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Sonntag, 15. Oktober 2017

Zwei von der Tankstelle und ein DIY-Oldtimer

Zwei BP-Filme von James Hill
GIUSEPPINA
UK 1959
Regie: James Hill
Darsteller: Antonia Scalari (Giuseppina), Giulio Marchetti (Giuseppe Rossi)


In einem verschlafenen süditalienischen Dorf, Ende der 1950er Jahre. Es ist gerade Rummel, und Giuseppina, die kleine Tochter des Tankwarts Giuseppe Rossi, möchte da natürlich hin. Doch stattdessen verdonnert Papa sie dazu, ihm an diesem Tag bei der Arbeit zu helfen. Ihren Einwand, dass es an der Tankstelle nichts zu tun gäbe, kann er nur belächeln: es kämen viele Leute und da sei vieles zu tun. Giuseppina langweilt sich zunächst tierisch. Doch dann kommen die ersten Menschen vorbei. Zunächst die Lastwagenfahrer, die mit dem großen LKW das Benzin liefern – und sich gleich von Signora Rossi einen Kaffee für unterwegs servieren lassen. Zwei Priester auf einem Moped fahren vorbei. Einer verliert seinen Hut, den Giuseppina sogleich aufhebt und ihm zurückgibt. Dann kommt richtig Leben in die Bude: ein amerikanisches Touristenpaar aus Florida fährt vor. Er fotografiert gleich alles, was ihm vor die Linse fällt: Giuseppina, dann Signora Rossi mit Bambino, dann die ganze Familie. So schnell sie vorgefahren sind, fahren die Amerikaner wieder weg (nachdem sie ein nettes Trinkgeld für Signore Rossi zurückgelassen haben).
Wir entfernen uns dann von der Tankstelle: einige Hunderte Meter weiter wird geheiratet. Nach Speis, Trank und Foto-Session fährt das Paar mit dem Auto weg – und bleibt kurz vor der Tankstelle mit einem Platten stehen. Die Frischvermählten schieben das Auto die letzten paar Meter zur Tankstelle. Die Braut beschmutzt sich dabei, merkt dann auch noch, dass die am Kühlergrill befestigten Blumen weg sind. Kurz: ihre Laune ist im Keller. Giuseppina hilft aus, indem sie im heimischen Garten einige Blumen pflückt und ihr schenkt. Signore Rossi berechnet nichts für das Befestigen des Ersatzreifens. Wieder guter Laune und glücklich kann das Paar weiter fahren.
Die nächsten Kunden (ein Paar mit einem Teenager-Jungen) kommen von einer ganz komischen Insel: GB steht auf ihrem Wagen. Während Signore Rossi den Motor inspiziert, werden ein Tisch ausgepackt, Picknickstühle angerichtet, Tee gekocht und serviert. Giuseppina kriegt auch ein Biscuit in die Hand gedrückt. Nachdem sie wieder losfahren, blickt das italienische Mädchen zunächst besorgt hinterher – doch dann fährt der Engländer wieder auf die rechte Seite der Straße.
Ruhe kehrt ein. Zeit zum Rasieren für Signore Rossi. Die harmonische Stille wird von einem Bauernwagen unterbrochen, dessen linkes Rad quietscht, aber der flinke Tankwart sorgt schnell für Abhilfe. Anschließend fährt ein Auto aus Venezuela vor: der Fahrer hat zwar noch einen Anzug an, aber er trägt ihn auf sehr legere Weise; sein Mitfahrer trägt ein rotes Hemd, Sonnenbrille und Strohhut und spielt Gitarre – Bohémiens bzw. Proto-Hippies aus Lateinamerika in Süditalien! Der Anzugträger steigt aus, um sich die Beine zu vertreten, und zu den Klängen seines Mitfahrers fordert er Giuseppina, zur Erheiterung aller Anwesenden, zu einem kleinen Tänzchen auf. Danach ruft Signora Rossi zum Essen. Kurz, bevor es reingeht, kommt der kleine Beppo vorbei und bittet Signore Rossi um Benzin für sein selbstgebautes Spielzeugauto. Als guter Tankwart kommt dieser der Bitte natürlich nach. Warum er Zeit für Beppo verschwendet? Auf die Frage seiner Tochter antwortet Signore Rossi, dass jeder einzelne Kunde wichtig sei! Jetzt aber zum Essen...

Giuseppe Rossi betreibt eine Tankstelle in einem kleinen italienischen Dörfchen.
Seine Tochter Giuseppina hilft bisweilen.
Die Kundschaft ist international: US-amerikanische und britische Touristen –
sowie venezolanische Bohémiens und natürlich Italiener aller Altersklassen.

Der knapp über 30 Minuten lange Kurzfilm GIUSEPPINA gewann 1960 den Oscar für den besten Kurzdokumentarfilm. Diese Einordnung ist einigermaßen befremdlich. Ganz offensichtlich ist der Film gespielt (von Profidarstellern wie auch von Laien), setzt sich zusammen aus kleinen Vignetten mit einer jeweils eigenen Dramaturgie, ist von A bis Z als leichter Unterhaltungsfilm gestaltet und verfügt über eine Poesie, die eher dem Fiktiven als dem Dokumentarischen zuzuordnen ist (ohne natürlich hiermit Dokumentarfilmen Poesie absprechen zu wollen).

Aus produktionstechnischer Sicht war GIUSEPPINA tatsächlich weder ein Dokumentarfilm, noch ein fiktiver Spielfilm – sondern Imagefilm für BP! Das britische Erdölunternehmen versuchte Ende der 1950er Jahre, in Italien Fuß zu fassen. Um Vertrauen zu säen, wollte sich BP nicht als multinationale, weit entfernte Korporation präsentieren, sondern als Unternehmen, das problemlos auch in das ländliche Italien passt. Freundlich und nahe an den Menschen: so sollte das Erdölunternehmen rüberkommen. GIUSEPPINA, produziert von BP, inszeniert von einem englischen Regisseur, aber komplett italienischsprachig, wurde tatsächlich in erster Linie für ein italienisches Publikum gedreht. Inwiefern die Besetzung des Tankwarts mit Giulio Marchetti dabei eine Rolle spielte, kann man nur mutmaßen: Marchetti, Sproß einer Künstlerfamilie von Operettensängern, Schauspielern und Theaterintendanten, war in den 1940er und 1950er Jahren (nebst einigen wenigen Kinorollen) ein beliebter Sänger und Darsteller in Variétés. Über die anderen Darsteller habe ich nichts gefunden. Antonia Scalari hat sowohl bei IMDb wie auch bei MUBI und auf der Website des BFI nur GIUSEPPINA als Credit: man kann also vermuten, dass sie Laiendarstellerin war.

„Funktioniert“ GIUSEPPINA als Imagekampagne für BP? In gewisser Weise absolut! Wer würde nach Sichtung dieses Films denn nicht gerne an einer BP-Tankstelle mit einem wunderbar liebenswürdigen Tankwart, seiner freundlichen, kaffeekredenzenden Ehefrau und einem netten, stets hilfsbereiten Mädel halten, um Benzin zu kaufen? Zugleich sprengt GIUSEPPINA eindeutig den Rahmen des Korporations-Werbefilmchens, denn man könnte umgekehrt auch fragen: bei so einem wunderbar liebenswürdigen Tankwart, seiner freundlichen, kaffeekredenzenden Ehefrau und diesem netten, stets hilfsbereiten Mädel – was spielt es da eigentlich für eine Rolle, dass es eine BP-Tankstelle ist?

Meiner Meinung nach überwiegen doch die Qualitäten als Spielfilm. GIUSEPPINA ist extrem schön fotografiert, in kräftigem, leuchtenden Technicolor, das wunderbar die Farben des sommerlichen Drehorts wiedergibt (gedreht wurde in der Nähe von Ravenna in der Emilia-Romagna). In seiner „Erzählung“ (wenn man es „Erzählung“ nennen will) ist er schlicht und dabei sehr effizient: abgesehen von einigen expositorischen Bildern des Rummels und wenigen erklärenden Dialogen am Anfang ist man gleich „mitten drin“. GIUSEPPINA ist zwar italienischsprachig, funktioniert aber aufgrund seines starken, visuellen Erzählstils über weite Strecken auch komplett ohne Dialoge. Wenige, präzise Bilder reichen aus, um ein kleines Universum an Gefühlen und Atmosphären zu schaffen. Man denke nur an den Moment, wo der englische Teenager (er dürfte wohl zwischen 16 und 18 Jahre alt sein) zwei etwa gleichaltrigen italienischen Mädchen, die die Straße entlang laufen, sehnsüchtig hinterher blickt, während die beiden sich über Teezeremonie etwas amüsieren – in wenigen Sekunden Stoff für einen ganzen eigenen Film. Sehr schön auch der Moment, wo das italienische Hochzeitspaar das Auto schiebt und ein kleiner Kameraschwenk zeigt, wie die Blumen des Kühlergrills sich Meter über Meter über die Straße verteilt haben – die Melancholie eines wirklich unglücklichen Augenblicks in nur einem Bild festgehalten. Wenn die Braut später auf den leeren Kühlergrill schaut und sich ärgert, kann man das umso besser nachvollziehen.

Verlorene Blumen – und wieder neu gewonnene Blumen
(oben links im Hintergrund: pazifistische Graffiti)

Dass GIUSEPPINA so „effizient“ fotografiert ist, soll nicht von dem ablenken, was er in erster Linie ist: ein unendlich entspannter und entspannender, sehr gemütlicher Film. Giuseppinas „Befürchtung“ am Anfang bewahrheitet sich: im Grunde „passiert“ tatsächlich nichts in diesem Film. Zumindest nichts Weltbewegendes. Ein Tankwart hat einen normalen Arbeitstag, seine Tochter hilft ein wenig dabei, ein paar Leute kommen vorbei, tanken, lassen ihr Auto reparieren. GIUSEPPINA spitzt die Situationen und die Figuren leicht zu, aber für Generisches reicht das nicht aus. Zunächst dachte ich: GIUSEPPINA ist ein bisschen wie italienischer Neorealismus mit britischen Augen. Ländliches Italien, einfache Leute, Alltagssituationen, teilweise Laiendarsteller... Die entspannte laissez-faire-Atmosphäre erinnert allerdings doch eher an Jean Renoir: im Speziellen an PARTIE DE CAMPAGNE wegen der sommerlich-ländlichen Atmosphäre (allerdings hier in Farbe und mit noch weniger Handlung), im Allgemeinen an Renoirs Bemühungen, seine Figuren zwischendurch komplett von Zwängen des Plots zu befreien. Das ist allerdings nur ein persönlicher Eindruck und der Versuch einer Annäherung.

Ein tiefenentspannter Film: mit Zeit zum Rasieren, zum Tanzen
und zum Rumsitzen – Signore Rossi ist trotzdem stets im Dienstmodus.

Im Dienst des Farbfernsehens – GIUSEPPINA als „trade test colour film“

Spielfilm, Dokumentarfilm, Werbefilm... GIUSEPPINA erlebte eine, wenn man so will, „vierte“ Karriere und wurde für eine Zeit lang tatsächlich zum „Gebrauchsfilm“ – nicht im Dienste von BP, sondern als „technischer Helfer“ des Farbfernsehens in Großbritannien! Die Einführung des Farbfernsehens war dort ein relativ langwieriger Prozess. Erste Versuche mit Farbsendungen begannen 1956, doch erst 1967 wurden im UK Farbfernsehgeräte verkauft: extrem teure Geräte, die zudem auch noch pannenanfällig waren und oft gewartet werden mussten. Die genaue Kalibrierung der Farben – heute ein paar Klicks – war damals schwierig. Um die Farbe an den Geräten richtig einzustellen, mussten Farbfilme bzw. Farbsendungen gezeigt werden, Farbkurzfilme, die Techniker als Grundlage bei der Arbeit nutzten konnten: sogenannte „trade test colour films“. Diese wurden auf BBC 2 über den ganzen Tag verteilt gezeigt und erfüllten zweierlei Zweck: erstens dienten sie als Testgrundlage für Techniker, zweitens waren sie das erste Anschauungsmaterial für Zuschauer mit Farbfernsehgeräten. Die BBC kaufte dafür das Senderecht für unzählige, meist dokumentarische Kurzfilme: von Filminstituten in Großbritannien, in Kanada und Neuseeland und von Industrieunternehmen. Das Filmarchiv der BP stellte der BBC ab 1967 etwas über 20 Titel zur Verfügung – darunter GIUSEPPINA, THE HOME-MADE CAR und (ebenfalls von James Hill) SKYHOOK. Die BBC sah die Ausstrahlung dieser Filme tatsächlich nur als Tests, doch es entwickelte sich um die „trade test colour films“ rasch ein regelrechter Kult. Besonders beliebt waren sie bei Kindern. Nach der Schule erst mal ein wenig fernsehen gehörte für Leute meiner Generation (die in den 1990er Jahren in die Schule gingen) dazu – da gab es aber schon „ausgewachsenes“ Fernsehen, mit vielen Sendern und einem vielfältigen Programm über den ganzen Tag verteilt. Britische Schulkinder der Jahrgänge frühe 1950er bis mittlere 1960er Jahre kamen hingegen nach Hause und sahen die „trade test colour films“. Damit war dann 1973 Schluss, weil in der Zwischenzeit die Technik in Sachen Farbfernsehen schon weiter fortgeschritten war und in diesem Jahr Testbilder eingeführt wurden, mit deren Hilfe Techniker (und möglicherweise schon die Nutzer selbst?) die Geräte einstellen konnten. Der Kult um die „trade test colour films“ war damit nicht vorbei: 1989 wurde der sogenannte Test Card Circle gegründet, der sich unter anderem dafür einsetzte, dass „trade test colour films“ im Fernsehen wiedergezeigt oder auf VHS (und später DVD und blu-ray) veröffentlicht werden.
GIUSEPPINA gehörte zu den am häufigsten gezeigten „trade test colour films“ und auch zu den beliebtesten. In knapp sechs Jahren wurde er fast 200 Mal im Fernsehen gezeigt, alleine 1969 50 Mal (also durchschnittlich etwa einmal die Woche). Am 24. August 1973, um 14.30 Uhr, wurde GIUSEPPINA das letzte Mal als Testfilm ausgestrahlt und war auch der letzte gesendete „trade test colour film“.


British New Wave, BP sowie Kinder- und Tierfilme – zum Regisseur James Hill

James Hill (*1919), Sproß einer Wollindustrie-Familie, begann seine Filmkarriere Mitte der 1930er Jahre als junger Assistent in der GPO Film Unit. Die Filmabteilung der Britischen Post war ein Zentrum der Dokumentarfilmbewegung um deren Direktor John Grierson, wo auch Len Lye und Norman McLaren ihre Karriere anfingen. Hill arbeitete hingegen für Paul Rotha. Nebenbei tourte Hill auch als Pianist (komponieren konnte er auch – so unter anderem den Soundtrack zu seinem eigenen Film LUNCH HOUR). Mit Beginn des Kriegs wurde er in die Luftwaffe eingezogen. Seine Filmkarriere war nicht vollständig unterbrochen, da er eine Stelle in der RAF Film Unit fand und Luftschlachten fotografierte. 1943 wurde er über Deutschland abgeschossen. Seine darauffolgende Gefangennahme, Inhaftierung, Flucht, Wiedergefangennahme und Internierung im Stalag Luft III soll angeblich die biografische Grundlage für die Figur des Lieutenant Colin Blythe (gespielt von Donald Pleasance) in THE GREAT ESCAPE gewesen sein. Nach dem Krieg wurde Hill Regisseur von Industriefilmen: unter anderem inszenierte er einen Dokumentarfilm für eine Papiermanufaktur (PAPER CHAIN) und einen Rekrutierungsfilm für das Queen‘s Nursing Institute (FRIEND OF THE FAMILY). 1949 drehte er seinen ersten komplett fiktionalen Film und ersten von vielen Kinderfilmen JOURNEY FOR JEREMY. 1952 begann seine Jahrzehnte lange Zusammenarbeit mit der in diesem Jahr gegründeten Children‘s Film Foundation, die Kinderfilme in britischen Kinos vertrieb. Als ehemaliger Pilot, der zugleich Filmemacher war, arbeitete er auch als Second Unit Director für Flugsequenzen in Lewis Gilberts REACH FOR THE SKY.
1955 begann James Hills Zusammenarbeit mit BP, die unter anderem THE NEW EXPLORERS, SKYHOOK und eben GIUSEPPINA und THE HOME-MADE CAR hervorbrachte. Den ersten BP-Film drehte Hill noch für die Produktionsgesellschaft World Wide Pictures – die folgenden BP-Filme (und nicht nur diese) produzierte er mit seiner eigenen Gesellschaft James Hill Productions. Im Laufe von knapp einem halben Jahrzehnt „entfernte“ er sich in den BP-Filmen zunehmend vom klassischen Unternehmensfilm und bewegte sich zu etwas Poetischerem.
THE KITCHEN (1961) war Hills erster Film für ein erwachsenes Publikum. Es folgten zwei Zusammenarbeiten mit dem Autor John Mortimer (der unter anderem die Bücher zu dem Horrorfilm THE INNOCENTS und Otto Premingers Thriller BUNNY LAKE IS MISSING verfasste): THE LUNCH HOUR, ein sehr erstaunlicher Film über die kurzweilige Affäre zwischen einem verheirateten Mann und seiner jüngeren Arbeitskollegin und THE DOCK BRIEF, mit Peter Sellers und Richard Attenborough. James Hill gehört nicht zu den ersten Namen, die man mit der British New Wave assoziiert und ist sowieso weniger berühmt als Lindsay Anderson und Tony Richardson. Durch sein LUNCH HOUR, mit seinem elliptischen Erzählstil, seinen verblüffenden Montagen, seinem fast postmodernen Spiel mit Figuren und Erzählebenen (es gibt eine sehr lange imaginäre „Rückblende“) weht aber auf jeden Fall der frische Wind einer neuen Welle.
Für das Kino drehte Hill in den 1960er Jahren noch weitere Kinderfilme, daneben diverse Genrefilme: ein Musical (EVERY DAY‘S A HOLIDAY), einen Sherlock-Holmes-Film, in dem der Detektiv Jack the Ripper jagt (A STUDY IN TERROR), den Abenteuerfilm CAPTAIN NEMO AND THE UNDERWATER CITY mit Robert Ryan als Captain Nemo sowie den französisch-italienisch-deutschen Agenten-Thriller HELL TO MACAO aka THE PEKING MEDALLION, der unter anderem von Artur Brauner produziert wurde. Brauner produzierte auch Hills Pferde-Kinderfilm BLACK BEAUTY. Ich kann mich düster daran erinnern, mal in meiner Kindheit einen tearjerker mit Pferd und einem Jungen gesehen zu haben – war es dieser?
Hill war dann auch für das Fernsehen tätig und inszenierte einige Episoden von THE SAINT mit Roger Moore, von THE AVENGERS (also „Mit Schirm, Charme und Melone“) sowie für mehrere Kinderserien. Mit James Hill Productions drehte Hill auch weiterhin gesponserte Dokumentarfilme: unter anderem über fleischfressende Pflanzen für Oxford Scientific Films oder einen Film für die WHO über Ursachen von und Maßnahmen zur Prävention von Blindheit. Mit 75 Jahren starb Hill 1994 in London.

Kinderfilme, Dokumentarfilme, Industriefilme, Filme am Rand der British New Wave, diverse Genrefilme, Serienepisoden – eine vielseitige Karriere also, die keinen wirklichen roten Faden erkennen lässt. Aber das muss ja nichts schlechtes sein.


THE HOME-MADE CAR
UK 1963
Regie: James Hill
Darsteller: Ronald Chudley (der junge Mann), Alice Bowes (seine Tante), Sandra Leo (das Nachbarsmädchen), Caroline Mortimer (die junge Frau), Anthony James (der junge Mann mit dem Sportwagen), Frank Siemann (der Garagenbesitzer)


Ein junger Mann sucht auf einem Schrottplatz und bei einer Garage verschiedene Teile zusammen, die erst einmal nur wie Gerümpel aussehen. Bald stellt sich heraus, dass er ein Auto, einen schönen Oldtimer, aus Einzelteilen selbst zusammenbauen möchte. Das tut er im Hinterhof seiner Tante, die ihm ihre Garage, Tee zur Stärkung und (ohne ihr Wissen) ihre Nähmaschine zur Verfügung stellt. Ein kleines Mädchen, das im Nachbarhaus wohnt, versucht den jungen Mann zunächst mit allen möglichen Mitteln zu stören: sie schießt mit ihrer Spielzeugpistole auf ihn, lässt, als er gerade kurz weg ist, einen vorbeiziehenden Altwarenhändler die Bauteile einsammeln. Mit einem kleinen Lächeln bricht der Mann schließlich ihren Widerstand, und sie beginnt ihm zu helfen. Neben der Tante und dem kleinen Mädchen gibt es noch eine weitere Frau: eine gleichaltrige Nachbarin (vielleicht die ältere Schwester der Kleinen?), in die der junge DIY-Autobauer wohl ein wenig verliebt ist. Sie selbst scheint nicht ganz uninteressiert zu sein, steigt aber lieber bei einem Nebenbuhler ins Auto, der über einen funktionierenden, luxuriösen Sportwagen verfügt. Egal... nach vielen Tagen Arbeit und tatkräftiger Unterstützung des kleinen Nachbarmädchens, eines gutmütigen Tankwarts der örtlichen Tankstelle (der Marke BP natürlich), der Tante (und, na ja, moralisch auch des Bernhardiners) ist das Auto zusammengebaut. Die Jungfernfahrt kann beginnen. Der junge Mann und der Bernhardiner fahren zuerst zur Tankstelle. Dort fährt auch der Sportwagenfahrer mit der jungen Frau vorbei, doch er guckt so lange ungläubig auf das selbstgebaute Auto, dass er einen Unfall baut – nichts Schlimmes, keine Verletzten, aber die junge Frau ist offensichtlich davon entnervt, auch von der Selbstgefälligkeit des Sportwagenfahrers. Kurzerhand steigt sie in den DIY-Oldtimer. Schnell wird noch das kleine Nachbarmädchen abgeholt und in den Kofferraum-Sitz gehoben – und alle vier fahren in dem selbstgebauten Auto auf‘s Land hinaus...

Aus Einzelteilen entsteht nach und nach ein richtiges Auto.
Unterstützung bekommt der junge Mann von seiner Tante, von einem freundlich gesinnten Tankwart,
nach einigen Scharmützeln auch von dem Nachbarsmädchen und von seinem Bernhardiner (na ja, moralische Unterstützung zumindest)

Der junge Autobauer hat Augen für die hübsche Nachbarin,
doch die steigt lieber beim arroganten Sportwagenfahrer ins Auto – vorerst...

GIUSEPPINA war ein bereits ein Film, der sehr visuell war, doch THE HOME-MADE CAR ist noch radikaler: er enthält während seiner ganzen 30 Minuten nämlich kein einziges gesprochenes Wort. Die ganze Geschichte wird ausschließlich audiovisuell erzählt, mit ausdrucksstarken Bildern, mit der Gestik und Mimik der Darsteller, mit der Montage und mit Musik und Toneffekten. Das wirklich Großartige ist, dass THE HOME-MADE CAR dabei keineswegs wie ein strenges formalistisches Experiment wirkt, sondern ebenso federleicht wie GIUSEPPINA dahinfließt.
Sicherlich mag der Einfluss des Stummfilms, also der rein visuellen Erzählung, eine gewisse Rolle gespielt haben, aber THE HOME-MADE CAR ist doch auch mehr. Der Film ist zwar komplett dialogfrei, doch Sound und Musik werden sehr minutiös eingesetzt. Der junge DIY-Autobauer wird von einem langsamen, gemütlichen und doch hartnäckigen Gitarrenmotiv begleitet, das perfekt die Eigenschaften des Protagonisten widerspiegelt. Der arrogante Sportwagenfahrer wird immer mit einem hektischen, unangenehm lauten und leicht kakophonischen Schlagzeugsolo eingeführt. Der Altwarenhändler, der mit einem Pferdekarren unterwegs ist, hat ein alternatives Motiv – sehr gemütlich wie das des jungen Autobauers, aber von einem mir unbekannten Perkussionsinstrument mit kleinen Schlägen punktiert (womit wohl das Pferd imitiert wird). Die Musik wurde von dem Australier Ron Grainer komponiert, der in Großbritannien vor allem für das Fernsehen tätig war und unter anderem für DOCTOR WHO das Thema komponiert hatte. Das musikalische Motiv des Altwarenhändlers ist eine Variation der Titelmusik von STEPTOE AND SON, einer 1962 gestarteten Sitcom.
Die pure visuelle, dialogfreie Erzählung in Kombination mit dem minutiösen Einsatz von Musik und Soundeffekten – das erinnert ein wenig an Jacques Tatis Filme. Aufgrund der kompletten Anwesenheit von Dialogen war THE HOME-MADE CAR gewissermaßen ein Joker für die BP, da absolut universell ohne Sprachbarrieren einsetzbar.

Das weitere „Schicksal“ von THE HOME-MADE CAR ist dem von GIUSEPPINA ähnlich. Er wurde für den Academy Award (in der Kategorie „Best Live Action Short Film“) nominiert, gewann ihn allerdings nicht. Ende der 1960er Jahre wurde er als „trade test colour film“ eingesetzt und fand so im Fernsehen zahlreiche Zuschauer und Fans.

... doch schließlich gewinnt der junge DIY-Oldtimer-Fan die Sympathie seiner Herzensdame
mit guten Manieren und altmodischem Charme.
GIUSEPPINA und THE HOME-MADE CAR sind beide als Extras auf der BFI-Edition des James-Hill-Films LUNCH HOUR erschienen – und zwar sowohl auf der Single-Disc-DVD-Edition wie auch auf der Dual-Format-Edition der „BFI-Flipside“-Reihe. Die „BFI-Flipside“-Edition hat ein Booklet mit jeweils einem Text zu LUNCH HOUR, zu James Hill im Allgemeinen, zu seinen BP-Filmen sowie einem Beitrag eines Mitglieds des Test Card Circles zum Thema „trade test colour films“ – diesen verdanke ich einige Informationen für diese Besprechung.
Mit auf der Disc befindet sich auch der BP-Dokumentarfilm SKYHOOK. Dieser 17-minütige Film hätte thematisch zwar in die Besprechung gepasst, aber ich finde ihn ehrlich gesagt nicht besonders spannend: es geht um den Bau eines Ölbohrturms auf Papua-Neuguinea – und wenngleich nicht undynamisch gefilmt und durchaus offen für ideologiekritische Betrachtungen, ist der Film doch eben recht trocken.

Wesentlich spannender ist der Hauptfilm LUNCH HOUR: ein übersehenes Kleinod der British New Wave, ein Film, den ich gerne hier bald besprechen würde.

Donnerstag, 19. Januar 2017

Was macht man mit einem Nagelbrett, wenn man kein Fakir ist?

Man macht damit Filme - was sonst? So sahen das jedenfalls Claire Parker und Alexandre Alexeïeff. Sehen wir uns zunächst den ersten und vielleicht bekanntesten Film der beiden an:

UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE (EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE)
Frankreich 1933
Regie: Alexandre Alexeïeff und Claire Parker



Die Musik, die dem Film seinen Titel und sein Thema gab, ist die sinfonische Dichtung "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" von Modest Mussorgski, hier in einer Orchesterbearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow. Es geht in der Musik (und somit auch im Film) um eine Art Hexensabbat auf dem slowenischen Berg Triglav. Es passieren die wildesten Dinge in dieser Nacht, und man sollte als gewöhnlicher Sterblicher besser nicht in der Nähe sein, aber am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei. Damit ist das Stück thematisch mit "Danse macabre" von Camille Saint-Saëns verwandt, das auch mehrere filmische Interpretationen erfuhr. Zu Mussorgski sollten Parker und Alexeïeff noch zweimal zurückkehren.

Alexandre Alexeïeff und Claire Parker 1960 (À PROPOS DE JIVAGO)
Alexandre Alexeïeff (1901-1982), ursprünglich Alexander Alexandrowitsch Alexejew, war ein Russe im französischen Exil. Einige Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Istanbul, wo sein Vater Militärattaché war. Nach dem Besuch einer Kadettenanstalt in Sankt Petersburg emigrierte er 1921 und landete schließlich in Paris - Französisch hatte er auf Betreiben seiner Mutter schon als Kind gelernt. 1923 heiratete Alexeïeff die Schauspielerin und Zeichnerin Alexandra Grinevsky (oder, nach russischer Konvention, Grinevskaya), die uneheliche Tochter eines russischen Würdenträgers, der sie schon als Kind nach Paris abgeschoben hatte. Mit Alexandra hatte Alexeïeff eine Tochter, die Malerin Svetlana Alexeieff-Rockwell (1923-2015) - sie ist die Mutter des Regisseurs Alexandre Rockwell. Während der 20er Jahre betätigte sich Alexeïeff als Bühnenbildner und Kostümdesigner für Theatergrößen wie Louis Jouvet und Georges Pitoëff sowie als Buchillustrator - sein zeichnerisches Talent wurde schon in der Kadettenanstalt gefördert, und er hatte sich zum Graveur weitergebildet. Das Spektrum der von Alexeïeff illustrierten Autoren reichte von Gogol, Puschkin und Dostojewskij über Poe und Cervantes bis Apollinaire, Baudelaire und Malraux. 1931 lernte er die wohlhabende amerikanische Kunststudentin Claire Parker (1906-1981) kennen, die schon ein technisches Studium am Massachusetts Institute of Technology absolviert hatte und nun nach Paris gezogen war. Nach Alexeïeffs Scheidung 1940 oder 1941 (die Quellen sind sich nicht ganz einig) wurde Parker seine zweite Frau. Parker und Alexeïeff waren aber schon bald nach ihrer Bekanntschaft ein Liebespaar, und Alexandra Grinevsky arrangierte sich irgendwie mit der Situation.

Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an Illustrationen zu "Doktor Schiwago" (À PROPOS DE JIVAGO)
Irgendwann Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre verspürte Alexeïeff den Wunsch, die Bilder im Stil seiner Buchillustrationen in Filmen zum Leben zu erwecken. Die feinen Graustufen, Schattierungen und plastischen Wirkungen, die man mit Lithografie, Aquatinta und ähnlichen Techniken hervorrufen konnte, und die Alexeïeff schätzte, waren aber mit der klassischen Zeichentricktechnik der cel animation kaum zu erreichen, und was er keinesfalls machen wollte, waren Filme im Cartoon-Stil. Deshalb ließ er sich etwas anderes einfallen - etwas ganz anderes. Und damit kommen wir zum Nagelbrett (auf Englisch meist pinscreen, gelegentlich auch pinboard genannt, auf Französisch écran d'épingles). Zunächst mit Unterstützung von Alexandra Grinevsky, dann mit Parker, entwickelte Alexeïeff das Verfahren, zeitweise arbeiteten auch alle drei zusammen daran. Die technisch begabte Claire Parker hatte möglicherweise den größten Anteil, jedenfalls lief das 1935 erteilte französische Patent auf ihren Namen. Künstlerisch scheint Alexeïeff der Kopf der Gruppe gewesen zu sein. Bei den fünf eigenständigen Filmen sowie dem Prolog zu Orson Welles' LE PROCÈS, die mit dem Nagelbrett realisiert wurden, arbeiteten Parker und Alexeïeff als Animateure und Regisseure eng zusammen, so dass man sie alle als gemeinsame Werke der beiden bezeichnen muss. Grinevsky war daran nicht mehr beteiligt, aber bei etlichen der Werbefilme, die die Gruppe zum Broterwerb drehte (ohne Nagelbrett, was viel schneller ging), wirkte sie aktiv mit.

Die Hauptrichtungen des Dreiecksmusters werden sichtbar, wenn man das Nagelbrett frontal anstrahlt
(dieses und die nächsten vier Bilder: PIN SCREEN von Norman McLaren)
Wie funktioniert das Ding nun also? Das haben Parker und Alexeïeff selbst am besten erklärt. 1972 hielten sie auf Einladung von Norman McLaren am National Film Board of Canada (NFB) ein Seminar vor den dort tätigen Animationsfilmern, die auch selbst an einem mitgebrachten Nagelbrett unter Aufsicht der beiden Altmeister experimentieren durften (Ryan Larkin war auch mit dabei). McLaren machte daraus einen 40-minütigen Film, der laut Anfangscredits vollständig THE ALEXEIEFF-PARKER PIN SCREEN bzw. L'ÉCRAN D'ÉPINGLES ALEXEIEFF-PARKER heißt, aber meist nur kurz PIN SCREEN genannt wird. Der Film war wohl hauptsächlich als Lehrmaterial für zukünftige Studenten am NFB gedacht, aber heute bildet er auch (neben ihren Filmen natürlich) ein Vermächtnis von Parker und Alexeïeff. Daneben gab es weitere Dokus, z.B. den kurzen und ohne Worte auskommenden À PROPOS DE JIVAGO von 1960 (die beiden hatten damals mit dem Nagelbrett Illustrationen für eine Ausgabe von Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" erstellt), und einen noch kürzeren mit dem Titel TROIS THÈMES, der sie an der Arbeit zu ihrem gleich betitelten letzten Film zeigt. Die Bilder hier sind alle aus diesen Filmen.

Seminar vor kleinem, aber exquisitem Publikum; rechts das "kleine" Modell
mit 240.000 Nägeln und seine beiden Schöpfer
Das Nagelbrett ist eine vertikal stehende Tafel mit einem regelmäßigen Dreiecksmuster von Löchern. Und zwar sehr vielen Löchern - das erste einsatzfähige Exemplar hatte ungefähr eine Million davon. In den Löchern stecken spitze Metallstifte, die länger sind als die Dicke der Tafel. Die Stifte sind beweglich, können also so verschoben werden, dass sie entweder auf der Vorder- oder der Hinterseite der Tafel herausragen, oder eine beliebige Zwischenstellung einnehmen. Eine bestimmte Schmierflüssigkeit sorgt dafür, dass die Nägel weder zu leicht noch zu streng gleiten, so dass man sie nur mit einem gewissen Krafteinsatz verschieben kann. Der Clou ist nun, dass die Vorderseite der Tafel weiß ist, während die Nägel mehr oder weniger schwarz sind. Die Vorderseite der Tafel wird nun von einer starken Lichtquelle von der Seite her beleuchtet. Je nachdem, wie weit die Stifte hervorstehen, werfen sie einen mehr oder weniger langen Schatten. Während ein einzelner Nagel praktisch keinen wahrnehmbaren Effekt hat (er ist quasi ein einzelnes Pixel in einem hoch aufgelösten Bild), ergibt die Summe der Nägel in einem Gebiet der Tafel je nach ihrer Stellung eine beliebig einstellbare Mischung von beleuchteten und beschatteten Stellen auf der Tafel, und damit aus der Entfernung betrachtet (oder mit einer Filmkamera in Einzelbildschaltung aufgenommen) beliebige Grauabstufungen.

Das Prinzip wird am vergrößerten Modell erklärt
Damit das funktioniert, ist es wichtig, dass der Lichteinfall aus der richtigen Richtung erfolgt. Die jeweils benachbarten Löcher bzw. Stifte bilden gleichseitige Dreiecke. Wenn das Licht parallel zu einer der drei, um 60° gegeneinader gedrehten, Dreiecksseiten einfallen würde, dann würden sich "Korridore" ergeben, die nie beschattet werden, egal wie weit die Stifte herausstehen. Die Richtung des Lichteinfalls muss also um einen gewissen Winkel zu den drei "Hauptrichtungen" gedreht sein. Wenn dann die Stifte nur leicht herausstehen, wirft jeder einen isolierten Schatten. Wenn die Stifte weiter herausstehen, vereinigen sich diese einzelnen Schatten zunehmend zu einem zusammenhängenden Gebilde, das bei maximal hervorstehenden Stiften schließlich die ganze Fläche in diesem Bereich der Tafel bedeckt und so für Schwarz sorgt.


Um die Stifte für eine Aufnahme zu positionieren, wurden sie mit Gegenständen aller Art in die richtige Stellung gedrückt, und zwar von beiden Seiten der Tafel, je nach gewünschter Wirkung. Wenn man beispielsweise eine weiße Linie in eine dunkle Fläche "zeichnen" wollte, oder aber umgekehrt, so musste man im einen Fall zuerst alle Nägel dieser Fläche von hinten nach vorne drücken und dann die Nägel an der vorgesehenen Linie wieder von vorne nach hinten drücken - oder im anderen Fall genau spiegelbildlich vorgehen. "Gedrückt" wurde mit allen möglichen Gegenständen, etwa Linealen, Messern und Löffeln, und vielen weiteren Utensilien, die man in einem Haushalt findet, aber auch mit speziellen Anfertigungen von Alexeïeff und Parker. Vor allem kamen Rollen unterschiedlicher Breite und Form zm Einsatz, mit denen man Linien und Streifen beliebiger Breite in die "Matte" aus Nägeln walzen konnte. Wenn diese Rollen keine glatte Rollfläche hatten, sondern ein bestimmtes Muster darin aufwiesen, so konnte man dieses Muster in der Art eines antiken Rollsiegels auf die Nägel übertragen.


Im praktischen Einsatz war es so, dass Alexeïef als künstlerischer Kopf die Bilder auf dem Nagelbrett schuf (und zwar frei, also ohne Storyboard oder dergleichen), während Parker dabei assistierte und die Kamera bediente, so dass sich nach dem Stop-Motion-Prinzip nach und nach der Film zusammensetzte. War schon die Entwicklung des Nagelbretts eine komplizierte und nicht ganz billige Angelegenheit, so galt das auch für das Drehen von Filmen damit. Es war hohe künstlerische und technische Fertigkeit von Nöten, hohe Konzentration und vor allem viel Geduld. Die Arbeit an UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE begann 1931 und dauerte eineinhalb Jahre. Nach der Premiere in Paris gab es viel Lob von Künstlern und von der Kritik, doch dann stellten Parker und Alexeïeff das Nagelbrett erst mal in die Ecke und drehten Werbefilme (im Gegensatz zu den Nagelbrettfilmen in Farbe), zusammen mit Alexandra Grinevsky (wie oben schon erwähnt) sowie ein oder zwei angestellten Animateuren. Aber auch hier gaben sich Alexeïeff und seine Mitstreiter künstlerisch und technisch einige Mühe. Ab 1936 gab es auch eine Reihe von Auftragen aus Deutschland, so dass das Studio vorübergehend nach Berlin verlegt wurde. Das Spektrum der beworbenen Produkte reichte vom Loewe Opta Radioempfänger bis zu Klopapier. Anfang 1938 gingen Alexeïeff und seine Mitstreiter zurück nach Paris, und 1940 setzte sich die Ménage-à-trois Parker, Alexeïeff und Grinevsky (samt Tochter Svetlana) in die USA ab. Dort ließ sich Alexeïeff, wie schon erwähnt, von Grinevsky scheiden, die daraufhin eigene Wege ging, während Parker und Alexeïeff nicht nur als künstlerisches Team zusammenblieben, sondern dann auch heirateten.

Die Lichtquelle wird justiert (À PROPOS DE JIVAGO)
Im amerikanischen Exil drehten Parker und Alexeïeff keine Werbeclips, aber dafür den zweiten Nagelbrettfilm, und zwar beim NFB. Norman McLaren, der beim NFB die Animationsfilmabteilung aufgebaut hatte und für Jahrzehnte leitete, hatte UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE irgendwann in den 30er Jahren gesehen und war schwer beeindruckt, und er hatte wohl Wind davon bekommen, dass sich Parker und Alexeïeff in den USA aufhielten. 1944 produzierte McLaren am NFB eine Reihe von kurzen Animationsfilmen unter dem Sammeltitel CHANTS POPULAIRES, in denen jeweils ein franko-kanadisches Volkslied mit Bildern versehen wird, und er lud Parker und Alexeïeff ein, auch einen Beitrag dazu abzuliefern. Das Ergebnis war der (ohne den Serienvorspann) nicht mal eineinhalbminütige EN PASSANT. Da er als fünfter Film der Serie erschien, findet man ihn auch unter dem Titel CHANTS POPULAIRES N° 5.

Auf den Einfallswinkel des Lichts kommt es an: links oben ganz schlecht, dann zunehmend
besser, aber noch nicht perfekt (PIN SCREEN)
Nach dem Krieg kehrte das Paar nach Paris zurück und nahm Anfang der 50er Jahre zunächst seine Tätigkeit als Werbefilmer wieder auf. Alexeïeff erdachte in dieser Phase ein Verfahren, das er "Totalisation" nannte. Dabei wird eine Lichtquelle, die pendelt, rotiert oder sich sonstwie annähernd regelmäßig bewegt, mit sehr langer Belichtungszeit aufgenommen, so dass die Lichtspur festgehalten wird. Das kombinierte er mit konventioneller Stop-Motion-Technik und weiteren Verfahren und erzielte damit interessante Wirkungen, so dass sein Studio, wie schon in den 30er Jahren, großen Anklang bei den Werbekunden fand. Zwei Werbeclips aus dieser Phase, die bis Mitte der 60er Jahre dauerte, habe ich hier vorgestellt (allerdings beide ohne Totalisation). Bei den Werbefilmen wurde meist Alexeïeff als alleiniger Regisseur benannt, aber Parker beteiligte sich auch daran.

Dieselbe Konfiguration des Nagelbretts bei zwei verschiedenen Lichteinfallswinkeln (À PROPOS DE JIVAGO)
1962 gab es eine weitere Auftragsarbeit für das Nagelbrett: Den Prolog zu Orson Welles' Kafka-Verfilmung LE PROCÈS. Da es sich um eine Abfolge von Standbildern handelt, ist die Sequenz kein Nagelbrettfilm im engeren Sinn. Die Stimme gehört natürlich Meister Welles persönlich, der Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" rezitiert, die einen abgeschlossenen Text innerhalb von "Der Prozess" bildet. 1963 folgte dann der dritte "richtige" Nagelbrettfilm, LE NEZ (DIE NASE), zugleich der längste seiner Art von den beiden. Im Gegensatz zum frei-assoziativen UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE folgt diese Verfilmung der gleichnamigen absurden Parabel von Nikolai Gogol einer klareren Handlungslinie, wenn auch einer ziemlich surrealen: Einem Beamten kommt seine Nase abhanden, die daraufhin ein Eigenleben führt.

Werkzeuge: Verschiedene Rollen, aber auch Matrjoschka-Puppen; unten: eine sehr breite Rolle dient
als "Schwamm" zum Löschen der gesamten "Tafel" (PIN SCREEN)
Die letzten beiden Nagelbrettfilme von Alexeïeff und Parker markieren die Rückkehr zu Mussorgski. TABLEAUX D'UNE EXPOSITION (1972) ist natürlich eine Interpratation von "Bilder einer Ausstellung", ein Jahr nachdem sich Emerson, Lake and Palmer auf ihre Art dieser Musik angenommen hatten. Es spielt der österreichische Pianist Alfred Brendel. Bei diesem Film kommt eine Neuerung zum Tragen: Es werden nicht nur eines, sondern zwei Nagelbretter verwendet. Während das etwas größere im Hintergrund fixiert ist, ist das kleinere im Vordergrund um eine vertikale Achse drehbar gelagert. TROIS THÈMES von 1980 schließlich, wieder mit Brendel am Klavier, ist der Schwanengesang des Paars. Claire Parker starb 1981, Alexandre Alexeïeff 1982.

Werkzeugkasten (À PROPOS DE JIVAGO)
Das Nagelbrett, das Parker und Alexeïeff 1972 nach Kanada mitbrachten, ist kleiner als das Original aus den 30er Jahren (das sich heute im Centre national du cinéma et de l'image animée in Paris befindet) und hat "nur" ca. 240.000 Nägel. Dieses Exemplar wurde nach dem Seminar sogleich vom NFB erworben, und es ist (als einziges weltweit) noch immer im Einsatz. Für lange Jahre war Jacques Drouin vom NFB der einzige, der die Nachfolge von Alexeïeff und Parker antrat und die nötige Mühe und Geduld für Filme mit dem Nagelbrett aufbrachte. Besonders schön ist etwa LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE . Das Motiv der Leinwand, auf der sich der "reale" Hintergrund nahtlos fortsetzt, ist sicher von René Magritte inspiriert. Nagelbrettfilme sind naturgemäß zunächst einmal schwarzweiß, aber natürlich ist es nicht weiter schwer, ihnen eine monochrome Einfärbung zu verpassen, wie in Drouins EX-ENFANT / EX-CHILD. Auch nachdem sich Drouin mittlerweile im Ruhestand befindet, ist die Technik noch nicht tot - Michèle Lemieux hat 2012 mit LE GRAND AILLEURS ET LE PETIT ICI den bislang letzten Vertreter hervorgebracht. Hier erzählt sie etwas über die Entstehung des Films, und man bekommt noch einmal die Technik erklärt und demonstriert. Es kann also weitergehen!

Ein Ring mit einem Profil ähnlich einem Fahrzeugreifen erzeugt beim Abrollen
ein Muster, aus dem Getreide wird (À PROPOS DE JIVAGO)
In den 70er Jahren entwickelte ein Ward Fleming eine Vorrichtung, die dem Nagelbrett von Parker und Alexeïeff sehr ähnlich ist. Die Stifte sind hier nicht aus Metall, sondern Kunststoff, sie sind leichter verschiebbar, und sie sind wohl noch dichter gepackt als beim klassischen Nagelbrett - jedenfalls entstehen hier die Bilder nicht durch den Schattenwurf, sondern durch das dreidimensionale Relief der Stifte selbst. Dennoch ist die Verwandtschaft mit dem ursprünglichen Konzept unübersehbar. Das hielt Fleming nicht davon ab, sich als Erfinder seiner Entwicklung zu betrachten und diese zum Patent anzumelden. Eine kleine Spielzeugversion davon hat sich zig-millionenfach verkauft, Fleming dürfte also ziemlich reich damit geworden sein. Es gibt aber auch sehr große Exemplare, die sich auch für Live-Performances wie diese hier eignen.

Derselbe Ring wie oben erzeugte auch den Stamm und die Zweige
des Weihnachtsbaums (À PROPOS DE JIVAGO)
Alle Nagelbrettfilme von Parker & Alexeïeff (außer dem Prolog zu LE PROCÈS) und eine Auswahl von 20 Werbefilmen sowie À PROPOS DE JIVAGO, McLarens PIN SCREEN, Drouins LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE und einige weitere Bonusfilme sind zusammen in Frankreich auf der DVD Alexeïeff - Le cinéma épinglé erschienen. DVD und Booklet sind zweisprachig Französisch/Englisch. Eine amerikanische Lizenzausgabe davon gibt es auch. Wer beim Nagelbrett nicht kleckern, sondern klotzen will, kommt an einer dieser beiden Scheiben nicht vorbei. Die Bildqualität ist selbstredend besser als bei den YouTube-Videos. UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE ist auch im 7-DVD-Set Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 enthalten, PIN SCREEN auch im 7-DVD-Set Norman McLaren. The Master's Edition. LE PROCÈS ist auf diversen DVDs und Blu-rays erhältlich.

TROIS THÈMES (Kurzdoku): Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an ihrem gleichnamigen letzten Film

Sonntag, 1. Januar 2017

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt [und hier ist er schon]). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt [schon da], will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

Montag, 9. November 2015

Themerson & Themerson - fast verlorene polnische Avantgarde

Auch die Autoren dieses Films [die Themersons selbst] versuchten während ihres ganzen Lebens, rückwärts zu gehen, aber vorwärts zu kommen. (Stefan Themerson unter Bezug auf DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)

Schon mal von Stefan und Franciszka Themerson gehört? Als regelmäßiger Arte-Seher vielleicht, aber sonst wohl nicht unbedingt. Dabei sind die Themersons keineswegs vergessen: In ihrer Heimat Polen und ihrer Wahlheimat England erinnert man sich durchaus an sie, vielleicht auch in Frankreich, wo sie auch kurz lebten, aber hier zu Lande waren sie wohl von vornherein nie besonders prominent. Die beiden gehörten in den 30er Jahren zur polnischen Film-Avantgarde und drehten gemeinsam fünf experimentelle Filme, von denen leider nur einer überlebt hat. Im englischen Exil folgten noch zwei weitere Filme, so dass sich der erhaltene filmische Nachlass des Ehepaars auf gerade mal drei Werke beläuft. Im "Hauptberuf" (der Ausdruck passt bei den beiden nicht so recht) war Franciszka Zeichnerin und Malerin, Stefan Schriftsteller, Dichter und Essayist. Außerdem führten beide gemeinsam in ihrer englischen Zweitheimat über 30 Jahre lang einen sehr eigenwilligen Verlag. 2010 entstand als internationale Coproduktion (mit Beteiligung von Arte) ein 70-minütiger Dokumentarfilm über die Themersons, der ihr ganzes Leben abdeckt. Ich will mich hier hauptsächlich auf ihre Filme konzentrieren.

Stefan und Franciszka Themerson in THEMERSON & THEMERSON
Die Filmografie in der IMDb enthält derzeit nur die überlebenden drei Filme, und in der deutschen und englischen Wikipedia ist die Liste zwar vollständig, aber unübersichtlich und nur mit wenigen Informationen dargeboten. Deshalb hier zunächst die komplette Liste, einschließlich der Dokumentation. Die deutschen Titel der polnischen Filme sind nicht offiziell, sondern Übersetzungen der Originaltitel, die ich Wikipedia entnahm.

APTEKA (APOTHEKE)
Warschau 1930
3 Minuten
stumm
verschollen

EUROPA
Warschau 1931/32
15 Minuten
stumm
verschollen

DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT)
Warschau 1933
3 Minuten
Musik: Maurice Ravel
verschollen

ZWARCIE (KURZSCHLUSS)
Warschau 1935
10 Minuten
Musik: Witold Lutosławski
verschollen

PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)
Warschau 1937
10 Minuten
Musik: Stefan Kisielewski

CALLING MR. SMITH
London 1943
10 Minuten
Farbe: Dufaycolor
Musik: Karol Szymanowski, J.S. Bach, Frédéric Chopin, Horst-Wessel-Lied

THE EYE & THE EAR
London 1944/45
10 Minuten
Musik: Karol Szymanowski

Drehbuch, Kamera, Regie und Schnitt jeweils die Themersons gemeinsam. Alle Filme wurden auf 35mm gedreht, und alle außer CALLING MR. SMITH in Schwarzweiß (PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO enthielt jedoch ursprünglich eine kurze handcolorierte Sequenz, die nur in s/w erhalten ist).

THEMERSON & THEMERSON (auch THEMERSON AND THEMERSON)
Frankreich/Großbritannien/Polen 2010
Regie: Wiktoria Szymańska

Stefan (1910-1988) und Franciszka Themerson (1907-1988) entstammten beide polnisch-jüdischen Familien. Stefan wurde in Płock geboren, Franciszka als Tochter des Malers Jakub Weinles und einer Pianistin in Warschau. Während Franciszka schon als Kind ihr zeichnerisches Talent entdeckte, interessierte sich Stefan bereits als Jugendlicher für Radio-, Foto- und Filmtechnik sowie für die modernen Kunstströmungen. Mit 14 baute er sich einen Kristallempfänger, er verfertigte Collagen und Fotomontagen, von denen etliche in einem Literaturmagazin erschienen, und mit 18 veröffentlichte er in einem Magazin einen Artikel mit dem Titel "Über die Möglichkeiten des Radios" (Możliwości radiowe). Darin ging es keineswegs nur um das Radio, sondern um eine formale Gegenüberstellung von (mittels Radio transportierter) Musik und Film. Er vergleicht darin (I) die üblichen handlungsorientierten Filme mit Musik mit Gesang (wobei der Gesang so etwas wie eine Handlung transportiert), (II) sogenannte optische Musik (also abstrakte Filme wie etwa die von Oskar Fischinger und etwas später die von Mary Ellen Bute und Ted Nemeth) mit Instrumentalmusik, die zwar Bedeutung, aber keine Handlung hat, und schließlich (III) als letzte Stufe einzelne optische mit akustischen Sinneseindrücken, die jeder Bedeutung entkleidet sind, so dass man sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnimmt. Und dann stellt er die rhetorische Frage, ob die formale Ähnlichkeit innerhalb der letzten Kategorie nicht dazu führt, dass man solche optischen und akustischen Eindrücke nicht miteinander verbinden könne, und ob das nicht die ultimative Kunstform für das gegenwärtige Zeitalter werden könne. Und damit hatte Stefan Themerson schon so etwas wie ein Programm für die eigenen kommenden Filme entworfen. Er beschließt den Artikel mit einem Blick in die Zukunft: Er stellt sich einen Mann vor, der, bequem in einem Sessel versunken (vielleicht sogar im Pyjama), mit Kopfhörer und einem Stereoskop vor den Augen, so eine multimediale "Radio-Phono-Vision" genießt.

Stefan begann 1928 in Warschau Physik zu studieren, wechselte aber bald zur Architektur. Irgendwann Ende der 20er Jahre lernte er Franciszka kennen, die an der Warschauer Kunstakademie studierte, und 1931 heirateten die beiden. Da hatten sie ihren ersten Film APTEKA schon fertiggestellt. Die meisten in den frühen 20er Jahren gedrehten abstrakten Filme wie die von Walther Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling waren rein grafisch, und Fischinger sowie in den 30er Jahren Len Lye und Norman McLaren setzten diese Tradition fort. Doch schon in den 20er Jahren hatte sich auch die Tendenz entwickelt, reale Objekte zu filmen und mittels extremer Großaufnahme, ungewöhnlicher Kamerawinkel, Mehrfachbelichtung, rascher Montage etc. bis zur Abstraktion zu verfremden. Wichtigster Vorreiter in dieser Beziehung war BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger 1924 in Frankreich drehten. Einige Filmkritiker und Kunsttheoretiker forderten explizit eine Bevorzugung dieser Richtung, so in Polen 1928 die Kritikerin Stefania Zahorska. Die Themersons schlossen sich dieser Sichtweise an, und sie wurden zu Pionieren des abstrakten Films in ihrem Land. Zwar wurde in Polen schon in den 20er Jahren eifrig über das Thema debattiert, aber es wurde kein solcher Film fertiggestellt. (Der konstruktivistische Künstler Mieczysław Szczuka entwickelte konkrete Pläne dazu und hätte sie wohl auch umgesetzt, wenn er nicht 1927 tödlich verunglückt wäre.)

Parallel zu seiner frühen Beschäftigung mit Fotomontagen, die man durchaus als Vorstufe zum Filmen betrachten kann, begann sich Stefan für Fotogramme zu interessieren. Ein Fotogramm entsteht bekanntlich, wenn man Objekte auf einem Film, einer Fotoplatte oder lichtempfindlichem Papier platziert und direkt, also ohne Kamera, belichtet. Bei diffuser Beleuchtung wird dann die Auflagefläche der Objekte, bei gerichteter Beleuchtung zusätzlich die Schatten der Objekte fotografisch abgebildet. Im Avantgarde-Sektor hatten beispielsweise schon Man Ray und László Moholy-Nagy in den 20er Jahren mit Fotogrammen gearbeitet. Stefan verfiel nun auf die Idee, "bewegte Fotogramme", also Fotogramm-Filme, herzustellen. Wie kann das gelingen? Stefan baute dafür einen Tricktisch mit einer horizontalen Glasplatte, die mit halbtransparentem Papier belegt war, auf dem die zu filmenden Objekte platziert wurden. Stefan lag dann mit seiner Kamera (ein altes Ding mit Kurbel) unter dem Tisch und filmte (bzw. fotografierte in Einzelbildschaltung) die Umrisse und Schatten der Objekte auf dem Papier, während Franciszka schrittweise die Objekte und/oder die über dem Tisch angebrachten Lichtquellen bewegte (hier findet man eine Skizze des Tisches sowie einige Screenshots aus den Filmen). Technisch gesehen sind das keine Fotogramme mehr, weil ja wieder eine Kamera zum Einsatz kommt, aber der ästhetische Kern - die Abbildung nur von Umrissen bzw. Schatten - bleibt erhalten, so dass man mit etwas gutem Willen durchaus von bewegten Fotogrammen sprechen kann. Die Themerson'sche Konstruktion erinnert an den Tricktisch, den Walther Ruttmann 1920 konstruierte und patentieren ließ, um damit seine vier abstrakten OPUS-Filme zu realisieren, nur war bei Ruttmann die Lichtquelle unten und die Kamera oben, und es gab nicht nur eine, sondern drei übereinander angeordnete horizontale Glasplatten, von denen zwei verschiebbar waren.

Was die Themersons an den bewegten Fotogrammen reizte, war neben dem ästhetischen Resultat nicht zuletzt die Einfachheit des Verfahrens, die es ihnen - als Autodidakten im zunächst noch fast jugendlichen Alter mit primitiver Ausrüstung - ermöglichte, einfach so loszulegen und experimentelle Filme zu drehen. Und so setzten sie das Verfahren auch in allen ihren Filmen ein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, kombiniert mit anderen Techniken. - In APTEKA (APOTHEKE) werden die Fotogramme ausgiebig benutzt, und bei den abgebildeten Objekten handelt es sich um Utensilien, wie man sie in einer Apotheke oder in einem Chemielabor findet. Im Vergleich zum recht kurzen APTEKA war EUROPA deutlich ambitionierter. Es handelt sich um eine Interpretation des gleichnamigen Gedichts des polnischen futuristischen Dichters Anatol Stern, geschrieben 1925 und 1929 veröffentlicht. Der Futurismus reüssierte nicht nur in Italien und Russland, sondern hatte für einen begrenzten Zeitraum (ca. 1919-22) auch ein Standbein in Polen, bevor hier Dadaismus und Konstruktivismus die vorherrschenden Richtungen der Avantgarde wurden (Sterns Gedicht ist also in einem gewissen Sinn schon ein Nachzügler). Die polnischen Futuristen verweigerten sich aber, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehend, anders als ihre italienischen Kollegen der bedingunglosen Verherrlichung der Maschinen und des Kriegs. Ideologisch stand Stern auch eher den Dadaisten nahe als jemandem wie Marinetti, und sein Poem ist eine grimmig-wüste Anklage gegen ein Europa, das, gerade einen vernichtenden Krieg hinter sich, schon auf den nächsten zusteuert. Sterns "Europa" ist, wie auch andere Werke des polnischen Futurismus, schon sehr "filmisch" geschrieben, und es bestand nicht nur aus Text, sondern war in collagenhafter Form mit Bildern und Fotomontagen angereichert, die die Künstlerin Teresa Żarnower (auch Żarnowerówna geschrieben) und der oben schon erwähnte Mieczysław Szczuka beisteuerten. Stefan Themerson schrieb 1988 in einem Brief, dass Sterns Gedicht nicht die Inspiration für das Drehbuch zu EUROPA war, sondern das Gedicht war das Drehbuch. Neben bewegten Fotogrammen gab es in dem Film weitere Stop-Motion-Animationen, die teilweise auch rückwärts liefen, nackte Frauen (Modelle von der Kunstakademie) und Großaufnahmen von menschlichen Körperteilen (das sah vielleicht ähnlich aus wie gut zehn Jahre später in GEOGRAPHY OF THE BODY von Willard Maas und Marie Menken), sowie weitere Motive und technische Kunstgriffe. Und am Ende gibt es, sozusagen als hoffnungsvollen Kontrapunkt, ein nacktes Kleinkind auf einer Wiese.

Überlebendes Standbild aus APTEKA
Die nächsten beiden Filme waren Auftragsarbeiten (die Themersons hatten sich also - mit EUROPA mehr als mit dem verhalten aufgenommenen APTEKA - schon einen gewissen Namen gemacht). DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT) hat jemand namens Wanda Golinska in Auftrag gegeben, um Werbung für ihr Geschäft zu machen (um welche Art von Geschäft es sich handelte, darüber differieren die Angaben). Wieder gibt es bewegte Fotogramme, jetzt erstmals mit Ton, nämlich im Ablauf synchronisiert mit einer Musik von Ravel. Bei ZWARCIE (KURZSCHLUSS) handelt es sich um einen Informationsfilm über die Gefahren der Elektrizität, der von einem Institut für Soziale Angelegenheiten (Instytut Spraw Społecznych) in Warschau beauftragt wurde. Für die semi-abstrakten Teile des Films entstand zuerst die Musik von Witold Lutosławski, danach wurden die Bilder gedreht und zur Musik synchronisiert. Die oben erwähnte Kritikerin Stefania Zahorska schrieb 1936 Folgendes über den Film: "... ein Poem von Objekten, Linien, Lichtern - es ist ein Drama der Elektrizität, es ist ein Kurzschluss von Formen außer Atem". MUSIKALISCHES MOMENT und KURZSCHLUSS wurden nicht nur in Avantgardezirkeln gezeigt wie die beiden ersten Filme, sondern sie liefen auch in regulären Kinos.

Und schließlich noch PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEG (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES), der einzige Film aus der polnischen Phase der Themersons, der überlebt hat:



Es handelt sich um eine surreale Parabel, die den Nonkonformismus feiert, oder, wie es im Vorspann heißt, um eine "irrationale Humoreske". "Es wird sich kein Loch im Himmel auftun, wenn man mal rückwärts geht", meint der Chef zu seinen zwei Trägern, die sich beim Abtransport eines Spiegelschranks etwas blöd anstellen. Das hört zufällig ein Beamter (der brave Mann) am Telefon mit, und er zieht seine eigenen Schlüsse daraus: Stimmt - man könnte ja wirklich mal rückwärts gehen. Doch einfach so rückwärts gehen, das geht nicht! Wo kämen wir da hin? "Nieder mit dem Rückwärtsgehen!" steht auf den Schildern der Demonstranten, die einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bilden, "gewiss wird sich da ein Loch im Himmel auftun! Wir alle gehen vorwärts!" Doch die beiden Rückwärtsgeher lassen sich nicht beirren - und eigentlich könnte man es ja auch mal mit dem Fliegen versuchen. "Sie müssen die Metapher verstehen, meine Damen und Herren", sagt am Ende der brave Mann mit der Flöte. Das Kleinkind am Schluss ist vermutlich dasselbe, mit dem schon EUROPA endete (aber Stefan Themerson war sich da offenbar nicht mehr ganz sicher, als er 1973 den Inhalt von EUROPA in einem Brief zusammenfasste). Bewegte Fotogramme gibt es hier nur kurz gegen Ende bei den stilisierten Vögeln, und in dieser Sequenz gab es auch die erwähnte Handcolorierung. (Die "fotogrammierten" Vögel der Themersons erinnern mich an die Falkentraumsequenz, die Walther Ruttmann für Fritz Langs DIE NIBELUNGEN beisteuerte.)

Von 1931 (unter einem etwas anderen Namen schon ein oder zwei Jahre vorher) bis 1935 existierte in Warschau eine "Vereinigung der Liebhaber des künstlerischen Films" (Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego, abgekürzt START). Zu den Mitgliedern, die meisten anfangs noch Studenten, zählten u.a. die Regisseurin Wanda Jakubowska, die Regisseure Aleksander Ford und Eugeniusz Cękalski, der Kameramann und Regisseur Stanisław Wohl und der spätere bedeutende Filmhistoriker Jerzy Toeplitz. Die Themersons pflegten engen Kontakt zu der Gruppe und waren mit den meisten Mitgliedern befreundet. 1935 gründeten sie quasi als Nachfolgeorganisation für START eine "Kooperative der Filmautoren" (Spółdzielnia Autorów Filmowych, SAF). Unter dem Dutzend Mitgliedern befanden sich neben Stefan und Franciszka und den oben erwähnten START-Mitgliedern (außer Toeplitz, der sich zwischenzeitlich in London aufhielt) auch der Komponist Witold Lutosławski. Die Kooperative produzierte eine Reihe von meist kurzen Filmen ihrer Mitglieder, darunter auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES. 1937 gründeten die Themersons als Zeitschrift der Kooperative das Journal f.a. (film artystyczny), mit Stefan als Herausgeber und Franciszka als Art Director. 1936 und 1937 waren sie nach London bzw. Paris gereist, um Avantgardefilme für Vorführungen in Polen zu entleihen, und die nach den Prinzipien der Neuen Typografie gestaltete Zeitschrift sollte diese Vorführungen publizistisch begleiten. In London trafen sie László Moholy-Nagy und John Grierson, die Zentralfigur der britischen Dokumentarfilmbewegung, und Letzterer versorgte sie mit Filmen aus dem Dunstkreis der von ihm geleiteten GPO Film Unit: THE SONG OF CEYLON von Basil Wright, COAL FACE von Alberto Cavalcanti, NIGHT MAIL von Harry Watt und Basil Wright, A COLOUR BOX und RAINBOW DANCE von Len Lye. Besonders die abstrakten Filme von Lye hatten es den Themersons angetan. Die erste Ausgabe von f.a. begleitete die Vorführung dieser Filme, die im Mai 1937 stattfand, und sie enthielt u.a. Artikel von Lye, Moholy-Nagy und Grierson. In Paris versorgten sich die Themersons vorwiegend mit Werken aus den 20er Jahren wie BALLET MÉCANIQUE, Man Rays LE RETOUR À LA RAISON, René Clairs ENTR'ACTE und Henri Chomettes CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR, PRÉTEXTE von Alfred Sandy und LA ZONE von Georges Lacombe. In der schnelllebigen Avantgarde jener Jahre waren diese Filme 1937 eigentlich schon wieder veraltet, aber in Polen waren sie noch nie gezeigt worden. Die Themersons wollten sie eigentlich in einer Tour im ganzen Land vorführen, aber zu ihrem Verdruss erhielten sie nur Lizenzen für Warschau. Die zweite Ausgabe von f.a. widmete sich diesen französischen Filmen. Die Zeitschrift war dreisprachig Polnisch/Englisch/Französisch, ich weiß aber nicht, ob beide Ausgaben dreisprachig oder die erste Polnisch/Englisch und die zweite Polnisch/Französisch war. Heft Nr. 2 enthielt auch einen Essay von Stefan mit dem Titel O potrzebie tworzenia widzeń, der als der wichtigste theoretische Text über den Avantgardefilm im Polen der Zwischenkriegszeit gilt. 1983 erschien er stark überarbeitet und erweitert unter dem Titel The Urge to Create Visions auf Englisch neu. - Von ihren Avantgarde-Aktivitäten hätten die Themersons in Polen kaum leben können, aber sie veröffentlichten auch eine Reihe von erfolgreichen Kinderbüchern, mit Texten von Stefan und Illustrationen von Franciszka, und Stefan verfasste auch Texte für Schulbücher.

Von f.a. war noch eine dritte Ausgabe geplant, die sich dem polnischen experimentellen Film hätte widmen sollen, doch dazu kam es nicht mehr, weil die Themersons im Winter 1937/38 nach Paris übersiedelten. Das war eine rein künstlerisch begründete Entscheidung: Sie wollten in der internationalen Hauptstadt der Avantgarde Anschluss gewinnen. "Wenn man schrieb, malte oder Filme machte, musste man einfach nach Paris", schrieb Stefan 1986 in einem Brief. Schnell knüpften sie Kontakte zu anderen Künstlern und Intellektuellen; Franciszka malte und schuf Illustrationen für den Verlag Flammarion, Stefan schrieb Artikel für Zeitschriften sowie weiterhin Beiträge für polnische Schulbücher, und in ihrer Freizeit dachten sie sich neue Filmprojekte aus. Doch der vielversprechende Anfang wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh abgewürgt. Das Paar meldete sich zur Polnischen Exil-Armee in Frankreich (wie beispielsweise auch Emil-Edwin Reinert). Franciszka wurde als Kartographin der Polnischen Exilregierung zugeteilt, Stefan diente als einfacher Soldat, und dadurch wurden sie getrennt. Nach der französischen Niederlage 1940 wurde Franciszka mit einem Truppentransporter nach England evakuiert, wo sie weiterhin für die dorthin übersiedelte Exilregierung arbeitete, während Stefan in Frankreich zurückblieb. Er schlug sich ins unbesetzte Vichy-Frankreich durch, wo er mehr oder weniger im Untergrund lebte, denn als Jude war er auch dort von Deportation in die Vernichtungslager bedroht. Er vertrieb sich die Zeit mit der Arbeit an einem Roman und dem Schreiben von Gedichten, während es Franciszka von London aus mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Mit organisatorischer Unterstützung von England aus gelang es Stefan schließlich Ende 1942, Frankreich zu verlassen und über Spanien und Portugal nach England zu gelangen. Nach einer kurzen Zeit in Schottland ließ sich das Paar 1944 in Maida Vale nieder, einem Viertel im Londoner Stadtteil Paddington, wo sie für den Rest ihres Lebens wohnten.

Die Themersons in der Polnischen Exil-Armee
Die Themersons hatten Kopien ihrer fünf Filme von Polen nach Paris mitgenommen und bei Kriegsausbruch im Film-Entwicklunslabor Vitfer hinterlegt, doch dort wurden sie von den Nazis konfisziert. Was dann mit den Filmen geschah, ist unbekannt - es fand sich keine Spur mehr von ihnen. Auch die in Polen zurückgebliebenen Filmrollen gingen während Krieg und Besatzung spurlos verloren, nur eine schon stark abgenutzte Kopie von DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES tauchte nach Kriegsende auf wundersame Weise in der Nähe von Moskau auf, die Themersons erfuhren aber zunächst nichts davon. Die Filmrolle wurde an das Zentrale Filmarchiv in Warschau geschickt und von dort schließlich an die Filmhochschule in Łódź weitergereicht. Erst als Ende 1960 das Zentrale Filmarchiv eine Veranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum von START durchführte und dabei auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES vorführte, erfuhren Stefan und Franciszka durch einen Brief des Filmarchivs, dass doch noch einer ihrer polnischen Filme überlebt hatte. In seiner Antwort an das Filmarchiv zeigte sich Stefan sehr erfreut darüber, aber zugleich stellte er die bange Frage, ob nicht nur die physische Kopie, sondern auch der Film selbst dem Zahn der Zeit widerstanden hatte, oder ob es sich nur noch um eine belanglose Kuriosität aus einer vergangenen Zeit handeln würde (ob er daraufhin eine Antwort aus Warschau erhielt, ist mir nicht bekannt). Unter den Filmstudenten in Łódź, die dort DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES zu Gesicht bekamen, dürfte sich auch ein gewisser Roman Polanski befunden haben, denn in Polanskis mehrfach preisgekröntem Kurzfilm DWAJ LUDZIE Z SZAFĄ (ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK) von 1958 wird ebenfalls ein Schrank mit Spiegel von zwei Männern durch die Gegend getragen. Von einer Freundin darauf angesprochen, meinten die Themersons gelassen: "Polen ist ein Land, in dem zwei Leute einen Schrank tragen müssen - das passiert eben alle 20 oder 30 Jahre!"

Zwei Männer und ein Spiegelschrank - links bei den Themersons, rechts bei Polanski
In London drehten die Themersons während des Krieges ihre letzten beiden Filme, und zwar im Auftrag der Polnischen Exilregierung. CALLING MR. SMITH von 1943 ist inhaltlich ein astreiner Anti-Nazi-Propagandafilm, aber formal auch schon fast avantgardistisch:



Das hier verwendete Farbverfahren Dufaycolor war eines der beiden europäischen Farbfilmverfahren (das andere war Gasparcolor), die in den 30er und 40er Jahren in Europa vorwiegend für Animationsfilme verwendet wurden (auch Len Lye benutzte beide Verfahren, auch in den Filmen, die 1937 in Polen gezeigt wurden). Erstaunlicherweise hatte die britische Zensurbehörde BBFC Einwände gegen den Film, weil ihr manche Bilder zu drastisch waren, vor allem eine an einem Galgen hängende Frau. Produziert wurde CALLING MR. SMITH laut Credits von einem E. Cekalski - es ist kein Anderer als das frühere START- und SAF-Mitglied Eugeniusz Cękalski. Er war zunächst in Paris und dann in London Leiter der Filmabteilung der polnischen Exilregierung, und er inszenierte in England auch selbst eine Reihe von kurzen Dokumentar- und Propagandafilmen, meist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler und Produzenten Derrick de Marney. Nach dem Krieg ging er zurück nach Polen, inszenierte weiter Filme und beteiligte sich am Aufbau der Filmhochschule Łódź. Cękalski starb 1952 mit 45 Jahren.

CALLING MR. SMITH - die Zensoren mochten dieses Bild nicht
Mit THE EYE & THE EAR wandten sich die Themersons wieder einem Thema zu, das Stefan schon in seinem frühen Essay "Über die Möglichkeiten des Radios" von 1928 beschäftigt hatte: Ob und wie man akustische und visuelle Eindrücke auf eine irgendwie logische, also nicht rein willkürliche, Art und Weise miteinander synchronisieren oder aufeinander abbilden könne:



Als Anschauungsmaterial dienen vier Stücke des Komponisten Karol Szymanowski. Es singt die aus der Schweiz stammende Sopranistin Sophie Wyss, und der als Dirigent genannte Ronald Biggs war selbstverständlich nicht der spätere legendäre Posträuber, sondern ein Namensvetter. Einmal mehr kommen bewegte Fotogramme ausgiebig zum Einsatz. Bei diesen letzten beiden Filmen waren die Themersons wohl nicht mehr mit vollem Einsatz bei der Sache - jedenfalls schrieb Stefan Ende 1945 in einem Brief an Aleksander Ford, dass sie diese Filme mehr aufgrund der äußeren Umstände denn aus einem echten künstlerischen Drang heraus realisiert hätten. Das Thema von THE EYE & THE EAR beschäftigte zumindest Stefan jedoch weiter. Noch bis in die 60er Jahre hinein trug er sich mit dem Gedanken, ein Gerät zu bauen (oder von einem Techniker bauen zu lassen), mit dem sich die Gesetze der gegenseitigen Abbildung von optischen und akustischen Reizen (falls es solche Gesetze überhaupt gäbe) erforschen ließen, und er nannte ein solches Gerät mal Synæstetic Sight and Sound Co-ordinator, mal Phonovisor. Doch zur praktischen Umsetzung fehlte immer das Geld, so dass diese Pläne nie realisiert wurden. In einem Brief von 1963, in dem er den damaligen Stand seiner Gedanken zu diesem Thema darlegte, wünschte sich Stefan auch die Möglichkeit, aus grafischen Mustern automatisiert Töne und Musik zu erzeugen. Vermutlich wusste er damals nicht, dass ausgerechnet in England so etwas gerade entwickelt wurde, nämlich Oramics von Daphne Oram. Dabei handelte es sich um einen analogen Synthesizer, der durch auf 35mm-Filmstreifen gezeichnete Muster programmiert wurde.

Nach dem Krieg wurde Aleksander Ford, Freund und SAF-Kollege der Themersons, im nunmehr kommunistischen Polen für einige Jahre Leiter des gesamten verstaatlichten Filmwesens. Im Herbst 1945 entsandte er eine zweiköpfige Delegation nach London, bestehend aus den START- bzw. SAF-Veteranen und Themerson-Freunden Jerzy Toeplitz und Stanisław Wohl, um das Paar zur Rückkehr nach Polen zu bewegen. Doch die Frage der Themersons, ob sie in Polen wieder frei in ihrem alten Stil Filme machen könnten, musste von den Emissären verneint werden, und so lehnten Stefan und Franciszka dankend ab und blieben lieber in England, und sie schrieben den oben erwähnten Brief an Ford, in dem sie hoffnungsvoll den Werken einer neuen polnischen Avantgarde unter Fords Patronat entgegensahen (offenbar ahnten sie da noch nicht, dass der strikt verordnete "Sozialistische Realismus" kaum noch Experimente zuließ). Wie es den Themersons wohl in Polen ergangen wäre? Darüber kann man natürlich nur vage Spekulationen anstellen. Da mit Ford, Toeplitz und Cękalski mindesten drei frühere START- und SAF-Mitglieder führende Positionen an der Filmhochschule Łódź innehatten, wären vielleicht auch Stefan und Franciszka als Dozenten dort untergekommen. Und als Juden wären sie vermutlich 1968 unter Druck geraten. Im Gefolge des Sechstagekriegs von 1967 kam es in Polen zu einer staatlich verordneten antisemitischen Kampagne, die sich nach Studentenunruhen im Frühjahr 1968 noch verstärkte. Aleksander Ford, Jude und immer überzeugter Kommunist, sah sich plötzlich heftigen Anfeindungen ausgesetzt, verlor alle öffentlichen Positionen und wurde ins Exil gedrängt. Ab 1968 lebte und arbeitete er nacheinander in Israel, Dänemark, Westdeutschland und in den USA, aber seine beiden in der Emigration gedrehten Filme hatten keinen Erfolg, er wurde nirgends richtig heimisch, und 1980 nahm er sich in einem Hotel in Florida das Leben. Auch Toeplitz, ebenfalls Jude, kam unter Druck. Er verließ Polen erst 1972 und ließ sich in Australien nieder, wo er sich eine zweite akademische Karriere aufbaute und seine schon in den 50er Jahren begonnene sechsbändige Filmgeschichte vollendete.

1948 gründeten die Themersons Gaberbocchus Press, einen ambitionierten kleinen Verlag, der liebevoll gestaltete und handwerklich sorgfältig erstellte Bücher in kleiner Auflage herausbrachte (die ersten beiden Titel wurden sogar noch - natürlich in sehr kleiner Auflage - mit einer Handpresse in ihrer eigenen Wohnung gedruckt). Der Verlag wurde zum wichtigsten Lebensinhalt in ihrer zweiten Lebenshälfte. "Gaberbocchus" ist die latinisierte Version von "Jabberwocky" - Lewis Carrolls Onkel Hassard H. Dodgson hatte das bekannte Nonsensgedicht ins Lateinische übersetzt (wobei es noch mindestens zwei weitere lateinische Versionen gibt). Gaberbocchus Press existierte als unabhängiger Verlag bis 1979, und in diesen gut 30 Jahren erschienen darin 60 Bücher - neben Stefans Werken (Romane, Gedichte, Essays und theoretische Schriften) englische Übersetzungen von so illustren Autoren wie Kurt Schwitters (die Themersons hatten Schwitters 1944 kennengelernt und sich mit ihm befreundet), Alfred Jarry, Guillaume Apollinaire und Raymond Queneau, die oft in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Übersetzerin Barbara Wright entstanden. Auch Anatol Sterns "Europa" erschien bei Gaberbocchus, übersetzt von Stefan selbst zusammen mit dem Beat-Poeten (und Schwitters-Verehrer) Michael Horovitz, Aesop und Christian Dietrich Grabbe kamen zu Ehren, und Bertrand Russell veröffentlichte zwei Bücher bei Gaberbocchus (und er schrieb für Stefans in Südfrankreich begonnenen Roman "Professor Mmaa's Lecture" ein Vorwort). Mit zunehmendem Alter wurden die kinderlosen Themersons für etliche der von ihnen protegierten Autoren und Kümstler zu väterlichen bzw. mütterlichen Freunden. 1979 verkauften sie Gaberbocchus auf ihren eigenen Wunsch hin an den holländischen Verlag De Harmonie. - Ab 1958 betrieben die Themersons für einige Jahre den Gaberbocchus Common Room, eine Art Mischung aus Pub und Künstlersalon, in dem regelmäßig Treffen und Diskussionen von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern (darunter Bertrand Russell) stattfanden und auch (natürlich experimentelle) Filme gezeigt wurden.

Franciszka Themerson schuf nicht nur Gemälde und Zeichnungen, die regelmäßig in Ausstellungen gezeigt wurden, sondern auch viele Illustrationen für bei Gaberbocchus erschienene Bücher. Besonders angetan hatte es ihr Alfred Jarrys Ubu roi. Für die 1951 bei Gaberbocchus erschienene, von Barbara Wright übersetzte Fassung steuerte sie über 200 Illustrationen bei, sie schuf die Kostüme und das Bühnenbild für eine sehr erfolgreiche Produktion des Stücks an Michael Meschkes Stockholmer "Marionettentheater", und sie kreierte schließlich eine eigene Comic-Version, die aus 90 meterlangen Zeichnungen bestand. - Stefan und Franciszka Themerson starben beide 1988 in London, im Abstand von gut zwei Monaten.

Franciszkas Kreationen für Ubu roi in Stockholm
Von den in Polen zurückgebliebenen Mitgliedern von Stefans und Franciszkas jüdischen Familien hatte fast niemand Krieg und Holocaust überstanden. Aber Franciszkas 1933 geborene Nichte Jasia Reichardt hatte überlebt, und 1946 machten die Themersons sie ausfindig und holten sie zu sich nach London, um für sie zu sorgen. Jasia Reichardt wurde eine bekannte Kunstkritikerin und Ausstellungsgestalterin, die sich für zeitgenössische Kunstströmungen und vor allem für Computerkunst engagierte. Mit von ihr kuratierten Ausstellungen wie Between Poetry and Painting (1965) und Cybernetic Serendipity (1968) hat sie sich bleibende Verdienste erworben. Nach dem Tod der Themersons übernahm sie deren umfangreichen künstlerischen Nachlass und überführte ihn in eine Stiftung, die sie zusammen mit dem Künstler und Kunsthistoriker Nick Wadley verwaltete. Im Januar 2015 wurde das gesamte Archiv an die Polnische Nationalbibliothek übereignet, in Form von über 200 Kartons mit einem Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen nach Warschau gebracht und von der polnischen Kultusministerin persönlich in Empfang genommen.

Die verlorenen Filme der Themersons haben bei manchen späteren Zeitgenossen die Fantasie angeregt und den Wunsch nach einer "Rekonstruktion" geweckt. Der 1956 in Łódź geborene Piotr Zarębski versuchte sich 1988 an einer Rekonstruktion von EUROPA mit dem Titel EUROPA II, wobei er sich auf erhaltene Standbilder aus dem Original, das Drehbuch und persönliche Informationen von Stefan Themerson stütze. Dieser gab Zarębski brieflich den Rat, sich nicht an einer engen Rekonstruktion, sondern lieber an einer freien Interpretation zu versuchen. Wie weit Zarębski diesen Rat befolgte, weiß ich nicht. - Und der 1957 geborene Amerikaner Bruce Checefsky legte 2001 bzw. 2008 Rekonstruktionen von APOTHEKE und MUSIKALISCHES MOMENT vor (Ausschnitte: 1, 2, 3), wobei er sich auf ähnliche Quellen stützte wie Zarębski. Wie nahe all diese Rekonstruktionen dem jeweiligen Original kommen, kann ich natürlich nicht beurteilen (und sonst vermutlich auch niemand mehr).

Animierte Credits im Stil der Themersons
2010 legte die junge Regisseurin Wiktoria Szymańska als ihren ersten Film die gut 70-minütige Doku THEMERSON & THEMERSON vor. Es gibt reichlich Archivmaterial zu sehen, und der englische Lebensabschnitt des Paars wird von etlichen Wegbegleitern erhellt, darunter Jasia Reichardt, Barbara Wright (die 2009 verstarb und somit gerade noch rechtzeitig interviewt wurde), Michael Horovitz (der es sich nicht nehmen ließ, ein Nies-Gedicht von Schwitters zu rezitieren) und die Malerin und Schriftstellerin Cozette de Charmoy, deren erstes Buch The True Life of Sweeney Todd bei Gaberbocchus verlegt wurde, sowie einige mehr. Durch diese persönlichen Sichtweisen entsteht ein informatives und warmherziges Portrait des eigenwilligen und leicht versponnenen Paars. Auch bei der formalen Gestaltung hat sich die Regisseurin Mühe gegeben, so sind etwa die animierten Credits im Stil von Franciszkas Zeichnungen und Stefans "semantischen Gedichten" gestaltet. - Die englische Firma LUX hat in Zusammenarbeit mit einem polnischen Kunstzentrum eine DVD mit den drei überlebenden Filmen der Themersons herausgebracht (im Gegensatz zur YouTube-Version hat DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES hier engl. Untertitel). Die Scheibe selbst enthält kein Bonusmaterial und somit nur ungefähr eine halbe Stunde Film, es gibt aber ein zweisprachiges (Englisch/Polnisch) Booklet mit ca. 40 engl. Seiten. Dieses Büchlein ist sehr infornativ und bildet eine der Quellen für diesen Artikel, verfügt allerdings über eine lausige Klebebindung - mir fliegen jetzt schon alle Seiten einzeln entgegen. Die DVD findet sich zumindest derzeit nicht bei den üblichen Online-Shops, kann aber direkt bei LUX bestellt werden.