auch mehr als nur ein Ehrengast, sondern auch ein leidenschaftlicher Zuschauer. Seine eigenen Filme schaute er erwartungsgemäß nicht und ging in dieser Zeit immer durch Jena spazieren, aber mit großem Enthusiasmus schaute er mehrere Filme aus dem DEFA-Programm: mit nur sehr rudimentären Deutschkenntnissen schaute er die Filme, ohne die Dialoge zu verstehen und ließ sich einzig von den Bildern mitreissen und begeistern. Einen anwesenden deutschen Kameramann fragte er beim Q & A gar nach den verwendeten Kameras, Objektiven, Linsen. Mit 83 Jahren so leidenschaftlich film-entdeckungsfreudig, wie manch 20-Jähriger es nur träumen kann...

Zweifelsohne war Elio Petris INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO (Italien 1970) außerhalb der Lado-Retrospektive der Höhepunkt des italienischen Programmblocks. Für mich war es eine Erstsichtung, auch wenn ich den Film schon als kleiner Schuljunge vor über zwanzig Jahren bereits "kennen lernte": die Titelmelodie war einer der vielen Scores auf meinem persönlichen Ennio-Morricone-Mix-Tape, das ich auf Grundlage einer Ennio-Morricone-Best-Of-CD aus der brüderlichen Diskografie zusammengestellt hatte.


Petri ist im Grunde ein Thesenfilm gelungen, der sich nicht wie ein Thesenfilm anfühlt und präsentiert das geradezu dystopische Portrait eines nach ultrarechts abdriftenden Staatsapparats, der nur noch seiner eigenen Logik folgt und eine konsequente Sündenbock-Politik betreibt: gegen Frauen, Schwule, progressive Studenten. Ultrarechte Wirrköpfe, die an entscheidenden Stellen in Justiz und Polizeiapparat sitzen, sind leider bekanntermaßen nicht nur eine Fantasie linker italienischer Regisseure der 1970er Jahre. Nur wenige Tage vor der Projektion dieses fast 50 Jahre alten Films hatte sich ein gewisser Beamter des Innenministeriums mit Äußerungen bemerkbar gemacht, die man eher von Aluhutträgern erwarten würde, deren Beobachtung eigentlich zur Zuständigkeit eben dieses dieses Beamten gehört – kurz danach hat er zur "Strafe" eine Beförderung bekommen, die mittlerweile doch rückgängig gemacht wurde, aber das ändert nichts daran, dass INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO oftmals keineswegs absurd, kafkaesk, übertrieben oder grotesk wirkte, sondern von einer verblüffenden Aktualität und Wirklichkeitsnähe.
Unabhängig von dem, was der Film über Politik zu sagen hat, ist Petri auch ein exzellenter Film über männlichen, (selbst)zerstörerischen Größenwahnsinn gelungen. Der perfide Dottore dient nicht nur einem allmächtigen autoritären Staatsgebilde bzw. der Idee davon, sondern auch seinem eigenen Ego, seinem Narzissmus. Gian Maria Volonté verkörpert diesen scheusslichen Narzissten grandios, und in sehr kurzer Zeit reisst er den Film komplett an sich. INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO ist nicht nur Petris, nicht nur Morricones, sondern vor allem Volontés Film. Er bringt einen dazu, es zu lieben, den Dottore zu hassen. Und gegen Ende vielleicht sogar ein bisschen mitzufühlen, als er nach und nach immer mehr zusammenbricht, aus Verzweiflung darüber, dass es sein Ego ebenfalls enorm kränkt, wenn man ihn des Mordes an seiner Geliebten auch trotz größter Bemühungen nicht verdächtigt bzw. nicht verdächtigen will.
(In LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO, den ich noch nicht gesehen habe, soll Volonté noch großartiger sein und Morricones Score noch nervenzerfetzender. Der Film würde rein vom Titel natürlich super für eine Projektion in Jena passen und musste erst mal in Form eines hoffentlich verzeihbaren Wortwitzes für den Titel dieses Textes herhalten).

INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO war der zweite und wesentlich rabiatere Teil eines inoffiziellen Double Features "Justiz und Polizei gehen (rechts) den Bach runter". Vorher lief IL VERO E IL FALSO (Italien 1972) von Eriprando Visconti, dem Neffen des wesentlich berühmteren Luchino. Es geht um eine Frau (Paola Pitagora), die zu Unrecht des Mordes an der Geliebten ihres Mannes angeklagt und verurteilt wird. Nachdem sie ihre Strafe abgesessen hat, trifft sie zufällig die Frau, die sie angeblich ermordet haben soll – und ermordet sie dann tatsächlich. Ihr damaliger Anwalt (Terence Hill) steht nun im Gerichtssaal zum zweiten Mal dem skrupellosen, karrieristischen Staatsanwalt (Martin Balsam) gegenüber. Der hatte im ersten Prozess eine entlastende Zeugin erbarmungslos eingeschüchtert, um zum Wohle seiner Karriere den Fall um jeden Preis zu gewinnen.


Neben einem ganz soliden Terence Hill in einer ungewöhnlichen, ernsthaften Rolle und einer exzellenten Paola Pitagora, die ihrer Figur Verletzlichkeit und Tragik verleiht, ist es vor allem eine Wonne, Martin Balsam als verabscheuungswürdigen, opportunistischen Karrieristen zu sehen, der ohne mit der Wimper zu zucken Zeuginnen wegen Meineid zu einem Monat Haft verurteilt, wenn ihre Aussagen ihm nicht passen und es offensichtlich recht locker nimmt, wenn ihm seine Frau beim Besteigen der Karriereleiter hilft, indem sie mit noch höher gestellten Justizbeamten schläft (das wird sehr schön in einem einzigen Bild aufgelöst: er und seine Frau haben gerade seinen Vorgesetzten zu einem Cocktail bei sich zu Hause, als er wegen eines dringenden Termins aufbrechen muss; der Vorgesetzte und die Frau warten nicht mal, bis der Staatsanwalt draußen ist, um auf der Couch rumzumachen, der Staatsanwalt steht noch im Korridor vor der Wohnungstür und hört sich das, offenbar nur sehr wenig angefressen, an, bevor er schließlich geht – das ganze in einem einzigen Scope-Bild erzählt.) Ja, Balsam hat 1972/73 in einigen italienischen Filmen mitgespielt. Einer der Kuratoren des Terza Visione, der als Dauerkartenbesitzer anwesend war, erzählte dann auch, dass einige amerikanische Darsteller in den 1970er Jahren nach Italien kamen, wenn es in den USA gerade nicht so gut lief: die Bezahlung war nicht so gut wie in den USA, dafür wurden sie aber von der italienischen Filmindustrie sehr hochachtungsvoll behandelt und konnten nebenbei sich etwas im schönen Italien entspannen. Tatsächlich wirkt Balsam ziemlich entspannt.
IL VERO E IL FALSO war sicherlich kein großes Highlight des Festivals, aber dennoch ein ganz guter Start in den Samstag. Die Grundidee (wenn man für einen Mord verurteilt wird, kann man nach Absitzen der Strafe nicht für das selbe Verbrechen verurteilt werden) hätten andere Filme wahrscheinlich zu Tode geritten und gemolken, hier ist sie im Prinzip nur ein Aufhänger für einen figurenzentrierten Film. Nichts spektakuläres, nichts aufregendes, eher kurzweilig und nett. Ein gutes Aufwärmen für den darauffolgenden INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO.


Zu den meist erwarteten Filmen des Festivals gehörte SACCO & VANZETTI von Giuliano Montaldo (Italien/Frankreich 1971), den ich in meiner Kindheit wohl irgendwann schon mal gesehen hatte – damals, weil mich natürlich der tolle Score begeistert hat, den ich regelmäßig auf meiner selbstgemachten Kassette hörte. Als Schuljunge konnte ich mit dem Film nicht viel anfangen, aber ich war ja wahrscheinlich auch zu unreif. Knapp zwanzig Jahre später hat mich der Film, der als zweiter Block am Eröffnungstag lief, leider wieder enttäuscht. Die erste halbe Stunde ist erst einmal nicht weniger als atemberaubend. Die semidokumentarischen, schwarzweiß gefilmten Handkamerabilder der antikommunistischen Razzien im Prolog haben es tatsächlich in sich und sind auf ganz unmittelbare Weise emotional und beklemmend (was Morricones Score noch verstärkt). Die ersten Gerichtssitzungen überraschen mit ihrer tumultartigen, chaotischen, unkontrollierten Atmosphäre: alles geht drunter und drüber, alles redet durcheinander – und zwischendurch sehen wir Rückblenden mit harten Crashzooms auf die Gesichter der Zeugen zum Zeitpunkt des diskutierten Verbrechens. Ich behelfe mich mal mit Parallelen, aber die erste halbe Stunde wirkt tatsächlich, als hätte hier Alain Resnais in HIROSHIMA-MON-AMOUR-Sturm-und-Drang-Laune ein puzzleartiges Anarchisten-Biopic inszeniert. Dann wird es zunehmend ruhiger und auch zunehmend anstrengender, bis wir an dem Punkt sind, wo SACCO & VANZETTI so wirkt, als hätte Bertolt Brecht mit großen didaktischen Gesten eine besonders scharchige Folge von PERRY MASON im Sozrealismus-Stil gedreht. Die audiovisuellen Attacken und Irritationen der ersten halben Stunde weichen einem allzu gemütlichen und statischen Gerichtsfilm mit stark predigendem Ton (Unterton wäre zu wenig gesagt). Wohlgemerkt stehe ich der politischen Haltung des Films keineswegs negativ gegenüber – aber linkes Kino gab es im Paradies sowohl bei Lado wie auch bei Petri in wesentlich interessanterer und aufregenderer Form zu entdecken. Trotzdem war es natürlich ein Ereignis, diesen Film auf 35mm wieder zu sehen. Alleine für die atemberaubende erste halbe Stunde!

Das DEFA-Programm (oder: das inoffizielle Jaecki-Schwarz-Festival)
Die DDR war kein Paradies, aber trotzdem wurden in diesem Land zahlreiche Filme gedreht, denen man kaum anmerkt, dass sie in einer miefigen, spießigen, provinziellen, gleichermaßen politisch, sozial sowie kulturell repressiven und wortwörtlich wie mental eingemauerten Diktatur entstanden sind. Filme, die selbst ihr kleines Paradies erschaffen – in das sie dann mit eskalierenden Kinderstreichen, verirrten Amorspfeilen und delirierenden Tanzchoreografien ein bisschen wohltuendes Chaos einpflanzen.

Wenn man bei den Anfangs-Credits von DIE SCHÖNSTE (Ernesto Remani: DDR 1957 / Deutschland 2002) die Hinweise auf die DEFA rausnähme, würden viele Zuschauer annehmen, eine stark amerikanisch geprägte westdeutsche Komödie zu sehen, und das liegt nicht nur am westdeutschen Setting, sondern an seiner sinnlichen Lust an schönen, opulenten, bunten und glänzenden Dekoren und Kostümen. Ja selbst für eine durchschnittliche westdeutsche Komödie dieser Zeit ist der Film fast zu barock – da denkt man eher an die Werke eines gewissen deutschen Emigranten in Hollywood...
Aber zuerst ein paar Worte zur interessanten und sehr schwierigen Rezeptionsgeschichte... Der 1957 gedrehte DIE SCHÖNSTE war der erste DEFA-Film, der komplett verboten wurde. Der südtirolische Regisseur Ernesto Remani, geboren Ernst Rechenmacher, dessen etwas dubiose Vergangenheit (Mitglied der italienischen faschistischen Partei, Aufsteiger während des Dritten Reichs, Produzent in der besetzen Tschechoslowakei, nach dem Zweiten Weltkrieg für mehrere Jahre nach Südamerika emigriert, damit man ihn in Europa etwas vergisst) vorher keine Rolle gespielt hatte, bekam Einreiseverbot. Sein Film wurde stark geschnitten, umgeschnitten, mit vielen nachgedrehten Szenen versehen – und dann schließlich auch in der verstümmelt-editierten Fassung wieder verboten. Als die Wende kam, wurde er schlicht vergessen: in das öffentliche Interesse gerieten 1989 und 1990 die Filme, die im Zuge des "Kahlschlag-Plenums" von 1965 verboten wurden (z. B. DAS KANINCHEN BIN ICH oder KARLA). DIE SCHÖNSTE bekam später Aufmerksamkeit und erlebte seine Weltpremiere erst im Jahre 2002, ganze 45 Jahre nach seiner Fertigstellung.
Handlungsort ist Westberlin. Der kleine Sohn eines steinreichen Ehepaars streitet sich mit seinem besten Freund, Sohn des Inhabers einer nahegelegenen Autowerkstatt, darüber, wer von den beiden die schönere Mutter habe. Der Junge mit der reichen Mutter kann mit deren Bildern in einer Revue über die Reichen und Schönen der Stadt prahlen – ihre Schönheit liege aber doch bestimmt nur an der glänzenden Halskette, so der Arbeitersohn. Beide beschließen, ihrer Mutter jeweils den wertvollsten Schmuck zu klauen, um zu demonstrieren, dass deren Schönheit auch ohne Klunker besteht. Gesagt, getan, doch bei einer Soiree in der Villa führt das "verschollene" (und vor allen Dingen: noch nicht abbezahlte!) Collier zu einem kleinen Skandal: statt wie geplant dank seiner schön geschmückten Ehefrau gute Geschäfte abschließen zu können, gerät der Papa des kleinen Diebs in die Bredouille, seine Kreditwürdigkeit platzt wie eine Seifenblase, er sieht sich vor dem Ruin stehen, und seine Ehefrau muss am Ende möglicherweise gar für ein Darlehen ihren Körper einem der Geschäftspartner anbieten. Währenddessen suchen die beiden Jungs verzweifelt nach dem nunmehr wirklich verschollenen Collier, und das führt sie bis nach Hamburg!
DIE SCHÖNSTE handelt von kapitalistischer Dekadenz, von der Verkommenheit des Geldadels, davon, dass schneller Reichtum nur eine Illusion ist: das klingt alles erst mal durchaus im Sinne der realsozialistischen Ideologie in der DDR, aber das absolut "Böse" wird in diesem Film einfach viel zu sinnlich, verführerisch, geradezu erotisch dargestellt. Die opulent eingerichtete Villa, mit ihren riesigen Räumen, ihren weichen, flauschigen Teppichen, ihren glänzend-glitzernden Lichtern, dem elegant dunklen Holz der Möbel, den blitzblanken Spiegeln – das könnte alles nach DDR-Begriffen Sodom und Gomorrha sein, und im Prinzip ist es das auch, aber der Film zeigt andererseits doch ganz klar: Luxus ist unendlich sexy! Bei so viel visuell gefeierter Glanz und Glorie wurde den fleißigen ostdeutschen Zensoren wohl ganz übel. Dass die Wohnung der Arbeiterfamilie selbst ziemlich bequem aussieht, diese zu Weihnachten ohne jegliches Klassenbewusstsein nicht nur flaschenweise Sekt vernichtet, sondern auch Konservendosen mit Ananas (sic! Südfrüchte!) und Orangen (sic!! noch mehr Südfrüchte!), als würden diese einfach vom Himmel regnen – nein, so etwas Dekadentes und Verkommenes konnte man den Zuschauern in ostdeutschen Kinos niemals zumuten, so Ralf Schenk von der DEFA-Stiftung in seinem einführenden Vortrag über die schwierige Editionsgeschichte des Films. DIE SCHÖNSTE badet visuell völlig hemmungslos in dem Luxus, den er auch ein bisschen verurteilt. Der einzige Abstecher aus dem engeren Umkreis der herrschaftlichen Villa führt die Zuschauer dann noch weiter weg, nach Hamburg, in das Hafenviertel, wo die Jungs schließlich das Collier wieder finden, dafür aber von der Polizei verfolgt werden und nur dank der Hilfe äußerst zwielichtiger Gestalten aus der kriminellen Hafenunterwelt entkommen können.
Remani ist nicht nur ein wunderschöner Film gelungen, sondern auch eine herausragende Komödie mit einem perfekten Timing. Alles geht wie am Schnürchen, die Gags geben sich locker die Klinke in die Hand, und als Zuschauer wird man fröhlich zwischen Gelächter und dem Staunen ob der spektakulären Schauwerte und zwischendurch auch der verblüffenden Schmierwerte hin- und hergerissen.
Zwei kleine Details noch... In einem etwas ernsteren Moment – der Ruin der Familie ist geradezu greifbar – steht die Ehefrau vor einer Fensterfront, auf der einen Seite eingerahmt von einem Stück Vorhang, in einem prachtvollen blauen Kleid (ich glaube es war blau) gekleidet, aber mit einem tieftraurigen Blick im Gesicht. In diesem Moment steht gerade kurz davor, sich für ein bisschen Geld an einen der Geschäftspartner ihres Mannes zu verkaufen, um den ganzen Luxus, der um sie herum schweigend, still und doch furchtbar obszön vor sich hinprotzt, zu retten. "Douglas Sirk!" war der Gedanke, der mir wie ein Blitz durch den Kopf schoss. Diese Art, eine wohlhabende und trotzdem todunglückliche, weil von den drückenden Fesseln gesellschaftlicher Zwänge eingeschnürte Frau durch ein Fenster zu filmen... Mit seinem gierigen Auge für visuell barocken und doch emotional leeren Luxus wirkte DIE SCHÖNSTE tatsächlich Sirk'ianisch.
Des weiteren war die Farbe Schwarz in diesem Film geradezu radioaktiv aufgeladen: jegliches Stück schwarzer Kleidung strahlte in DIE SCHÖNSTE einen kleinen Halo aus. Der elegante schwarze Anzug des kleinen Jungen, die Smokings der Herren und vor allem die pechschwarze Pelzmütze der persönlichen Kostümdesignerin des Hauses – sie alle schienen innerlich zu strahlen und waren von einem leichten Lichtschimmer umgeben. Das hat nicht mal Sirk in Hollywood auf diese Art hinbekommen!

Dass die DEFA durchaus dazu in der Lage war, sich hinter der Mauer ein eigenes kleines Heiligholz aufzubauen, demonstrierte auch das Musical REVUE UM MITTERNACHT aus dem Jahr 1962, inszeniert von Gottfried Kolditz (dessen irrsinniger, geradezu psychedelischer Science-Fiction-Film IM STAUB DER STERNE ich hier schon besprochen habe).


Ein findiger Produzent lässt einige Künstler – einen Autoren, einen Komponisten, einen Dramaturgen – entführen und in eine Villa bringen. Dahinter steckt allerdings keine verbrecherische Absicht, nein: es soll einfach nur ein Revuefilm vorbereitet und später gedreht werden. Das versammelte Personal sitzt also in nun eingesperrt in dieser Villa und denkt sich allerlei aus... Die rudimentäre Rahmenhandlung ist geradezu ein putziges kleines Feigenblättchen, damit REVUE UM MITTERNACHT sich konzentriert und ganz ungestört einem einzigen Rausch aus Revuenummern hingeben kann. Natürlich gibt es nebenbei noch eine kleine, obligate Romanze zwischen der Produktionsassistentin Claudia (Christel Bodenstein) und dem Komponisten Alexander (Manfred Krug), und mehrere versuchte und geglückte Ausbruchsversuche der Künstler, die nicht alle begeistert davon sind, an einem Revuefilm mitzuarbeiten. Aber das ist sozusagen Beiwerk bzw. das I-Tüpfelchen in einem Film, der ohne jegliche Scham und Hemmung, dafür aber mit umso genussvoller mit spektakulären Tanz- und Revuenummern in wunderbarer Totalvision-Agfacolor-Farbpracht badet. REVUE UM MITTERNACHT braucht sich in seinen Musical-Nummern keinesfalls vor seinen Hollywood-Vorbildern zu verstecken, ganz im Gegenteil. Zu Beginn ist das noch eine Abfolge von Nummern, die einzig in der Vorstellungswelt der zusammengebrachten Künstler bestehen: "stell dir vor, so und so sähe das aus"... und dann sehen wir es. Die Nummern und Rahmenhandlung sind separate Entitäten. Im weiteren Verlauf des Films löst sich die Rahmenhandlung aber immer mehr in den Musical-Nummern auf und mündet schließlich in eine ausgedehnte Suche Claudias und des Dramaturgen (?) nach dem verschollenen Alexander, die als eine lange Musicalnummer präsentiert wird. Die Revue siegt schließlich über die Realität!
Wer Musicals nicht mag, wird REVUE UM MITTERNACHT wahrscheinlich nicht ausstehen, weil es wohl wenige Musicals gibt, die so "selbstzweckhaft" sind – sozusagen ohne "Handlung", die die Nummern groß unterbrechen könnte. Alle Nummern spielen sich zudem in gebauten, stilisierten Bühnenkulissen ab: REVUE UM MITTERNACHT feiert hemmungslos seine eigene Künstlichkeit. Ich persönlich hatte zwischendurch Angst, dass der Film sich nach dem fulminanten Start "verwässern" würde, dass er der Vorstellung, wonach Film ja irgendeine "Geschichte" "erzählen" müsse, nachgeben würde. Er tat es zu meiner großen Erleichterung nicht.
Warum ich diesen Film so lieb gewonnen habe, wurde mir spätestens an einer Stelle klar. Das Tanzen und Singen hat sich an einer stilisierten Tankstelle verlagert. Zu sehen sind große Zapfsäulen mit durchsichtigen Behältern, und darin sprudelt das Benzin in einem geradezu blendenden Orange (dieses Agfacolor auf dieser wunderschönen 35mm-Kopie!) – als wäre das überhaupt kein Benzin, sondern ein erfrischender Cocktail, der nur darauf wartet, das man ihn sich in ein Glas zapft.
REVUE UM MITTERNACHT war vielleicht der Höhepunkt des Paradies-Festivals. Wäre da natürlich nicht Lados Debütfilm...

...Oder DU UND ICH UND KLEIN-PARIS (1971). In seiner Leipziger "rom com" erzählt Werner Wallroth von der schwierigen Liebe zwischen dem Philosophiestudenten Tommy (Jaecki Schwarz) und der eben kürzlich in die Stadt gezogene Abiturientin Angelika (Evelyn Opoczynski). Es ist eine schwierige Liebe, weil beide zunächst – im Gegensatz natürlich zum Zuschauer – überhaupt nicht merken, dass sie ineinander verliebt sind. Angelika hat zahlreiche Verehrer, unter anderem der Leutnant, der sich schon auf ihrer Fahrt gen Leipzig an sie rangemacht hat. Tommy ist davon genervt, dass die junge Frau nicht nur sein größeres Zimmer vermietet bekommt und er in ein kleineres umziehen muss, dass sie zu lange im Bad bleibt: auch die endlose Schar an Besuchern, die um sie werden, geht ihm auf die Nerven – wecken zugleich aber auch seinen Beschützerinstinkt...


Klingt wie eine konventionelle Liebeskomödie? Im Prinzip ist DU UND ICH UND KLEIN-PARIS das auch, wenn man das auf dem Papier sieht. Auf einer farbkräftigen 35mm-Kopie in absolut glorrreichem Scope sieht das aber noch mal viel großartiger aus. Schon in den ersten Minuten entwickelt der Film einen ungeheuren Sog, mit atemberaubenden Montagen, die um etwa 30 Jahre das vorwegnehmen, was man wohl als Wes-Anderson-Stil bezeichnen könnte, bloß weniger kalt und mechanisch. DU UND ICH UND KLEIN-PARIS ist überhaupt nicht kalt, sondern ein Film voller Lust. Vor allem voller Lust an der Farbe Rot, an roten Schildern, Jacken (James Dean alias Jimmy Stark wäre auf die knallrote Lederjacke Angelikas schwer neidisch geworden!), Socken, Hosen, Schals, Fahrradshirts, Mützen, Polstergarnituren, Bademänteln, Haarschleifen, Fahrradhelmen, Töpfen, Luftballons, Spielbälle, Autos. Man muss nicht lange warten in diesem Film, bis die lustvollste und sinnlichste aller Filmfarben wieder auftaucht.
Und dann dieses Scope! Heutzutage ist es fast ein Standardformat (auch wenn die aktuelle "Qualitätsserien"-Mode offenbar das 16:9 immer mehr als "heutige Sehgewohnheit" durchzuprügeln scheint), mit dem aber oft nichts angefangen wird. In DU UND ICH UND KLEIN-PARIS ist ein müheloses, atmendes, spielerisches Scope zu sehen. Ein Scope, der genau weiß, wie erotisch es ist, eine von unruhigen, vielleicht sinnlichen Träumen geplagten schlafende Person von oben quer zu filmen – und dieses mit einer anderen unruhig schlafenden Person im nächsten Raum zu montieren. Was für ein fantastisches Bild für ein unbewusstes, gegenseitiges Begehren, das unsere beiden sympathischen Protagonisten von innen verzehrt!
Bei aller formalen Meisterschaft bleibt DU UND ICH UND KLEIN-PARIS tatsächlich immer spielerisch, und nimmt sich auch Zeit für ausgiebige Exkurse. Am liebsten gefiel mir, wie die Vermieterin (Angelikas Leipziger Tante) in die Wohnung nach einem abendlichen Rendezvous zurückkehrt. Da lässt der Film Tommy und Angelika auch mal alleine, begleitet die offensichtlich nach ihrem Date sehr gut gelaunte Tante in die Küche, wo sie sich erst mal ein geradezu grotesk riesiges XXL-Gurkenglas aus dem Schrank holt und sich erst mal eine schöne, große Gurke gönnt.
Auch wenn ich die Qualität der Icestorm-DVD fürchte, würde ich diesen Film gerne demnächst noch mal schauen. An diese fantastische 35mm-Projektion, die das Paradies-Festival am Sonntagabend fulminant abschloss, wird das leider niemals rankommen...

Im DEFA-Programm des Paradies-Filmfestivals gab es natürlich nicht nur kunterbunt-fröhliche Fantasiewelten zu sehen. Maxim Dessaus ERSTER VERLUST (DDR/Deutschland 1990), eine Adaption von Brigitte Reimanns Erzählung "Die Frau am Pranger", bot mit seinen düsteren Schwarzweißbildern und seinem trostlosen Setting in einem deutschen Bauerndorf während des Zweiten Weltkriegs ein drastisches, gleichwohl faszinierendes Kontrastprogramm zu DU UND ICH UND KLEIN-PARIS und Co.


Wir befinden uns also in einem deutschen Dorf in den frühen 1940er Jahren. Die Bevölkerung besteht fast nur aus Frauen, älteren Männern – und Kriegsgefangenen, die als kostenlose Arbeitskraft den kriegsbedingten Personalmangel bei der Bestellung der Felder ausgleichen sollen. Manchmal gleichen sie auch andere Sachen aus. Zu Beginn schläft eine Frau mit einem Mann – wenig später kommt heraus, dass es sich um einen französischen Kriegsgefangenen handelt, der kurz darauf an einen anderen Ort gebracht wird. Der Hof von Kathrin und Frieda, der Hauptschauplatz des Films, ist nun wieder ohne männliche Arbeitskraft. Zwischen beiden Frauen herrscht eine starke, unterschwellige Animosität, die daher kommt, dass sie zwei Menschen sind, die nur durch einen anderen Menschen miteinander verbunden sind – einen Mann, der Bruder der einen Frau, der überhastet vermählte Ehemann der anderen, der gerade an der Front ist. Durch das Fehlen des Bruders bzw. Ehemannes sind beide Frauen dazu verdammt, gemeinsam zu leben. Kurz nach dem Abtransport des französischen Kriegsgefangenen wird eine Gruppe von sowjetischen Kriegsgefangenen in das Dorf gebracht. Die beiden Frauen stellen einen Antrag auf einen Helfer für ihren Bauernhof, und bekommen Alexei zugeteilt, einen vollkommen ausgemergelten, stark apathischen, womöglich schwer traumatisierten Gefangenen. Trotz seiner Apathie weckt Alexei bald ein ambivalentes Begehren in den beiden Frauen. Es entwickelt sich etwas, was man – wäre Alexei freiwillig in dieser Situation – als sadomasochistisches Dreiecksspiel bezeichnen könnte.
ERSTER VERLUST ist ein sehr intimer Film über unfreiwillige Nähe, unterdrückte Leidenschaften, über die Banalität des Niederträchtigen, über komplex verzweigte soziale Hierarchien. Es geht um sexuelle Spannung, um "Liebe" (ohne Anführungszeichen wäre es das falsche Wort), die nicht zwischen gleichberechtigten Partnern entsteht, sondern aus einem komplexen Herrschaftsverhältnis. Die beiden Frauen, die Alexei zunehmend begehren, lassen immer wieder ihren Frust über eben ihr unterdrücktes Begehren, über ihre unglückliche Wohnsituation auf oft grausame Weise an Alexei aus: beschimpfen ihn, schreien ihn an. Sie selbst sind aber nicht nur Herrscherinnen über Alexei, sondern selbst einem Herrschaftsverhältnis unterworfen. Als Deutsche gelten sie im Dritten Reich natürlich als Nicht-Deutschen überlegen, aber als Frauen sind sie doch Personen zweiter Klasse. Sie sind auf das Wohlwollen eines älteren Soldaten (Jaecki Schwarz) angewiesen, der sich in der Administration für sie einsetzt – und das offenbar nicht nur aus uneigennützigen Gründen. Der namenslose Soldat ist nicht mehr kriegstauglich, aufgrund einer Verletzung hinkt er zudem leicht, ein potentiellen Aufstieg in der Armee wird für ihn nicht mehr kommen und ob das Dorf seine Heimat ist oder er dort an der "Heimatfront" abkommandiert ist, bleibt meiner Erinnerung nach unklar. Jedenfalls: auch keine besonders angesehene Person, zumal als älterer lediger Mann auch noch in einer zusätzlichen Außenseiterposition. Seine persönlichen Frustrationen baut er ab, indem er sich an die beiden Frauen heranwirft. Zunächst während eines gemeinsamen, abendlichen Umtrunks, der auch in einen gemeinsamen Tanz mündet – der vielleicht ausgelassenste Moment im Film. Später überrascht er eine der beiden Frauen (ich weiß nicht mehr, welche; ich glaube die Schwester des abwesenden Hausherren) in der Scheune, wie sie sich gerade intim an Alexei heranmacht. Im beklemmendsten Moment des Films wird er nicht wütend, droht nicht damit, die Frau zu denunzieren – nein, er teilt ihr kaltblütig für den kommenden Abend ein Rendezvous inklusive festem Termin und Ort mit und geht dann weg.
ERSTER VERLUST ist auch ein sehr vielschichtiger Film über das Dritte Reich. Wo der "klassische" Nazi-Film gerne mit schreiend-brüllend-sadistischen Nazi-Karikaturen in schnittigen Armeeuniformen aufwartet, hält sich Dessaus Film angenehm zurück und zeigt etwas, was der historischen Realität wohl näher kommt: Menschen, die das System des Nationalsozialismus so gut verinnerlicht haben, dass sie es gar nicht mehr groß zu thematisieren brauchen; die Russen völlig selbstverständlich als Untermenschen bezeichnen; die offene, meist aber eher latente und strukturelle Gewalt als selbstverständliches, alltägliches Mittel der Konfliktlösung nutzen – sei es, indem sie einen sowjetischen Gefangenen demütigen oder Frauen zu sexuellen Diensten erpressen.
Ich muss zugeben, dass ich eine ganze Weile gebraucht habe, um in diesen extrem langsamen Film reinzukommen. Während der Sichtung wuchs mein anfänglicher Respekt jedoch zu immer größerer Bewunderung, schließlich in Faszination. Am augenscheinlichsten sind natürlich die fantastischen, elegischen Schwarzweißbilder, die oft in sehr langen Takes das Geschehen festhalten. Unvergesslich, weil trotz ihrer "Trivialität" sehr beunruhigend, sind die immer wieder zwischendurch, als "pillow shots" eingesetzte Bilder eines Weizenfeldes, das vom Wind durchweht wird. Am Anfang wirkten sie beliebig, aber jedes weitere Weizenfeldbild bekam dann mit der Zeit mehr und mehr Spannung.
ERSTER VERLUST wurde in einem thüringischen Dorf gedreht und war somit gewissermaßen ein "regionaler" Beitrag zum Festival. Der Dreh verlief wohl alles andere als harmonisch. Während in dem Dorf dieser ruhige, fast meditative Film mit seiner Geschichte aus der Vergangenheit gemacht wurde, ging es in der europäischen und deutschen Tagespolitik drunter und drüber. Ein Teil der Crew, der die aufkeimende Opposition unterstützte, wollte ausführlicher und länger über Tagespolitik debattieren, als es der enge Drehplan vorsah, und warf dem Regisseur Maxim Dessau vor, ein dogmatischer Regimeanhänger zu sein – eine Spannung, die wohl während des kompletten Drehs anhielt.
Mehr als die Spannungen beim Dreh brachte aber die gewandelte Kinokultur der untergehenden DDR den Film um zahlreiche Zuschauer: gelockerte Einfuhrbeschränkungen für westdeutsche und amerikanische Filme führten dazu, dass sich ein großer Teil des ostdeutschen Publikums noch viel weniger für "sperrige" Schwarzweißfilme "made in GDR" interessierte. ERSTER VERLUST kam am 6. Oktober 1990 (manche Quellen nennen den 5. Oktober) in die Kinos: weltgeschichtlich wohl einer der schlechtesten Premierentermine aller Zeiten, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu generieren. Der von den Zuschauern weitestgehend ignorierte Film bekam, so Kameramann und Co-Drehbuchautor Peter Badel, wohl eine gute und eine schlechte Filmkritik in zwei verschiedenen Zeitungen, sprich: auch da kaum Aufmerksamkeit.
Badel war beim Screening von ERSTER VERLUST dabei, führte danach ein Podiumsgespräch und beantwortete in einem Q & A Fragen aus dem Publikum. Die Frage, ob der visuelle Stil des Films von Tarr Belá beeinflusst sei, verneinte er mit der Begründung, dass er Tarrs Filme zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. Badel sprach zudem nicht nur über die wie bereits erwähnt sehr schwierige Situation beim Dreh, sondern auch über technische Herausforderungen: die Kamera-Crew wurde von Regisseur Maxim Dessau wohl dazu gezwungen, mit musikbeschallten Kopfhörern zu arbeiten, um sich beim Filmen nicht am Dialog, sondern ausschließlich an der Bewegung der Darsteller zu orientieren.
Zu den Zuschauern, die ERSTER VERLUST mit großer Begeisterung sahen, gehörte auch Aldo Lado, der wie die Kameracrew beim Dreh wohl so gut wie nichts von den Dialogen mitbekommen konnte. Als das Q & A mit Kameramann Peter Badel eröffnet wurde, meldete er sich gleich als erster, sprach seine große Bewunderung für den visuellen Stil des Films aus, lobte die Intensität der Bilder, die er auch ohne die Dialoge zu verstehen gespürt hatte und fragte Badel ausführlich über die verwendeten Kameras, Objektive und Linsen aus. Das war wahrscheinlich eine der schönsten Offenbarungen cinephiler Offenheit und Neugier, die ich letztes Jahr erlebte: ein über 80 Jahre alter Herr setzt sich in einen vollkommen obskuren, vergessenen Film rein, von dem er kein Wort versteht...

Mit mehreren Monaten Abstand muss ich zugeben, dass ich vieles aus dem Jutta-Hoffmann-Egon-Günther-Double-Feature DER DRITTE und DIE SCHLÜSSEL vergessen habe – sogar, welche Nebenrolle Jaecki Schwarz in erstgenanntem eigentlich hatte.
DER DRITTE (Egon Günther, 1972) handelt von Margit (Jutta Hoffmann), einer alleinerziehenden Frau Ende 30, die sich nach zwei gescheiterten Beziehungen nach einer neuen Liebe, nach dem "Dritten" sehnt. Der Film ist in der Gegenwart angesiedelt, greift aber immer wieder auf längere Rückblenden zurück, die Margits bisherige Lebensgeschichte aufarbeitet: ihre Zeit als Jugendliche in einem Kloster, ihre erste gescheiterte Beziehung, ihre zweite gescheiterte Beziehung mit einem blinden Musiker (Armin Mueller-Stahl). Jutta Hoffmann ist natürlich toll, und der Aufbau des Films mit seinen zahlreichen Rückblenden ist nicht uninteressant, aber wirklich gepackt hat mich DER DRITTE nicht. Es gibt eine recht witzige Sexszene, bei der im Hintergrund ein Englischkurs auf Band zu hören ist: "The iron is getting hot!"

Bei Egon Günthers DIE SCHLÜSSEL von 1974 hatte ich ein wenig das gleiche Problem: kein schlechter Film, aber irgendwie ist doch sehr wenig hängen geblieben. Ein unverheiratetes Paar, sie Arbeiterin (Jutta Hoffmann), er Student (Jaecki Schwarz), reist zum Urlaub nach Krakau. Sie sparen sich das Hotel, weil sie beim Hinflug von einem polnischen Paar die titelgebenden Wohnungsschlüssel geliehen bekommen haben. In Krakau geniesst das Paar zunächst den Urlaub, doch dann kommt es zu ersten Konflikten: die üblichen Pärchenstreitereien, gekoppelt mit dem meist unausgesprochenen "Klassenunterschied" zwischen ihnen. Der Urlaub endet jäh, als sie bei einem Verkehrsunfall auf der Straße unter eine Straßenbahn gerät und stirbt... Günther wollte mit DIE SCHLÜSSEL einen besonders realistischen Film drehen, der konventionelle Dramaturgie zugunsten von Improvisation aufgibt, was meiner Meinung nach nur bedingt gelungen ist. Die Pärchen-Szenen mit ihren Dialogen fühlen sich in meiner Erinnerung oft sehr steif und gestelzt an, zwischen Hoffmann und Schwarz gibt es keine richtige Chemie (was natürlich insofern passt, als sie ein Paar in einer konfliktreichen Beziehung spielen). Viel interessanter ist es, dass DIE SCHLÜSSEL sich nebenbei als Stadtportrait von Krakau versucht, voller semidokumentarischer Impressionen, unter anderem von einem traditionellen, karnevalsartigen Stadtfest. Dafür nimmt sich der Film zwischendurch viel Zeit. Am unvergesslichsten ist sicherlich die lange, emotional sehr intensive und dabei fast komplett dokumentarisch gefilmte Szene kurz nach dem Unfall: wir sind auf der Straße, eine Straßenbahn ist umgekippt, Schaulustige kommen vorbei, Polizisten erscheinen und eruieren die Situation, er, der Student, ist auch da, und beobachtet, wie der Unfall geräumt wird, die Straßenbahn wieder auf die Räder gehievt wird. Das dauert viele, viele Minuten und der Film nimmt sich diese Zeit auch auf sehr konsequente Weise. Was danach kam, erschien mir fast etwas überflüssig.

Der härteste Brocken, aber auch eine der interessantesten Sichtungserfahrungen, die das Paradies-Festival zu bieten hatte, war REIFE KIRSCHEN (Horst Seemann, 1972). Das rührige Melodrama handelt vom wackeren Brigadenchef Helmut, der auf der Großbaustelle Neu-Lobeda in Jena die strahlende Zukunft des Sozialismus mit Beton formt. Der Endvierziger hat zwar schon eine erwachsene Tochter, aber seine Frau wird urplötzlich schwanger (wie das denn bloß passieren konnte?). Das führt natürlich zu existentiellen und politischen Dilemmata: noch mal ein Kind großziehen, oder weiter an der glorreichen Heimatfront des Beton-Sozialismus kämpfen? Als seine Frau direkt nach der Niederkunft bei einem Autounfall stirbt und aus dem hohen Norden (na ja: Ostsee) ein Ruf erschallt, dass Helmut auch da zum Aufbau des Beton-Sozialismus gebraucht wird, spitzt sich die Situation noch weiter zu!


Während der Einführung zum Film fiel der Begriff "Propaganda-Soap", und tatsächlich: REIFE KIRSCHEN ist ein melodramatisch-schnulziges Rührstück, das sich ganz in den Dienst der strahlenden sozialistischen Zukunft stellt – die allerdings stark dem feuchten Traum eines kleinkarrierten Provinzspießers gleicht. Mit welcher Konsequenz er das macht, ist bewundernswert und doch unfassbar verstörend (nach dem Film sagte ein Co-Zuschauer irgendwas von "hat sich wie Simmel-Film angefühlt"). Unter dem ganzen Pathos, den Seemanns Film auffährt, erkannt man die DDR in ihrer ganzen bestialischen Hässlichkeit.
REIFE KIRSCHEN evoziert müdes Sonntagsbaden am grauen, schlammigen Baggersee, kitschiges Herumtollen mit den Kindern auf der grünen Wiese hinter der Datsche und Besäufnisse in der von KAHLA-Zwiebelmuster-Spießigkeit triefenden und wahrscheinlich nach abgestandenem Jagdwurstgulasch riechenden Kneipe als die größte Glückseligkeit überhaupt, als das große Paradies auf Erden. Es wird an keiner Stelle explizit thematisiert, dass es hier um ein eingemauertes Land geht, aber implizit spürt man das: REIFE KIRSCHEN  spielt in einem ganz und gar eingemauerten Universum. 
Zu sehen, wie der Film seine Konflikte dramaturgisch aufbaut, war so verblüffend wie schockierend. Zunächst einmal gehört er zu diesen unfassbar zynischen Filmen, die eine Frauenfigur (hier: Helmuts Ehefrau) sehr umständlich, letztlich aber doch recht oberflächlich aufbauen, um sie dann in einem entscheidenden Moment sterben zu lassen – mit dem einzigen Ziel, dem männlichen Protagonisten eine emotionale Bürde aufzuerlegen und ihn damit zum Märtyrer machen zu können (DAS LEBEN DER ANDEREN, LEVIAFAN und COCONUT HERO fallen mir als absolute Tiefpunkte dieser zynischen Erzählform ein).
Der Grundkonflikt – die neue Vaterschaft vs. den sozialistischen Aufbau – rückt zahlreiche andere Punkte in den Hintergrund. Dass ein Paar Mitte Vierzig, von dem mindestens einer Akademiker ist, nicht in der Lage ist, ordentlich zu verhüten, scheint völlig nebensächlich (von den gesundheitlichen Fragen einer späten Schwangerschaft abgesehen). Dass Helmut kaum je mit seinem Neugeborenen zu sehen ist, weil er das Baby die meiste Zeit einfach (ohne groß nachzufragen) in die Obhut seiner erwachsenen Tochter übergibt oder genauer gesagt, es ihr reindrückt, geht vollkommen an der Perspektive des Films vorbei. Vielmehr scheint in dieser Welt logisch zu sein, dass die Tochter sich um das Kind kümmern muss, denn schließlich steht die Zukunft des Sozialismus hier auf dem Spiel: die tristgrauen Betonwüsten an der Ostsee müssen ja von echten, kernigen Männern wie Helmut aufgebaut werden.
Derweilen wird seine Tochter, die sich um den Säugling kümmert, ohne, dass irgendjemand ihr dafür groß danken würde, von ihrem Verlobten bzw. Ex-Verlobten vergewaltigt. Zu sehen ist nur der Anfang der Vergewaltigung, denn REIFE KIRSCHEN widmet sich dann doch lieber schnell Helmuts Heldentaten. Rape Culture made in GDR! Ich kenne mich mit der Geschichte der Familien- und Geschlechterpolitik der DDR zu wenig aus: ob es "liberale" Phasen und eher "konservative" Phasen gab, weiß ich spontan nicht. Sehr wahrscheinlich lohnt sich dazu ein Blick in Eva Schäfflers Dissertationsschrift "Paarbeziehungen in Ostdeutschland: auf dem Weg vom Real- zum Postsozialismus" (Wiesbaden 2017). Wenn es tatsächlich Anfang der 1970er Jahre zu einem konservativen "Rollback" in der Ehe- und Familienpolitik gekommen ist, dann war REIFE KIRSCHEN auf jeden Fall ein cineastisches Flagschiff dieser Tendenz. Der Arbeiterheld ist in der Welt dieses Films ein kerniger Macho, der seinen Mann steht. Das Leben der Frauen scheint hier rein dekorative Zwecke zu haben, sie dienen nur dem Wegschaffen von Drecksarbeiten, zum Spiegeleierbraten bei der Rückkehr des Mannes von der Baustelle (was für eine unfassbar trostlose Szene – mit scheusslichen Gardinen direkt aus der Hölle als Hintergrund), zum schnellen, manchmal ungeschützten und manchmal auch nichteinvernehmlichen Sex. Ihr Tod dient dazu, die Märtyrerpunkte der Männer aufzubessern.
Wie der Film diesen fürchterlichen, provinziellen, patriarchalischen Spießbürgermief völlig hemmungslos abfeiert und zugleich ohne jegliche Scham tote Ehefrauen und kleine Kinder in Kinderwägen ausnutzt, um den Zuschauern große Gefühle abzuwürgen, ist schon ziemlich einzigartig und unfassbar anzusehen. Das macht REIFE KIRSCHEN auf die Dauer aber auch sehr unangenehm. Trotz nur 97 Minuten Laufzeit war er, zumindest mit gefühlten 140 Minuten, der längste Film des Festivals. Eine Szene, in der Ingenieure zunächst auf dem Reißbrett, und später noch mal an einem unberührten Strand geradezu schwärmend davon träumen, eine graue Betonwüste zu errichten, führte dazu, dass ich dem anwesenden Hofbauer-Kommando einen Neologismus zur Erweiterung des Material-Jargons vorschlug: "stählerne" Filme aus dem realsozialistischen Osten sollten nicht als "Stahl", sondern als "Beton" bezeichnet werden. Die Adjektivierung stellt allerdings gewisse Probleme ("betönern"?).
REIFE KIRSCHEN war in der Tat hart, stählern, ja betönern, teils schier unerträglich, eine Geduldsprobe, aber dennoch ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Als "Zeitdokument" über gewisse Aspekte des Lebens in der DDR-Provinz ist der Film eine absolute Wucht.
Leider war das Paradies-Festival nicht so gut besucht, wie er es verdient hätte oder wie die Organisatoren es erhofft hatten. Besonders auffällig war die Diskrepanz in der Zuschauerstruktur zwischen den DEFA-Filmen und den italienischen Filmen: abgesehen von einem harten Kern an Dauerkartenbesitzern, die querbeet den Großteil des Programms besuchten, lockten beide Programmsegmente jeweils komplett einige Zuschauergruppen an, die das jeweilig andere Segment des Programms ignorierten. Bei den DEFA-Filmen waren immer wieder ältere Zuschauer im Saal, die man im Italo-Programm nicht sah, und ich habe das ungute Gefühl, dass einige von ihnen nur in die Filme gingen, um DDR-Nostalgiegefühle zu befriedigen. Selbstverständlich betrifft das nicht alle. Eine Zuschauerin zum Beispiel, die ein gutes Stück DDR miterlebt haben dürfte, hat nach REIFE KIRSCHEN gänzlich ohne Nostalgie geäußert, dass sie die in dem Film dargestellte Macho-Kultur durchaus selbst erlebt habe: offiziell wurde Gleichberechtigung verlautbart – im kleinen Lebensalltag hatten aber dennoch Männerbünde das Sagen.
Nach der Projektion von REIFE KIRSCHEN sprach mich ein älterer Herr in der Kloschlange an und geriet über den Film ins Schwärmen: "Das war damals genau so, wie der Film es gezeigt hat!", drückte er mit einer fast unkontrollierten, sehr erregten Freude aus. Für ihn waren da glückliche Erinnerungen geweckt worden... Des einen Gift ist des anderen Glückselixier.

Für erstere hatte das Paradies-Festival das passende Gegengift in petto. Es ist eine kuratorische Meisterleistung, ja nicht weniger als absolut genial, dass nach REIFE KIRSCHEN direkt DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR (Michael Kann, 1988) folgte und den Abend in einen unglaublich kenntnisreichen, faszinierenden und dialektischen Double-Feature verwandelte. Vom großen Cinemascope-Propagandaschinken aus der morastigen Provinz mit seinen großen Träumen vom betönernen Sozialismus ging es direkt in das lebensfrohe, lustvolle, musikalische und verspielte Herz des Ostberliner Bohemien- und Slacker-Milieus der späten 1980er Jahre – in einem Film, der eher am Rand der DEFA angesiedelt war und heute fast vergessen ist. Leider hatte die Kopie aus dem Privatbesitz der Organisatoren etwas an Farbe eingebüßt und neigte stark zum Bläulichen. Das war aber nicht so schlimm, denn mittlerweile ist klar: DEFA-Filme mit Und-Ketten-Titeln sind toll!
Der Aufhänger ist eine Reportage. Die Journalistin Marga möchte die Sängerin Anna interviewen. Die stellt sich allerdings als nicht sonderlich kooperativ im Sinne eines Interviews heraus. Robert, der Ex-Freund Annas, sucht gerade in der ehemals gemeinsamen Wohnung ein paar seiner Sachen zusammen und ist gegenüber Marga weitaus redeseliger. Also interviewt Marga eben Robert, und das läuft für beide ziemlich befriedigend, denn sie landen mit der Zeit zusammen im Bett. Doch leider ist Anna die einzige dauerhafte Verbindung zwischen Marga und Robert – außerdem kommt er von seiner ehemaligen Geliebten offenbar nicht dauerhaft los...
DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR ist vor allem eine Atmosphäre – und ein Gefühl der tiefen Entspannung. Es ist ein ausgesprochener "Abhäng-Film", in dem Leute die meiste Zeit einfach nur miteinander abhängen. Das umfasst Plaudern, Biertrinken, Spazieren, Liebemachen, Currywurst-Essen, Schachspielen. Trotz vieler Jumpcuts über Zeitebenen hinweg keine Spur von Hektik. Viel Zeit für alles, was nebensächlich erscheint. Robert, der zusammen mit einem guten Kumpel auf einer Parkbank Schach spielt, mit ihm darüber spricht, wie man Frauen am besten anspricht, damit im Grunde Marga meint – bis dann plötzlich Marga bei ihnen auftaucht. Marga und Robert, die nach dem Sex (oder vorher? Ist ja egal: in diesem Film ist nach dem Sex auch vor dem Sex) zusammen in der Wanne baden. Die kleinen Wort- und teilweise Saugnapfpfeil-Gefechte zwischen Margas kleinem Sohn und Robert. Zwischendurch die eher mäßig aufgenommenen Auftritte von Anna und ihrer Band... DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR hat sich in meiner Erinnerung ein bisschen verflüchtigt. Retrospektiv sehe ich eine gewisse Ähnlichkeit zu den Filmen der "Schwabinger Nouvelle Vague" (May Spills, Marran Gosov, Klaus Lemke). Eben "Abhäng-Filme", die dorthin gehen, wo es sie gerade verschlägt, und gerne auch verweilen, wenn sie Lust haben...

DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR beendete das Filmprogramm des Festivalfreitags. Und ich beende hiermit meinen Bericht (ist ja mittlerweile auch lange genug). Das Paradies bleibt. Natürlich zuallererst in den Herzen vieler Zuschauer, die vier wunderbare Kinotage verbracht haben. Einen Riesendank an die Festivalleiter und Organisatoren Falko und Leo: die tollsten Kinoengel in Jena!

Und das Paradies kommt wieder: dieses Jahr vom 12. bis zum 16. Juni. Es wird wieder DEFA-Filme geben, diesmal mit den Schwerpunkten Iris Gusner, Kinder- und Märchenfilme und "4. Generation" (also die "letzten" Filme der DDR). Im internationalen Programm wird Antonio Bido zu Gast sein mit einer Retrospektive. Sein Debütfilm, der Giallo IL GATTO DAGLI OCCHI DI GIADA (1977), wurde bereits angekündigt. Des Weiteren wird es einen Schwerpunkt zu Yılmaz Güney geben (das Paradies geht also noch etwas weiter südlich und östlich). Mehr dazu gibt es auf der Seite des Film e. V. Jena bzw. auf der facebook-Seite des Paradies-Festivals zu lesen.

Mittwoch, 3. Oktober 2018

Tutto è film: Bericht vom 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)








Samstag, 28. Juli

14.00 Uhr

IL SOLE NELLA PELLE ("Ein Sommer voller Zärtlichkeit")
Regie: Giorgio Stegani
Italien 1971
92 Minuten (Deutsche Fassung)
Die Schülerin und Industriellentochter Lisa (Ornella Muti) liebt den etwas älteren italienisch-französischen Hippie Robert (französisch auszusprechen – gespielt von Alessio Orano). Da dieser das Leben eher locker, gitarrenspielend und singend angeht, wird er von Lisas Vater (Chris Avram) als Gammler angesehen – und Ausländer ist er ja auch noch. Deshalb brechen die beiden jungen Menschen zu einer kleinen Insel auf, um dort ihre Liebe auszuleben, doch der Vater hat ihnen längst die Polizei (unter anderem Luigi Pistilli) an den Hals gehetzt.
Der als großers Liebesfilm angekündigte Film des Terza Visione 2017 (LA SPOSINA) hatte mich damals nicht vollends überzeugt. Stattdessen gab es nun in diesem Jahr IL SOLE NELLA PELLE, und dieser Film war wirklich einer der konsequentesten, bittersüßesten und schönsten Liebesfilme, die man sich denken kann – vollkommen der Liebe seiner beiden Protagonisten ergeben, in jedem Moment, 24 Bilder pro Sekunde.
Die Liebe wird gleich zu Beginn des Films entflammt, als Lisa und Robert aneinander vorbei gehen und sich in die Augen blicken. Zunächst braucht es überhaupt keine Worte dazu. Die Annäherung findet dann in "Polynesien" statt, einem illegalen FKK-Camp außerhalb der Stadt, wo Lisa zusammen mit einigen Mitschülern mitgeht, weil es da eben Nackte zu sehen gibt. Dort findet sich Robert dann auch nackt, eine sanfte Melodie spielend, hinter einem Wasserfall sitzend, der wie ihn wie ein Vorhang verdeckt. Schließlich spaziert er ein Stück mit Lisa, seine Gitarre als natürlichen Lendenschutz vor sich tragend – und lässt sich lieber freiwillig von der Polizei verhaften, als wegzurennen. Mit Lisa ist es anders. Mit ihr würde er bis ans Ende der Welt rennen oder eben in einem Boot zu einer kleinen Insel wenige Kilometer vor der Küste segeln, um dort mit ihr auf ewig ohne Polizei und ohne kapitalistischen Druck zu leben.
Der größte Kontrahent von Lisas und Roberts Liebe ist nicht in erster Linie die Polizei, sondern Lisas Vater: ein Mann, der sich für äußerst progressiv und liberal hält, solange seine Tochter von den ihr gewährten Freiheit gefälligst keinen Gebrauch macht. Vor allem ist er ein Mann, der nicht gemerkt hat, dass seine Tochter größer geworden ist und der sie nach wie vor gerne als "unschuldige" Sechsjährige sieht, die ihre Arme nach ihrem Vater ausstreckt, sobald sie ihn sieht. Konsequenterweise sieht der Vater immer wieder Rückblenden dieser Szenen vor seinen Augen, wenn er seine Tochter mit Robert sieht, durch ihr leeres Zimmer geht oder sie schließlich nach Ende der Hetzjagd wieder zu sich nehmen will (es aber mit Druck tun muss). Er ist gewissermaßen der erste, der sie verdinglicht, indem er sie zu einer Erinnerung degradiert.
Wenn der Vater seine Tochter liebt (also in Form einer sechsjährigen, "unschuldigen" Erinnerung – nicht als real existierenden Menschen), so verabscheut er Robert: ein Freigeist ohne reguläre Tagesbeschäftigung, ein gitarrenspielender Hippie und ein Ausländer. Dass Robert zur Hälfte Italiener ist, zählt für ihn nicht. Als er ihn kennenlernt, taxiert er ihn ganz minutiös mit verwundertem und leicht angeekeltem Blick: eine geradezu obszöne Fleischbeschau; als würde er ein erlegtes, exotisches Tier betrachten.
Davor fliehen sie, Lisa und Robert, mit einem Segelboot Papas und bauen sich auf der Insel eine eigene, kurzlebige Utopie der Liebe auf (sie dauert nicht einen ganzen Sommer, wie der deutsche Titel suggeriert, sondern nur knapp 24 Stunden). Nun... ich hatte kurz nach dem Terza-Visione-Festival das große Vergnügen, den eher zweifelhaften THE BLUE LAGOON aus dem Jahr 1980 in einer 35mm-Vorstellung zu sehen (bei einer "öffentlichen Testsichtung", einer 35mm-Sneak also). Gemeinhin heißt es, das italienische Genrekino würde oft bei amerikanischen Vorbildern abkupfern, aber bei IL SOLE NELLA PELLE und THE BLUE LAGOON ist es offensichtlich anders rum. Hymnische Naturbilder, ein junges Paar, nackt an einem paradiesischen Strand, Rumturteln im Meer mit Unterwasserkamera: das gibt es in beiden Filmen und beide Filme wollen nicht weniger als die ganz großen Gefühle. THE BLUE LAGOON verbockt es kläglich (wenn auch oft auf faszinierende Weise), IL SOLE NELLA PELLE kriegt sie, die großen Gefühle. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Lisa und Robert als glaubwürdige Liebende aus Fleisch und Blut erscheinen, die ihre Liebe vor allem mit Blicken Ausdruck verleihen, und nicht als klotzige Pappkameraden, die eben noch als kleine Kinder fürchterlich nervig waren und sich nun in fürchterlich tumben Sätzen austauschen; daran, dass der italienische Film die Liebe seiner Protagonisten durchaus "unschuldig" filmt, ohne lüsternen Blick (den er ja immer wieder stark verurteilt), während der amerikanische Film niemals ganz den Verdacht zu tilgen vermag, Fantasien nach blutjungen nackten Mädchen befriedigen zu wollen; daran, dass italienische Komponisten, hier im Speziellen Gianni Marchetti, musikalische Halbgötter waren (hier ein Musikausschnitt – begleitet von einigen brutal beschnittenen pan-and-scan-Bildern aus diesem tollen Cinemascope-Film).
Die Utopie, die sie da auf ihrer kleinen Insel aufbauen, ist umhauend. Sie schwimmen ein wenig im Meer. Dann bricht sie ihre Scheu und zieht sich aus, um ihre Bluse auf dem heißen Sand zu trocknen. Und schließlich verschwimmt alles mit der großartigen Musik von Gianni Marchetti zu reinen Gefühlen: exzessiv ausgespielt in Bildern der Liebenden vor der paradiesischen Landschaft im Sonnenuntergang, Bilder, die manche Leute wohl als Kitsch bezeichnen würden, weil sie leider nicht das ganz große Gefühlskino darin sehen und bei diesem Anblick zerschmelzen.
Für kurze Zeit ist IL SOLE NELLA PELLE ein utopischer Film, aber er weiß, dass das nicht ewig dauern kann – ja noch nicht einmal 24 Stunden. Dann werden die Liebenden, die gerade spielerisch über den Strand rennen, von zwei Fischern entdeckt: beide vermuten gleich, dass der Junge das Mädchen wohl vergewaltigen will, aber sonderlich schockieren tut sie diese Annahme nicht, ja es scheint sogar fast ein Wunschgedanke zu sein (eine Dialektik aus Empören und Aufgeilen, die der Mondofilm SVEZIA INFERNO E PARADISO beim Terza Visione letztes Jahr auf viel rohere Weise nicht zeigte, sondern vielmehr gar selbst verkörperte). Wesentlich interessanter für die beiden Fischer ist, dass das verschwundene Segelboot des reichen Industriellen, auf das ein Finderlohn ausgesetzt ist, am Strand bereit zum Mitnehmen anliegt. Dass sie das Boot schließlich mitnehmen und der Küstenwache liefern, löst dann die große Hetzjagd nach den beiden Liebenden aus, die der deutschen Videoveröffentlichung des Films auch den Titel gegeben hat ("Zu Tode gehetzt"). Der Vermutung des Vaters, dass seine Tochter von Robert entführt und nun auf der Insel ununterbrochen vergewaltigt wird, schließt sich die Boulevardpresse nur zu gerne an, und organisiert gleich einen Helikopter, um Bilder davon zu machen. Als die Liebenden schließlich zurückgebracht werden, dürfen natürlich die geifernden "besorgten Bürger" als Zuschauerkolonne hinter der Polizeiabsperrung nicht fehlen. Dass es Lisa eigentlich ganz gut geht, dass sie nicht vergewaltigt worden ist, dass sie Robert so aufrichtig liebt, wie er sie liebt, will niemand sehen. Stattdessen wird sie in der schaurigsten Szene des ganzen Films, die einen wirklich fassungslos zurücklässt, zu einer ärztlichen Untersuchung geschickt: der Arzt schaut Lisa schon genüsslich altherrenschmierig an, während er langsam seinen Gummihandschuh überzieht...
Wenn alles anders gewesen wäre, hätte vielleicht der Kommissar (Luigi Pistilli), der die Suche nach den vermissten Liebenden organisieren muss, Lisas Vater sein können. Er spricht es nicht aus, aber man spürt unterschwellig, dass er für die beiden Liebenden auf der Flucht Mitgefühl hat, und wesentlich weniger Verständnis für Lisas arroganten Vater, der zudem meint, als reicher Industrieboss über die Polizei wie über eine Privatkavallerie verfügen zu können. Da er kein Chef sei, tue er nur das, was ihm sein Chef sagt, meint der Kommissar an einer Stelle etwas verbittert gegenüber dem Industrieboss. Luigi Pistilli (sowieso!) und Chris Avram sind ganz toll, und beide haben markant-charismatische Gesichter, die sich entfernt ähneln: in einem Dialog werden beide Gesichter in Nahaufnahme im Gegenschnitt gezeigt, ja gar parallelisiert, als würden sich die zwei Männer über ihren Status als Vater Lisas streiten. Wer der bessere Vater ist, kann jeder Zuschauer für sich entscheiden.
IL SOLE NELLA PELLE ist knallhart, weil er ganz genau weiß, dass die Liebe der beiden zum Scheitern durch äußere Umstände verurteilt ist. Aber er glaubt auch an die Schönheit ihrer Liebe. Die letzten Bilder überlässt er nicht den lüsternen Journalisten, die während einer verkommenen Fleischbeschau mit Nacktbildern (muss man sich so die Redaktionssitzungen der BILD bei der Auswahl der BILD-Girls vorstellen?) am Rande mitbekommen, dass Robert beim Versuch, zu Lisa zu fliehen, tödlich verunfallt ist. Die letzten Bilder des Films gehören in einer Rückblende den beiden glücklich Liebenden in einem Moment ihrer selbst geschaffenen Utopie.

Der Blog Bahnhofskino hat in einem Podcast zum Festival drei Filmeinführungen aufgezeichnet, hier zu finden (zweiter Podcast). Ab Minute 4:30 ist Carolin Weidners wunderbare und poetische Einführung zu IL SOLE NELLA PELLA zu hören.


16.00 Uhr

ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA ("Vampire gegen Herakles")
Regie: Mario Bava, Franco Prosperi
Italien 1961
91 Minuten
Herakles (Reg Park) bricht mit seinem besten Kumpel Theseus (George Ardisson) in die Unterwelt auf, um dort einen Stein zu finden, der seiner schwer verwirrten Geliebten den Verstand zurückgeben kann.
Für einige Zuschauer gehörte ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA zu den meist erwarteten Filmen des Festivals. Bava, der große Meister der farbenprächtigen Tableaus, die nach 200 Mal mehr Geld aussahen, als sie tatsächlich gekostet haben. Etwas später am Abend (wahrscheinlich nach TUTTO È MUSICA), während des Sonnenuntergangs über der Frankfurter Skyline, witzelten wir in einer kleinen Gruppe darüber, dass Bava diese Skyline wahrscheinlich mit 10.000 Lire und ein bisschen Spucke noch wesentlich schöner in einem Studio hätte nachbauen können.
Nun, so leid es mir tut, aber ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA ist in meiner Erinnerung etwas verblasst, ohne, dass ich ihn wirklich schlecht gefunden hätte. Ich hatte anfänglich große Mühe, reinzufinden, was vielleicht daran lag, dass die Pause nach IL SOLE NELLA PELLE mit kaum 10 Minuten leider viel zu kurz war und mir der Film noch völlig "unverdaut" auf der Seele lag. Irgendwie war ich noch nicht in der passenden Stimmung, um zwei Muskelmännern dabei zuzuschauen, wie sie in der Exposition Dutzendschaften von Pappkameraden weg prügeln. Hinzu kam eine etwas anstrengende Comic-Relief-Figur, die das Duo aus Herakles und Theseus ergänzt (ohne es zum Trio werden zu lassen). Zu sich schien der Film dann anzukommen – oder besser gesagt: ich zum Film, als Herakles und Theseus in der Unterwelt ankamen. Hier entwickelte sich dann eine ziemlich faszinierende Abfolge beeindruckender, jenseitiger Bilder aus einer fremden Welt, mit großer Künstlichkeit und Kunstfertigkeit im Studio kreiert, bevölkert von ätherisch schönen Botinnen des Todes und furchterregenden Monstern. Das Steinmonster war besonders schön, und wenn ich sie nicht im Sekundenschlaf geträumt habe, so gab es Wesen, die ein wenig an Zombies erinnerten (also: an jene Zombies, die sieben Jahre später in NIGHT OF THE LIVING DEAD zu sehen waren, oder zumindest ein Jahr später bei CARNIVAL OF SOUL).
Die Rückkehr von Herakles und Theseus aus der Unterwelt gelingt nur, weil Theseus ein Mädchen aus der Unterwelt mitnimmt, was den Zorn der Götter auf die Menschen leitet. Von da an wird ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA zu einer Art Liebesdrama in der Zwickmühle: ohne das Unterweltmädchen, das Theseus liebt, wäre die Rückkehr von der Reise in die Unterwelt nicht gelungen, die nur dazu diente, Herakles wieder seine Geliebte zu geben – wie kann nun ausgerechnet Herakles seinen Freund Theseus dazu bringen, zum Wohle der Menschheit, die mit zornigen Plagen der Götter überzogen wird, auf seine Liebe zu verzichten? Das ist schon sehr gut eingefädelt, aber da verschwimmt der Film dann auch schon etwas in meinem Gedächtnis: das letzte Drittel ist für mich ziemlich verrauscht, weil mich eine temporäre Müdigkeit in eine Abfolge von Sekundenschläfchen stürzte. Die oft etwas träumerischen Bilder, die Bava so gekonnt zu einem tranceartigen Flow inszeniert, verleiten im Zweifelsfall doch dazu, Morpheus keinen zu großen Widerstand zu leisten. Vom Showdown habe ich nur kursorisch etwas mitbekommen. Nur noch, dass am Ende alles wieder gut wird, weil Theseus seine genauen Erinnerungen an die Geliebte verloren hat, sich dafür aber einfach die Verlobte des Comic-Relief-Sidekicks schnappt, der sich daraufhin sofort im Meer ertränkt – Herakles, Theseus und dessen künftige Frau mit einem glücklichen Lachen zurücklassend.


20.15 Uhr

TUTTO È MUSICA
Regie: Domenico Modugno, Tonino Valerii
Italien 1963
97 Minuten
Alles ist Musik, so erklärt der Schlagersänger Domenico Modugno, der sich selbst spielt (später aber auch andere Figuren), am Anfang des Films. In kleinen Episoden mit melancholischen Trinkern, suizidalen Gentlemen, freiheitsliebenden Pferden, gewieften Touristenführern, adeligen Mördern im Knast und verliebten Kindern wird das dann auch demonstriert.
Was für ein unglaublicher Wahnsinnsfilm! TUTTO È MUSICA erscheint auf dem Papier wie ein Ego-Projekt des berühmten Schlagersängers Domenico Modugno, der mit "Volare" Ende der 1950er Jahre einen internationalen Hit hatte; wie ein Film, der nur dazu dient, Modugnos größte Hits zu bebildern (was er größtenteils tatsächlich auf extrem eigensinnige Weise tut). Modugno wirkte hier gleichermaßen als Regisseur, Autor, Produzent, Komponist, Sänger, Komparse (er tritt auch als er selbst auf) sowie als Darsteller. Vom stromlinienförmigen Projekt der Egobefriedigung könnte der Film allerdings kaum weiter entfernt sein. TUTTO È MUSICA war in seiner Merkwürdigkeit, seinem schieren Wahnsinn und seinem Anspruch, ausschließlich seiner eigenen Logik unterworfen zu sein, vielleicht das Pendant des diesjährigen Terza Visione zu Giulio Questis ARCANA im letzten Jahr. TUTTO È MUSICA ist ein "Musicarello", ein Schlagerfilm, ein Musical, aber in Form eines Episodenfilms vereint er auch Elemente des autobiografischen Essayfilms, des harten Melodramas, des experimentellen Großstadtessays, des frühen Mondofilms, der Fellin'esken Fantasie, des fiktiven Tierfilms, des wüst-grotesken Slapsticks, des Knastfilms, des späten Neorealismus und des Coming-of-Age-Films. Wie Christoph im Programmheft unvergleichlich schön und treffend geschrieben hat: TUTTO È MUSICA erwecke den Eindruck "eine altersgewiefte, als Abschreibungsprojekt realisierte und daher etwas verheimlichte Wahnsinnstat eines amerikanischen Studioregisseurs zu sein, der im europäischen Altersexil begeistert die bisweilen lästigen Vorschriften narrativer Kontinuität die Kellertreppe hinunterpfeffert und in seinen kinematografischen zweiten Frühling aufbricht". Modugnos großer Hit "Volare" wurde zwischen 1958 und heute über 100 Mal in Filmen und Serienepisoden verwendet, doch TUTTO È MUSICA blieb leider Modugnos einziger Film als Autor-Produzent-Regisseur... (Tonino Valerii, der offiziell als Co-Drehbuchautor und Regieassistent genannt wird, wurde von Modugno tatsächlich als Regisseur angeheuert und dürfte für einen großen Teil der Regie verantwortlich zeichnen – Modugno dürfte trotzdem der Haupt-"auteur" des Films sein).
Es beginnt mit einer Autofahrt durch das süditalienische Apulien und durch das Dorf, aus dem Modugno stammt. Bilder eines Dorfes, das staubtrocken in der Sommerhitze daliegt, wunderschön, aber eigentlich nicht im engeren Sinne touristisch attraktiv: wenn man die Autos wegnimmt, hätte man hier auch Szenen eines Italowesterns drehen können. Ein Off-Kommentator (Modugno selbst?) präsentiert uns mit einem starken Dialekt und anfang in einem merkwürdigen Sprechgesang den Ort als Geburtsort Modugnos vorstellt, der als kleiner Junge schon gerne sang und Akkordeon spielte, damit dann aber irgendwann den Dorfbewohnern auch etwas auf die Nerven ging, so dass er eben sein Glück in Rom versuchte (hier der Vorspann des Films) So geht es auch nach Rom, wo Modugno (als er selbst) uns in einem Tonstudio empfängt, kurz die Tür zum Aufnahmeraum aufmacht, wo gerade "Volare" gespielt wird und dann erklärt, dass nicht nur das hier, sondern dass im Grunde alles Musik sei: Straßengeräusche, Lärm im Büro und in der Fabrik. Danach gibt es ein wenig von dieser Musik zu sehen und hören, weil sich der Film dann auf die Straßen und in die Fabriken und Werkstätten Roms begibt. Geräuschvolle Alltagsimpressionen werden in einer rhythmisch-musikalischen Montage aneinander gereiht. Hier ist ein Ausschnitt davon zu sehen, aber tatsächlich dauert das ganze mehrere Minuten, und ist damit viel "zu lange" für etwas, was man in einem "normalen" Schlagerfilm erwarten würde: wer einen Modugno-Hit nach dem anderen haben wollte, der kriegt hier erst mal etwas, was man wohl als eine Art römische Musique-concrète-Stadtsinfonie bezeichnen könnte, die Dziga Vertovs ČELOVEK S KINOAPPARATOM wesentlich näher steht als einem Popmusik-Clip.
Da das mehrere Minuten geht und eine ziemlich große Tour ist, durch die uns der Stadtführer Domenico führt, ist er danach auch etwas müde, legt sich auf eine Bank, schläft ein – und träumt von seinem eigenen Hit "Volare". Der Text des Lieds dient dabei als wörtliches Drehbuch für den Traum: blaue Farbe fließt über die Leinwand, Herbstlaub und Ballons fliegen durch die Luft, und dann erhebt sich Domenico in die Lüfte und beginnt zu fliegen! Ganz hoch, in den Himmel, bis er schließlich im Weltall ist und die Erdkugel von weitem sieht. Dann kommt er auf die Erde zurück und beginnt, durch Rom zu fliegen, die Arme freudig ausgestreckt wie ein Hohepriester der guten Laune. Wenn der Film vorher schon interessant war, dann war dies spätestens der Moment, bei dem ich mich vollkommen verliebt habe. Wer einen Eindruck davon haben möchte (auf der großen Leinwand sieht das noch mal wuchtiger aus), kann diesen Ausschnitt hier sehen. 1963 erhob sich ein anderer Leinwand-Held in einem anderen, auch etwas experimentellen italienischen Film in die Lüfte, nämlich der Protagonist von OTTO E MEZZO, als er zu Filmbeginn einem lästigen Stau entkommen möchte. Fellinis Film hatte seine Premiere sechs Monate vor Modugnos, es wäre also durchaus im Rahmen des Möglichen, dass die Idee bei Fellini entliehen wurde, und dann auf ganz eigensinnige Weise umgesetzt wurde. Zu weiteren Fellini-Querbezügen gleich mehr.


Nach dem Fliegen kehren wir wieder auf den Boden zurück, und zwar zu einer Straßenwahrsagerin und ihrem Begleittrompeter, die nach einem Streit mit einem Kunden von der Polizei weggejagt werden. Deshalb tun die beiden, die offenbar nicht nur Geschäfts-, sondern auch Ehepartner sind, das nahe liegendste: sie fahren an den Strand und machen ein Picknick. Die Tischmanieren, die sie dabei an den Tag legen, sind ein wenig besser als die von Jed in LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST (das ist auch schwer zu unterbieten), aber fein ist etwas anderes: da wird hemmungslos reingebissen, gekleckert, Ölsardinen werden mit den Fingern aus der Dose geholt und öltriefend in den Mund gesteckt. Dazu läuft (aus dem tragbaren Radio der beiden) ein Lied von Modugno, in dem hemmungslos schmalzig die Liebe zweier wesentlich jüngerer Personen und deren wunderbare körperliche Vorzüge (schöne Augen, schöne Lippen etc.) besungen wird. Ein Kontrastprogramm der Superlative, der natürlich zum Lachen anregt, aber zumindest für mich war es ein zärtliches Lachen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die beiden etwas älteren Liebenden bloß gestellt werden sollten, sondern der Kontrast zwischen idealisierter Liebe und Alltagsliebe: die Wahrsagerin und der Trompeter haben sich lieb, sind schon lange zusammen und brauchen sich nicht mehr voreinander zu genieren. Das ist irgendwie auch rührend. Beim darauffolgenden Verdauungsschläfchen wird allerdings deutlich, dass in den Träumen des Trompeters für idealisierte Erotik immer noch Platz ist: schöne Strandnixen tauchen plötzlich vor seinen Augen auf und halten am Strand eine verführerische Tanz-Show ab. Da kommt plötzlich ein junger, athletischer Mann auf und nimmt dem Trompeter die Strandschönheiten weg – aber Moment: nein! Ein Jumpcut reicht, um den jungen Mann durch ihn selbst zu ersetzen – doch dann wacht er auf. Aus lauter Wut, dass es nur ein Traum war, isst er seine Trompete auf (sic!). Bei dieser Episode von TUTTO È MUSICA kam mir intuitiv der Begriff "fellinesk" in den Sinn, doch Fellinis erster wirklich "fellinisker" Film war OTTO E MEZZO aus dem gleichen Jahr. Modugno und seine Co-Autoren konnten also zu dem Zeitpunkt noch nicht besonders viele "fellineske" Filme gesehen haben. Das bekräftigt aber nur weiter, wie eigensinnig und unglaublich TUTTO È MUSICA ist.
Wer denkt, dass TUTTO È MUSICA jetzt allgemein zur fellinesken Komödie wird, hat sich gründlich geirrt. Jetzt geht es nämlich in eine Taverne, wo eine bereits stark betrunkene Männerrunde sexistische Witze zum Besten gibt, die man, je nach Neigung, für nur mäßig witzig oder aber völlig widerwärtig halten kann. Domenico Modugno (wie wir gleich sehen werden: als eigene Figur, nicht als er selbst) sitzt dabei und sieht betrübt aus. Gehen ihm die anderen auf die Nerven? Vielleicht. Die Runde löst sich auf, und Modugnos Trinkerfigur beginnt durch die nächtlichen Gassen Roms zu torkeln und stimmt dabei ein zünftiges Trinkerlied an. Das Lied verwandelt sich nach und nach in ein Liebeslied – bis wir schließlich merken, dass der Trinker hier eine Tote besingt, nämlich seine kürzlich verstorbene Geliebte. Kenner von Modugnos Liedgut (also wahrscheinlich tatsächlich viele zeitgenössische Zuschauer in Italien) werden das wahrscheinlich frühzeitig erkannt haben, aber für die meisten Terza-Visione-Besucher dürfte das ein echter Schock gewesen sein. Der traurige Trinker torkelt weg, und dann erscheint ein eleganter Mann im Frack (wieder Modugno), der ebenfalls durch das nächtliche Rom spazieren geht, im Off von dem Lied "Vecchio frac" begleitet, und sich schließlich (off-screen) in den Tiber stürzt. Sein Hut und sein Frack treiben in der aufgehenden Sonne auf dem Fluss... Nach dem emotionalen Zusammenbruch in der Trinkerepisode schien das wie eine logische Fortführung.
Wer erwartet, dass es jetzt wieder fröhlicher werden müsste, hatte Recht, aber nur für sehr kurze Zeit. In der nächsten Episode ist ein weißes Pferd die Hauptfigur. Es lebt bei einer Pferderennbahn, aber es ist kein Rennpferd, sondern "nur" ein Arbeitstier zum Transportieren von Gerätschaften. Das passt dem Pferd keinesfalls und deshalb bricht er eines Morgens aus, um sich mit einem echten Rennpferd einen Wettkampf zu liefern. Wer das für banal hält, hat den Film natürlich nicht gesehen: wieder in Verbindung mit einem Lied von Modugno inszeniert TUTTO È MUSICA dieses Wettrennen als ganz großes Moment der Befreiung, als Emanzipation eines "Underdogs" (eines "Underhorses" sozusagen) von seiner festgelegten Rolle. Doch das dauert nicht lange, denn als ihm Hürden aufgestellt werden, um ihn zu stoppen, verletzt sich das Tier. Der Besitzer will ihn, sehr schweren Herzens, an einen Schlachthof verkaufen, doch ein Käufer schaltet sich dazwischen, bietet einen (scheinbar) extrem guten Preis an und verspricht, das Pferd nicht schlachten zu lassen. Stattdessen führt er nach dem Kauf das Pferd weg – und verkauft es kurz darauf für das Doppelte des Preises. Der scheinbar gutmütige Pferdeliebhaber war also "nur" ein Geschäftsmann, und man könnte das Tier durchaus als kapitalistisch Ausgebeuteten, als Wesen, das schamlos verdinglicht wird. Was darauf folgt, lässt einen dann allerdings bereuen, dass das Pferd nicht "rasch" zum Schlachthof geführt wurde. Denn der neue Käufer bringt es zu einer Mine, und dort dient unser unglücklicher Held als "blindes Minenpferd": mit zugebundenen Augen muss es tagaus, tagein schwere Lasten durch die Bergschächte ziehen, während Modugno das ganze mit einer herzzerreissenden Ballade begleitet. Nach Jahren Arbeit ist das Pferd, wie wir von Modugnos Gesang erfahren, komplett erblindet, und auch ansonsten gesundheitlich komplett ruiniert. Blind und hinkend kann es draußen einen letzten Galopp auf dem Feld machen, bevor es von einem Minenarbeiter mit einem Kopfschuss getötet wird.
Herzzerreissender wurde es beim diesjährigen Terza Visione höchstens noch am nächsten Tag beim "lacrima movie" L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA. Die Pferde-Episode von TUTTO È MUSICA ist tatsächlich ein knallhartes Melodrama und nimmt keine Gefangenen. Bemerkenswert erscheint mir, dass während der ganzen Episode, soweit ich mich erinnern kann, kein einziges Mal ein menschliches Gesicht zu sehen war: wir sehen immer nur die Beine, oder Rückenansichten, oder verdunkelte Gesichter in der Mine. Dadurch wird natürlich die Identifikation mit dem Pferd gesteigert, die Hilflosigkeit seiner Situation, in der er von feindlichen Figuren umgeben ist, noch verstärkt. Wird hier die Mechanik von Kapitalismus vielleicht noch verdeutlicht: das Opfer ist ein Individuum, der Täter ist ein (gesichtsloses) System?
Die nachfolgende Episode "verdoppelt" auf gewisse Weise die Pferde-Episode. Sie fängt an als etwas, das wie später Neorealismus aussieht, etwas, das aus Viscontis LA TERRA TREMA und Rossellinis STROMBOLI bekannt ist: in einer etwas archaischen Küstengegend brechen einige Fischer zu ihrem Tageswerk auf. Das ist auch ganz in der neorealistischen Tradition semidokumentarisch gefilmt, ganz offensichtlich handelt es sich nicht um Schauspieler, sondern um echte Fischer. Und es sind echte Apulier. Die 35mm-Kopie des Films aus der Cineteca Nazionale hatte keine festen Untertitel, es mussten welche extra für das Festival angefertigt werden. Trotz der Unterstützung durch italienische Muttersprachler das meiste von dem, was die Fischer auf ihrem Boot einander zuschrieen, nicht übersetzt werden – eine Nutzung von Dialekt, neorealistischer als die Neorealisten. Im Unterschied zu den neorealistischen Fischerszenen kommen hier keine Netze, sondern Harpunen zum Einsatz: das Ziel ist der Schwertfisch. Auf dem Meer wechselt der Film seine Perspektive. Modugnos begleitendes Lied handelt von zwei verliebten Schwertfischen, deren Liebe gewaltsam auseinandergerissen wird, als einer der beiden von Fischern getötet wird, worauf der andere sich umbringt, indem es sich an den Strand spülen lässt. Während Modugno singt, jagen also die Fischer den Schwertfisch und erlegen es. Nachdem sie wieder ans Ufer zurückgekehrt sind, geht das Lied zu Ende und der andere Schwertfisch wird angespült. Während man bei der Pferde-Episode am Ende deutlich sehen konnte, dass das eben erschossene Pferd atmete, also lebte (was der emotionalen Wirkung freilich keinen Abbruch tat), wird hier tatsächlich on screen ein Tier getötet, über ein Jahrzehnt, bevor das in italienischen Kannibalenfilmen zu sehen war. Das ist höchst unerfreulich und unangenehm anzusehen. Es gilt aber gewissermaßen die Regel: je größer und individueller das Tier, umso unangenehmer ist eine Jagd anzusehen (100 kleinere Fische im Netz bei Visconti oder Rossellini waren natürlich auch getötete Tiere). Innerhalb der Filmwelt von TUTTO È MUSICA ist die Episode genau so angelegt wie die Geschichte mit dem Pferd: mit dem Lied Modugnos reflektiert der Film ganz genau, was hier eigentlich passiert und stellt sich emotional auf die Seite des gejagten Fisches (wobei hier die Fischer trotzdem nicht als Bösewichte dargestellt werden, sondern eben als einfache Arbeiter, die ihre Arbeit tun). Einige Zuschauer sahen in dieser Episode einen frühen Mondo-Film innerhalb des Films, aber da ich mich mit diesem Genre so gut wie gar nicht auskenne (abgesehen von meiner Begegnung mit SVEZIA INFERNO E PARADISO letztes Jahr), kann ich dazu nichts weiter sagen.
Um fischähnliche Wesen geht es am Rande in der nächsten Episode, die einige Zuschauer sehr gefürchtet haben, weil hier das berühmt-berüchtigte Komikerduo Franco & Ciccio auftrat. Die ersten Bilder scheinen harmlos. Wir befinden uns wieder an einer Küste. Ciccio erwacht in seinem Zelt, steht auf, und beginnt sich auf einem Camping-Gaskocher ein Ei zu braten. Ein Hund fängt an zu bellen. Schnitt auf eine naheliegende Hundehütte. Aus der Hütte kommt nicht ein Hund gekrochen, sondern Franco – angekettet mit Hundehalsband, bellt er weiter und benimmt sich wie ein Hund. Ciccio schreit ihn an und plötzlich wird deutlich, dass Franco nicht etwa ein Hund im Menschenkörper ist, sondern Ciccios Sklave. Nach avantgardistischen Städtemontagen, einem musikalischen Menschenflug durch Rom, verzweifelten Selbstmorden, surrealistischen Situationen, brutal getöteten Pferden und Fischen sollte es natürlich nicht mehr überraschen, in diesem Film, der eigentlich ein populärer Schlagerfilm von 1963 sein "soll", auch noch ein sadomasochistisches Szenario zu sehen – zumal zwischen zwei Männern (oder nicht ganz? Aber dazu gleich mehr!). Sklavenähnlich angekettete und unterworfene Menschen im italienischen Kino dürften viele mit Pasolinis SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA in Verbindung setzen (natürlich ist der Kontext dort ein komplett anderer): das war allerdings 12 Jahre später und von einem Filmemacher inszeniert, der nicht als populärer Schlagersänger, sondern als furchtloser intellektueller Provokateur bekannt war.
Jedenfalls: in vielen Auftritten agierten Franco und Ciccio als gleichberechtigte Figuren, hier ist klar, welcher der beiden der dominante ist. Ab und zu lässt Ciccio seinen Sklaven Franco auch von der Kette, zum Beispiel, wenn es darum geht, alten Schrott als seltene etruskische Antiquitäten an deutsche Touristen zu verkaufen. Das sind natürlich Wanderer: sie singen ein fetziges Lied, das in Deutschland 25 Jahre früher bestimmt gut zum Ambiente gepasst hätte, marschieren stolzen Schrittes, wie sie es 22 Jahre vorher getan hätten, und der Anführer der Gruppe ist ganz in Schwarz gekleidet und erinnert nicht von ungefähr an Mitglieder einer gewissen deutschen paramilitärischen Organisation der Vergangenheit. Trotzdem: ein ideales Opfer für die Händel von Ciccio und Franco. Franco, dessen Figur in diesem Auftritt mit besonders wenig Intelligenz ausgestattet ist, stellt sich bei einem Geschäft mit einem deutschen Touristen ziemlich blöd an und verliert dabei einen Teil des Haushaltsgelds der beiden. Währenddessen erklärt der Anführer der deutschen Gruppe seinen Wanderern die Geschichte einer Sirene, die Männer durch ihren Gesang dazu bringt, sich die Küstenklippen runterzustürzen. Ciccio stellt sich dazu, korrigiert einige Details, und versucht dann erfolglos, dem Mann eine "antike etrsukische Vase" zu verkaufen, was ihm nicht gelingt. Nächtens wird der deutsche Touristenführer von einer Sirenenstimme geweckt, er geht zum Strand und erblickt dort eine Sirene – doch im letzten Moment hält ihn Ciccio zurück mit der Warnung, dass es nur eine Illusion sei. Der Deutsche ist erschüttert, will die Sirene unbedingt wieder sehen, und zwar um jeden Preis. Das wiederum passt Ciccio ganz gut in den Kram, der 50.000 Lire, davon einen Vorschuss von 20.000 verlangt ("Warum diese 20.000?" – "Das ist eine Vorschrift!" – "Ah, gut."). Nach Konsultation einer Wahrsagerin kann es wieder los gehen. Nachts ruft die Sirene, aber als der Deutsche zu ihr rudert, erblickt er... Franco, der als Sirene gekleidet ist. Der Deutsche ist empört, nimmt aber Franco trotzdem mit, um ihn zur Polizei zu bringen – so sagt er zumindest. Schnitt. Später, am helllichten Tag (wie viel später, ist unklar), sammelt Ciccio Muscheln am Strand, als er Sirenenstimmen hinter einer Düne hört. Dort angekommen, erblickt er Franco, wieder als Sirene, der im Gegensatz zu vorher mit einer echten Frauenstimme singt, und neben ihm (oder ihr?) liegen drei kleine Sirenenkinder im Sand. Was als hartes Sadomaso-Beziehungsdrama anfing, hat sich durch ein bisschen Slapstick durchgearbeitet und endet schließlich, mit einem überraschenden kleinen Gender-Switch, im Bereich der Fantasy – oder des völlig Absurden, je nach dem, wie man es sehen möchte. Was hat das eigentlich noch mit dem Rest des Films zu tun? Na ja, Domenico hat es doch am Anfang des Films schon erklärt: tutto è musica! Der entfesselte Wahnsinn von TUTTO È MUSICA sollte hier tatsächlich seinen Gipfelpunkt finden. Hier gibt es die Episode in drei Teilen (erster, zweiter, dritter) zu sehen, ohne Untertitel, aber auch ohne sie "versteht" man bestimmt da eine oder andere.


Mehrmals wurde bei Einführungen dazu ermutigt, das italienische (Genre)kino durchaus auch als sehr engmaschige und komplizierte Geschichte personeller Verflechtungen zu sehen. TUTTO È MUSICA war tatsächlich nicht die erste Zusammenarbeit zwischen Franco & Ciccio und Domenico Modugno. Der Schlagersänger spielte auch in anderen Filmen der Zeit als Darsteller mit und traf auf Franco Franchi und Ciccio Ingrassia schon 1960 in der Komödie APPUNTAMENTO A ISCHIA von Mario Mattoli (einer der ersten Kino-Auftritte der beiden Komiker), später in L'ONORATA SOCIETÀ von Riccardo Pazzaglia und in Vittorio De Sicas All-Star-Film IL GIUDIZIO UNIVERSALE (womit retrospektiv wieder eine personelle Querverbindung zum Neorealismus da wäre), bevor er sie als Autor und Regisseur in seinem eigenen Film begrüsste. 1968 trafen Franco, Ciccio und Domenico wieder aufeinander im Episodenfilm CAPRICCIO ALL'ITALIANA, in der Episode "Che cosa sono le nuvole?", die von Pier Paolo Pasolini geschrieben und inszeniert wurde.
Aber zurück zu TUTTO È MUSICA. Die folgende Episode demonstriert nicht nur, was für ein toller Schauspieler Domenico Modugno eigentlich war, sondern hat auch eine formelle Besonderheit: alle Darsteller sprechen in einem apulischen Dialekt (das wohl zur Sprachfamilie des Neapolitanischen gehört). Ich verstehe ein wenig Italienisch, vorausgesetzt, es wird deutlich artikuliert und "hochitalienisch" ausgesprochen, aber was in der Knastepisode von TUTTO È MUSICA gesprochen wird, hätte ich kontextlos nicht als "Italienisch" erkannt, und ich habe die Vermutung, dass norditalienische Kinozuschauer, zum Beispiel in Mailand, einige Mühe gehabt haben dürften, diese Episode zu verstehen. Das ist keine Nebenfigur, die für eine Minute mal mit süditalienischem Einschlag spricht (wie der eine Portier in Bavas LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO), sondern eine komplette Episode. Möglicherweise eine spezielle "Insider-Episode" für eine spezifische Sprachgruppe der Zuschauerschaft? Diese Episode war für die Erstellung der Untertitel wohl jedenfalls wieder eine große Herausforderung, die dann relativ lückenlos gemeistert wurde.
Jedenfalls die Knastepisode: in einem apulischen Gefängnis im 19. Jahrhundert treffen sich zwei Männer, die sich bereits "draußen" kannten. Ich weiß nicht mehr im Detail, wie die einzelnen Schritte eskalieren, aber schlussendlich bringt der eine den anderen um, weil dieser der Liebhaber seiner Frau war – oder so ähnlich. Großes Kino ist hier vor allem, dass beide Männer von Domenico Modugno gespielt werden und vermutlich wäre ich nicht der einzige im Saal gewesen, dem das vielleicht entgangen wäre, wenn das in der Einführung nicht explizit erwähnt worden wäre. Sicher, Schminke, Licht und die Tatsache, dass beide Männer selten gemeinsam im Bild zu sehen sind... aber trotzdem. Davon abgesehen ist die Episode wunderschön und sehr atmosphärisch fotografiert, in einer relativ geräumigen, aber doch zappendusteren Gefängniszelle. Eine kurze, schnelle und sehr intensive Rachegeschichte, die schließlich mit vergossenem Blut endet.
In der letzten Episode wird es schließlich noch mal sehr gefühlvoll. Wir befinden uns auf einem abgelegenen Landgut, die britische Touristen (Papa, Mama und ein kleiner Sohn) als Urlaubshaus genutzt haben. Jetzt wird noch der letzte Tee im Garten getrunken, und die beiden Erwachsenen nehmen von dem Hausmeister des Guts Abschied. Den kleinen, etwa zehnjährigen Sohn, interessiert das nicht, denn er will die etwa gleichalterige junge Tochter des Hausmeisters wieder sehen – nur noch ein letztes Mal. Und so reisst er aus, sucht das junge Mädchen, das er auch im Haus findet. Es dürfte in diesem Moment bereits angefangen haben zu regnen, und beide rennen zu einer geschützten Stelle im Park, wo sie sich küssen, sich ihre Liebe gestehen und er ihr verspricht, dass er eines Tages zurückkehren wird. Schließlich muss er zu seinen Eltern zurück, steigt in das Auto, das losfährt. Das junge Mädchen rennt im strömenden Regen hinterher, während er durch das Rückfenster winkt. Es ist herrlich, es ist fast zu viel des Guten. Ein guter künstlicher Regen (und der hier ist künstlich) ist immer extrem fotogen. Verliebte Leute, die durch den Regen rennen, sind natürlich noch fotogener. Wenn noch Modugno im Hintergrund lautstark "Piove" anstimmt, und es auch noch um Kinder geht, dessen trauriges Schicksal es ist, noch nicht über ihr eigenes Leben bestimmen zu dürfen, dann fügt sich das zu ganz großen Gefühlen zusammen. Nach einer wilden, aufrüttelnden, schockierenden, urkomischen, deprimierenden, brettharten, absurden und euphorischen Kino-Achterbahn der Gefühle entlässt TUTTO È MUSICA die Zuschauer nun mit einer bittersüßen Note in die Nacht...

Knapp eine Stunde Pause bis zum nächsten Film – gerade genug, um das alles ein klein bisschen verdauen zu können.

Wer die Einführung zu dem Film von Christoph Draxtra und Roberto Curti hören möchte, kann das wieder in dem Podcast zum Festival vom Bahnhofskino machen, zu hören ab Minute 10:50 (das dauert etwa eine Viertelstunde).


23.00 Uhr

LIBERI ARMATI PERICOLOSI ("Bewaffnet und gefährlich")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1976
97 Minuten
Die junge Lea (Eleonora Giorgi) warnt den Kommissar (Tomás Milián), dass ihr Freund Luis (Max Delys), Joe (Benjamin Lev) und Mario aka "der Blonde" (Stefano Patrizi) einen Überfall auf eine Tankstelle planen. Dort hinterlassen die drei jungen Männer ein Blutbad. In einer ständig fortschreitenden Eskalationsschraube zieht die Bande in Mailand, den Vorstädten und dem umgebenden Land eine Blutspur.


Junge Menschen auf der Flucht, verfolgt von einem eigentlich verständnisvollen Polizisten, der leider nichts anderes tun kann, als seine Arbeit zu erledigen: das gab es heute auch in IL SOLE NELLA PELLE und insofern schloss LIBERI ARMATI PERICOLOSI für diesen Tag einen Kreis. Doch statt zärtlicher Liebe gab es blinde Zerstörungswut und entfesselte Mordlust.
LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist ein tieftrauriger, deprimierender, fatalistischer und bedrückender Film geworden, ein echter Herunterzieher (das Titellied, das während des Films leitmotivisch in instrumentalen Varianten wiederholt wird, trägt viel zur Melancholie bei – eine Version hier). Der Juvenile Delinquent wurde in den 1950er Jahren, etwa mit James Dean, zum glamourösen Sexsymbol, doch gab es bei aller Rebellion auch immer den Notausgang einer Rückkehr in die Gesellschaft (siehe gerade das Ende von REBEL WITHOUT A CAUSE). 20 Jahre, eine gescheiterte 68er-Bewegung und (in Europa) ein Dutzend terroristischer Anschläge später ist von dem Glamour nicht mehr viel übrig geblieben, kein Notausgang mehr, nur Zerstörungswut und Gewalt in einer unaufhaltsamen Eskalationslogik.
Das Trio aus Mario, Joe und Luis, alle Söhne gutbürgerlicher, wohlhabender Familien, hat eine sehr klare Rollenverteilung, die sich im Laufe des Films nicht wirklich ändert. Joe ist sicherlich der lauteste und aufbrausendste der drei: die Lust an Zerstörung und Mord steht ihm geradezu ins Gesicht geschrieben, er hat sichtlich große Freude daran, in der Gegend herum zu ballern und ständig hat er einen dummen Spruch auf den Lippen und vergleicht das Trio und ihre Situationen mit diversen Filmen (von PER UN PUGNO DI DOLLARI bis THE GREAT ESCAPE). Doch schnell wird deutlich, dass er die Psyche eines nicht besonders gut entwickelten Fünfjährigen hat und sich überhaupt wie ein großes Kind benimmt. Der äußerlich meist ruhige, fast etwas melancholische Professorensohn Mario mit seinem fast schon engelhaften Gesicht ist der eigentliche Urheber der Eskalation, der zentrale Gewalttäter der Bande: er erschießt zunächst kaltblütig den Tankwart und läutet damit die Eskalation der ganzen Geschichte ein. Im weiteren Verlauf des Films wird er ein über ein halbes Dutzend weiterer Menschen, manchmal in Gefechten, oft aber auch völlig ohne Not kaltblütig ermorden. Joe redet ständig erregt davon, Leute zu erschießen – Mario schweigt und schießt, sichtlich ohne Freude, ohne einen Kick davon zu bekommen. Das ist vielleicht sogar noch erschreckender als wenn er offensichtlich sadistisch wäre: es ist für ihn so banal wie freudlos, und genau so werden seine Morde inszeniert.
Luis ist der passive Dritte im Bunde. Bis zum Ende tötet er niemanden, sondern bleibt, meist hinter dem Autolenkrad, schweigender Zeuge von Marios und Joes Massakern. Doch ohne ihn würde nichts gehen. Mehr als Joes Dauerfeuer an Sprüchen ist es Luis' Passivität, die Mario ermöglicht, immer weiter zu machen. Nach dem Überfall auf die Tankstelle will Mario eine Bank überfallen (wo er dann einen weiteren Menschen tötet), und kurz vorher bietet er Luis an, aus der Sache auszusteigen und einfach wegzufahren. Als Mario und Joe nach dem mörderischen Banküberfall zurückkehren, sitzt Luis immer noch hinter dem Lenkrad und fährt sie dann auch willig weg.
Der Fluchtfahrer ist ja spätestens seit den 1970er Jahren zu einem eigenen Sub-Typus des Actionhelden geworden: Walter Hill hat ihm in THE DRIVER einen eigenen Film gegeben (später Nicolas Winding Refn in DRIVE), mit THE TRANSPORTER hat er gar ein eigenes Franchise bekommen. Eine fast mythologisch überhöhte Figur, die gleichzeitig "innen" und "draußen" ist, involviert in Verbrechen ohne daran direkt teilzunehmen, ein Outlaw mit eigenem Ehrencodex, gewißermaßen ein mit Sünden beladener Engel (zumindest scheinbar ein Wesen aus dem Jenseits). Luis in LIBERI ARMATI PERICOLOSI kann extrem gut Auto fahren und ist daher der ideale Fluchtfahrer. In einer wilden Verfolgungsjagd mit zwei Polizeiautos (dem einzigen etwas leichteren Moment im ganzen Film) geht er voll und ganz in seinem Element auf – und genau in diesem Moment erhält er von Mario einen bewundernden, anerkennenden Blick, der besagt "Bravo. Du gehörst zu uns!". Luis' Freundin, Lea, die an dieser Stelle mit im Auto sitzt, dürfte dieser Blick nicht entgangen sein.
LIBERI ARMATI PERICOLOSI beginnt damit, dass Lea das Trio an den Polizeikommissar (Tomás Milián) verrät, ihm den Plan des Überfalls auf die Tankstelle darlegt – ihm aber gleichwohl zusteckt, dass die Bande nur zwei Spielzeugpistolen aus Plastik hat (ob sie lügt oder nicht, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen). Weniger als um Mario und Joe geht es ihr natürlich darum, Luis zu "retten". In der zweiten Hälfte des Films wird Lea von der Bande auf Drängen Marios mehr oder weniger entführt. Zunächst versucht sie noch Luis "auf den richtigen Weg" zurück zu bringen, scheitert aber daran. LIBERI ARMATI PERICOLOSI ist auch deshalb so deprimierend, weil er am Rande auch ein Film über eine junge Liebe ist, die ob der unvereinbaren Charaktere der Liebenden zerbricht. Nach einem besonders bestialischen Mord Marios verfällt sie in schreiende Hysterie, während Luis ungerührt bereits zum nächsten Auto läuft, um es zu startklar zu machen. Als Mario einen fliehenden Autobesitzer in den Rücken schießen will, hält sie ihn davon ab, während Luis passiv zuschaut. Nur als Mario Lea befiehlt, sich auszuziehen und sich als Ablenkungsmanöver unter den Blicken eines Polizeihubschraubers auf offenem Feld küssend und fummelnd auf sie legt, zeigt Luis echte Betroffenheit. Er wollte sie aus der ganzen Sache raushalten. Um ihre "Unschuld" macht er sich mehr Sorgen als um die Menschen, die Mario tötet. Hier löst sie sich auch langsam von ihm und macht dann später auch mit ihm "Schluss": Er sei der kränkste der drei.
Zu keinem Moment gibt es eine schlüssige Erklärung dafür, warum die drei jungen Männer auf Mordtour gehen, und zweifellos gehört das zu den Stärken des Films (und dürfte dafür sorgen, dass er in Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten nicht vom Index runterkommt – aber in letzter Zeit geschehen ja Wunder). Die Gewalt bricht motivationslos und "überfordernd" auf den Zuschauer ein. Klar, da ist natürlich das männerbündische Element, das Eskalationen fördert, aber als alleinige Erklärung reicht das nicht aus. An einer Stelle sagt ein befreundeter junger Mann zu Mario, dass diejenigen, die keinen hoch bekommen, gerne Befehle geben und tatsächlich scheint Marios Frustration darüber, dass Luis eine nette, schöne Freundin (und eben Bettgenossin) wie Lea hat, und er offenbar nicht, geradezu greifbar zu sein. Aber auch das kann keine alleinige Erklärung sein. In einer relativ langen Dialogszene hält der Kommissar den versammelten Eltern der drei Gewalttäter eine Art "Moralpredigt", in denen er ihnen vorwirft, nicht genug mit ihren Kindern geredet bzw. ihnen nicht zugehört zu haben. Geld verdienen – oder sich um die Kinder kümmern: da könne man nicht beides tun, antwortet einer der Väter und wirft dem Kommissar gleich noch vor, weltfremd zu sein. Wer so denkt, sollte wahrscheinlich wirklich besser nicht mit Kindern reden (oder überhaupt welche haben). Insofern hat der Kommissar da sowohl recht wie auch unrecht. Mehr als eine "Moralpredigt" bricht in diesem Moment vielleicht die Frustration des Kommissars heraus, dass er nur Symptome gegebenenfalls mit Gewalt beseitigen kann. Fast wünscht man sich, dass der Kommissar seinen Beruf in einer besseren Welt ausüben könnte, oder vielleicht besser Sozialarbeiter geworden wäre. (Diese Szene trägt meiner Meinung nach deutlich die Handschrift des Drehbuchautors Fernando Di Leo: in seinem selbstgeschriebenen MILANO CALIBRO 9 gibt es einen ähnlichen Schlagaustausch über die Ursachen von Verbrechen zwischen dem quasifaschistischen Law-and-Order-Kommissar Frank Wolff und seinem Untergebenen Luigi Pistilli, der soziale Ungleichheit, kapitalistische Ausbeutung und Rassismus als Ursachen von Verbrechen ansieht).
Miliáns Rolle als Kommissar ist sehr bodenständig. Er war gerade in einer Phase, in der er gerne mit Perücken, wilden Hüten, Verkleidungen in extravaganten Rollen spielte und musste von Regisseur Romolo Guerrieri mit viel schmeichelnden Worten zur Rolle des namenlosen Kommissars überzeugt werden. Milián gab es bei diesem Terza Visione auch in einer sehr extremen Rolle (in LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST) zu sehen, aber in LIBERI ARMATI PERICOLOSI kann man ihn ebenfalls nur bewundern. So unscheinbar seine Rolle auch sein mag: es ist bemerkenswert, wie viel Melancholie und Fassungslosigkeit Milián nur mit seinen Augen ausdrücken kann...
Ganz und gar nicht unscheinbar ist Stefano Patrizi als Mario "il biondo". Ohne ihn könnte ich mir diesen Film gar nicht vorstellen. Mit seinem engelhaften Äußeren, das zwischen den brutalen Gewaltausbrüchen immer Ruhe, sanfte Melancholie und sogar etwas Trauriges ausstrahlt, reißt er den ganzen Film an sich. Manchmal scheint es so klar auf der Hand zu liegen, dass er in einer anderen Welt ein netter Mensch sein könnte. Die eliminatorische Zerstörungswut, die immer wieder eruptiv aus ihm ausbricht, bleibt bis zum Ende sein Geheimnis. Am Ende richten sich die zwei übrig gebliebenen Verbrecher selbst, und der Polizist kann nur noch fassungslos und traurig vor sich hin blicken.


Der Film wurde sehr fachkundig und gewitzt von Christoph Huber eingeführt. Zu hören wieder im Podcast von Bahnhofskino, ab Minute 26:20.


Sonntag, 29. Juli

13.00 Uhr

LE MASSAGGIATRICI ("Mit Damenbedienung")
Regie: Lucio Fulci
Italien / Frankreich 1962
85 Minuten (Deutsche Fassung)
Die Mailänder Bauherren Parodi (Ernesto Calindri) und Manzini (Luigi Pavese) fahren nach Rom, um dort den Auftrag zum Bau eines Wohnheims zum Schutze der Jugend zu ergattern, der von einer christdemokratischen Sittenwächter-Organisation ausgeschrieben wird. Mit deren Präsidenten Paolini (Louis Seigner) und Sekretär Bellini (Philippe Noiret) werden Betragshöhen und "Prozente" verhandelt. Zur Zerstreuung wollen Parodi und Paolini gleichermaßen "Masseurinnen" besuchen. Die in Parodis Hotelzimmer verirrte "Masseurin" Marisa (Sylva Koscina) wird von Bellini entdeckt und muss fortan die "Ehefrau" des Bauherren spielen, die zufällig Haupteigentümerin des Bauunternehmens ist. Sittenwächter Paolini ahnt gar nicht, dass Parodis äußerst hübsche "Ehefrau" die "Masseurin" ist, die er die ganze Zeit erfolglos zu erreichen versucht. Richtig würzig wird die ganze Situation, als Parodis echte Ehefrau spontan in Rom auftaucht...


Lucio Fulci ist fast schon der heilige Schutzpatron des Terza-Visione-Festivals: mit jeweils einem Film war er bislang als einziger Regisseur bei allen fünf Ausgaben immer vertreten. Trotzdem war LE MASSAGGIATRICI für viele Zuschauer die vielleicht größte und schönste Überraschung beim diesjährigen Terza Visione. Udo Rotenberg vom Filmblog "L'amore in città" erklärte auf gewisse Weise in seiner Einführung vorab, woran das wohl lag: der Western LE COLT CANTARONO LA MORTE E FU... IL TEMPO DI MASSACRO ("Django – Sein Gesangbuch war der Colt") von 1966 gilt im cinephilen Bewusstsein gemeinhin als "erster" "echter" Fulci-Film – war aber tatsächlich schon sein 17. Film als Regisseur. Die Filme, die er vorher gedreht hatte, waren größtenteils Komödien, die in der Tradition der populären italienischen Filmkomödie der 1950er Jahre standen (über diese sprach Udo sehr kenntnisreich und ausführlich), eng verbunden unter anderem mit dem Namen Totò. Der vielen als "Godfather of Gore" geläufige Filmemacher begann seine Kinokarriere in den 1950er Jahren als Autor und Regieassistent bei mehreren Komödien mit Totò. In seinem ersten abendfüllenden Film als Regisseur, I LADRI von 1959, spielte der berühmte Komiker auch die Hauptrolle. Bis zu seinem sogenannten "ersten" Film 1966 drehte Fulci weitere Komödien sowie Schlagerfilme, mit unter anderem Adriano Celentano sowie oft dem berüchtigten Komiker-Duo Franco & Ciccio in den Hauptrollen. Mit der Frühphase von Fulcis Regiewerk könnte man einen kompletten viertätigen Ableger des Terza Visione gut füllen.
LE MASSAGGIATRICI ist Fulcis sechster Film. Ein früher Film, vielleicht nur eine "Fingerübung" oder nur "routiniertes Handwerk", das möglicherweise nur als filmhistorischer Einblick interessant ist – so oder ähnlich haben einige von uns vielleicht gedacht und die Erwartungen nicht zu hoch veranschlagt. Denkst du! Zu sehen war eine wunderbare, herrlich witzige, teils erstaunlich gewagte Komödie mit einem perfektem Timing, viel Tempo, großartigen Einfällen und liebenswürdigen Charakteren, von A bis Z mit großem Schwung inszeniert. Ein kleines Meisterwerk. "Ein Trivialfilm-Juwel" in der Tat, wie es das Programmheft ankündigte.
Am Rande des Trottoirs auf und ab zu gehen... das war gestern! Die modernen "Masseurinnen" gabeln lieber ihre Kunden mit einem eigenen Auto auf, so zum Beispiel Milena (Valeria Fabrizzi) und Iris (Cristina Gaioni – die uns bei diesem Festival schon als Marietta in NELLA CITTÀ L'INFERNO begegnete). Durch Iris' große Naivität wird ihnen allerdings das Auto von zwei Kunden geklaut, und deshalb kaufen sich die zwei mit Marisa (Sylva Koscina) lieber eine Wohnung und betreiben dort ihr Studio für "Massagen und ästhetische Therapien".
LE MASSAGGIATRICI ist ein Film, der die Synonyme, die benutzt werden, um Unschönes oder gesellschaftlich Verstoßenes zu kaschieren, bis zum Extremen ausspielt – bis die Lachmuskeln krachen! Das eine denken – und nach dem anderen greifen. Das eine "A" nennen – und dabei B meinen. Alles ist Verwechslung in diesem Film, und jede Verwechslung führt gnadenlos zu großen Lachsalven und der nächsten verwechslungsanfälligen Situation. Das fängt mit Parodis Termin bei den "Masseurinnen" an: die Adresse, zu der er gefahren ist, ist richtig. Doch leider hat er sich auf der Etage in der Tür geirrt und landet bei einer... Masseurin, die ihren Ehemann, einen etwas weltfremden, Klassiker-zitierenden Linguistik-Professor (wunderbar: Nino Taranto) die Türe öffnen lässt. Parodi, der von diesem männlichen Empfang ganz verwundert ist, lässt sich auch von den weiteren Ausführungen des Professors nicht wirklich beruhigen: ja, spezielle Massagen, da sei der Herr richtig; nein, er sei nicht der Portier, sondern der Ehemann; ja, seine Frau arbeite mit seiner vollsten Zustimmung, er habe sie sogar ermutigt, und wenn er eine Tochter hätte, würde er ihr zu dem gleichen Beruf ermuntern; sei ja eine tolle Arbeit: zuhause, nicht zu ermüdend, ganz gutes Geld. Der Kunde, der vor Parodi da war, erscheint schließlich gehbereit, und der Bauunternehmer macht große Augen, als er einen Bischof erblickt, der gerade die oberen Knöpfe seiner Soutane zuknöpft. Das Behandlungszimmer selbst erstaunt Parodi noch mehr, mit diesem äußerst medizinisch aussehenden Bild eines menschlichen Körpers an der Wand und der schmalen, brettharten Liege, auf der die Behandlung stattfinden soll. Off-screen, während der Professor einen Nachhilfeschüler verabschiedet, kommt es schließlich zum großen Eklat zwischen Parodi und der Masseurin, aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen von "Massage"/Massage. Parodi wird hochkant aus der Wohnung geworfen, und nach einem regen Gespräch zwischen den beiden Ehepartnern geht der Professor schließlich zur anderen Seite des Gangs rüber, um den "Masseurinnen", die das Massage-Geschäft seiner Frau in Verruf bringen, ordentlich mal die Meinung zu geigen. Der geneigte Zuschauer, der sich in dem Moment immer noch vor lauter Lachen den Bauch halten muss, könnte vielleicht verpassen, wie gut LE MASSAGGIATRICI nicht nur geschrieben, sondern auch inszeniert ist. Ein Kommen und Gehen von handelnden Personen, die der nächsten die Klinke in die Hand geben: viele Szenen des Films sind so aufgebaut und fügen sich so oft fast nahtlos in einen stetigen Fluss. Präzise wie ein Uhrwerk, dabei aber ganz und gar nicht mechanisch. Mit einem flotten Tempo, dabei aber nie hektisch.


Der Professor geht also rüber und wird von der liebreizenden Iris empfangen – so liebreizend (sprich: leicht bekleidet), dass er ganz rasch seinen strengen Ton verliert. Für geschäftliche Verhandlungen sei der Advokat zuständig, so Iris, und schickt den Professor in den Salon. Von Akademiker zu Akademiker... da könne man bestimmt vernünftig verhandeln. Doch da steht der Professor nun vor der liebreizenden und sehr leicht bekleideten Milena, die von ihren Kolleginnen "der Advokat" genannt wird, weil sie Jura studiert hat. Dass eine studierte Frau mit Abschluss in einer als männlich geltenden Domäne bessere Karriereaussichten hat, wenn sie als "Masseurin" arbeitet, sagt viel über das Frauenbild der Gesellschaft aus, in der das so ist (der Film bleibt aber auch hier sehr implizit). Tatsächlich kann Milena ihr Studium auch gut als "Masseurin" anwenden, denn als der Professor ihr etwas vage androht, die Autoritäten zu rufen, kann sie ihm genau um die Ohren hauen, nach welchen Paragrafen und Absätzen welcher Gesetze ihre Tätigkeit eben nicht illegal ist (später wird sie einen Polizisten, der ohne Durchsuchungsbefehl das "Massage-Studio" betreten hat, ebenso gnadenlos zusammenfalten). Ende der Diskussion – und es klingelt sowieso (Sittenwächter Paolini steht an der Tür, um sein "Massagetermin" mit Milena wahrzunehmen, die zu diesem Zeitpunkt im Hotelzimmer aber gerade mit Parodis Ehefrau verwechselt wird). Da Milena den Gast empfangen muss, gibt sie Iris die Instruktion, sich in der Zwischenzeit um den Professor zu kümmern. Doch oh weh... da kommt es wieder zu einem Missverständnis! Iris, die sich gut um den Kunden kümmern möchte, schenkt ihm erst mal ein paar Gläser Cognac zur Entspannung ein, und als Milena wieder auftaucht, ist der Professor schon ganz blau – und nun aber tatsächlich in der Laune, sich eine "Massage" geben zu lassen. Doch das macht 30.000 Lire, Barzahlung, keine Ratenzahlung möglich! Da geht der Professor nun torkelnd fort, um seiner Frau, der Masseurin, mitzuteilen, wie unverschämt teuer doch so eine "Massage" sei...


Jetzt, wo ich das so ausführlich geschrieben habe, bewundere ich noch mehr, wie unglaublich gut LE MASSAGGIATRICI geschrieben, gespielt und inszeniert ist. Das eine führt natürlich zum nächsten, alles gleitet leicht vor sich hin, und das ganze ist von herzlichen Lachern gesäumt. Natürlich arbeitet der Film im Grunde auf relativ simple und geradlinige Weise seine Set-Pieces ab: Prolog – kurz in den Hotelzimmern der beiden Bauherren – längere Szene in den beiden Appartements – kurz im Hotel – die Verhandlungen der zwei Bauunternehmer, der "Ehefrau" und der zwei Sittenwächter in deren Büros mit erfolgreichem Vertragsabschluss – anschließend das "überkreuzte" Mittagessen, bei dem Bellini, Parodi und seine "Ehefrau"/Marisa/"Bellinis Ehefrau" sowie Manzini und "seine Ehefrau"/"Parodis Schwester"/Parodis Ehefrau in einem Restaurant essen und beide Gruppen nach einigen Ausweichmanövern Parodis doch zur großen Peinlichkeit des letzteren zusammentreffen – dann wieder im "Massage"-Studio – dann die Manöver, um die Leiche des leider im Kleiderschrank des "Massagezimmers" an Herzinsuffizienz dahingeschiedenen Präsidenten Paolini an zwei Nachtwächtern vorbei wieder an seinen Schreibtisch zu bugsieren...
Vier Drehbuchautoren waren gemäß Credits an LE MASSAGGIATRICI beteiligt. Oreste Biancoli schrieb schon seit den 1930er Jahren Drehbücher für Genrefilme: Melodramen, Komödien, Abenteuerfilme, Peplums. Seine berühmtesten Credits beinhalten eine Beteiligung als Autor an De Sicas LADRI DI BICICLETTE und an Julien Duviviers DON CAMILLO. Italo De Tuddo schrieb in den 1950er Jahren ebenfalls für das populäre Kino und verfasste unter anderem Drehbücher für mehrere Totò-Komödien (bei einer in Zusammenarbeit mit Fulci). Antoinette Pellevant hat gemäß IMDb nur fünf Credits als Autorin. Vittorio Metz ist hingegen wieder berühmter: ein vielseitiger Komödienautor für Theater, Varieté, Fernsehen und Kino, der oft für Alberto Sordi und Totò geschrieben hat. Bei letzterem kreuzten sich schon Mitte der 1950er Jahre die Wege mit Fulci. LE MASSAGGIATRICI war die erste von fünf Regiearbeiten Fulcis, an deren Drehbuch Metz mitschrieb (die IMDb hat ihn bei LE MASSAGGIATRICI allerdings falsch, nämlich als "Vittorio De Tuddo" gelistet, was viele weitere Quellen irrigerweise kopieren – worauf Udo bei einem Gespräch vor dem Film hinwies, sonst hätte ich wohl hier irgendetwas von einem unbekannten "Vittorio De Tuddo" geschrieben, obwohl sein Name in den Credits klar zu lesen ist). Man könnte vielleicht sagen, dass Vittorio Metz für den frühen Fulci der enge Drehbuchmitarbeiter war, der Dardano Sacchetti für seine mittelspäte Phase (1977-1984) war.
Auch die Darsteller sind durch die Bank weg alle großartig. Ernesto Calindri als Parodi, der am Anfang selbstsicher die Zeitung aufschlägt, um die "Börsenberichte" zu lesen (also: die "Massage"-Anzeigen) und später von einer peinlichen Situation zur nächsten vorsichtig, meist mit entglittenen Gesichtszügen lavieren muss. Der große französische Schauspieler Louis Seigner hat eine wunderbare Rolle als doppelzüngiger Moralapostel und sorgt dafür, dass man dem Cipriano Paolini trotz seiner Schwächen doch irgendwie sympathisch gewogen bleibt – Sylva Koscina als Marisa ist nun tatsächlich zum Dahinschmelzen und sorgt immer wieder für Lacher, wie sie sich vor Paolini, Parodi und Bellini ganz und gar nicht wie eine steife Unternehmergattin benimmt, sondern im Restaurant gutgelaunt einfach mal jeden Gang mit extraviel Mayonnaise bestellt. Philippe Noiret (hier noch bevor er richtig berühmt wurde) hielt LE MASSAGGIATRICI für den schlimmsten Film seiner Karriere und beweist, dass man Künstler ihre Werke meistens nicht selbst beurteilen lassen sollte: er ist natürlich ganz großartig als öliger, sich leicht unterwürfig gebender Sekretär, ein waschechter Heuchler (mit päpstlichem Dispens für den mageren Freitag und zugleich der ungezügelten Lust, sich von Marisa zusätzliche "Prozente" in Form einer "Massage" auszahlen zu lassen), mit kleinen tick-artigen Augenzwinkern, wenn er irritiert ist – und der schließlich als ganz geschickter Logistiker mit großer Autorität aufblüht, als es darum geht, die Leiche seines Chefs durch die halbe Stadt zu kutschieren und in sein Büro zurückzubringen. Nino Taranto als exzentrischer Professor habe ich schon erwähnt. Und nicht zuletzt noch die ultimative Salzprise in dieser schmackhaften Suppe: der Gastauftritt von Franco Franchi und Ciccio Ingrassia, die gemeinsam über ein Dutzend Filme Fulcis mit ihrer Präsenz veredelten (langsam aber sicher werde ich zu einem echten Fan der beiden).


LE MASSAGGIATRICI wird Kenner von Fulcis Filmen ab 1969 mit seinem herzlichen, lockeren, lebensbejahenden Ton überraschen: man verlässt den Kinosaal danach wie nach einer schönen Massage oder "Massage" – entspannt, gutgelaunt, fröhlich, mit einem optimistischen Blick auf die Welt und vielen schönen, angenehmen Gedanken. Sicherlich ist der Film auch ein bisschen frivol, ein bisschen gewagt und auch leicht satirisch im Unterton. Da gibt es diesen Moment, als der Präsident Paolini bei der Verhandlung mit Manzini, Parodi und deren "Ehefrau" riesige Augen im Angesicht ihrer schönen Beine macht, danach sehr penetrant darauf drängt, mit ihr als Haupteigentümerin im Privaten zu verhandeln, sie in Zweisamkeit stürmisch hofiert – aber da er abgesehen von einem kleinen Küsschen nicht wirklich zu seinem Ziel kommt, ruft er danach in einem lustvoll angeregten Zustand den "Massagesalon" an, um sich nach dem Verbleib von Marisa zu erkundigen und sofort einen Termin mit ihr klar zu machen. Das ist schon "dezent", aber doch für aufmerksame Zuschauer sehr eindeutig inszeniert. Natürlich gibt es satirische Untertöne gegen selbsternannte moralische Würdenträger, die von sich behaupten, dass sie immer nur an die Jugend denken – und das tatsächlich auf eine andere Weise tun, als sie es sagen. Selbstverständlich geht es, um jetzt ausnahmsweise in einem Satz Klartext zu sprechen, um Prostitution, um den verklemmten und heuchlerischen Umgang damit, um Korruption bei Bauprojekten, um illegale Parteispenden und um die unerträgliche Heuchelei selbsternannter Moralapostel. Aber das drängt sich keineswegs vordergründig auf, noch wird es gar an irgendeiner Stelle gar didaktisch. Diese Elemente schwingen mit und können "mitgenommen" werden. In erster Linie ist und bleibt LE MASSAGGIATRICI eine milde und leichtfüßige Komödie, die gegenüber den einzelnen Figuren recht versöhnlich bleibt und auch keine umfassende Systemkritik formuliert. Der Ton erinnerte mich etwas an LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA von Camillo Mastrocinque (für den Fulci auch einmal als Autor arbeitete) und der dieses Jahr beim Hofbauer-Kongress lief. (Fulcis spätere erotische Komödie bzw. schwarze Politsatire NONOSTANTE LE APPARENZE... E PURCHÈ LA NAZIONE NON LO SAPPIA... ALL'ONOREVOLE PIACCIONO LE DONNE von 1972, allen Slapstick-Einlagen zum Trotz, ist völlig anders im Ton, wird im letzten Drittel gar so grausig, dass einem fassungslos die Kinnlade herunterklappt und endet mit einer niederschmetternd bitteren, fatalistischen Note. Fulcis Erotikkomödie LA PRETORA von 1976 mit Edwige Fenech in einer Doppelrolle ist weniger hart als ALL'ONOREVOLE PIACCIONO LE DONNE, aber dennoch auch sehr fatalistisch in der Darstellung niederträchtiger Intrigen und mit einem zutiefst deprimierenden unhappy happy ending ausgestattet. Beide sind schon ganz andere Kaliber.)
Ich habe letztes Jahr angefangen, Lucio Fulci überhaupt richtig zu entdecken. LE MASSAGGIATRICI hat mir und wahrscheinlich vielen anderen Zuschauern beim Festival nun noch mal eine vollkommen neue Seite seines Schaffens offenbart und meine Bewunderung für den leider oft als Zombie- und Splatter-Opa belächelten Filmemacher noch mal gesteigert. Es gibt noch sehr viel zu entdecken!


16.15 Uhr

IL TERRORE DEI MARI ("Die Abenteuer der Totenkpfpiraten")
Regie: Domenico Paolella
Italien / Frankreich 1961
102 Minuten (Deutsche Fassung)
Venezuela im 17. Jahrhundert: französische Siedler werden auf Kommando des intriganten Polizeichefs massakriert. Zwei überlebende Brüder schwören Rache und werden Piraten.
In seiner einführenden Videobotschaft erklärte der Filmwissenschaftler Dario Stefanoni, dass IL TERRORE DEI MARI zu einer Reihe von Piratenfilmen gehörte, die "unabhängig" von den großen römischen Studios produziert wurden, nachdem der kleine Produzent Fortunato Misiano (?) Dino de Laurentis ein großes Schiff abgekauft hatte und es unter großen Mühen von Rom zum Garda-See hatte transportieren lassen. Auf dem immergleichen Schiff wurde dann am immergleichen Küstenstreifen des Garda-Sees eine ganze Serie von Piratenfilmen gedreht.
Ein bisschen enttäuschend war es dann schon, dass die Einführung Stefanonis das wahrscheinlich spannendste in diesem Filmblock bleiben sollte. So "unabhängig" IL TERRORE DEI MARI auch produziert wurde, so sehr fühlte er sich ein bisschen nach beliebiger Dutzendware an. Der Film ist größtenteils in meinem Gedächtnis verblasst und ich habe nur die vage Erinnerung, mich gepflegt gelangweilt zu haben. Interessant fand ich die Tatsache, dass der Hauptdarsteller, der ältere Bruder, der Held des Films, von einem Schauspieler gespielt wurde, der wie Ende 40 aussah. Tatsächlich war der Amerikaner Don Megowan zur Premiere des Films gerade mal 38 Jahre alt, aber trotzdem sprühte er nicht einen Hauch von Charisma oder Charme aus, den diese Rolle eigentlich hätte verlangen müssen (ich denke hier zum Beispiel an Brett Halsey als Cellini in IL MAGNIFICO AVVENTURIERO letztes Jahr).
Der Darsteller des jüngeren Bruders hätte wohl besser in diese Rolle gepasst: seine Figur drohte während des Films, zum Verräter zu werden. Mir schien das merkwürdig forciert – und dann doch relativ inkonsequent, weil das, wenn ich mich richtig erinnere, dann für eine gute Zeit wieder völlig ignoriert wurde. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht mehr, ob der kleine Bruder den großen Bruder wirklich verrät oder doch nicht, weil mir das dann doch nicht interessant genug erschien. Stattdessen wurde wahnsinnig viel expositorischer Aufwand betrieben, um ein paar Komparsen dazu zu bringen, sich an einem Strand etwas zu kabbeln – was wiederum eher behäbig aussah.
Ich möchte aber jetzt nicht groß rumnörgeln und einfach nur bei dem Bild bleiben, den ich im Gedächtnis behalten habe. Beim Endkampf zwischen dem älteren Bruder und (ich glaube) dem Polizeichef geraten die beiden Kämpfer außerhalb des Sichtfelds, werden von einer Reihe Fässer oder etwas ähnlichem verdeckt. Die Kamera verharrt dann still, während wir den Kampf nur noch erahnen können. Plötzlich schießt die Hand des Unterlegenen in einem Sterbekrampf hoch und sinkt dann langsam wieder nieder...

Abendessen. Voller Verwunderung musste ich feststellen, dass es in Frankfurter Gaststätten offenbar ganz normal sein kann, kein Bier auf der Karte zu haben – sondern nur Apfelwein...


20.00 Uhr

L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ("Der letzte Schnee des Frühlings")
Regie: Raimondo Del Balzo
Italien 1973
94 Minuten
Der Witwer Roberto (Bekim Fehmiu) ist als Anwalt äußerst erfolgreich, scheitert aber als alleinerziehender Vater kläglich: er holt seinen Sohn Luca (Renato Cestiè) nur zu den Ferien aus dem Internat, hat selbst dann keine Zeit für ihn und verschweigt ihm seine Beziehung mit Veronica (Agostina Belli). Ein Urlaub am Meer zu dritt schafft keine Abhilfe – und ein späterer, zweisamer Vater-Sohn-Skiurlaub wird jäh unterbrochen, als bei Luca nach einem Zusammenbruch Leukämie diagnostiziert wird.



Auf wenige Filme war ich dieses Jahr so gespannt wie auf L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA, denn von dem Melodrama-Subgenre des "lacrima movie" hatte ich noch nie zuvor gehört. Sogenannte Tränenfilme – im Programmheft und in der Einführung auch umschrieben mit Begriffen wie "hartes Melodrama", "sentimentales Rührstück" und gar "childploitation" – waren im Italien der 1970er so erfolgreich, dass man rückblickend geradezu von Blockbustern sprechen könnte. Wie Christoph in einer Einführung erklärte, wurden die "lacrima movies" in Italien als Familienevents behandelt und offenbar gingen tatsächlich zahllose Eltern zusammen mit ihren Kindern in Nachmittagsvorstellungen, um Filme zu schauen, in denen Kinder oder Teenager qualvoll an Krankheiten sterben.* Die bleiernen Jahre Italiens wurden hier nicht mit Rasiermessern zerschlitzt, mit Maschinenpistolen niedergemäht, mit Colts weggeballert, von Kannibalen gefressen, von üppigen Busen zerquetscht oder von vier Fäusten K.O. geschlagen, sondern mit reinigenden Tränen weggespült. Die Tränenfilme brachten allerdings nicht nur italienische Zuschauer zum Weinen, denn einige von ihnen gehörten zu den erfolgreichsten Exportschlagern der italienischen Filmindustrie und übten ihre sentimentalen Anschläge auch auf deutsche, britische, peruanische, brasilianische, argentinische, japanische und polnische Tränendrüsen aus. 
Ich selbst hätte spontan geraten, dass die "lacrima movies" die italienische Reaktion auf LOVE STORY waren, aber natürlich blickte das italienische Kino in den 1970er Jahren bereits auf eine lange Tradition des Melodramas zurück. Christoph nannte eindeutig Luigi Comencinis INCOMPRESO von 1966 als Vorbild. Mit dem enormen Erfolg von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA wurden die Tränenfilme zu einem eigenen Subgenre. Raimondo Del Balzo drehte in seiner relativ überschaubaren Filmografie noch weitere "lacrima movies" (und zwischendurch einen Rape-and-Revenge-Film), sein LE PRIME FOGLIE D'AUTUNNO von 1988 gilt gemäß dem italienischen Wikipedia-Eintrag als einer der letzten Filme dieses Subgenres. Hier schloß sich sozusagen auch ein Kreis vom letzten Schnee des Frühlings zu den ersten Blättern des Herbsts.
Del Balzo stemmte das Subgenre allerdings keineswegs alleine, im Gegenteil: viele wesentlich bekanntere Regisseure haben auch einen "lacrima movie" in ihrer Filmografie. Ruggero Deodato zum Beispiel hat L'ULTIMO SAPORE DELL'ARIA gedreht, in dem ein ausgerissener Teenager für eine Schwimmer-Meisterschaft trainiert, aber von einem Gehirntumor heimgesucht wird (ein übrigens sehr sehenswerter Film, auch wenn ich ihn leider gekürzt, im falschen Bildformat, in scheußlicher Bildqualität und einer nicht gerade stilsicheren englischen Synchronisation gesehen habe). Sergio Martino drehte 1974 LA BELLISSIMA ESTATE, Luigi Cozzi ließ in seinem DEDICATO A UNA STELLA 1976 auch eine Leukämieerkrankung zuschlagen. Michele Massimo Tarantini, sonst eher auf commedie sexy abonniert, drehte 1978 einen Film mit dem schönen Titel STRINGIMI FORTE PAPÀ (wörtlich "Umarme mich fest, Papa"). Einen "lacrima movie" zu drehen war also nicht viel außergewöhnlicher, als einen Giallo, einen Poliziesco oder eine Erotikkomödie zu drehen. Im Zweifelsfall war der Tränenfilm in Italien und im Ausland sogar erfolgreicher als der Giallo. Heute ist davon fast nichts übrig geblieben. Das Melodrama im Allgemeinen hat es bei Liebhabern von "Genrefilmen" (wie man diese auch definieren mag) eh nicht so leicht, und beim "lacrima movie" kann man sicherlich ohne Bedenken von einem unterschlagenen Subgenre sprechen. CANNIBAL HOLOCAUST und I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE ("Torso") werden wahrscheinlich noch mindestens 50 Special-Editions erleben, bevor jemand L'ULTIMO SAPORE DELL'ARIA und LA BELLISSIMA ESTATE als DVD veröffentlichen wird. Umso besser, dass es das Terza Visione gibt!
Jetzt zum Film, der sich tatsächlich als eine weitere große Überraschung des Festivals entpuppen sollte. Der meisterhaft inszenierte L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA war, kaum zu glauben, Raimondo Del Balzos erster Film als Regisseur. Im Kern handelt er von einer gestörten Sohn-Vater-Beziehung, doch diese ist zunächst überhaupt nicht sichtbar, weil auch der Vater abwesend ist. Im Prolog, der chronologisch nach dem Filmende spielt, sehen wir Roberto um seinen toten Sohn trauern und die Platte auflegen, die ihm Luca geschenkt hat (sein letztes Geschenk), aber danach verschwindet er erst einmal aus dem Film. Luca, der ein Internat besucht, weil sich der Witwer Roberto als viel beschäftigter Anwalt nicht um ihn kümmern kann (bzw. will), wartet zu Beginn der Sommerferien darauf, dass Papa ihn abholt und nach Hause fährt. Stattdessen kommt der Onkel, der Bruder von Lucas verstorbener Mutter. Zuhause angekommen muss Luca auch schon zu Bett gehen, bevor Roberto zurück kommt, und steht am nächsten Morgen auf, wenn Roberto schon wieder auf Arbeit ist. Als Luca zusammen mit seiner besten Freundin Stefanella spontan den Vater im Gerichtsgebäude aufsucht, wimmelt der ihn auch schnell wieder ab. Knapp 25 Minuten Film vergehen, bevor Luca seinen Vater endlich mal für längere Zeit sieht und spricht.
Luca muss viel Zeit alleine verbringen. L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ist voll von Szenen, in denen Renato Cestiè alleine durch das Haus läuft, am Strand spaziert, ein kleines Motorboot fährt oder sich alte 8mm-Familienfilme anschaut, um seine verstorbene Mutter wieder "lebendig" zu sehen. Letzteres ist nicht nur ein sehr schöner Moment, sondern gibt Luca auch ein Rätsel: nachdem die Bilder seiner Mutter durchgelaufen sind, folgen nach einigen Momenten unbelichteten Films Aufnahmen einer anderen Frau. Es handelt sich um die neue Freundin Robertos, Veronica – aber die Beziehung hat er seinem Sohn bislang komplett verschwiegen. Luca und Veronica sind, zunächst ohne es zu wissen, Leidensgenossen: auch Veronica wird von Roberto ständig versetzt, weil es auf Arbeit dann doch noch länger gedauert hat. Er ist ein Workaholic, wahrscheinlich aber auch jemand, der seine Arbeit als Schutzschild vor Emotionen und Verantwortlichkeiten nutzt. Irgendwie kann ich mir Roberto gut als einen der Väter vorstellen, die in LIBERI ARMATI PERICOLOSI vor dem Kommissar sitzen und sich rechtfertigen, dass man eben nur das eine (Arbeit) oder das andere (sich um das Kind kümmern) kann. Und wenn Luca nicht an Leukämie gestorben wäre, hätte er zehn Jahre später vielleicht zu einem Gewalttäter wie Mario oder Joe werden können (auch wenn Perugia nicht Mailand ist).
Die Krankheit Lucas platzt also keineswegs in ein Familienidyll hinein, sondern in eine äußerst komplizierte Beziehungskonstellation. Sie ist deshalb so kompliziert, weil Roberto sie kompliziert macht. Er gibt weder seiner Freundin noch seinem Sohn das Gefühl, für sie da zu sein. Wenige Minuten, bevor er mit Luca zu einem Strandurlaub aufbricht, teilt er ihm lakonisch mit, dass eine Freundin mitfährt. Auf eine gewisse Weise halte ich es für naheliegend, Lucas Krankheit durchaus als Symbol zu sehen, als drastische Zuspitzung und körperliche Manifestation der latenten Konflikte, unter denen er zu leiden hat. Die mangelnde Zuwendung und die falsche Art, mit der ihn sein Vater behandelt, haben ihn krank gemacht. Das "Signal" sieht Roberto erst, als es kein Zurück mehr gibt. In den letzten Minuten des Films spricht Luca einige Sätze aus dem Off, und sagt unter anderem, dass er auf gewisse Weise glücklicher in seiner Erkrankung war als vorher, weil er nun endlich mit seinem Vater zusammen war.
L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ist ziemlich bemerkenswert aufgebaut, weil er in der ersten Stunde keinerlei Attacken auf die Tränendrüsen des Zuschauers ausübt, und an manchen Stellen sogar regelrecht heiter wirkt. Besonders die Momente, die Luca mit seiner besten Freundin Stefanella verbringt, sind außerordentlich vergnügt**. Sie fernsehen zusammen (wobei er sich mit seinem Wunsch in der Wahl des Programms durchsetzen kann – zu hören ist ein Actionfilm mit Autoverfolgung), spazieren durch die Stadt, kaufen sich an einem Automaten Zigaretten (scheitern aber daran, sich Feuer geben zu lassen) oder schauen sich die Nackthefte an, die Stefanella bei ihren Eltern geklaut hat. Zwischendurch erzählt sie ein bisschen aus dem Nähkästchen von den Problemen ihrer Eltern, dass die Mutter regelmäßig Besuch von einem "Onkel" bekommt, aber auch hervorragende Tortelloni mit Ricotta kocht. Überhaupt isst Stefanella für ihr Leben gerne, verputzt zwischendurch auch mal eine ganze Büchse Thunfisch aus Lucas Kühlschrank oder kreiert sehr außergewöhnliche Sandwiches: mit Marmelade, dann Käse (damit es nicht zu süß wird), dann noch mal Marmelade (damit es nicht zu sehr nach Käse schmeckt), das ganze gekrönt mit einem Topping aus Sardellenpaste. Sie ist dann auch die einzige, die normal mit Luca redet, als dieser schon sterbend im Krankenbett liegt. Ungeniert fragt sie ihn, was denn diese Schläuche in seiner Nase seien und teilt ihm mit, dass sein letzter Schulaufsatz gut benotet wurde, aber wahrscheinlich nur aus Mitleid, weil er krank ist. Natürlich hat sie trotzdem sehr genau verstanden, was da passiert: als sie wieder draußen auf dem Krankenhausflur steht, beginnt sie zu weinen.
Toll ist auch das Miteinander zwischen Luca und Veronica. Zunächst ist Luca absolut nicht gut auf sie zu sprechen, weil sie ohne Ankündigung einfach zum Strandurlaub mit seinem Vater mitgenommen wird. Sie wiederum fühlt sich äußerst unwohl, weil sie nicht auf diese Weise mit Luca Bekanntschaft machen wollte. Nach einem Angebot ihrerseits, doch Freunde zu werden, ignoriert Luca sie zunächst und entscheidet sich dann anders. Er legt ihr eine aufgesammelte Muschel als Geschenk in ihre Handtasche: das löst dann auch alle Probleme und im nächsten Bild springen beide quietschvergnügt durch ein strahlendes Sonnenblumenfeld. In knapp weiteren zehn Minuten wird klar, dass Veronica eigentlich ein viel besserer Elternteil ist als Roberto, weil sie Luca zuhört, sich auf ihn einlässt, sich Zeit für ihn nimmt (während Roberto auf einen "wichtigen" Anruf aus dem Büro wartet). Der Junge zeigt ihr im Vertrauen dann auch sein spezielles Versteck, das er an einem fremden Ort immer aufsucht, in diesem Fall ein Tunnelsystem am Strand. Dort findet sie Luca dann auch, als er in einem Anfall von Bockigkeit ausbüchst (nachdem er Veronica und seinen Vater bei einem leidenschaftlichen Kuss beobachtet hat).
In den letzten 20 Minuten brechen schließlich sämtliche Dämme. Einem kleinen Kind dabei zuzusehen, wie es an einer unheilbaren Krankheit regelrecht eingeht und qualvoll stirbt, ist natürlich an sich eine geballte Ladung Emotion. Da können selbst die härtesten Morde, Folterungen oder Vergewaltigungen in Gialli, Polizieschi oder Kannibalenfilmen nicht mithalten. Im Kino habe ich mit den Tränen gekämpft und hatte danach für gut eine halbe Stunde noch einen Kloß im Hals davon behalten. Zuhause, bei der Neusichtung auf DVD, den Film bereits kennend, sind dann wirklich Tränen geflossen. L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA kann man zweifelsohne als perfid manipulativen und auf Überwältigung setzenden Exploitationfilm sehen – aber die "Manipulation" funktioniert eben.
Zum Gelingen von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA trägt nicht zuletzt Renato Cestiè als Luca bei. Natürlich ist da zunächst einfach ein süßer, kleiner, blonder Junge mit großen Augen. Tatsächlich kann Cestiè so gut schauspielern, dass aus einem kitschigen Kulleraugen-Junge ein echter Charakter wird und der Film lässt ihm dann auch genug Platz dafür. Luca guckt eben nicht nur süß oder manchmal traurig rein, sondern reagiert manchmal auch etwas bockig, oder luchst seinem Onkel gewieft Geld ab, indem er ihm eine für Papa gedachte Krawatte "schenkt", oder redet mit Stefanella über die Brüste ihrer Mutter (im Vergleich zu jenen im Nacktheftchen). Zwischendurch geht er an die Hausbar seines Vaters und gönnt sich einen ordentlichen Schluck aus der Wodkaflasche oder kauft sich zusammen mit Stefanella eine Packung Zigaretten. Hinter dem süßen Gesicht ist auch ein Junge, der es "faustdick" hinter den Ohren hat (also relativ gesehen). Ein "normaler" Junge eben, den man als Zuschauer zu lieben lernt, weil der Film ihn aufrichtig liebt und ernst nimmt. 
Und wie so oft im italienischen Film ist es eben auch die Musik. Franco Micalizzi hat den passenden Score komponiert mit einem Stück, das die Emotionen des Films noch mal bündelt und verstärkt (aber auch so schön anzuhören ist – siehe hier). 

* Ein Kommentator auf IMDb schreibt, als Kind mit der Sichtung von L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA gar traumatisiert worden zu sein. Nicht uninteressant finde ich den Aspekt, dass zumindest die beiden "lacrima movies", die ich bisher kenne, erwachsene Themen auf erwachsene Weise behandeln: elterliche Vernachlässigung, Heuchelei, Ehebruch, schwer gestörte Familienbeziehungen. Da wurde damals bestimmt manch einer Familiengruppe im Zuschauerraum auf unangenehme Weise der Spiegel vorgehalten.

** Sehr schockierend (ich glaube beim ersten Mal ist mir das vielleicht beim Mitlesen der Untertitel entgangen) ist allerdings Lucas Äußerung gegenüber Stefanella, dass sein Vater ihm eine schöne Krawatte und eine Schallplatte gekauft habe. Wir haben kurz vorher ja schließlich gesehen, dass Luca derjenige ist, der diese Geschenke für seinen Papa kauft. Er kompensiert die mangelnde Zuwendung seines Vaters gleich doppelt: indem er Geschenke kauft und dann erzählt, dass sein Vater ihm Sachen schenkt.


Einen schönen Text zur letzten Szene des Films, die nachts in einem Vergnügungspark spielt, hat Lukas Foerster auf seinem Blog geschrieben.

Del Balzos Film war auf eine gewisse Weise der härteste des diesjährigen Festivals, zumindest aber der emotional intensivste und herausforderndste. So wie ich in Gesprächen kurz darauf mitbekommen habe, war ich nicht der einzige, den der Film ganz schön mitgenommen hat. Die etwas längere Pause zwischen L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA und PROFONDO ROSSO war dann tatsächlich auch vonnöten, um den dicken Kloß im Hals "verdauen" zu können.


22.30 Uhr
PROFONDO ROSSO ("Rosso – Die Farbe des Todes")
Regie: Dario Argento
Italien 1975
126 Minuten
Der Jazzpianist Marc (David Hemmings) untersucht zusammen mit der Journalistin Gianna (Daria Nicolodi) den Mord an seiner Nachbarin und löst durch seine Untersuchungen bald weitere Morde aus.






Dies war nun meine dritte Sichtung von PROFONDO ROSSO und sicherlich die schönste: diesen Film im Kino sehen, auf 35mm, von einer wunderschönen, knackig frisch wirkenden Kopie – das kann ich auf meiner to-do-Liste hiermit abhaken. Auf eine gewisse Weise fand ich den Film dieses Mal wesentlich verwirrender und komplizierter als bei meinen letzten zwei Sichtungen, als hätte ich mich im Angesicht der großen Leinwand nun komplett "verloren", aber vielleicht war das auch auf meine mittlerweile einsetzende Tagesmüdigkeit gekoppelt mit einer allgemeinen Müdigkeit nach vier Tagen Festival zurückzuführen.
Einige Dinge sind mir trotzdem besonders klar deutlich geworden. Mehr als je zuvor habe ich gemerkt, wie großartig die Screwballkomödien-Momente des Films sind. Argento wird ja bisweilen vorgeworfen, ein kalter Formalist zu sein, aber er hat eben auch eine sehr humorvolle, menschliche und verspielte Seite (die ich kürzlich in seinem Vorgängerfilm QUATTRO MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO auch sehr deutlich "entdeckt" habe). 
Das lockere Zusammenspiel zwischen Hemmings und Nicolodi, die ausgedehnten Szenen, in denen sich die beiden witzige Dialoge wie in einer echten Screwballkomödie zuspielen, in denen Marc sich zum Affen macht, als er beim Armdrücken gegen sie verliert, in denen beide nachts in ihrem baufälligen Auto (ach... dieses Auto!) sitzen und darüber reden, welche der Mini-Schnapsflaschen aus ihrer Kollektion sie jetzt vernichten werden... um nichts auf der Welt möchte ich diese Momente missen! Sie sind gleichermaßen das Herz des Films und das Element, das ihm eine Seele gibt. Wenn Gianna gegen Ende des Films von einem Mordverdächtigen schwer verletzt wird, dann passiert das nicht mit der Beiläufigkeit, mit der in Gialli ab und zu Figuren getroffen werden. Das ist ein Moment, bei dem ich am liebsten laut "NEIN!" schreien möchte und das Gefühl bekomme, auch zu sterben, wenn sie stirbt (sie tut es zum Glück nicht). Als Marc – zeitgleich mit den Zuschauern – mitbekommt, dass ihr ein Messer im Bauch steckt, zu ihr eilt, sie festhält und das Gesicht streichelt, ist das stärker als jegliche verbale Liebeserklärung. Der logische "Ableger" von PROFONDO ROSSO wäre kein weiterer Giallo, sondern tatsächlich eine zärtliche, verspielte Liebeskomödie. (Oder vielleicht auch ein melancholischer Buddy-Movie mit Elementen eines Trinker-Melodramas, wenn aus der Beziehung zwischen Marc und Carlo ein eigener Film würde – wenn Marc dann eine weibliche Figur wäre, was er auf gewisse Weise schon ist, dann wäre das wieder ein Liebesfilm, diesmal mit eher tragischem als mit komischem Schwerpunkt).
In einem Filmforum bezeichnete jemand einmal die italienische Langfassung des Films unverständlicherweise als "Laberfassung". In der Export-Version für die USA fehlten über 20 Minuten Film (tatsächlich von Argento selbst geschnitten), darunter viele der eben angesprochenen Szenen mit Hemmings und Nicolodi. Ich habe diese Fassung zwar nicht gesehen, kann mir aber gut vorstellen, dass der Film dadurch wirklich kälter wirkt. Möglicherweise hat gerade das dazu beigetragen, dass Argento vielen als kalter Formalist gilt (selbst INFERNO, der gemeinhin als sein extremster, abstraktester Film gilt, hat viele Spuren eines verspielten, leicht absurden, tiefschwarzen Humors). Dabei beginnt PROFONDO ROSSO mit einem Plädoyer gegen kalten Formalismus, indem zunächst der Vorspann auf eine ziemlich verspielte Weise unterbrochen wird. Dann erklärt Marc einigen Musikern, die gerade eine Jazznummer gespielt haben, dass sie sehr gut, ja sogar zu gut, zu sauber gespielt haben, dass so etwas "dreckiger" rüberkommen sollte.
Mehr als vieles andere hat mich bei dieser Sichtung eine Szene beeindruckt, die mir vorher nicht als "Höhepunkt" aufgefallen war, nämlich Marcs lange Durchsuchung der großen Villa. Hier wird auf gewisse Weise der ganze Film noch mal symbolhaft verdichtet: ein Mann auf der Suche nach dem großen unbekannten Faktor. Besonders die Musik mit ihrer harten Basslinie packt und lässt nicht mehr los... also eigentlich tut sie es doch: sie setzt zwischendurch einfach aus, als Marc auf eine Glasscherbe tritt und setzt wieder ein, als er ein Fenster öffnet. Präzise und doch spielerisch. Abstrakt und doch sehr sinnlich. Eine puzzleartige Montage – und dann doch dieser feine, weiße Staub, der Marcs schwarzes Hemd zunehmend bedeckt; er, der mit einer Glasscherbe das versteckte Mauerbild frei kratzt und sich zwischendurch in den Finger schneidet. Das ganze endet schließlich damit, dass Marc etwas erblickt, aber nicht erkennt. Schaut, aber sieht nicht. Unvollständige Bilder zeigen nur einen kleinen Ausschnitt. Wer ein Bild beschneidet, wird es nicht verstehen können. Als würde PROFONDO ROSSO hier seine eigene Editionsgeschichte voller Schnitte im Inhalt wie auch im Format vorwegnehmen. Nun... an diesem 29. Juli war er in seiner vollen, anbetungswürdigen Pracht zu sehen, zu bewundern, zu genießen!




Ein großes Dankeschön an die Organisatoren des Festivals! Besonders natürlich an Andreas Beilharz und Christoph Draxtra für das großartige Programm. Und an alle Helfer, die es braucht, um eine solch schöne Veranstaltung zu stemmen. Nächstes Jahr wird es bestimmt wieder großartig, ich freue mich schon jetzt!



Persönliches Ranking:

Außer Konkurrenz:
TUTTO È MUSICA
PROFONDO ROSSO

Meisterhaft:
IL SOLE NELLA PELLE
LE MASSAGGIATRICI

Großartig:
DANCE MUSIC
L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA

Herausragend:
NELLA CITTÀ L'INFERNO
LOVEMAKER

Bockig – Eigensinnig – Liebenswert:
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST

Sehr gut:
LIBERI ARMATI PERICOLOSI

Gut:
ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA
SICARIO 77, VIVO O MORTO

Geht so:
IL TERRORE DEI MARI