Posts mit dem Label USA werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label USA werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 28. Januar 2018

„Gefühl ist die gefährlichste Schmuggelware“: Euphorien vom 17. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (Erster Teil)

Vorwort

„Du solltest unbedingt mal zu einem Hofbauer-Kongress kommen!“ – sagte mir ein Eskalierender Träumer im Sommer 2017 während des Terza Visione. Viel hatte ich über diese ominöse Veranstaltung gelesen, ich war mir nicht so sicher, ob das wirklich etwas für mich ist, aber meist schwankten die Eindrücke von Menschen, die darüber schrieben, irgendwo zwischen Euphorie und Ekstase. So ging es also für mich gegen Ende meines verlängerten Weihnachts- und Neujahr-Urlaubs in Richtung Nürnberg.
Um es vorweg zu nehmen: Ich kam, sah und jubilierte...


Prolog: „Morituri te salutant!“

Der Hofbauer-Kongress in seiner jetzigen Form widmet sich nicht nur dem abseitigen, unterschlagenen, verfemten Kino, sondern auch einem todgeweihten Modus der Filmvorführung, nämlich der 35mm-Projektion. Statt eines längeren Vortrags über den Tod des analogen Kinos gab es...

Donnerstag, 4. Januar, ca. 14.30 Uhr

CINEMA FUTURES
Regie: Michael Palm
Österreich / Indien / Norwegen / USA 2016 (DCP)
Das analoge Kino stirbt – oder wird es gestorben? Eine assoziative Spurensuche, unter anderem im Gespräch mit Filmemachern und Restaurateuren.
Am 14. August 2012 sah ich TED von Seth MacFarlane im Weimarer CineStar in einer 35mm-Kopie. Das war wahrscheinlich der letzte, aktuell gestartete Film, den ich in einem Multiplex-Kino auf echtem Film sah. Beim Programm-Kino dauerte das Verschwinden einen kleinen Tick länger: Danny Boyles TRANCE lief am 1. September 2013 im Weimarer Lichthaus noch in einer wunderschönen Kopie durch einen Filmprojektor. Das sind jetzt knapp über fünf bzw. vier Jahre her. Das ist eigentlich nichts, aber oft fühlt es sich wie vier bis fünf Jahrhunderte an.
CINEMA FUTURES erforscht unter anderem, was in diesem „halben Jahrtausend“ passiert ist. Als aggressiv-polemisch kann man seinen Duktus kaum bezeichnen, aber es ist schwer, nach der Sichtung des Films die Digitalisierung des Kinos nicht als Generalangriff großer Hollywood-Studios zu sehen, die ihre eigene Monopolstellung noch nachhaltiger festigen wollen (wobei „nachhaltig“ hier im Grunde das falsche Wort ist). Fünf „Jahrhunderte“ später müssen wir feststellen, dass Vielfalt in der Kinolandschaft verloren gegangen ist. Multiplexe werden immer mehr zu reinen Event-Veranstaltungen, Programmkinos immer mehr zu einem Ort, wo für Filme außerhalb des „Arthouse-Mainstreams“ kein Platz mehr ist. Die Bastionen, die gegen die Alles-oder-Nichts-Digitalisierung kämpfen, sind eher Ausnahmen zur Regel: Christopher Nolan, einer der Interviewpartner im Film, wehrt sich lautstark gegen das Verschwinden des Films. Er sei nicht gegen das digitale Kino, sondern für die Wahlfreiheit (mit seiner Prominenz kann er es sich natürlich „leisten“, seine Werke auf Film zu drehen).
Und dann das Sterben. Wir sehen in CINEMA FUTURES Eindrücke aus einem Restaurationswerk der Eastman Kodak Company. Manche Filme, die dorthin gelangen, werden „Pucks“ (wie die Dinger beim Hockeyspiel) genannt: man nimmt sie aus der Dose, kann mit einem Hammer draufschlagen, wie man möchte – sie bleiben fest, weil sie zu einer ultrakompakten Masse geworden sind. Bei einer anderen Dose zerfällt der Film hingegen schon nur beim Draufgucken. Der Restaurateur kippt die Brösel aus der Dose, wischt sie von der Tischkante nonchalant auf die Hand und dann ab damit in eine große blaue Tonne. Das sei eben Original-Negativ von Georges Méliès‘ LE JUIF ERRANT gewesen, erklärt er beiläufig. Auch das ein Teil seiner Arbeit: feststellen, dass ein Film unwiderruflich tot ist, und ihn dann sang- und klanglos „beerdigen“. Hinzu kommt dann noch ein großes moralisches Dilemma: jede Entscheidung zur Restaurierung eines Films sei zugleich auch ein Todesurteil für drei bis vier andere Filme.
Und dann der Verlust: die digitale Restaurierung ist auch stets eine ganz bestimmte Interpretation eines Films. Jeden „Dreck“ beseitigen? Was ist, wenn einiges vom „Dreck“ Teil des Negativs ist. „Saubermachen“ ohne Verluste? Ein kleiner Bildausschnitt mit Vorher-Nachher-Vergleich bei TAXI DRIVER zeigte, was eine übergründliche digitale Restauration auch anstellen kann: die Konturen des Taxis verschwinden, Robert De Niros Gesicht wird hinter der Windschutzscheibe unkenntlich.
(No) CINEMA FUTURES? Der Film stimmt auf jeden Fall pessimistisch. In den kommenden Jahren müssen wir befürchten, dass unzählige Filme sterben werden. Ganz gleich, ob sie analog sind (und aufgrund der „Jahrhunderte alten“ Technik nicht mehr angefasst werden) oder digital – und dann nicht mehr lesbar sind, weil digitale Technik für Standardisierungsprobleme anfällig ist und Aberdutzende Updates am laufenden Band (pun slightly intended) braucht.
Beim Hofbauer-Kongress wie auch bei anderen Festivals zeigt sich: 35mm-Kino stirbt nicht aus. Nicht komplett. Zumindest noch nicht. Das ist positiv und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: mehrere Dutzende Leute treffen sich in Nürnberg, um verfemtes Kino in mehr oder minder glanzvollen 35mm-Kopien zu schauen. Das geht gleichzeitig Hunderttausenden, ja gar Millionen – mit Verlaub – vollkommen am Arsch vorbei. Millionen, die sich nicht dafür interessieren, dass die Vielfalt des Kinos verloren geht, für die Filmgeschichte bis THE LORD OF THE RINGS reicht (wenn überhaupt!) und für die die „Zukunft des Films“ bedeutet, die nächste Staffel von THE WALKING DEAD oder von GAMES OF THRONES zu schauen oder die supertolle neue „Qualitätsserie“, die nächste Woche bei Netflix oder Amazon Prime anläuft – wobei nach „Gebrauch“ das Gesehene „gespoilt“, also verdorben ist und daher weggeworfen gehört. Was man mit „Restaurierung/Bewahrung/Pflege alter Filme“, meint, dürfte ein imaginärer Außerirdischer oftmals sogar besser verstehen als manch ein Mitmensch.
Ein Film lebt erst dann, wenn er Zuschauer hat – so eine französische Befragte im Film (war es Nicole Brenez?). Für die Dauer des Hofbauer-Kongresses wurde der bittere Nachgeschmack von CINEMA FUTURES jedenfalls von einer ungeheuren Lebendigkeit, von einer frischen (wenn auch manchmal leider essig-aromatischen) Brise analogen Kinos weggeweht.



Ernst Hofbauer und seine wackeren Gefährten


ca. 17.30 Uhr

DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN
Regie: Ernst Hofbauer
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1965
CIA-Agent Mike Scott (Stewart Granger) ermittelt in Hongkong im Fall eines ermordeten Kontaktagenten und soll dabei auch noch eine Schmugglerbande um Pierre Milot (Sieghardt Rupp) auffliegen lassen. Mehr oder weniger behilflich sind ihm dabei die Agentin Carol (ausgesprochen: Kähroll – Rosanna Schiaffino) und der trinkfreudige Smoky (Harald Juhnke). Doch Achtung! Ein äußerst tödlicher Killer mit stets gut angefeuchteter linker Geheimratsecke (Horst Frank) ist Mike auf den Fersen.
Eine große Ansammlung vieler kleiner Freuden kann sehr viel Glück bereiten! Im Programmheft wurde DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN als eher untypischer Hofbauer-Film angekündigt. Wer bin ich, um den Hofbauer-Kommandanten zu widersprechen – mir ist aber dennoch eine starke strukturelle Ähnlichkeit aufgefallen zu seinem früheren TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MISTER X (den ich hier schon besprochen habe): das fadenscheinige Drehbuch nutzt Hofbauer als Grundlage für eine detailverliebte Ode an kleine Verrücktheiten. Pure Kinofreude! Noch jede so triviale Szene wird mit einem kleinen Einfall, einer schönen Idee, einem hingereimten Witz, einer verblüffenden Irritation, einer poetischen visuellen Komposition angereichert. In anderen Filmen stehen Figuren klotzig herum und wickeln einen Expositionsdialog nach dem anderen ab und im Gespräch mit anderen Zuschauern erfuhr ich später, dass deutsche Hongkong-Filme teils nervenzerfetzende (oder im Kongress-Jargon: stählerne) Geduldsproben sein können. Hier gibt es allerdings in jeder Szene, in praktisch jedem Bild irgendetwas Denkwürdiges.
Wie viele Agentenhelden werden beim völlig selbstvergessenen Spiel mit einer Modelleisenbahn in den Film eingeführt? Stewart Granger, mit Zigarettenspitze im Mund, im Bademantel, rangiert zwei Züge aus verschiedenen Richtungen in seinen Zielbahnhof – der eine trägt ein Whisky-Fläschchen, der andere eine kleine Flasche Sodawasser in einem Waggon. Als er sich gerade seinen Drink daraus mixt, wird er unterbrochen von einem Anruf und ist davon sichtlich nicht begeistert. Mike Scott ist im Urlaub, muss diesen abbrechen und sein Unmut darüber zieht sich durch den ganzen Film: immer wieder merkt man ihm an, dass er gerade keine Lust auf seine Arbeit hat und sich lieber an der Figur seiner Agenten-Kollegin Carol oder an einem steifen Drink ergötzen möchte. „Und was machen Sie eigentlich in der Zwischenzeit?“ fragt Smoky den CIA-Agenten, als dieser ihn mit einem Auftrag wegschickt. Er müsse sich erst einmal erholen und sich danach auf das nächste Anstehende vorbereiten... Alles klar!
Mike Scott und Smoky... Im Grunde das schönste Pärchen im ganzen Film. Smoky erfährt eine ebenso denkwürdige Einführung wie Mike: er sitzt bei einem Open-Air-Friseur und lässt sich gerade das Haar schamponieren. Als Mike ihn trifft und sogleich zum Partner-in-Anti-Crime machen möchte, fackelt Smoky nicht lange rum. Das Haar wird gar nicht erst ausgewaschen, sondern notdürftig mit einem Handtuch abgewedelt und mit schaumiger Igelfrisur chauffiert er Mike erst mal wohin. Mike und Smoky – aus dem Zwischenspiel der beiden zaubert Hofbauer eine Art kleine Sub-Screwball-Komödie innerhalb der Agentengeschichte. Da fliegen die One-Liner wie Pingpongbälle hin und her. Da entwickelt sich nach und nach eine beidseitige platonische Liebe. Als Smoky einmal draußen Schmiere steht und Carol in der Höhle des Löwen Mike ganz eindeutige Angebote macht, entscheidet sich der ergraute CIA-Agent dazu, Smoky warten zu lassen und sich die schöne Zeit mit Carol zu gönnen – allerdings musste er sich das erst einmal ganz gründlich überlegen. Mike und Smoky – Stewart Granger und Harald Juhnke zusammen zu bringen war aber auch echt ein toller Besetzungscoup!
DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN explodiert vor Freude an lauter Kleinigkeiten. Ein Scherge, der sich als blinder Bettler tarnt und dann kurz vor dem Attentat eine Pistole aus seinem Blindenstock holt. Milot, der im Gespräch mit seinem Killer Nummer 1 ein Flaschenbier in der Hand hält und die Flasche hört einfach nicht auf, Schaum zu sprudeln, so sehr Sieghardt Rupp ihn auch immer wieder irritiert wegwischt. Horst Frank, so brutal charismatisch wie eh und je, der immer wieder einen Finger anleckt und sich dann die linke Geheimratsecke kurz massiert. In einer Nachtsequenz ist er einmal nur als tiefschwarze  Silhouette zu sehen – aufmerksame Zuschauer erkennen in den sich bewegenden Umrissen, dass er sich gerade wieder die Geheimratsecke anfeuchtet.
Natürlich ist DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN ein James-Bond-Film-Abklatsch, mit einem leicht altherrenschmierigen Granger als 007-Verschnitt (er ist 26 Jahre älter als seine Filmpartnerin – den Altersunterschied und die Altherrenschmierigkeit hat Roger Moore später bei seinem letzten 007-Auftritt in A VIEW TO A KILL allerdings noch getoppt). Manchmal ist der Abklatsch, die Kopie, der Verschnitt oder wie man es auch nennen möchte, besser als das zeitgenössische Original. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass ich die Bond-Filme Terence Youngs sehr mäßig bis unerträglich finde, sondern auch damit, dass DAS GEHEIMNIS DER DREI DSCHUNKEN einfach rasanter, unterhaltsamer, überraschender, verblüffender und lustiger ist. Und im Grunde mit seiner stets sicheren, flüssigen und eleganten Kameraführung auch besser aussieht. Mit Riz Ortolani als Komponisten gibt es dabei auch immer etwas schönes für die Ohren.


ca. 21.00 Uhr

IMMER WENN ES NACHT WIRD
Regie: Hans D. Bove
Bundesrepublik Deutschland 1961
Bobby (Jan Hendriks), der Sohn eines renommierten Arztes, führt ein ausschweifendes Leben voller rauschhafter Partynächte. Dabei steckt er sich mit Syphilis an und reicht die Krankheit prompt weiter, unter anderem an die Gelegenheitsprostituierte Elke (Hannelore Elsner) sowie an die feierwütige Kitty. Das Melodrama zieht immer mehr Kreise und involviert schließlich den Assistenzarzt Harald (der am Anfang auch Kittys Verlobter ist) und die Assistenzärztin Karin.
„Ein miserabler Film, dilettantisch in seiner Machart“ – so urteilt das immer wieder im negativen Sinne zuverlässige Lexikon des internationalen Films. Das ist natürlich vollkommener Humbug, denn auch wenn IMMER WENN ES NACHT WIRD mich nicht zu Begeisterungsstürmen animiert hat, so ist er doch ganz offensichtlich ein extrem minutiös inszenierter Film mit einem meisterhaft umgesetzten Drehbuch.
Die Inhaltsangabe eben ist wesentlich geradliniger, als der Film es eigentlich hergibt. Es gibt so gut wie kaum Exposition: jede Figur wird in media res präsentiert, und zwar wirklich immer genau da, wo sie sich befindet. Wir sehen die Menschen zuerst, und während der Film läuft, lernen wir sie, ihren sozialen Stand, ihre Beziehungen, ihre Probleme, ihre Gefühlswelt nach und nach kennen. Anzeichen von Wirkungen werden gezeigt, bevor man sich Ursachen überhaupt irgendwie zusammenreimen kann. So wirkt IMMER WENN ES NACHT WIRD unglaublich dicht und konzentriert, obwohl er dabei keiner konventionellen Erzähldramaturgie folgt (und im Grunde auch keine Hauptfigur hat).
Bobby ist, mit Verlaub, ein schmieriges, niederträchtiges Arschloch, der Frauen verführt und dann wegwirft. Er will natürlich die respektable Assistenzärztin Karin verführen, fährt sie nach einer der vielen Parties nach Hause und fingiert zwischendurch eine kleine Übelkeit am Steuer – so dass sie ihn zu seiner Wohnung fahren muss. Ein billiger Trick, bis wir schließlich merken, dass ihm tatsächlich übel ist (und das ist auch das erste Anzeichen dafür, dass er ernsthaft krank ist – ein gutes Drittel des Films ist da soweit ich mich erinnere schon vorbei). Aus dem Schmierbatzen wird so plötzlich ein bemitleidenswerter Mensch, der sich ehrlich in Karin verliebt hat und sich nach und nach nicht nur als verantwortungsloser Nichtsnutz, sondern auch als Opfer seiner Obsessionen und seines sozialen Standes erweist. Karin ist es schließlich, die Bobby allen Erwartungen widersprechend Avancen macht, aber er muss gewaltsam verzichten. Der aufrechte, ehrliche Harald, der zu Beginn als schwer arbeitender Assistenzarzt präsentiert wird, der im Gegensatz zu Bobby und seinen Party-Kumpanen mangels gut betuchten Elternhauses ein asketisches Leben führen muss, bekommt gleich zu Beginn Hörner von seiner Verlobten aufgesetzt. Ein klassischer Saubermann – der sich nach und nach als Heuchler erweist, mit einem ungeheuer aggressiven und sehr abstoßenden Besitzanspruch gegenüber Frauen: sei es seine Verlobte und dann Ex-Verlobte Kitty, sei es Karin, die er rasch für eine „Alternativ-Verlobung“ auserkoren hat. Die Avancen der jungen, sexuell vollkommen ausgehungerten Ehefrau seines Chefs ignoriert er aber... IMMER WENN ES NACHT WIRD ist ein schwieriger Film voller schwieriger Menschen.
Es ist auch ein Film über eine junge Frau, die der Enge ihres unterprivilegierten Elternhauses entflieht, sich durch Gelegenheitsprostitution ein kleines Zubrot gewinnen möchte, von einem desinteressierten Freier angesteckt wird und schließlich in ein Irrenhaus gesteckt wird, wo Frauen mit Geschlechtskrankheiten in der glänzend wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik entsorgt werden, um schließlich nach einem Selbstmordversuch elendig zu sterben. Elke ist nicht die Hauptfigur von IMMER WENN ES NACHT WIRD (der Film hat sowieso keine), aber sie ist vielleicht der Anker (?) des Geschehens. 15 Jahre nach Ende des Dritten Reichs jung sein, eine Frau sein, arm sein und dadurch zu einem nicht-respektablen „Lebenswandel“ gezwungen zu werden, das war nicht zum Feiern... Dabei wird in IMMER WENN ES NACHT WIRD viel gefeiert. Peer Tellmann, Sohn eines reichen Wurstfabrikanten (der nach dem Krieg sein Wurstimperium als Schmuggler und Schieber aufgebaut hat, wie man in einem kurzen Nebensatz erfährt) richtet regelmäßig große Parties, die zu später Stunde gerne zu Orgien werden, aus, zu denen möglichst viele hübsche Mädchen eingeladen werden, denen er dann beim Feiern stets auf etwas doppeldeutige Weise „Tellmann-Würstchen“ anbietet – die Buffetverköstigung besteht aus Bergen, gar riesigen Eimern von Würsten aus Papas Wurstfabrik.
IMMER WENN ES NACHT WIRD hat meine Wahrnehmung dessen, was ein Matching Cut sein und tun kann, für immer und ewig geändert. Während Elke nach einem Selbstmordversuch operiert wird, gibt es wieder eine Feier, für die Tellmann die Verköstigung arrangiert hat. Beide Stränge werden verschlungen. Die Operation wird immer dramatischer, die Feier immer ausgelassener und wilder. Schließlich sehen wir einen Eimer am Boden des Operationssaals, in den der Arzt blutige Tupfer hineinwirft. Schnitt zur Party, auf einen Eimer, aus dem die Würste herausquellen. Einer der härtesten Magenschläge, die es beim Kongress zu bekommen gab. Die absolut göttliche Geschmacklosigkeit dieses Schnitts steht außer Frage, seine Wirkung schmettert direkt in Leib und Seele. Das Abfeiern der gutbetuchten Wirtschaftswunder-Gewinner und das elendige Sterben der sozio-ökonomischen Außenseiter, die nicht dazu gehören – zusammengefasst in einer simplen Zusammenführung zweier unvergesslicher Bilder...

Hannelore Elsner war übrigens ein oder zwei Tage später im Nürnberger Filmhaus zu Gast, anlässlich der Edgar-Reitz-Retrospektive, die parallel zum Kongress lief. Letzteres war immer wieder ein Quell von kleinen Witzen unter den Kongressniki: ob vielleicht der eine oder andere Reitz-Zuschauer sich in den falschen Saal verirren würde, zu einem japanischen Erotikfilm, einem New Yorker Schwulenporno, Ulli Lommels delirierenden Altherren-Alpträumen? Zugleich sah das eine Plakat der Retro, nämlich zu CARDILLAC (siehe hier) aus, als würde der Film zum Hofbauer-Kongress gehören. Hinzu kamen, wenn wir vor einem Saal aufgrund der Programmverzögerungen der Retrospektive warteten, kleine Wortwitze hinzu („Da überreitzt jemand die Zeit“).
Ein Co-Kongress-Besucher kam mit Hannelore Elsner dann auch ins Gespräch, aber darüber kann er selbst natürlich besser berichten.


ca. 23.30 Uhr

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU („Angel Guts: Red Classroom“)
Regie: Sone Chusei
Japan 1979
Der Pornograf Tetsuro verliebt sich bei der Sichtung eines Vergewaltigungspornos in Nami, die „Hauptdarstellerin“ des Films (der tatsächlich nicht gespielt ist). Als er sie schließlich trifft, beginnt eine schwierige Liebe.
Der japanische Erotikfilm ist nichts, womit ich mich gut auskenne. Einige Blogger-Kollegen und Filmautoren schwärmen immer wieder von einem Genre, das gerade auch innerhalb der großen Filmstudios Platz bereit hielt für bilderstürmerischen Wahnsinn und eine völlig entfesselte Experimentierlust. Bei bislang zwei „klassischen“ Vertretern des Genres spürte ich nichts davon – bei TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU umso mehr.
Bereits der Anfang legt im Grunde alles vor, was den Film im weiteren Verlauf auszeichnen wird. Eine Frau wird in einem hässlichen, kalten Gebäude von Männern verfolgt, schließlich vergewaltigt. Das ganze ist in einem frostigen Blau gehalten, untermalt von einer kakophonischen elektronischen Musik. Dann plötzlich wird klar, dass das ein Film im Film ist: Männer sitzen in einem improvisierten, ungemütlichen Kinosaal und gucken sich, je nach Gesicht aufgegeilt oder völlig hypnotisiert, einen Vergewaltigungsporno an... TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ist voll von Männern, die auf fotografische oder filmische Aufnahmen von Frauen schauen; er spielt in einer kalten, abstoßenden, abwechselnd zugemüllten oder gähnend leeren Stadt; der Sex ist gewalttätig, chaotisch, roh, grotesk, oft dezidiert unsexy; die Gefühlsachterbahn wird von einer jeweilig passenden Farbdramaturgie und aufrüttelnden Bild- und Ton-Montage begleitet.
Einige unvergessliche Bilder... Die beiden liebenden Protagonisten unterhalten sich in einer langen, langen, unendlich langen statischen Sequenz über ihre Beziehung und das Leben. Sie sind als winzige Figürchen in einer Stadtlandschaft zu sehen, deren Lärm aus Straßenverkehr ihre Worte fast verschluckt.
Oder nachdem Tetsuro sein Date mit ihr verpasst, weil er verhaftet wurde und Nami nach Monaten Suche endlich in einer schäbigen Bar wiederfindet. Betrunken torkelt er hinein, versucht mit ihr zu reden, aber das hat keinen Sinn. Ton und Bild setzen immer wieder in kurzen, alles verzerrenden Reissschwenks aus. Communication Breakdown. (hier zu sehen).
Und natürlich diese furchterregende, qualvoll lange Sexszene. Nami, schwer enttäuscht, dass Tetsuro sie versetzt hat (nicht wissend, dass er verhaftet wurde), bandelt in einer Bar mit dem Erstbesten an. Es handelt sich offenbar um einen biederen, unangenehm betrunkenen Geschäftsmann und beide nehmen sich gleich ein Hotelzimmer. Einen Teil der ersten Sex-Runde zeigt der Film in horizontal rotierenden Spiegeln verzerrt. Das sieht auf der großen Leinwand, zumal TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU auch ein grandioser Cinemascope-Film ist, absolut verblüffend aus. Ein wenig später sehen wir einen vollkommen verzerrten POV von ihr auf ihren One-Night-Stand: es handelte sich wohl um Namis von Wahnsinn verzerrte Perspektive. Nach Vollzug ist der biedere Geschäftsmann erst mal müde, doch sie lässt nicht von ihm ab, zerrt ihn, der nach jeder weiteren Runde zunehmend erbarmungswürdiger versucht, wegzukriechen, immer wieder zurück. Groteske Bilder, bei denen das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt.
Und schlussendlich diese absolut niederschmetternde Erkenntnis bei Tetsuro und beim Zuschauer, als klar wird, dass Nami wohl den Verstand verloren hat: Tetsuro verspricht ihr ein neues Treffen, aber wozu braucht sie ein neues Treffen – sie wartet nach eigener Aussage immer noch auf ihn... Im Kern ist TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU ein rührendes Melodrama, eine herzzerreissende Romanze über zwei kaputte Menschen. Ein ganz großer, tragischer Liebesfilm.
Einen ziemlich guten Amateur-Trailer zu dem Film gibt es hier zu sehen.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU war der beste Film des Tages und eigentlich ein idealer Abschluss für einen ersten Festivaltag. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und einer sogar noch weiter fortgeschrittenen Müdigkeit ließ ich das darauf folgende „Überraschungsprogramm“ sausen. Das sollte ich sehr schwer bereuen, denn erstens konnte ich in meiner Unterkunft weit über zwei Stunden lang nicht einschlafen, zweitens gab es als Überraschung wohl eine digitalisierte VHS-Fassung des italienisch-türkischen Mafiafilm QUEI PARACUL... PI DI JOLANDO E MARGHERITO zu sehen, über den einige Kongressniki sich am nächsten Tag recht begeistert äußerten.


Freitag, 5. Januar, ca. 15.00 Uhr

Der zweite Tag beginnt mit dem traditionellen „StÜF“, dem „stählernen Überraschungsfilm“. Das italienische Genre-Kino, so Christoph in seiner wunderbaren Einführung, habe nur wenige Subgenres hervorgebracht, die derartig extrem waren wie...



... die Militärkomödie!

Mein Sitznachbar, im Gegensatz zu mir wahrscheinlich kein Hofbauer-Kongress-Neuling und sicherlich auch ein besserer Kenner dieses Subgenres, bricht stöhnend fast komplett zusammen, als er das hört, bleibt aber dennoch tapfer sitzen.
In der zweiten Reihe weiter vorne wird ein kleiner Glas-Flachmann zwecks Einölung des Humorzentrums im Gehirn rumgereicht, ein Zuschauer mit militärischem Amt lockert seine Uniform. Feuer frei für...


IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE („Der Divisionstrottel“)
Regie: Mariano Laurenti
Italien 1975
Feldwebel Pfeifenwichs (auf Italienisch „Rompiglioni“ – eine Abwandlung von „rompicoglioni, also in etwa: „Geht-auf-die-Eier“) erscheint eines schönen Morgens in einer NATO-Kaserne. Mit seinem fröhlich-grimassierenden Gemüt, seinem begnadeten Spürsinn zur Enttarnung von Spionen und seinem unverwechselbaren Talent, in jeder Situation stets die perfekten Worte zu finden, wird er bald zum großen „Liebling“ des Stützpunktes.
Nun ja... auf eine gewisse Weise muss man sich auf diesen Film einlassen. Wenn man die ersten zehn Minuten mit ihrem ultragroben, dämlichen Klamauk erst einmal so halbwegs überstanden hat – tja, dann kommt erst der richtige Härtetest in Form des Protagonisten Pfeifenwichs und der extremen Gesichtseskalationen seines Darstellers Franco Franchi (aus dem berühmten Komiker-Duo Franco & Ciccio – hier ohne Ciccio). Ab hier wird der Klamauk noch härter, erklimmt Gipfelstürme des Irrsinns. Da wird aus Versehen „Suppe“ aus dem Topf zum Auskochen der Bodenwischlappen probiert. Soldaten werden außerhalb des Stützpunktes bei Dates oder Schäferstündchen mit anderen (weiblichen) Soldaten verfolgt – und entpuppen sich dann als Vorgesetzte. Natürlich fliegen schlussendlich auch Torten in Gesichter und in einem chinesischen Restaurant bricht eine große Kungfu-Keilerei aus. Und zwischendrin Pfeifenwichs / Rompiglioni, der so schwer grimassierend wie auch vollkommen absolut überzeugt von sich selbst eine Katastrophe nach der anderen baut.
Am Ende haben die anderen Soldaten nicht nur die Schnauze, sondern auch noch wortwörtlich die Hose voll von Pfeifenwichs. Aus Versehen aktiviert der tollpatschige Feldwebel eine geheime Superwaffe, die der verrückte Wissenschaftler des Stützpunkts gebaut hat: eine Kanone, die hochgradig abführend wirkende Gasladungen abfeuert. Ob Mann oder Frau, General oder simpler Soldat, ob Italiener, Deutscher, Brite, Amerikaner oder Chinese: alle rennen wie um ihr Leben, um möglichst rasch irgendwo scheißen zu gehen... Das bringt das Faß zum Überlaufen, und Pfeifenwichs wird nach seiner Degradierung dann auch vom Stützpunkt verjagt.
IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE verbirgt durchaus, wie ich finde, eine dunkle Seite. Pfeifenwichs ist auf eine unangenehme Art ein Alltagsfaschist. Er ist ein Kriecher, ein Heuchler, ein bornierter Spießer, der keine Gelegenheit verstreichen lässt, um Personen, die in seinen Augen minderwertig sind (also hauptsächlich Frauen und rangniedrigere Soldaten), zu demütigen, belästigen, schikanieren und denunzieren. Bei einem seiner Angriffe gegen den Koch lässt er dessen Radio von zwei Militärpolizisten zerstören: sie beugen sich über den großen Gartopf, in dem das Gerät versteckt ist und schlagen es mit ihren Gewehrkolben kaputt. Der Aufbau der ganzen Szene ist witzig und grotesk, doch der Zerstörungsakt wirkt trotzdem bauchmäßig sehr unangenehm, fast ein wenig verstörend... Wäre IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE keine Komödie, läge eine vage Assoziation zum ersten Teil von FULL METAL JACKET in der Luft. Die zutiefst unsympathische Hauptfigur gibt Laurentis Film auch etwas unterschwellig Hartes.
Pfeifenwichs ist zudem auf völlig verblendete Art von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt. Er lebt in einer kleinen Blase „alternativer Fakten“, die er selbst erschafft. Aber auf eine gewisse Weise ist IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch eine wunderschöne Utopie, weil Pfeifenwichs aus praktisch jeglicher Situation stets als totaler Depp hervorgeht.
Stählern? Ein bisschen vielleicht im letzten Drittel, aber möglicherweise lag das an der Müdigkeit. Doch irgendwie mochte ich IL SERGENTE ROMPIGLIONI DIVENTA... CAPORALE auch. Die Frage, ob beim nächsten Terza Visione vielleicht auch eine Militärkomödie laufen wird, stelle ich mir fast ein wenig hoffnungsvoll – ich weiß bloß nicht, ob die Betonung auf „fast“ oder „hoffnungsvoll“ liegt...


ca. 17.30 Uhr

SANTA („Santa – Sklavin des Lasters“)
Regie: Norman Foster, Alfredo Gómez de la Vega
Mexiko 1943
Die junge Santa verliebt sich in einen Soldaten, der sie schwanger stehen lässt. Der darauf folgende Abstieg führt sie geradewegs in ein Bordell, wo der blinde Hauspianist sich in sie verliebt. Santa härtet sich ab, nimmt sich reiche Freier, bis sie schließlich mit einem beliebten Stierkämpfer anbandelt. Ihr sozialer Aufstieg ist perfekt – aber natürlich doch fragil...
Wenn man mich fragt: SANTA war weniger überraschend, dafür aber stählerner als IL SERGENTA ROMPIGLIONI DIVENTE... CAPORALE. Es hat nicht geholfen, dass die deutsche Synchro kaum weniger selbst-vertrashend als beim vorherigen Film war, was bei einem schmachtenden Melodrama noch weniger passt als bei einer Klamaukkomödie.
Mein Lieblingsmoment ist das Kennenlernen zwischen Santa und dem Stierkämpfer. Das Set ist ziemlich interessant aufgebaut, mit Logen im ersten Stock für die Edlen und einer Art Bankett im Erdgeschoss, für die Anhänger des Matadors. Santa diniert gerade mit ihrem reichen Freier, während man im unteren Hintergrund die Feierlichkeiten um den Stierkämpfer sieht. Dann steigt sie herab, so dass man ab jetzt die edlen Logen im oberen Hintergrund sieht. Nachdem sie sich zu dem feiernden Bankett hinzugesetzt hat, folgt dieser fast schon obszöne Austausch von Blicken zwischen ihr und dem Stierkämpfer. Eine Leidenschaftsbande, geknüpft durch zwei Paar gierige Augen.
SANTA ist gespickt mit brutalen Ellipsen, die erst einmal verblüffend sind, fast Ozu‘esk. Allerdings hängt das sicherlich damit zusammen, dass die deutsche Kinofassung, die gezeigt wurde, um über 15 Minuten gekürzt war. So wirkte SANTA ziemlich „ruckelig“, auf nicht immer angenehme Weise. Auch die ausgedehnten, schmalzigen Gebetsszenen, die immer wieder saudämlichen Dialoge (aber auch hier wieder: Synchonfassung), die mäßig begeisternde Hauptdarstellerin machten es mir schwer, in den Film reinzukommen.  SANTA ist definitiv der Kongress-Film, der mir am wenigsten gegeben hat. Als schlecht könnte ich ihn guten Gewissens nicht bezeichnen. Vielleicht muss ich ihm mal eine zweite Chance geben – in einer vollständigeren Fassung.

Es gibt wohl nichts, was mich auf den kommenden Film irgendwie hätte vorbereiten können...

ca. 21.00 Uhr

DER ZWEITE FRÜHLING
Regie: Ulli Lommel
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1975
Der Boulevard-Journalist Fox (Curd Jürgens) heiratet überstürzt die wesentlich jüngere Krankenschwester Gertrud (Irmgard Schönberg). Statt eines ersehnten „zweiten Frühlings“ wird die Ehe für beide Partner zunehmend zur Hölle.
Wahnsinn... Wahnsinn! WAHNSINN!!!
DER ZWEITE FRÜHLING ist einer der verrücktesten, verblüffendsten, poetischsten, schwierigsten und schmierigsten und schönsten Filme, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Die unglaubliche visuelle Kreativität, die schambefreite Lust an der Provokation, das „Beflecken“ des Melodramas mit bizarren, grotesken Störfaktoren, die ehrliche Offenheit für das Peinliche, das Unschöne, das Perfide, das Verdrängte (wobei vieles davon im Grunde alltäglich ist): das alles lässt DER ZWEITE FRÜHLING wie von einem anderen Planeten erscheinen, auch wenn es sich eigentlich „nur“ um ein Melodrama über eine entfremdete Ehe handelt.
Schon in den ersten Bildern ist ein leichtes, unbehagliches Vibrieren, das einen ungewöhnlichen Film ankündigt: eine geheime Hochzeit auf einem Hügel vor Rom, im Hintergrund ein Panorama der Ewigen Stadt und der Petersdom. Und schon hier ein Störfaktor: Bekannte des Bräutigams stoßen, sichtbar zu dessen großen Unmut, dazu. Nach der sexlosen und bettgetrennten Hochzeitsnacht besucht dann eine Ex-Geliebte Fox‘, Maria, das Ehepaar und steigt wenig später zu Getrud in die Badewanne, streichelt sich und dann auch die Braut nonchalant, spricht über Selbstbefriedigung. Als hätte der Film einen kleinen Sprung und wir wären gerade im falschen Film gelandet. Eine Täuschung: DER ZWEITE FRÜHLING ist der richtige Film.
Wer daran zweifelt, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn wir völlig ohne Vorwarnung die Sauna besuchen. Das Bild: Curd Jürgens liegt entspannt auf einer Sitzbank neben einem Freund, mit dem er sich unterhält. Er hat die Beine locker übereinander geschlagen und sein Handtuch ist etwas zu kurz: wahrscheinlich haben nur wenige internationale Schauspiel-Stars ein so derartig freies Sichtfeld auf ihren Damm präsentiert. Ein bisschen weiter saunieren eine junge Dame und zwei junge Herren. Sie wird bald ihr Handtuch lüften, einem der beiden einen blasen und dann mit diesem oder dem anderen in aller Öffentlichkeit Sex haben. Fox‘ Freund erregt dieser Anblick in jeglicher Hinsicht. Er ist gleichermaßen geil und empört, äußert seinen Wunsch, der jungen Dame mal hinten einen reinzustecken. Leicht genervt hat sich Fox wieder in eine Sitzposition gebracht, antwortet sinngemäß „Dann geh doch hin und sag ihr das!“. Und dann kratzt er sich die Eier – mehr als ein Jucken scheint das eher eine totale Gleichgültigkeit auszudrücken. Da sein Freund den Rat nicht beherzigen will, geht Fox eben selbst als Bote zu der jungen Frau und sagt ihr in paraphrasierten Worten den Wunsch seines Freundes. „Warum nicht, aber erst will ich seinen Schwanz sehen!“. Gleichgültig kehrt Fox zu seinem Platz zurück – währenddessen ist sein kurzes Handtuch wieder etwas hochgerutscht und nonchalant kratzt er sich am entblössten Hintern. Dass die Dame bei einer zufrieden stellenden Gliedbetrachtung eventuell bereit wäre, seinen Wunsch zu erfüllen, glaubt der Freund gar nicht. „Vielleicht ein paar Scheine...“ – aber nein, das fände er sehr verwerflich, dafür zu bezahlen. Fox blickt die ganze Zeit so, als müsse er sich weiter irgendwo kratzen. Gegen geballte Heuchelei kann ein Kratzen an manchen Stellen mehr Erleichterung verschaffen als es jegliche moralische Predigt könnte...
Fox sitzt dabei aber eigentlich auch selbst im Glashaus. So verzichtsvoll die Hochzeitsnacht, so sehr tobt sich der sich selbst für geläutert haltende Don Juan mit seinem Überraschungsbesuch Maria aus. Das geschieht in Abwesenheit seiner Gattin, doch beide treiben es im Wohnzimmer so wild, dass sie irgendwann vor Müdigkeit wegnicken. Als Getrud nach Hause kommt, findet sie beide schlafend in, na ja, eindeutiger Position wieder: beide splitternackt auf einem Sofa, er über die Armlehne geknickt, mit seinem Kopf zwischen Marias Beinen (dieses unvergessliche Tableau gibt es – allerdings nicht in glorreichem Cinemascope – hier zu sehen). Schon nur für die Mischung aus Mut, Entschlossenheit und einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber seinem „guten Ruf“ als Weltstar, die Curd Jürgens in DER ZWEITE FRÜHLING an den Tag legt, sollte man ehrfürchtig auf die Knie fallen. Ganz nach dem Motto: was Marlon Brando kann, kann ich besser und härter.
Das sind natürlich die ganz großen Schmier-Highlights des Films (na gut: ein Partnertausch, der ziemlich in die Hose geht, kommt gegen Ende noch dazu), aber DER ZWEITE FRÜHLING ist noch viel, viel großartiger: randvoll mit kleinen Irritationen und tollen Einfällen. Das extrem auffällige Kreuz, das Curd Jürgens an einer etwas zu langen Kette trägt (welches Kreuz muss Fox denn tragen?). Das Foyer oder Wohnzimmer mit dem riesigen Gemälde „großer“ Männer in Kampfrüstung, vor das sich Fox wahlweise alleine oder mit seiner riesigen Tigerdogge platziert (ich habe leider auf die Schnelle nicht erkennt, ob da reelle Persönlichkeiten portraitiert sind). Oder das Ende eines Gesprächs zwischen den beiden entfremdeten Eheleuten, gefilmt durch ein Aquarium: Jürgens geht eine Treppe hinunter, die parallel zum Aquarium steht und so sieht es aus, als würde er nach und nach in den Boden des Aquariums versinken – und dann schwimmt noch ein Fisch durch das Bild und Schönbergs Busen. Eine Jagd auf dem Land: Gertrud, die beim Anblick eines kleinen Schnitts im Finger vorher noch ohnmächtig wurde, knallt mit einem gezielten Schuss gnadenlos einen Fasan ab (LA RÈGLE DU JEU lässt grüßen). Fox, der in seinem schnittigen Cabrio nach Hause kommt, das Zellophan von einem Rosenstrauss abwickelt, kurz zögert und dann auf die Rückbank legt (im Gegensatz zum Zuschauer nicht ahnend, dass seine Frau gerade seinen lieben Hund kaltblütig ermordet hat). Fox, mittlerweile aus seiner Villa ausgezogen und in einem Herbergszimmer, einer „Künstlerbude“ wohnend, im Gespräch mit seiner Noch-Ehefrau – und plötzlich wird das Fenster durch den Wind aufgestoßen, und der Wind bläst einen Kerzenleuchter aus: das Feuer dieser Ehe ist definitiv ausgegangen...
DER ZWEITE FRÜHLING thematisiert unterschwellig wie auch manch anderer Kongressfilm, wie Beziehungen zwischen Mann und Frau an unterschiedlichen Erwartungen scheitern, ja zum Scheitern verurteilt sind. Fox will eigentlich überhaupt keinen „zweiten Frühling“: was er möchte, ist im Grunde ein „letzter Herbst“. In Rente gehen, das, was er früher mal gemacht hat, nämlich literarisch zu schreiben, als Hobby betreiben: seine Frau soll dazu nur eine Zeugin sein. Immer wieder verspricht er ihr, dass sie bald Rom verlassen und nach Amerika gehen werden, wo er dann seine ganze Zeit ihr widmen kann. Das erscheint ihm als eine derartig großartige Idee, dass ihm gar nicht auffällt, wie Gertruds Gesicht sich bei diesem vergifteten „Versprechen“ jedes Mal verdunkelt. Sie erwartet etwas anderes vom Leben, als nur die stumme und selbstgenügsame Zeugin eines Rentners zu sein. Mal wirklich miteinander sprechen, diese Gelegenheit lassen bei einer unvergesslichen Bootstour auf sein Bestreben hin verstreichen. Am Ende des Films, wenn Getrud auf einer langen Treppe steht, im Hintergrund eine von Eddie Constantine angeführte Band, tanzende Bekannte auf den Stufen, der Blick frei auf ein Stadtpanorama – da gehört der „zweite Frühling“ nach einem missglückten „Herbst“ vielleicht endlich ihr...

Die Kopie, die ein Eskalierender Träumer durch Zufall bei einem Filmsammler gefunden hat, war wunderschön, in strahlenden Technicolor-Farben, original gepresst im Technicolor-Werk Rom, mit knackig scharfem Bild, in glorreichem Cinemascope, aber das wird leider nicht dauern: sie ist bereits in einem frühen Stadium des Essig-Syndroms. Da von dem Film, der wie so einige Filme beim Kongress ein waschechter „film maudit“ ist, wohl leider nicht an jeder Ecke eine Kopie lauert, kann ich nur sagen: wenn es eine Crowdfunding-Kampagne à la „Rettet Curd Jürgens‘ Arsch“ gäbe – ich würde sofort spenden. Ich war nicht der einzige Kongressnik, der diese Idee hatte...

Nach dem Ende des Films, die Credits sind, soweit ich mich richtig erinnere, eben weiß auf rotem Hintergrund zu Stelvio Ciprianis grandiosem Score hochgerollt, bin ich in einem völlig jenseitigen Zustand. Irgendwo zwischen vollkommen euphorie-besoffen, leicht high und so sehr wie noch nie bereit, die Welt zu erobern. Ich schwebe geradezu. Über den Highness-Grad der anderen Zuschauer müsste ich spekulieren. Ein Eskalierender Träumer, langjähriger Veteran des Hofbauer-Kongresses, nennt DER ZWEITE FRÜHLING bei einem Gespräch vor dem Kinosaal den zweitbesten aller bisherigen Kongress-Filme und spricht glaube ich auch von der Schwierigkeit, jetzt wieder „runterzukommen“. Nun denn... Zum Runterkommen gab es:


ca. 23.30 Uhr

KARUSSELL
Regie: Alwin Elling
Deutschland 1937
Erika liebt Fritz und Fritz liebt Erika (Marika Rökk). Einer Ehe steht also nichts im Weg? Doch: Theodor Huhn (Paul Henckels), seines Zeichens gleichermaßen Antiquar sowie Fritz‘ Onkel, Vorgesetzter und Erziehungsberechtigter, hält nichts von einer potentiellen ehelichen Verbindung seines Neffen. Während Fritz sich ergeben würde, heckt Erika einen Plan aus: mit anderen Männern flirten, bis Fritz aus Eifersucht erst recht heiraten will. Notfalls bandelt Erika sogar mit „Hühnchen“ höchstpersönlich an.
Nach DER ZWEITE FRÜHLING hatte es KARUSSELL zugegeben sehr, sehr schwer. Eine Screwball-Komödie, der es meiner Meinung nach in der Gesamtansicht etwas an Schwung und Spritzigkeit fehlte, auch wenn einzelne Momente durchaus schön waren. Mein Favorit war dann auch das Treiben einer eigentlich ziemlich unwichtigen Figur. Eines Abends hat Erika, wie man in Neudeutsch sagen würde, ein Date mit einem Kunden von der Tankstelle, bei der sie arbeitet. Ein eifersüchtiger Fritz und der Koch, der so gerne mit viel Liebe Pudding für Erika kocht, seine Arbeitsstelle direkt neben Erika hat und wohl offensichtlich ein bisschen in sie verliebt ist, folgen den Spuren Erikas vom Rummel bis zu der Wohnung ihres Dates. Der Koch sammelt zwischendurch eine Puppe auf – ich glaube es ist ein Gewinn bei einer Schießbude, aber ich bin mir da nicht mehr sicher. Jedenfalls schleppt er bei der groß angelegten Suche nach Erika die Puppe mit sich. Dabei ist er leicht betrunken, aber das macht ja auch nichts. Er und Fritz (und die Puppe) kommen bei dem schmierigen reichen Typen an, der Erika völlig selbstlos ein hübsches Abendkleid anbietet und sie dann heimlich fotografiert, während sie es anzieht. Dort läuft gerade eine große Feier, und später kommt es zu einer schicksalhaften Mantelverwechslung in der Garderobe – aber das interessiert den Koch überhaupt nicht, weil seine Gedanken und seine Hände bei der Puppe verweilen. Auf einem Stuhl in der Garderobe erblickt er einen Teddy-Bären, setzt dann prompt die Puppe dazu und versucht die beiden zu verkuppeln. Das läuft alles nebenher, während die „eigentliche“ Handlung weiterspielt (Mantelverwechslung, wo ist Erika etc.?). Irgendwann wird Fritz klar, dass Erika verschwunden ist und so müssen er und der Koch wieder aufbrechen. Der Koch zögert nicht, sondern klaut den Teddy-Bären einfach, oder poetischer ausgedrückt: er nimmt den neuen Geliebten seiner Puppe mit...
Sehr anregend anzusehen war auch die „Elektrobehandlung“, die Onkel „Hühnchen“ aus Versehen bekommt. Der Gag wird so aufgebaut, dass man ihn schon eine brutale Elektroschock-Tortur erhalten sieht. Statt des äußerst „nervösen“ Herrn wird das aufgeregte „Hühnchen“ in das Behandlungszimmer geführt und bevor er irgendetwas tun kann, bekommt er bereits eine anregende Elektro-Massage: kleine elektrische Strömungen breiten sich über seinen Körper aus und das ganze ist offensichtlich sehr entspannend und angenehm. So etwas sollte man bei Filmfestivals auch anbieten: das wäre ideal für Zuschauer, deren Muskeln vom langen Sitzen in eher beengten Sitzen schon ganz verkrampft sind...

Sehr müde. Aber nach meiner Erfahrung der letzten Nacht bleibe ich noch zum Überraschungsfilm. Falls es dazu käme: Filme schlafend zu „sehen“ gehört zum Leben eines echten Filmsüchtigen mit dazu und das wäre allemal besser als mich in meiner Unterkunft schlaflos zu wälzen. Zumal wurde dann auch über einen Film gemunkelt, in dem alle Darsteller Bodybuilder seien...


ca. 02.00 Uhr

KILLING AMERICAN STYLE
Regie: Amir Shervan
USA / Kanada 1988 (digitalisierte VHS-Kopie)
Ein paar stark durchtrainierte Herren begehen einen Raubüberfall, werden geschnappt, brechen wieder aus und verschanzen sich im Haus einer Familie mit einem stark durchtrainierten Oberhaupt.
Der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding schrieb über zwei bestimmte Filme einmal, dass sie nicht „gemacht“ wirken, sondern vielmehr vielleicht schon immer da waren, nur von ihren Machern „geborgen“ wurden – über einen anderen schrieb er zu anderer Gelegenheit, er sei vielleicht in einer Paralleldimension gedreht worden und man könne sich nicht vorstellen, dass echte Menschen mit echten Leben oder gar einem Feierabend nach Dreh daran teilgenommen haben. Ausgehend von diesen Gedanken wäre KILLING AMERICAN STYLE, der so aussieht, als wäre er aus einer Paralleldimension geborgen worden, also irgendwo anzusiedeln zwischen RIO BRAVO, DIRTY HARRY und MUTANT HUNT. Mit dem ersten teilt er Grundzüge des Belagerungsszenarios, mit dem zweiten verbindet ihn die extralegale Lösung von Konflikten mithilfe großer Pistolen, mit dem dritten die Einblicke in visuellen Abgründe der 1980er Jahre.
Der gemeinsame Nenner dieser drei Filme dürfte zusätzlich auch sein, dass sie Vorstellungen davon, was ein „guter“ Film sei, völlig sprengen: RIO BRAVO und DIRTY HARRY sind in ihrer Großartigkeit völlig jenseits eines banalen Begriffs wie „gut“, MUTANT HUNT setzt denn Sinn jeglicher Kategorisierung mit Adjektiven ad absurdum. Auch KILLING AMERICAN STYLE ist kein „guter“ Film. Er, oder „es“ wirkt tatsächlich ein wenig wie aus einem Paralleluniversum: es gibt einen relativ geradlinigen Raubüberfall, und dann auch eine Fluchtszene und dann ein im Grunde archetypisches Belagerungsszenario. Alles vertraut und schon x-mal gesehen, und doch wirkt es irgendwie auch fremd.
Fremd durch die aufgepumpten Körper der Hauptdarsteller. Klar, Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger waren auch aufgepumpt – aber hier sind es gleich fünf Stück, ein Held und vier Antagonisten (einer davon allerdings verletzt und meist bettlägerig). Fremd durch die aufreizende Langsamkeit: lange Sexszenen, die extrem schmierig und durch die eher statische Inszenierung aber auch sehr trivial, banal wirken; oder auch diese merkwürdig langen Dialoge zwischen den Polizisten, die sich gegenseitig am Telefon grüßen und nachfragen, wie es eigentlich mit der Pferdezucht nach Feierabend so läuft (die Antwort: Pferdezucht ist out, die große Kohle gäbe es bei Hundezucht); und diese bis zum bitteren Ende durchexerzierte Befragung im Bordell, wo der seriöse Polizist so viele Fragen stellen kann, wie er nur möchte: er bekommt von den Damen nur weitere Anzüglichkeiten und erregende Doppeldeutigkeiten ins Ohr gehaucht. Fremd durch diese auffällige Ansammlung unfassbarer Modesünden: etwa diese nippelfreien Bodybuilder-Tanktops mit Spaghettiträgern, oder diese augenkrebsinduzierenden, lilafarbenen Ensembles aus Jogginghose mit Jacke und Goldkettchen – niemals zu vergessen sind auch diese unglaublichen Vokuhilas. Auch das ist KILLING AMERICAN STYLE: eine hymnische Ode an die ästhetisch zersetzende Kraft des Vokuhila in seinen grässlichsten und abgründigsten Formen. Der japanische Arzt, gespielt von einem Latino, kombiniert sein Exemplar mit einem pornösen Schnurrbart, doch den Vogel schießt ein junger Cop ab: wer so eine Frisur trägt, muss eine Dienstmarke und eine Knarre haben, sonst überlebt er nicht lange.
KILLING AMERICAN STYLE ist in seiner ganzen Laufzeit vollkommen frei von jeglicher Ironie: ein grimmiger Film, der es todernst meint. Er fährt seine Geschütze auf, als würde sich hier ein großes existenzielles Drama der Weltklasse abspielen, ein geniales Kammerspiel Shakespeare‘scher Dimension, und nicht ein No-Budget-Action-Shlock, in dem sich Bodybuilder mit merkwürdigen Frisuren und augenkrebserregenden Klamotten in gerade mal zwei bis drei Räumen und in spießigen Schrebergärtchen-Hinterhöfen gegenseitig die Rübe einschlagen. Diese Ironiefreiheit, dieser bitterer Ernst kommt ihm zugute. KILLING AMERICAN STYLE spielt auf eine erfrischende Art mit ehrlichen Karten.
Von „seriösen“ Zuschauern werden immer wieder schlechte Darsteller als Merkmal von solch „unseriösen“ Filmen erwähnt. Mit klassischer Schauspielerei hat das sicherlich überhaupt nichts zu tun, was Robert Z‘Dar, Harold Diamond und John Lynch hier abziehen, aber sie stehen wortwörtlich ihren Mann: Blöcke, wie aus Granit gehauen. Robert Z‘Dar ist natürlich eine Wucht. Z‘Dar litt an Cherubismus: eine Krankheit, die durch Auswucherungen des Kiefers das Gesicht verformt. Sein einzigartiges Gesicht ist auch der eigentliche Star des Films. Wer Z‘Dars natürliches Charisma verkennt, muss einfach bösartig sein – fast so bösartig wie die Figur Lynch, gespielt von John Lynch. Seine Muskeln sprechen für sich, aber sein Schnurrbart, sein fieses Lächeln und sein Tick, sich vor einer Vergewaltigung umständlich oberkörperfrei zu machen, treiben den Schmiergehalt von KILLING AMERICAN STYLE in ungeahnte Höhen: ein Mann, den man zu hassen liebt. Harold Diamond, der den belagerten Hausherren spielt, ist einem etwas breiteren Kreis von Filmliebhabern als Stockkampf-Gegner Rambos in RAMBO III bekannt. In KILLING AMERICAN STYLE ist seine Frisur genau so schmierig, seine Kleidung noch abscheulicher, aber er spielt eigentlich den „Guten“. Das wird zu einer echten Herausforderung, denn irgendwie fetzen Z‘Dar und Lynch mehr. Diamond – John Morgan (so der Filmname): der Mann, den man zu lieben hasst?
KILLING AMERICAN STYLE wurde als „Videoknüppel“ präsentiert: eine deutsche VHS, die für die Kinoprojektion so digitalisiert wurde, dass alle VHS-Artefakte „lebensecht“ zu sehen waren. Dem grindigen Charme des Films kam das zugute, aber die deutsche Synchro war aus rein technischer Sicht unter aller Kanone: wenn jemand sprach, wurde jeglicher Ambienteton sofort ausgeblendet, um dann wieder aufgeblendet zu werden, wenn geschwiegen wurde. Ich bezeichne deutsche Synchronisationfassungen ja gerne als „bebilderte Hörbücher“ – hier gingen Ton und Bild ganz besonders krass auseinander, wirkten manchmal so, als würden sie sich nicht im gleichen Kontext, nicht im gleichen Raum, nicht auf der gleichen Welt befinden. Der halluzinatorischen Wirkung des Films kam das irgendwie zugute, aber es machte ihn auch noch anstrengender. Die letzte halbe Stunde des Films war dann auch relativ hart durchzustehen, aber das hing auch damit zusammen, dass um 3.15 Uhr morgens meine Tagesform schon einen ganz massiven Schwund erlitten hatte... Nichtsdestotrotz: der zweitbeste Film des Tages!


Noch mehr Würste, noch mehr Engelsgedärme, noch mehr tragische Liebesgeschichten um kaputte Menschen, um Männer, die nicht mehr als ihre besitzergreifende Liebe zu vergeben haben und Frauen, die etwas mehr vom Leben erwarten, gab es auch in den zwei nächsten Tagen des Hofbauer-Kongresses. Mehr dazu hier in Kürze...

Sonntag, 3. Dezember 2017

Wiesbaden XXX – Eindrücke vom 30. exground Filmfest


Donnerstag, 23. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne


Vorfilm 1
youth-days-Trailer
Regie: diverse
Deutschland 2017
Die youth days, eine feste Rubrik des exground, vereint Filme über Jugendliche und/oder von Jugendlichen. Der Trailer dazu wurde von einem Kollektiv geflüchteter Jugendlicher aus Afghanistan, Pakistan, Somalia, Irak und Syrien gedreht, die bei der Vorführung auch anwesend waren. Es ist bisschen schade, dass es etwa zehn Minuten dauerte, bis sowohl Bild wie auch Ton funktionierten (und das auch noch gleichzeitig und synchron) – aber davon ließen sich die Macher nicht ihre gute Laune verderben. Der kurze Trailer, der die Daten der bisherigen youth days mit popartig verfremdeten Bildern der jeweiligen Plakate und grafischen Schriftspielereien präsentiert, haut einen nicht aus den Socken, aber es ist ja auch ein Amateurfilm, der zudem auch angenehm frisch und nicht so glattgebügelt wie der Hauptfestival-Trailer wirkte.


Vorfilm 2
MORSEN
Regie: Simon Spitzer, Jessyca R. Hauser
Österreich 2017, 6 Minuten
Zwei Mädchenmannschaften spielen die kanadische Sportart Lacrosse (so eine Art Hockey, wo man den Ball nicht schlägt, sondern ihn in einem am Ende des Stocks befestigten Korb trägt). Ein faires, aber auch hartes Spiel.
MORSEN ist wie ein Musikvideo inszeniert. Es wechseln sich Szenen auf dem Rasenspielplatz im Freien ab mit nachgespielten Momenten vor einem tiefen Schwarz – letztere sind besonders beeindruckend auf einer großen Leinwand. Die großen Pathosmomente eines Spiels, besonders wenn zwei Mädchen knüppelhart aneinandergeraten, werden in ausgedehnten, stilisierten Zeitlupen präsentiert. Jungs gibt es auch zu sehen, nämlich als Bläserkapelle, die den Mädchen einen deftigen, leicht Balkan-Beat-angehauchten Soundtrack zu ihren Bewegungen liefert.
Kurzweilig, gekonnt inszeniert, sehr schön.
Ich bin mir nicht sicher, ob möglicherweise das Team „integrativ“ ist, denn zwei Mädchen sahen so aus, als hätten sie Down-Syndrom. Der Film thematisiert das allerdings überhaupt nicht, was ich absolut bewundernswert fände (die sind im Team, und was anders zählt hier nicht).



Hauptfilm
WEIRDOS
Regie: Bruce McDonald
Kanada 2016, 84 Minuten
Nova Scotia am 3. Juli 1976. Die beiden Jugendlichen Kit und Alice reißen von Zuhause aus, um in Sydney (nicht die australische Metropole, sondern die Kleinstadt an der kanadischen Ostküste) eine Strandparty zu besuchen und einige Tage bei Kits Mutter zu verbringen. Für das Pärchen wird der Trip zu einem größeren und schwierigeren Abenteuer als gedacht.
WEIRDOS war in meinem Veranstaltungsplan als der Höhepunkt des ersten Tages vorgesehen. Die Erwartungen waren recht hoch, denn Bruce McDonald ist mir als der Regisseur des außergewöhnlichen PONTYPOOL bekannt, in dem ein Radiomoderator in seinem Studio nur über Funk Anzeichen einer Apokalypse bzw. einer durch „infizierte“ Worte ausgelöste Zombieseuche draußen wahrnimmt. Dieser recht einzigartige Film (als Orientierung könnte man sagen: eine Mischung aus Oliver Stones TALK RADIO und George Romeros DAY OF THE DEAD) hat die Messlatte vielleicht zu hoch gelegt. WEIRDOS war im Vergleich eine milde Enttäuschung.
McDonalds neuer Film ist ein Roadmovie in Cinemascope und Schwarzweiß. Ein Retro-Film sozusagen, der sich keineswegs nur auf seinem Post-1968-Feeling ausruht, sondern in vielerlei Hinsicht recht ambitioniert ist. Vielleicht zu ambitioniert. Road-Movie, Coming-Of-Age, Coming-Out, Generationen-Clash, Pop- und Undergroundkultur, 1968, seine Folgen und sein Katzenjammer – da kommt sehr vieles zusammen. WEIRDOS verbindet das ganze zu einer Ansammlung von kleinen Vignetten, die im einzelnen manchmal ganz reizvoll sein mögen, aber schlussendlich ein wenig beliebig und ohne Rhythmus erscheinen. Wenn Kit und ein Jugendlicher aus einer Gruppe von Bekannten, die die beiden trampenden Ausreisser mitgenommen haben, sich über sehnsüchtige Blicke langsam annähern, zeigen sich kleine Perlen visueller Erzählkraft. Wenn Kit einsam auf dem Sand liegt, im Hintergrund ein brennendes Feuer oder später eine aufgehende Sonne, erweist sich das Cinemascope als das richtige Format (in anderen Momenten erscheint er komplett beliebig). Wenn Kit Visionen davon hat, dass Andy Warhol ihm erscheint und ihm irgendwelche Tips für unterwegs gibt, wirkt die Komik allerdings etwas krampfhaft.
Das strahlende Licht von WEIRDOS ist allerdings ganz eindeutig die zwanzigjährige Julia Sarah Stone als Alice: frisch, keck, natürlich, charismatisch, aber geerdet – ein echter Star ohne oberflächliche Starallüren. Ihr Gesicht und ihre Mimik bilden eine ganz eigene, nonverbale Gefühlswelt. Der Film merkt das zwischendurch, verweilt manchmal wesentlich länger als dramaturgisch nötig auf ihrem Gesicht. Dass er sich zwingt, dann doch weiter zu erzählen, gehört zu seinen großen Schwächen. WEIRDOS wirkt daher auch sehr dissonant: das Drehbuch interessiert sich ganz offensichtlich mehr für Kit und das Drama seines Coming-Out und seiner schwierigen Beziehung zu seiner Mutter – doch das ganze Charisma des Films trägt die Figur Alice. Dylan Authors ist keineswegs schlecht als Kit, aber er spielt eben nur nach Drehbuch und verblasst gegenüber Stone.



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne

Internationaler Kurzfilm-Wettbewerb, Teil 1


THE DOCKWORKER‘S DREAM
Regie: Bill Morrison
Portugal / USA 2016 18 Minuten
Portugal in den 1920er, vielleicht auch 1910er Jahren: Einblicke in Häfen, Textil- und Papierfabriken, Straßenszenen und schließlich Safari-Aufnahmen aus Afrika (wahrscheinlich dem portugiesisch kolonisierten Teil).
Bill Morrison, über dessen Dokumentarfilm um die Bergung mehrerer Hunderter Filme im kanadischen Norden (DAWSON CITY: FROZEN TIME) Manfred hier kürzlich schrieb, präsentiert hier eine 18-minütige Collage, eine Art „Best-Of“ von dokumentarischen Stummfilmszenen, teilweise vielleicht Amateuraufnahmen, die er in portugiesischen Filmarchiven gefunden hat und die größtenteils aus den 1920er Jahren stammen dürften. Das ganze wird mit einer elektronischen Musik unterlegt, bei der sich die Interpreten ganz offensichtlich etwas gedacht haben: die präzise Montage der Ausschnitte erzeugt zusammen mit der Musik einen faszinierenden, hypnotischen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. THE DOCKWORKER‘S DREAM wirkt paradoxerweise gleichzeitig von einer archaischen Kraft und einer großen Modernität.
Bill Morrison ist voll und ganz Materialist und nimmt die Ausschnitte so, wie sie sind. Die Bildqualität der gezeigten Filme schwankt zwischen erstaunlich gut und so-la-la mittelmäßig, und an einigen Stellen ist die Zerstörung des Materials so weit, dass nur noch Schemen der Motive zu erkennen sind (woraus er in DECASIA einen ganzen Film machte). Was angesichts des Materials erstaunlich ist, ist die technische Gewandtheit: eine Szene in einer Textilfabrik (wahrscheinlich ein Industriefilm?) erforderte ganz offensichtlich einen sehr ausgeklügelten Dolly. Die Safari-Szenen sind noch beeindruckender: da hat sich ein Kameramann (nur ein Amateur?) tatsächlich teilweise aus halsbrecherisch schnell fahrenden Auto gelehnt und dabei die vorbeiflitzende Landschaft und galoppierende Tiere gefilmt.


SHEEPO
Regie: Ian Robertson
UK 2017, 4 Minuten
Ein Schafscherer erzählt von seinem Arbeitsalltag...
... klingt langweilig? SHEEPO ist kein Mini-Kitchen-Sink-Drama, sondern wird wie eine Art Actionfilm inszeniert, als würde hier nicht ein Mann mehrere Schafe scheren, sondern mit einem Rennwagen durch die Kurve fahren. Aus einer rasanten Montage der Bilder und des Tons wird der Rausch des Wettbewerbs um das schnellste Scheren, von dem der Protagonist erzählt, sichtbar und fühlbar gemacht.



HAMBRE („Hunger“)
Regie: Alejandro Montalvo
Mexiko 2017, 15 Minuten
Der Protagonist, der gerade Sex mit einer sehr dicken Frau hat und dabei stirbt, erzählt in Rückblende von seinem monotonen Leben als langweiliger, biederer Musterbeamter und Musterehemann, und davon, wie er an seinem 57. Geburtstag explodiert, all seiner Familie und Freunden unbequeme Wahrheiten auftischt und ausbricht.
Der Kurzfilmwettbewerb geht auf höchstem Niveau weiter. Die Erzählung in präzise kadrierten Tableaus erinnert zu Beginn ein wenig an Wes Andersons Stil, später kommt ein ätzender, schwarzer Humor hinzu, der irgendwo zwischen Chabrol und Chatiliez angesiedelt ist. Formal ist HAMBRE absolut vollendet. Das zeigt sich bei der großen Geburtstagsfeier, die mit fröhlichem Anstoßen und einer zunächst klassischen Ansprache des Erzählers beginnt, bis dieser abdriftet und zu einem allgemeinen verbalen Rundumschlag der Selbstanklage und Anklage ausholt und schließlich die verdatterten Familienangehörigen und Gäste sitzen lässt – der allmähliche Spannungsaufbau wird auch dadurch begünstigt, dass dies alles als eine einzige, fließende Plansequenz gefilmt ist.


IN A NUTSHELL
Regie: Fabio Friedli
Schweiz 2017, 6 Minuten
Gemüse, S-&-M-Kleidung, Bomben und ihre Bestandteile und überhaupt die ganze Welt hängen zusammen – eines geht in das andere über.
Ein experimenteller Spot-Motion-Film.
Zunächst dachte ich, dass der Macher der Bücher „Kunst aufräumen“ dahinter steht (der auch Schweizer ist): schließlich werden in IN A NUTSHELL auch Gegenstände einfach nur durch ihre systematische, „aufgeräumte“ Anordnung verfremdet, aber das hat sich dann doch als Täuschung erwiesen. Wer „Kunst aufräumen“ mochte, wird aber auch IN A NUTSHELL toll finden. Ich tat es.



ASFALT („Asphalt“)
Regie: Süleyman Demirel
Türkei 2016, 11 Minuten
Ein Mann und eine Frau sitzen im Taxi, scheinen sich aber nicht zu kennen. Durch einen Anruf kommt heraus, dass die Ehefrau des männlichen Gasts gerade eine Fehlgeburt erlitten hat. Später wird klar, dass der weibliche Taxigast besagte Frau ist.
Ein kurzes Kleinod in Cinemascope! In ausgedehnten Takes erzählt ASFALT nicht von Patriarchat, Familientragödien, Entfremdung in der Ehe, sondern behandelt diese Themen auf einer fast rein visuellen Ebene. Das Cinemascope-Format lässt nämlich sehr, sehr viel Platz zwischen den beiden Passagieren zu. Zwischendurch dreht sich die Kamera zum Fenster, drängt die Köpfe der Protagonisten an den Rand und blickt für etwa eine Minute hinaus: die Landschaft ist leicht verschwommen, weil der Schärfefokus auf die Wassertropfen am Fenster gesetzt ist. Später guckt die Kamera wieder aus dem Fenster und draußen ist mittlerweile der helle Wahnsinn ausgebrochen: in leicht verschwommenen Schemen erkennt man, wie ein Baum niederstürzt, ein Feldbrand beängstigende Ausmaße erreicht und Dutzende abgeschlachtete Kühe in großen Blutpfützen liegen. Familientragödie vermischt sich mit einer schaurigen, apokalyptischen Horror-Atmosphäre. ASFALT dauert nur 11 Minuten, ist aber dennoch großes Kino.


FATIMA MARIE TORRES AND THE INVASION OF SPACE SHUTTLE PINAS 25
Regie: Carlo Francisco Manatad
Philippinen 2016, 16 Minuten
Das philippinische Raumfahrtprogramm schickt zum ersten Mal Astronauten ins All. Das hat Auswirkungen auf das Leben eines älteren Ehepaars. Sie verzehrt sich geradezu vor Lust für ihren neuen Tanztrainer, findet es ganz normal, dass Sachen aus dem All auf ihre Terrasse fallen und hat einen Koffer, der beim Öffnen goldenes Licht ausstrahlt und furchterregende Geräusche macht (KISS ME DEADLY lässt grüßen). Er (der entfernt wie Mr. Miyagi aus THE KARATE KID aussieht) kann Messer schweben lassen, fällt aber zwischendurch auf der Straße in einen offenen Abwasserschacht hinein.
Die Langfilmfassung dieses merkwürdigen, surrealistischen Etwas würde ich mir wohl lieber nicht unbedingt antun wollen. Aber wenn er auch kein Highlight des Abends war: irgendwie mochte ich diesen Film doch ganz gut. Und dass man mit Weihnachtslichterketten nicht nur seine Fenster ausleuchten, sondern auch Schwung ins Ehebett bringen kann, ist doch auch gut zu wissen!


ALCLGLT
Regie: Nick Teplov
Deutschland 2017, 5 Minuten
Eine Art grafisch-elektronische Spurensuche nach der Ursprache der Menschheit.
Der Film beginnt mit einer Texttafel: der Mensch habe vor so und so vielen Jahren angefangen, Sprache zu entwickeln. Dann folgen verzerrte Film-, meist jedoch rein computergenerierte Bilder: ein ununterbrochener Fluss, der sich von rechts nach links bewegt (ein bisschen wie die Stargate-Sequenz von 2001: A SPACE ODYSSEY – bloß mit horizontaler statt vertikaler Bewegung). Dazu gibt es elektronische Musik, teils kakophonische elektronische Rückkoppelungsgeräusche. Ab und zu werden einige fremdartige Worte eingeblendet, die von einem Sprecher vorgelesen werden. Ich glaube, wenn man den Film in Dauerschleife spielen würde, könnte man ihn problemlos als Videoinstallationskunst präsentieren, was ich tatsächlich nicht negativ meine (dem restlichen Publikum schien er aber mehrheitlich nicht zu gefallen). Der Versuch, die Entstehung von Sprache in Urzeiten filmisch darzustellen, ist meiner Meinung nach gar nicht so schlecht gelungen. Trotz der elektronischen Mittel entwickelt der Film rasch eine sehr archaische Kraft: als hätte eine Kamera die Träume eines „Ur-Sprechers“ gefilmt.
Der Regisseur war anwesend und erzählte von dem, wenn man so will, wesentlich trivialeren Entstehungshintergrund. Bei einem Seminar an der Bauhaus-Uni Weimar kamen Dichter und Filmemacher zusammen, um Gedichte audiovisuell zu adaptieren. Nick Teplov visualisierte das Gedicht eines Kaukasiers, das in einer nahezu ausgestorbenen kaukasischen Bergsprache verfasst war.


DIE BRÜCKE ÜBER DEN FLUSS
Regie: Jadwiga Kowalska
Schweiz 2016, 6 Minuten
Ein Mann möchte wegen seines Herzschmerzes von einer Brücke springen. Eine Menschenansammlung auf einer etwas weiter flußaufwärts stehenden Brücke hält ihn durch Zurufen davon ab – und bringt sich selbst in Gefahr.
Ich bin zwiegespalten. Einerseits versprüht dieser animierte Film etwas, was man durchaus als visuelle Poesie bezeichnen könnte. Andererseits hat er etwas von einem nihilistischen Kneipenwitz mit bitterem Beigeschmack.



Freitag 24. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne

Vorfilm
ELASTIC RECURRENCE
Regie: Johan Rijpma
Niederlande 2017, 2 Minuten
Ein Porzellanteller wird fallen gelassen, zerbricht – und die Scherben wiederum entfalten sich zu immer längeren Ketten.
Ein schönes visuelles Gedicht.



Hauptfilm
120 BATTEMENTS PAR MINUTE
Regie: Robin Campillo
Frankreich 2017, 140 Minuten
Anfang der 1990er Jahre: Der Pariser Ableger von Act-Up inszeniert provokante Aktionen, um die politische und gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber AIDS zu bekämpfen und die pharmazeutische Forschung zur Freigabe von Ergebnissen zu bewegen.
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES war von mir als erwarteter Höhepunkt des Tages vorgesehen, aber auch heute kam es anders. Alleine wegen 120 BATTEMENTS PAR MINUTE hat sich meine Reise nach Wiesbaden gelohnt, auch wenn ich in den der ersten Dreiviertelstunde kaum Zeit hatte, das überhaupt zu merken. Mit einem furiosen Tempo stürzt Robin Campillo (selber ein ehemaliger Act-Up-Aktivist) den Zuschauer mitten in die hitzigen Debatten bei den wöchentlichen Meetings, in die aufrührerischen, teilweise eskalierenden Aktionen der Gruppe bei Vorträgen der staatlichen AIDS-Kommission oder in den Büroräumen eines Pharmakonzern, in die stroboskop-beleuchteten Nachtclubs, in denen die Aktivisten nach mehr oder minder gelungenen Aktionen tanzen und feiern.
Etwa zwei Dutzend Figuren werden dabei „nebenbei“ vorgestellt. 120 BATTEMENTS PAR MINUTE interessiert sich nicht für konventionelle Dramaturgie, ist vor allem ein radikal demokratischer Ensemble-Film. In der ersten Hälfte gibt es keine eigentliche Hauptfigur. Im weiteren Verlauf rücken Sean und Nathan etwas mehr in den Fokus: ersterer ein Aktivist, den man wohl dem „ultraradikalen“, eskalationsbereiten Flügel der Gruppe zurechnen könnte, letzterer ein HIV-negativer, eher schüchterner Mann, der Seans neuer Liebhaber wird. Dass die beiden in der zweiten Hälfte etwas mehr in den Mittelpunkt rücken, ist eher strukturell als wirklich dramaturgisch motiviert. Ihre Beziehung, die in einem anderen Film zum Tränendrüsendrücker ausgeschlachtet werden würde, wird zum Kristallisationspunkt der behandelten Themen. In den intimen Zweierszenen der beiden, ihren langen Gesprächen, geht es im Grunde immer um harte politische Fragen. „Das Private ist politisch“ und auch Seans Sterben und schließlich sein Tod gegen Ende des Films ist politisch. Kein Unfall, sondern ein Opfer von Gleichgültigkeit, von politischen Verzögerungstaktiken – auch wenn Sean selbst nach seinem Tod gleichgültigen Versicherungsvertretern ans Bein pinkelt bzw. ihr Essen verdirbt.
So dramaturgisch offen die Struktur, so groß ist die intellektuelle und emotionale Komplexität, die 120 BATTEMENTS PAR MINUTE seinen Zuschauern guten Gewissens zumutet. Die portraitierte Act-Up-Gruppe ist extrem heterogen: HIV-Positive und -Negative, junge, flamboyante linksradikale Schwulen-Aktivisten und unscheinbar, bieder-respektable Mittvierziger-Damen, Alpha-Männchen und stille Teenager. Den erbitterten Grabenkämpfen zwischen Radikalen und Pragmatikern zuzusehen, die auch noch durch ganz persönliche Animositäten genährt werden, ist bisweilen schmerzhaft – und in ihrer durchaus gerechten Sturheit wirken die Radikalen manchmal grenzwertig unsympathisch. In einer Schule, wo die Aktivisten Flyer verteilen: Lehrer, die ihnen Sexualisierung der Jugend vorwerfen, andere die ihnen gerne das freie Wort erteilen, weil die Sache so wichtig ist; Schüler, die bei der Erwähnung von Oralverkehr kichern, andere, die die Aktivisten wie Helden bewundernd anschauen und die nächsten, die sie als Tunten beschimpfen. Nathan erzählt zärtlich von einem vergangenen Geliebten – und davon, dass er sich weigerte, ihn im Krankenhaus zu besuchen, als er dort wahrscheinlich sterbend lag. Der unbändige Zorn der Act-Ups bei der Besetzung des Pharma-Konzerns betrifft zunächst ganz offensichtlich Personen, die mit der Medikamentenzulassungspolitik nichts zu tun haben. Seans Mutter, die den Aktivismus ihres Sohns wohl eher nolens volens tolerierte, verhandelt nach seinem Tod mit dessen Act-Up-Kollegen über die gerechte Verteilung seiner Asche. Kurz: Die Gesellschaft und die Gefühle, die 120 BATTEMENTS PAR MINUTE zeigt, sind gespalten und komplex. Der Film entscheidet sich dagegen, irgendetwas zu vereinfachen.
Robin Campillo hat nicht nur einen sehr demokratischen Film gedreht, sondern auch einen Film, der genauso zornig und bewegt ist wie die Aktivisten, die er portraitiert. Und es ist auch ein Film für das Leben – auch wenn einige der Protagonisten ihren eigenen frühen Tod bereits vor den Augen haben. Spielerische Debatten, lustvoller Sex, größenwahnsinniges Phantasieren über praktisch unrealisierbare Aktionen – 120 BATTEMENTS PAR MINUTE ist auch ein Film von unbändiger Lebensfreude. „Des molécules pour qu‘on s‘encule!“ (Moleküle, damit wir arschficken können) soll das Motto von Act Up bei einer Gay Pride werden – politisch und witzig, nicht resigniert und trist. Die ganze Seine soll blutrot gefärbt werden, so eine der überambitionierten Ideen für eine Aktion. Diese Phantasie kann das Kino (mit ein paar Computereffekten) realisieren. Dieses letzte Bild: vielleicht ein Traum von Seans Seele, dessen Asche in einer herzerwärmenden Szene zuvor von seinen Genossen auf das köstliche Partybüffet eines Pharmaunternehmens geschmissen wird (so etwas in der Art hatte Sean in seinem Testament gewünscht).
Die 120 Schläge pro Minute sind die schnellen Tanzbeats in der Feierabend-Disco; sie sind die Herzfrequenz, wenn man gerade illegal das Büro eines Pharmakonzerns betreten hat und ein Wasserballon mit Kunstblut auf das Logo an der Wand schmeißt; 120 BATTEMENTS PAR MINUTE läuft seit 30. November in einigen deutschen Kinos.



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne

COPA-LOCA
Regie: Christos Massalas
Griechenland 2017, 14 Minuten
Am griechischen Touristenort Copa-Loca ist außerhalb der Touristensaison im Sommer tote Hose. Um das auszugleichen, schläft Paulina gerne mit jedem Mann am Ort, der nicht bei drei auf den Bäumen ist und philosophiert mit ihnen über die Cocktail-Saisonkarte und über Dilemmata à la „Wenn du eine Deformation an der Hand hättest, was wäre dir lieber: vier oder sechs Finger?“
Gezwungen skurril. Irgendwie nicht meins.



SULUKULE MON AMOUR
Regie: Azra Deniz Okyay
Türkei 2016, 6 Minuten
Im Istanbuler Stadtteil Sulukule revoltieren zwei Mädchen gegen ihre patriarchalische Umgbung, indem sie in der Öffentlichkeit tanzen.
Die beiden Hauptfiguren werden dafür angefeindet, begafft, angepöbelt, von Sicherheitskräften vertrieben. Dass sie auch noch keine ethnische Türkinnen, sondern Romnja sind, ist dabei auch keine große Hilfe. SULUKULE MON AMOUR steht aber voll und ganz zu ihnen und in spektakulären Zeitlupenbildern, Untersichten und ausgesuchten Posen vor atemberaubenden Istanbul-Panoramen werden die beiden rein visuell zu verwegenen Heldinnen gemacht.



MANIVALD
Regie: Chintis Lundgren
Estland / Kroatien / Kanada 2017, 13 Minuten
Der 32-jährige, hochgebildete, aber offenbar arbeitslose Manivald lebt bei seiner überdominanten Mutter. Als die heimische Waschmaschine kaputt geht, kommt ein muskulöser, attraktiver Handwerker vorbei. Der lässt sich zunächst bereitwillig von Manivald verführen, schläft aber wenig später auch mit der Mutter. Eine Mutter-Sohn-Krise und ein lange überfälliger Auszug folgen...
...ach ja, und das ganze ist übrigens ein Animationsfilm mit anthropomorphen Füchsen als Figuren! Dass es so gut funktioniert, liegt wohl daran, dass MANIVALD das ganze ohne jegliche Selbstironie vollkommen ernsthaft durchzieht. Ein frecher, frischer und ganz un-jugendfreier Humor durchzieht diesen Film, der genauso als absurde Komödie funktioniert wie auch als kurzes Drama über ein verspätetes Coming-of-Age.


THREE STEPS
Regie: Ioseb Bliadze
Georgien / Deutschland, 19 Minuten
In einem Elendsvorort von Tiflis leben unter anderem Mariam und ihr Vater. Das junge Mädchen hat es da schwer: erste Perioden, latente Gewalt, patriarchalischer Irrsinn, Heuchelei und Väter, die ihre Töchter zum Diebstahl zwingen oder gar prostituieren.
THREE STEPS wurde von der Jury zum Gewinner des internationalen Kurzfilmwettbewerbs gekürt. Für mich persönlich ist dies angesichts der tollen Filme, die da liefen, eine völlig unverständliche Entscheidung. THREE STEPS mag zwar eine „realitätsnahe“ (man könnte auch sagen trostlose) Perspektive auf Elendsviertel bieten, aber diese Mischung aus demonstrativ ausgestellter „Problemorientierung“ und exploitativem (aber dennoch verklemmten) Voyeurismus sagt mir überhaupt nicht zu.



AYNY
Regie: Ahmad Saleh
Deutschland 2016, 11 Minuten
Irgendwo im Nahen Osten: zwei Brüder hören von ihrer Mutter ein Märchen. Wenn Häuser zerstört werden, wachsen Blumen nach, in denen sich wiederum neue Häuser befinden. Eine gute Gelegenheit für die beiden Kinder, diese mysteriöse Welt zu erforschen – doch in der Realität lauern viele Gefahren.
Ein sehr poetischer Stop-Motion-Film mit Puppen, der auf universelle Weise von den Schrecken des Krieges erzählt (auch wenn einem natürlich Syrien in den Sinn kommt). AYNY schafft mühelos den Balanceakt zwischen leiser Verträumtheit und einigen drastischen Bildern.



ORPHAN
Regie: Anna Isabell Matutina
Philippinen 2017, 3 Minuten
Ein kleines Mädchen erinnert sich daran, wie Todesschwadronen des gegenwärtigen philippinischen Präsidenten Duterte (im offiziellen Sprachgebrauch: War on Drugs) ihre Eltern bei einer Razzia hinrichteten.
ORPHAN ist auf eine gewisse Weise der krasse Ergänzungsfilm zu AYNY: ebenfalls ein Stop-Motion-Puppenfilm, der von kriegerischer Gewalt aus kindlicher Perspektive handelt. Wo AYNY poetisch-verträumt ist, wirkt ORPHAN absolut „krude“ (das meine ich analytisch, nicht wertend), wie ein harter Faustschlag in den Magen. Papa ist als Superheld-Spielzeugfigur zu sehen, Mama als Barbie-artige Puppe, der kleine Bruder ist eine wesentlich größere Baby-Figur als das erzählende Mädchen – die ersten beiden werden ohne Vorwarnung „erschossen“, Ketchup-Sauce wird auf die Körper und Gesichter der Puppen geschmiert, und fertig ist ein 3-minütiger Horrorfilm, der zugleich auch das Dokument realer politischer Gewalt aus der Jetzt-Zeit ist, aus einem Land, das im Westen gemeinhin als guter Partner gilt.
Anna Isabell Matutina war bei der Vorführung anwesend und sprach anschließend bei einem Q & A. Sie engagiert sich schon seit Jahren für Menschenrechte. Diesen Film hat sie auch dazu konzipiert, um das philippinische Publikum, dessen Mehrheit mit großer Begeisterung Dutarte gewählt hat und dessen Massaker ausdrücklich befürwortet, aufzurütteln – mit eher gemischten Ergebnissen, wie sie erzählte. ORPHAN darf gezeigt werden, wird aber meist sehr negativ rezipiert. Matutina selbst gilt in ihrem Land als staatsgefährdende Aufrührerin.



LES MISÉRABLES
Regie: Ladj Ly
Frankreich 2017, 16 Minuten
In einem Pariser Elendsvorort: drei Männer befinden sich auf Streifentour. Allmählich wird klar, dass sie Polizisten sind und keine Gangster. Der Neue in der Gruppe tötet bei einer Verhaftung einen jungen Mann und wird bei der Tat von der Drohne eines Teenagers gefilmt. Eine Jagd gegen die Zeit nach dem Besitzer der Drohne beginnt.
Der nächste Schlag in den Magen sitzt wieder und zwar auf ganz eigene Art und Weise. Während ein Teil der Berichterstattung die Probleme der „banlieues“ als kulturelles (heißt: ethnisches) Problem behandelt, sieht LES MISÉRABLES die „Problemvororte“ eher als Orte einer allumfassenden, systematischen Korruption, in denen eine repressiv auftretende Staatsgewalt und kriminell-mafiöse Strukturen nicht diametral gegenüber stehen, sondern eine unheilvolle Symbiose eingehen.
Polizist und Gangster als Spiegelbild – das ist ein total alter Hut, wird aber hier eben nicht als Genre-Stereotyp aufgepropft, sondern tatsächlich quasi als soziologisches Analysemittel genutzt. In den ersten fünf Minuten ist überhaupt nicht klar, wer die drei Männer sind, die in Zivilkleidung, in einem Zivilauto durch die Straßen fahren. Ihre Ausdrucksweise, ihre Verhaltensmuster, ihre demonstrativ ausgestellte Männlichkeit lässt zunächst an Gangster denken. Tatsächlich sind es aber richtige Polizisten, die besonders angesichts ihrer offensichtlich sehr begrenzten intellektuellen, professionellen, emotionalen und allgemein zwischenmenschlichen Kapazitäten mit viel zu viel Exekutivmacht ausgestattet sind – der Ausnahmezustand seit den Terroranschlägen im November 2015 sei Dank. Diese Vollmachten nutzen sie auch reichlich aus, um Passanten zu schikanieren, Teenager-Mädchen an Bushaltestellen sexuell zu belästigen, Verdächtige zu foltern oder sich großzügig „bavures“ zu leisten. Letzteres wird für das unheilvolle Polizeitrio nur durch die Videoaufnahme zum echten Problem. Mit dem inoffiziellen Bürgermeister der „cité“ (man könnte auch sagen: dem örtlichen Mafia-Chef) einigen sich die Polizisten schließlich auf einen kostengünstigen Deal, und zwar so rasch, dass einem kalt der Rücken herunter läuft.
LES MISÉRABLES, so sehr er auch als Diskussionsbeitrag über Polizeigewalt in Elendsviertel gesehen werden kann, ist aber vor allem auch ein ungemein spannender, mitreissender, zackig und effizient inszenierter kleiner Bad-Cop-Thriller. Großes Genre-Kino sozusagen – in knapp einer Viertelstunde!



SILENT LONDON
Regie: Ivelina Ivanova
UK 2017, 3 Minuten
Eindrücke aus dem Londoner Nachtleben...
SILENT LONDON ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen britischen Stummfilmblog, sondern zeigt Szenen der Londoner Straßen und des Nachtlebens in Aquarell-Skizzen. Das klingt banaler, als es ist, denn das Resultat sieht unglaublich gut aus. Das Luftige und Ätherische der Wassermalerei verwandelt den Film in eine Art impressionistisches Bewegtbild: zunächst auf weißem, dann auf schwarzem Hintergrund (letzteres machte auf der großen Leinwand richtig was her!).
Regisseurin Ivelina Ivanova erklärte beim Q & A, dass sie eigentlich einen klassischen Dokumentarfilm über das Londoner Musikclubsterben durch Gentrifizierung drehen wollte. Ihre Recherchemethode bestand zunächst darin, die noch bestehenden Clubs zu besuchen, wo sie allerdings lieber feierte als ernsthaft zu recherchieren. Bald verlor dann die Lust auf einen konventionellen Dokumentarfilm und drehte stattdessen mit ihrer liebsten künstlerischen Ausdrucksform (nämlich Aquarell) lieber dieses wunderschöne Kleinod.


XIAO CHENG ER YUE („A Gentle Night“)
Regie: Qiu Yang
China 2017, 15 Minuten
Ein Elternpaar vermisst in der Nacht zum neuen Jahr seine 13-jährige Tochter. Nach der Aufgabe der Vermisstenmeldung bei der Polizei streift die Frau alleine durch die Stadt auf der Suche nach der verlorenen Tochter.
XIAO CHENG ER YUE bietet in knapp einer Viertelstunde eine übersichtliche Darstellung all der Mittel, die man als „internationale Arthouse-Ästhetik“ bezeichnen könnte: fixe Tableaus, Leute, die wenig reden und ausdruckslos starren, keine intradiegetische Musik, ein bemüht „offenes“ Ende. Das ist in dieser zumal auch noch recht leblosen Form irgendwie ausgelutscht, oft ziemlich austauschbar. Nicht meins.


22.00 Uhr, Caligari Filmbühne


Vorfilm
MARTIEN
Regie: Maxime Pillonel
Schweiz 2016, 9 Minuten
Der taube Tankstellenangestellte Martien ruiniert wieder einmal einen Turm aus Energy-Drink-Dosen und wird gefeuert. Bevor er geht, wechselt er die Batterie seines Hörgeräts aus und merkt dabei (zunächst) nicht, dass die Tankstelle überfallen wird.
In seiner sehr geradlinigen Eskalationslogik ist MARTIEN etwas simpel gestrickt, aber das ganze wird so schnörkellos durchgezogen, dass es kurzweilig bleibt. Nett für zwischendurch.



Hauptfilm
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES
Regie: John Cameron Mitchell
UK / USA 2016, 102 Minuten
1977, im Londoner Stadtteil Croydon. Die Queen feiert ihr silbernes Thronjubiläum, die Punk-Jugend probt den Aufstand bzw. feiert auf ihre Weise. So auch Henry, der mit zwei Kumpels eines Nachts auf einer mysteriösen Party mit merkwürdigen Gästen landet. Handelt es sich um eine radikale, kannibalistische Selbstmörder-Sekte oder um Außerirdische, die die Erde erforschen? Zan, Angehörige dieser Sekte/Außerirdischengruppe, rebelliert gerade selbst gegen die ihren und schließt sich den jungen Punks an.
Slight auteurism disappointment no 2... John Cameron Mitchell ist mir als Regisseur von SHORTBUS bekant, diesem Ensemblefilm um einige frustrierte und depressive Menschen aller sexueller Orientierungen, die die Lösung ihrer Probleme in einem Swingerclub namens „Shortbus“ finden. SHORTBUS wurde berühmt-berüchtigt für seine expliziten, teils nicht-simulierten Sexszenen, ließ allerdings diesen „Tabubruch“ im Angesicht seiner humanistischen Perspektive und schieren Lebensfreude völlig vergessen. HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES war daher mein erwarteter Höhepunkt des Freitags und fiel dann vergleichweise mild enttäuschend aus.
Die radikal-demokratische Herangehensweise in SHORTBUS, wo jeder Charakter wichtig ist, weicht in HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES wieder klassischeren Gefilden, in denen viele Figuren eben auch reine Klischees sind und bleiben. Als Genre-Hybrid zwischen Retro-Punk-Komödie, Science-Fiction, Liebesfilm und Coming-of-Age hat der Film zwar durchaus seine Berechtigung, aber immer wieder wirkt der Film von seinem eigenen Drehbuch und seinen vielen, nicht immer ganz so originellen Einfällen gehetzt. Dadurch erscheint er gleichzeitig zu lang(wierig) und zu kurz. Ich hätte mir viel mehr ruhige, zweisame Momente mit Henry und Zan gewünscht. „Do more punk to me!“ fordert sie ihn am Anfang auf – viel davon kommt dann allerdings nicht. Die Liebe zwischen den beiden Figuren, also das eigentliche Herz des Films, bleibt stets mehr Behauptung als dass da wirklich eine Chemie fühlbar wäre. Am ehesten gibt es das in einer ausgedehnten, videoclip-artigen Szene, die man wohl als die „Stargate-Sequenz“ von HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES bezeichnen könnte.
Ansonsten huscht der Film von kleinen Einfällen, Plotpoints, uninteressanten Nebenfiguren zu den nächsten. Das Schild „Clapton‘s bin here“ auf Henrys Zimmermülleimer wird mir mehr im Gedächtnis bleiben als vieles andere. Als einer von Henrys Kumpels von einer Außerirdischen offenbar gefistet wird und sie sich dabei selbst klont, ist das eher wie ein Outtake von MR. BEAN gefilmt als wie „body horror“ à la Cronenberg und die „Ruckel-Zeitluppen“, mit denen der Film immer wieder arbeitet, sehen schlichtweg fürchterlich aus. Eine weitere maßgebliche Schwäche liegt meiner Meinung auch darin, dass die merkwürdige Gruppe rasch eindeutig als Außerirdische identifiziert werden: die Unsicherheit, dass es sich vielleicht um gehirngewaschene Mitglieder einer Selbstmord-Sekte handeln könnte, war wohl doch zu unbequem – zum Punk-Motto „No Future“ hätte das allerdings schmerzhaft treffend gepasst und dem Film auch eine weitaus größere emotionale Fallhöhe gegeben.
Allerdings muss ich auch zugeben, dass es spät war, und dass ich immer wieder große Mühe hatte, bei der reinen OV-Vorstellung dem extremen englischen Slang der Dialoge ohne Untertitel zu folgen. Gerade beim Epilog habe ich wortwörtlich kein einziges Wort verstanden und ich frage mich, wie dieser Film in den USA laufen wird. Und Nicole Kidman in ihrer, nennen wir sie mal „mittleren“ Karrierephase gefällt mir immer besser. Hier ist sie als eine Art Vivienne-Westwood-Wiedergängerin zu bewundern.



Samstag 25. November


17.30 Uhr, Caligari Filmbühne

Vorfilm
UND WAS SAGST DU...
Regie: Schülerkollektiv der Heinrich-von-Kleist-Schule Wiesbaden
Deutschland 2017, 13 Minuten
Einige Schüler der Heinricht-von-Kleist Schule in Wiesbaden werden zum Thema Mitbestimmung befragt.
Eindeutig eher ein pädagogisches als ein cineastisches Projekt.



Hauptfilm
ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW
Regie: Claus Withopf
Deutschland 2017, 80 Minuten
Ein Portrait der Punk-/Post-Punk-/New-Wave-/Spoken-Word-Sängerin, -Autorin und -Künstlerin Anne Clark – erzählt von ihr selbst und ihrer Musik.
Anne Clark war für mich eine vollkommene Neuentdeckung. Ich habe von ihr bisher noch niemals in meinem Leben gehört. Nach diesem Dokumentarfilm weiß ich allerdings, dass sie eine extrem interessante Künstlerin ist: einige der gezeigten/abgespielten Songs bzw. Auftritte fand ich sehr interessant, einiges war nicht so meins – ihr Werk ist jedenfalls so eigensinnig wie vielfältig. Außerdem ist sie ein sehr sympathischer Mensch und eine echte Humanistin.
Die Form dieses Dokumentarfilms hat sich mit zunehmender Laufzeit immer mehr als  interessant und erfrischend anders erwiesen. Es gibt wohl wenige Film-Genres, die ich so sehr verabscheue wie der abendfüllende Talking-Head-Dokumentarfilm. Tatsächlich war Anne Clark die einzige sprechende Protagonistin von ANNE CLARK – I‘LL WALK OUT INTO TOMORROW: Anne Clark spricht, Anne Clark singt, Anne Clark trägt ihre Lyrik vor, Anne Clark tritt beim Konzert auf – niemand sonst, der ständig dazwischen quasselt und selbstgefällig über sie spricht. Wenn Musik lief, gab es manchmal statt Anne Clark grafische Elemente zu sehen: Texteinblendungen der Songtexte bzw. Lyrik oder auch „impressionistische“ Naturbilder (aufgenommen mit einer 16mm-Kamera, wie ich beim Q & A erfuhr). Das war zunächst gewöhnungsbedürftig, doch schließlich stellte sich ein ganz eigener Rhythmus aus Anne Clark in verschiedenen Vortrags-Modi und visuellen „Impressionen“ ein.
Die Überraschung des Abends (die allerdings schon bei einer Vorführung am Vortag angekündigt worden war): Anne Clark erschien selbst zur Vorführung, zusammen mit dem Regisseur, vier Kamerapersonen sowie einer Schriftdesignerin. Einen der Kameramänner der Second Unit erkannte ich als einen Co-Zuschauer des diesjährigen Terza-Visione-Festivals, der bei fast allen Filmen anwesend war und bei DIABOLIK gar mein direkter Sitznachbar war. So klein ist die Welt!



20.00 Uhr, Caligari Filmbühne


ALBÜM
Regie: Mehmet Can Mertoğlu
Türkei / Frankreich / Rumänien 2016, 104 Minuten
Ein gutbürgerliches Ehepaar ist schwanger... Nun, nicht ganz: ihr Bauch ist eine Attrappe. Denn niemand darf erfahren, dass Cüneyt und Bahar eigentlich keine Kinder bekommen können und im Geheimen eine Adoption planen. Mit dem erfolgreich adoptierten Kind zieht das Paar schließlich in eine neue Stadt, wo ihn eine bessere Stellung erwartet, während sie den neuen Freunden stolz ihr Kind präsentieren kann. Mehrere Zwischenfälle bringen das „Projekt eigenes Kind“ aber in Gefahr...
ALBÜM ist Gift und Galle und absolut gnadenlos. Mit der Türkei kenn ich mich persönlich nicht so aus, aber das Portrait, das Mehmet Can Mertoğlu von dem kleinkarriert-spießigen Ehepaar zeichnet, das seine Kinder in der Öffentlichkeit aggressiv als Status- und Prestigesymbol präsentiert und hinter unter einem freundlichen Gebaren eine gärende, stinkende Brühe aus Klassendünkel, sozialer Geltungs- und Aufmerksamkeitssucht, Rassismus, Sexismus und purer Heuchelei deckelt – das ist durchaus sehr universell. Auf eine gewisse Weise könnte der Film genauso gut in Deutschland anno 2017 spielen: Kinder sind Kinder, syrische Flüchtlinge bleiben syrische Flüchtlinge, Kurden aus dem Osten können auch durch Polen aus dem Osten ersetzt werden – und was heißt „besorgte Bürger“ auf Türkisch?
Gefilmt ist ALBÜM größtenteils in statischen Tableaus, die allerdings keine Ideenlosigkeit kaschieren, sondern visuell extrem spannend sind. Das beginnt schon mit dem ersten Bild: wir befinden uns in einem Kuhstall, und angesichts des lauten Muhens könnte man denken, dass sich daneben eine Schlachterei befindet. Auftritt des Bullen, der abgeführt wird – ein kleiner Schwenk zeigt uns dann, dass er zur Begattung einer Kuh geführt wird. Der Akt ist so kurz wie unspektakulär – nach dem Schwenk zurück: Abgang Bulle.
Wie meisterhaft Mertoğlu den filmischen Raum beherrscht, zeigt sich bei den Audienzen der Adoptionsbeamten. Cüneyt und Bahar sitzen auf Stühlen etwas tiefer als der auf dem Bürosessel thronenden Beamten (der allerdings selbst einem obligaten Atatürk-Portrait an der Wand hinter ihm überragt wird). Nachdem das Paar ein Kind „besichtigt“ hat und es ablehnt, weil es ein Mädchen ist und die Kleine wie eine Kurdin (wie er meint) oder wie ein syrischer Flüchtling (so sie) aussähe, wechselt die Kamera, als wir im Büro zurück sind, die Perspektive und befindet sich hinter dem Beamten. Im Gespräch mit den beiden Adoptionswilligen sucht der Beamte konzentriert nach Daten auf seinem Computer – spielt also Karten. Hinter einer „objektiven“ Realität steckt oft eine andere „objektive“ Realität. Wie die Bilder, die Cüneyt während Bahars „Schwangerschaft“ immer wieder von ihr und ihrem „Babybauch“ schießt: „Du schläfst gerade, mach den Mund etwas auf [Pause] Nicht so weit, du bist hier nicht beim Zahnarzt!“.
Mit „klassischem“ Realismus hat ALBÜM wenig am Hut. Die Orte der Macht, der Bürokratie, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wirken immer leicht grotesk verzerrt. Eine scheinbar endlos lange Kamerafahrt durch eine tobende Schulklasse erinnert möglicherweise nicht ganz umsonst an den Stau in Godards WEEKEND. Eine ähnlich aufgebaute Fahrt führt uns durch das Finanzamt, in dem Bahar arbeitet, wo sämtliche Mitarbeiter mit dem Gesicht auf der Tischplatte tief schlafen.
Beim Q & A mit dem Regisseur Mehmet Can Mertoğlu und dem Second Unit Director Mustafa Emin Büyükcoşkun wurde nicht nur unter anderem Jacques Tati, sondern besonders die „Neue Rumänische Welle“ der letzten Jahre als Inspirationsquelle genannt. Die Inspiration wirkte bis zur personellen Besetzung der Crew: als Director of Photography arbeitete der Rumäne Marius Panduru, der einige Filme der „Welle“ fotografiert hat. Auch wenn ALBÜM durch zahlreiche internationale Filmfestivals tourt: in der Türkei selbst haben viele Zuschauer den Film gehasst (aber einige auch sehr geliebt), so Mertoğlu. In Wiesbaden war das Verhältnis nicht völlig anders. Vielleicht sind ganz viele Leute während des Q & A gegangen, aber vom Gefühl her hat ALBÜM etwa zwei Drittel des Saals während der Vorführung leer gefegt. Auch zwei Zuschauerinnen, die neben mir saßen, gingen etwa zur Hälfte des Films. Auf ihre ausgesucht klugen Kommentare (à la „Das ist aber ein hässlicher Mann!“ für den wunderbaren, sehr expressiven Nebendarsteller eines stocksteifen Adoptionsbeamten) musste ich in der zweiten Hälfte leider verzichten.



22.00 Uhr Caligari Filmbühne

Vorfilm
APOLLO 11 1/2
Regie: Olaf Held
Deutschland 2016, 6 Minuten
Die US-Flagge auf dem Mond hat sich aus unerfindlichen Gründen bewegt, verdeckt deshalb durch den Schatten, den sie wirft, ganz Wyoming und taucht den Bundesstaat in tiefe Finsternis. Die geheime Mondmission „Apollo 11 1/2“ wird geschickt, um die Flagge wieder zu verrücken.
Mit Archivbildern montiert, jedoch einem eigenen Off-Kommentar versehen, präsentiert sich der Film wie ein Wochenschau-Film. Nicht schlecht, aber letztlich einer dieser etwas zu ausgedehnten One-Joke-Kurzfilme.



Hauptfilm
ALIVE IN FRANCE
Regie: Abel Ferrara
Frankreich 2017, 79 Minuten
Abel Ferrara wird in Frankreich eine tourende Retrospektive gewidmet. Passend dazu organisiert er eine Reihe von Konzerten, bei denen er mit seinem langjährigen Filmkomponisten Joe Delia und dem Schauspieler Paul Hipp zusammen Songs aus seinen Filmen spielt.
Im Grunde ist ALIVE IN FRANCE ein Heimvideo von Abel Ferrara. Mit Frau, Kind, Familienangehörigen und Kumpels wird durch Hotelfoyers und Straßen flaniert, dann bei einem Q & A einige Zuschauerfragen beantwortet (Nein, für Gangster und Polizisten interessiere er sich nicht mehr, es wird also kein BAD LIEUTENANT 2 oder KING OF NEW YORK 2 geben), später die Bühne aufgebaut und schließlich (mit oder ohne Zuschauer, das scheint egal zu sein) gespielt, gejammt, gesungen, gerappt. Zwischendurch breitet Ferrara ein paar Konzertflyer auf einen Tisch aus und legt noch eine Mappe dazu, die er mit „That‘s my next movie“ kommentiert. Mehr passiert dann auch nicht, aber das muss ja auch nicht... Dafür gibt es Abel Ferrara zu sehen, der immer wieder ein bisschen wie ein Außerirdischer in menschlichem Kostüm wirkt und so fürchterlich nuschelt, dass man kaum ein Wort versteht (cool klingt es trotzdem); und Joe Delia, der wie der vergessene Zwillingsbruder von Mick Jagger aussieht; und Paul Hipp, der so was wie der Gute-Laune-Motor der Veranstaltung ist. Man möchte nicht unbedingt mit diesen Personen ein Bier trinken (besonders Ferrara scheint doch ein schwieriger Mensch zu sein), aber ihnen beim Musizieren, Plaudern und Flanieren zuzuschauen und dabei ein Bier zu trinken, das ist nicht die allerschlechteste Beschäftigung für einen Samstagabend.
Ich war aber nur eine von ganz wenigen Personen, die das so sehen. Zunächst völlig unglaublich und verwunderlich, dann enttäuschend und schließlich auch irgendwie traurig ist die Tatsache, dass nach meiner Zählung inklusive meiner Wenigkeit gerade mal 14 (vierzehn) Zuschauer anwesend waren. Darunter befanden sich eine Co-Organisatorin des Festivals, zwei Filmregisseure (von Kurzfilmen) und mindestens ein Pressemensch (ich). Also nicht mehr als zehn „normale“ Zuschauer, wenn überhaupt. In so einem großen Kinosaal wie dem Caligari wirken 14 Leute echt mickrig. Meine Güte! Abel Ferrara! An einem Samstag Abend, wenn also schon nur durch die Laufkundschaft der Saal halb gefüllt sein sollte. Und ich hatte vorher Angst, keinen guten Platz zu bekommen, weil der Saal krachend voll sein könnte – denkst du!
Ein Glück, dass Paul Hipp, der eigentlich nach Wiesbaden kommen wollte, es doch nicht geschafft hat und stattdessen eine herzallerliebste Videobotschaft geschickt hat, mit seinem Hund Django als Komparsen und einigen 100%-ig richtigen Deutsch-Versuchen.