Donnerstag, 20. Oktober 2011

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN

Dies ist die gekürzte und leicht überarbeitete Version eines Artikels, der 2004 im Usenet und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht wurde (in der längeren Fassung wird noch der erstaunliche SOY CUBA angerissen, der eine eigene Besprechung verdient).

WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (DDR-Titel DIE KRANICHE ZIEHEN, russ. LETJAT SCHURAWLI)
UdSSR 1957
Regie: Michail Kalatosow
Darsteller: Tatjana Samoilowa (Veronika), Alexej Batalow (Boris), Wassili Merkurjew (Fjodor Iwanowitsch), Alexander Schworin (Mark), Swetlana Charitonowa (Irina), Valentin Subkow (Stepan)


Im Februar 1956, knapp drei Jahre nach Stalins Tod, fand in Moskau der 20. Parteitag der KPdSU statt. Auf dieser denkwürdigen Veranstaltung griff Nikita Chruschtschow in einer berühmt gewordenen Rede Stalin scharf an und leitete damit die Entstalinisierung ein. In der darauf folgenden "Tauwetterperiode", die bis zur "neuen Eiszeit" unter Leonid Breschnew (ab 1964) währte, genossen Künstler und Intellektuelle in der Sowjetunion weit mehr Freiheiten als im Vierteljahrhundert zuvor. Eine nur lose zusammenhängende Gruppe von Filmschaffenden nutzte die neue Freiheit, um sich von den Zwängen des "Sozialistischen Realismus" zu lösen und individuell geprägte, teilweise gar systemkritische Filme zu drehen. Ihr bekanntester Vertreter war Michail Kalatosow, und WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der künstlerisch und kommerziell erfolgreichste Film der Epoche.


Moskau 1941, kurz bevor die Sowjetunion in den 2. Weltkrieg hineingezogen wird. Während ein Schwarm Kraniche im eleganten V-förmigen Formationsflug über den Himmel zieht, trifft sich an den Ufern der Moskwa ein junges Liebespaar. Boris Borosdin ist Arbeiter und Sohn eines angesehenen Arztes, Veronika will irgendwann mal Architektur studieren. Boris nennt sie Belka (Eichhörnchen), und in der Tat erinnert sowohl ihr hübsches Gesicht als auch ihr quirliges Wesen ein wenig an das agile Nagetier. Veronika sieht den Vögeln nach und rezitiert ihren Lieblingsvers: "Kraniche wie Schiffe, am Himmel segelnd, weiße wie graue, mit langen Schnäbeln, ziehen sie dahin ..." Mit der Idylle ist es schnell vorbei: Nazi-Deutschland marschiert in der Sowjetunion ein. Boris und sein Freund und Arbeitskollege Stepan melden sich freiwillig zur Front, zunächst ohne Wissen von Veronika und Boris' Familie. Boris' Cousin Mark dagegen, ein junger Pianist, hofft auf seine Freistellung. Mark, der in der Wohnung der Borosdins lebt, macht auch Veronika schöne Augen, ohne eine Chance bei ihr zu haben. (In einer deutschen Fassung des Films wurde aus Mark aus unerfindlichen Gründen Boris' Bruder, was aber in mehrfacher Hinsicht keinen Sinn ergibt. Er ist definitiv sein Cousin.)


Einen Tag vor Boris' Abmarsch, und vor Veronikas Geburtstag, vereinbaren Boris und die noch immer ahnungslose Veronika ihre Hochzeit, und Veronika malt sich in Gedanken ihr weißes Brautkleid aus. Dann erscheint Stepan, und die schockierte Veronika erfährt von Boris' Entschluß. Auch seine Familie ist entsetzt. Sein Vater Fjodor Iwanowitsch Borosdin hält ihm eine Standpauke, und auch seine Schwester Irina, eine angehende Ärztin, und seine Großmutter machen ihm Vorwürfe. Als am nächsten Tag zwei junge Kolleginnen von Boris in der Wohnung erscheinen, um dem ausrückenden "Helden" eine offizielle Grußbotschaft des Arbeiterkomitees zu überbringen, unterbricht sie Fjodor Iwanowitsch unwirsch und macht sich mit grimmiger Ironie über die hohlen Phrasen lustig. Allein für diese Szene wäre der Regisseur wohl noch wenige Jahre zuvor in einem Straflager in Sibirien verschwunden. Am Tag des Aufbruchs verfehlen sich die Liebenden, um Abschied zu nehmen. Boris lässt als Geburtstagsgeschenk für Veronika ein Stoff-Eichhörnchen zurück, das ihr die Großmutter aushändigen soll. Unter ein paar Süßigkeiten versteckt er seinen Abschiedsbrief. Als Veronika in der Wohnung der Borosdins erscheint, ist Boris schon weg, und in der Hektik erhält sie zwar das Eichhörnchen, aber sie übersieht den Brief. Veronika eilt zum Sammelpunkt der ausrückenden Soldaten, aber auch hier kommt sie zu spät. So werden Boris und Veronika getrennt, ohne sich noch Lebewohl sagen zu können.


Etwas später. Veronika und die Borosdins warten ungeduldig auf Nachrichten von Boris. Bei einem Luftangriff sucht Veronika in der U-Bahn Schutz, während ihre Eltern leichtsinnigerweise in der Wohnung zurückbleiben. Das Wohnhaus erhält einen Volltreffer - Veronikas Eltern sind tot. Die verstörte Veronika wird von den Borosdins in ihrer Wohnung aufgenommen, als sei sie bereits Boris' Frau. Bei einem neuerlichen Luftangriff bleiben Mark und Veronika allein in der Wohnung zurück. Mark nützt die Situation, um sich wieder an Veronika heranzumachen. Zunächst ohrfeigt sie ihn, aber dann gibt sie im emotionalen und realen Chaos des Bombenhagels nach. (Einige Kritiker wollen aus der Szene herauslesen, dass Veronika von Mark vergewaltigt wird, aber dafür kann ich keine deutlichen Anzeichen erkennen.) Am nächsten Morgen eröffnen Mark und Veronika der völlig überraschten Familie, dass sie heiraten werden. Dies empfinden die Anderen als Verrat an Boris und quittieren es mit versteinerten Mienen und eisigem Schweigen.


Szenenwechsel an die Front. Boris ist mit seiner Kampfgruppe in einer absolut trostlosen, sumpfigen Gegend von den Deutschen eingekesselt worden. Auf einem Erkundungsgang wird er von einer Kugel getroffen, wohl von einem Scharfschützen abgefeuert. Er bricht zusammen und stirbt kurz darauf. Nächster Szenenwechsel: Eine Stadt irgendwo in Sibirien, in die ein Teil der Bevölkerung evakuiert wurde. Fjodor Iwanowitsch leitet das Lazarett, in dem Irina als Ärztin und Veronika als Krankenschwester arbeiten. Noch immer haben sie keine Nachricht von Boris, sie wissen nur, dass er vermisst wird. Die Ehe von Mark und Veronika, die von Anfang an unter keinem guten Stern stand, ist so gut wie gescheitert. Veronika ist deprimiert, sie macht sich Selbstvorwürfe und sehnt sich nach Boris. Dem vom aktiven Dienst freigestellten Mark gegenüber ist sie abweisend. Der wiederum beginnt ein Verhältnis mit einer gewissen Antonina Monastyrskaja, hinter der auch sein Vorgesetzter Tschernow her ist. Im Lazarett kommt es zu einem kleinen Tumult. Ein verwundeter Soldat randaliert, als er erfährt, dass seine Braut in seiner Abwesenheit einen Anderen geheiratet hat. Fjodor Iwanowitsch hält dem Mann eine Standpauke, und ohne dabei Veronikas Anwesenheit zu bemerken, erklärt er ihm, dass er an dieser "Verräterin" nicht viel verloren hat, um ihn damit wieder aufzurichten. Aber Veronika bezieht die Predigt auf ihre eigene Situation, und ihre Selbstvorwürfe schlagen in jähe Verzweiflung um. Sie rennt fluchtartig ins Freie und auf eine Brücke, um sich vor einen heranbrausenden Zug zu stürzen. Im letzten Augenblick kommt es anders: Ein kleiner elternloser Junge wird auf der Straße neben Veronika beinahe von einem Auto überfahren. Ihre Selbstmordgedanken sind jetzt verflogen, sie kümmert sich um den Jungen - der auch Boris heißt - und nimmt ihn mit in ihre Unterkunft.


Unterdessen hat Mark Veronikas Eichhörnchen seiner neuen Flamme Antonina geschenkt. Veronika verursacht einen kleinen Eklat, als sie sich das Eichhörnchen zurückholt und Mark dabei wild ohrfeigt. Zwischen den beiden ist es nun endgültig aus. Bei dieser Gelegenheit kommt auch endlich der im Eichhörnchen versteckte Brief zum Vorschein - Boris' letzter Gruß an seine Belka. Währenddessen macht Antonina ihrem anderen Verehrer Tschernow Aussichten, falls dieser ihr eine Spazierfahrt spendiert. Da er keinen Wagen zur Verfügung hat, wendet er sich an Fjodor, um sich vom Lazarett einen Krankenwagen zu leihen. Er lässt durchblicken, dass er das als Gegenleistung für seine erwiesenen Gefälligkeiten erwartet. Da Fjodor keine Ahnung hat, wovon die Rede ist, erklärt ihm Tschernow, dass er doch um Marks Freistellung von der Front gebeten habe. Schnell erkennen beide, dass sich Mark mit dieser Lüge seine Freistellung erschlichen hat. Der aufgebrachte Fjodor stellt Mark zur Rede und hält ihm eine Strafpredigt, dann verbannt er ihn aus dem Kreis der Familie. Dagegen hält er Veronika, der er längst verziehen hat, zurück, als diese ebenfalls gehen will. Etwas später taucht ein Kamerad von Boris in der Unterkunft der Borosdins auf und überbringt die Todesnachricht. Er erzählt, dass Boris auch während der heftigsten Kämpfe immer von seiner Belka gesprochen hat. Allerdings hat er selbst Boris nicht tot, sondern nur verwundet gesehen, und so klammert sich Veronika an die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch lebt.


Letzter Szenenwechsel: Wieder in Moskau, nach Ende des Krieges. Veronika hofft immer noch auf Boris' Heimkehr. Als eine große Gruppe Heimkehrer auf dem Bahnhof empfangen wird, wartet Veronika mit einem Blumenstrauß in der Menge. Boris ist nicht unter den Soldaten, aber Stepan. Als er Veronika erblickt, zeigt er ihr ein Foto von ihr, das ihm Boris vor dem verhängnisvollen Erkundungsgang ausgehändigt hat - für den Fall der Fälle. Ohne überflüssige Worte bestätigt er damit Boris' Tod. Jetzt erst akzeptiert Veronika die bittere Wahrheit. Während viele der Umstehenden Freudentränen vergießen, schluchzt sie vor Kummer. Stepan hat mittlerweile eine Lokomotive bestiegen und hält eine Rede: "[...] aber wir werden die Gefallenen nie vergessen. Die Zeit wird vergehen. Alles wird neu aufgebaut. Unsere Wunden werden geheilt. Aber der Hass gegen den Krieg wird ewig glühen! Wir empfinden tiefes Beileid für diejenigen, die ihre Angehörigen nie mehr treffen werden. Und wir werden alles tun, damit die Bräute ihre Bräutigame nie verlieren, damit die Mütter um das Leben ihrer Kinder nie zittern, damit die mutigen Väter nie heimlich weinen müssen. Wir haben gesiegt, nicht um alles zu zerstören, sondern um aufzubauen!" Während Stepan Applaus erntet, hellt sich Veronikas Miene auf. Sie hat Stepan aufmerksam zugehört und nimmt seine Worte zum Anlass, ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen und in die Zukunft zu blicken. Sie verteilt ihre Blumen an Passanten und lächelt, zum ersten Mal seit langer Zeit. Dann geht sie mit Fjodor Iwanowitsch nach Hause. Und über den Himmel zieht wieder ein Schwarm Kraniche.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist ein erfreulich unideologischer Film. Weder antideutsche noch kommunistische Propaganda spielt eine Rolle. Wenn der Film überhaupt eine politische Botschaft hat, dann ist es die pazifistische aus Stepans Ansprache. Aber die eigentliche Botschaft ist eine menschliche: Einerseits davon, welches Leid der Krieg auch und gerade bei den Zivilisten anrichtet, aber andererseits auch davon, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.


Michail Kalatosow wurde 1903 als Michail Kalatosischwili in Tbilisi (Tiflis) in Georgien geboren. 1925 wurde er Schauspieler, kurz darauf Kameramann, und ab 1927 arbeitete er als Regisseur von formal anspruchsvollen Dokumentarfilmen, mit denen er sich in die Tradition Dsiga Wertows stellte. Das bekannteste dieser frühen Werke ist SOL SWANETIJ (DAS SALZ SWANETIENS) von 1930, ein ethnographisch angehauchter Film über die Bewohner einer abgelegenen Berggegend Georgiens. In seinen Frühwerken erschien Kalatosow unter seinem richtigen Namen in den Credits, aber berühmt wurde er erst unter der russischen Namensform, die ich deshalb hier bevorzuge. Obwohl Kalatosow eigentlich linientreuer Kommunist war, erregte DAS SALZ SWANETIENS bei den stalinistischen Kulturbürokraten wegen seiner formalen Gestaltung bereits erhebliches Stirnrunzeln. Sein nächster Film mit dem Titel LURSMANI CHEQMASHI (1931) wurde dann wegen "Negativismus" verboten, und Kalatosow durfte mehrere Jahre keinen Film mehr drehen. Stattdessen wurde er dazu verdonnert, in der georgischen Filmindustrie administrative Aufgaben wahrzunehmen. Ab 1939 durfte er dann wieder drehen, daneben war er weiterhin in der Verwaltung tätig. Gegen Ende des 2. Weltkriegs war er als sowjetischer Kulturattaché in Los Angeles. Ich nehme an, dass er die Gelegenheit genutzt hat, um sich über die Verhältnisse in Hollywood zu informieren. Nach dem Krieg gab es in seinem Werk erneut eine mehrjährige Pause. In dieser Zeit war er wieder führend in der sowjetischen Filmverwaltung tätig, 1945/46 sogar als stellvertretender Minister. Ab 1950 kehrte Kalatosow dann neuerlich auf den Regiestuhl zurück. WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der fünfte Film seit dem Wiedereinstieg von 1950, und er wurde ein überragender Erfolg. Und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im westlichen Ausland. Als Krönung errang WENN DIE KRANICHE ZIEHEN beim Filmfestival in Cannes 1958 die Goldene Palme. Kalatosow war ein berühmter Mann.


Der Erfolg verdankte sich vor allem zwei Faktoren: Erstens der Leistung der Hauptdarsteller, zweitens der herausragenden Kameraarbeit von Sergej Urussewski. Alexej Batalow und insbesondere Tatjana Samoilowa spielen ungemein lebhaft und ausdrucksstark und lassen beim Zuschauer vom ersten Moment an eine emotionale Bindung an die Protagonisten entstehen. Die damaligen Jungstars - Samoilowa spielte in den KRANICHEN erst ihre zweite Filmrolle - ernteten weltweit begeisterte Kritiken. Aber auch die Nebenrollen sind vorzüglich besetzt. Vor allem Wassili Merkurjew erfüllt seinen Fjodor Iwanowitsch mit Leben und lässt ihn "menscheln". Das Ensemble insgesamt schafft es mühelos, den Zuseher an der Geschichte teilhaben zu lassen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für das damalige sowjetische Publikum, das die Zeit des Krieges noch aus eigener Erinnerung kannte, und das damals wohl zum ersten Mal eine ungeschminkte, realistische Darstellung der Leiden zu sehen bekam, frei von den offiziellen Parolen über Heldentum und Opfermut. Entsprechend oft sollen damals in den sowjetischen Kinos die Taschentücher gezückt worden sein.


Aus der heutigen zeitlichen Distanz betrachtet, ist jedoch die brillante optische Gestaltung das herausragende Merkmal von WENN DIE KRANICHE ZIEHEN. Das wird übrigens auch von Alexej Batalow so gesehen, wie er in einem zehnminütigem Video-Statement, das sich als Bonusmaterial auf einer DVD des Films befindet, neidlos anerkennt. Kalatosow und Sergej Urussewski hatten 1955 erstmals zusammengearbeitet, WENN DIE KRANICHE ZIEHEN war der zweite von insgesamt vier gemeinsamen Filmen. Die beiden hatten eine ungeschriebene Übereinkunft, die ihnen ein gegenseitiges Vetorecht einräumte: Keiner der beiden würde in seinem Bereich etwas durchsetzen, was dem anderen nicht gefiel. Aber die beiden lagen in künstlerischer Hinsicht ohnehin auf einer Wellenlänge, wie Batalow im erwähnten Statement erzählt. Er bezeichnet es als einen Glücksfall, dass sich die beiden gefunden hatten. Urussewskis Spezialität waren lange, dynamische Kamerafahrten, die die Protagonisten bei ihren Aktionen begleiten und so eine "mitfühlende" Kamera schaffen. Der Effekt ist gelegentlich dem einer subjektiven Kamera ähnlich, bei der das Geschehen aus der Sicht des Handelnden gezeigt wird, ohne dass dieser selbst zu sehen ist. Doch Urussewskis Technik ist weit virtuoser und auch subtiler als die eher einfache subjektive Kamera. Er hat seine Rolle in diesen Sequenzen einmal so beschrieben: "Die Kamera kann ausdrücken, was der Schauspieler nicht zu porträtieren in der Lage ist: seine inneren Empfindungen. Der Kameramann muss mit den Schauspielern mitspielen." Diese dynamischen Kamerafahrten wurden zum größten Teil mit Handkameras gedreht. Urussewski hatte während des Krieges zwei Jahre als Kameramann beim Militär gedient und dort seine Vorliebe und seine Fertigkeit für die Handkamera entwickelt. Die Sequenzen sind auch in der größten Hektik stets so flüssig gedreht, als hätte Urussewski eine moderne Steadicam zur Verfügung gehabt - doch die wurde erst viele Jahre später erfunden.


Neben den Kamerafahrten kamen weitere Stilmittel wie etwa mehrfache Überblendungen zum Einsatz, und auch der Schnitt ist stellenweise virtuos und erinnert an die glorreichen Tage des russischen Stummfilms. Alle diese optischen Finessen werden jedoch keineswegs als selbstzweckhafte Gimmicks eingesetzt, sondern sie dienen der Geschichte. Insbesondere korrespondieren die virtuosesten Szenen jeweils mit der aufgewühlten Seelenlage der Protagonisten. Das möchte ich an den markantesten Beispielen verdeutlichen. Schon ziemlich am Anfang des Films gibt es eine Szene in dem Wohnhaus, in dem sich ganz oben die Wohnung von Veronika und ihren Eltern befindet: Veronika steht oben im Treppenhaus und Boris rennt hinauf, um den Termin ihres nächsten Rendezvous zu vereinbaren. Dabei folgt die Kamera Boris in der lichten Öffnung des Treppenhauses, immer auf gleicher Höhe mit ihm, und schraubt sich sozusagen spiralförmig in die Höhe. Doch diese an sich schon eindrucksvolle Szene ist nur eine Generalprobe für eine Wiederholung unter ungleich dramatischerem Vorzeichen. Als nämlich Veronika nach dem Bombenangriff, der ihre Eltern das Leben kostet, zum Wohnhaus zurückkommt, hetzt sie, von den schlimmsten Befürchtungen getrieben, durch die noch brennenden Ruinen und im Treppenhaus nach oben. Nur - außer dem Treppenhaus steht von dem Haus kaum noch etwas, man sieht durch riesige Löcher in den Mauern auf die Straße. Ohne darauf zu achten, dass sie sich selbst in Lebensgefahr begibt, rennt Veronika auf den Stufen nach oben, von der Kamera begleitet. Erst als sie, oben angekommen, feststellt, dass von der elterlichen Wohnung buchstäblich nichts mehr übrig ist, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Eine Szene, die einem den Atem stocken lässt.


Am Tag von Boris' Abfahrt setzt Veronika alles daran, ihn noch einmal zu sehen, um sich zu verabschieden. Sie fährt zunächst mit einem Bus in die Nähe der Wohnung der Borosdins, steigt aus, rennt durch eine Menschenmenge und dann über eine Straße, über die gerade ein Panzerkonvoi rollt. Dabei folgt ihr die Kamera ohne Schnitt aus dem Bus heraus, durch die Menge - schnell, aber ohne störende Wackler, und immer auf Tuchfühlung mit ihr -, um in dem Moment, als sie die Straße mit den Panzern überquert, unversehens in einige Meter Höhe emporzusteigen und Veronika und die Panzer aus der Vogelperspektive zu zeigen. Nachdem Veronika Boris in der Wohnung verfehlt hat, eilt sie zum Abmarschplatz der Soldaten, wo im allgemeinen Trubel die Szene eine noch dynamischere Fortsetzung findet. Auch der nächtliche Bombenangriff, den Mark nutzt, um Veronika zu verführen, ist eindrucksvoll in Szene gesetzt. Durch einen Bombentreffer irgendwo in der Nachbarschaft fällt das Licht aus, und die Wohnung wird nur noch durch die Explosionsblitze erleuchtet, was eine stroboskopartige Beleuchtung und dadurch eine fast expressionistische Stimmung erzeugt. Auch die akustische Gestaltung dieser Szene ist außergewöhnlich: Marks Klavierspiel wird mit dem Heulen der Luftschutzsirenen und dem Krachen der einschlagenden Bomben kombiniert, was für eine ziemlich infernalische Soundkulisse sorgt.


Ein optischer Höhepunkt ganz besonderer Art ist Boris' Sterbeszene. Er wird in den Rücken getroffen, und während er langsam zusammenbricht, beginnen sich die Baumkronen über ihm zu drehen. Zugleich ziehen Szenen seines Lebens an ihm vorbei: Zunächst sein vorhin erwähnter Lauf im Treppenhaus empor, doch dann eine Szene seines Lebens, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein können - nämlich seine Hochzeit mit Veronika, die sie sich gemeinsam ausgemalt hatten, und die nie stattfand. In einer mehrfachen Überblendung der sich drehenden realen Baumkronen und der halluzinierten fröhlichen Hochzeitsgäste und vom herumwirbelnden weißen Schleier von Veronikas Brautkleid steigert sich die Szene zu einem wahren optischen Crescendo, das man gesehen haben muss. Auch Veronikas Beinahe-Selbstmord ist außergewöhnlich virtuos inszeniert. Sie rennt wie von Furien gehetzt zu der Brücke, dabei wird sie teilweise durch die Latten eines Zaunes gefilmt, teilweise (während des Laufs!) in extremer Großaufnahme von vorn, und einige bis zur Abstraktion verfremdete schnelle Zwischenschnitte auf die Umgebung verstärken noch die Dynamik der Situation. In ihrer Gesamtheit erscheint die Szene so rasant und dramatisch, dass sie einem Eisenstein alle Ehre gemacht hätte, und sie visualisiert perfekt Veronikas desolate psychische Verfassung in diesem Moment. Das letzte Beispiel ist auch die letzte Szene des Films, die Heimkehr der Soldaten am Moskauer Bahnhof. Während sich Veronika in der verzweifelten Hoffnung, Boris doch noch wiederzusehen, in angstvoller Eile durch eine riesige wogende Menschenmasse kämpft, folgt ihr die Kamera durch all die Menschen so mühelos, als besäße Urussewski die Fähigkeit, herumstehende Passanten zu durchdringen, als seien sie gar nicht da. In ihren gemeinsamen Filmen erwiesen sich Kalatosow und Urussewski als Dreamteam der entfesselten Kamera.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN ist in diversen Ausgaben auf DVD erschienen.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

L'ATALANTE - wie man einen Film versenkt

Dies ist die überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2005 im Usenet (ohne Screenshots) und 2006 als PDF in der Filmzentrale (mit wesentlich mehr Screenshots als hier) veröffentlichte.

ATALANTE (L'ATALANTE) Frankreich 1934 Regie: Jean Vigo Darsteller: Michel Simon (Père Jules), Dita Parlo (Juliette), Jean Dasté (Jean)

Wenn man einen Quotienten bildet aus filmgeschichtlicher Bedeutung und Anzahl an gedrehten Filmen, dann dürfte Jean Vigo auf dieser Skala ziemlich weit vorn liegen. Obwohl er aufgrund seines frühen Todes mit 29 Jahren nur vier Filme hinterlassen hat, davon nur einen in Spielfilmlänge, gehört er zu den Großen des französischen Films.


Frankreich, irgendwo auf dem platten Land, in den frühen 30er Jahren. In einem kleinen Ort hat gerade eine Hochzeit stattgefunden. Die Hochzeitsgesellschaft verlässt die Kirche und zieht nicht etwa in den Dorfgasthof, sondern zu einem Lastkahn, um das frischvermählte Paar zu verabschieden. Jean, der von auswärts stammende Bräutigam, ist der Kapitän des Schiffes mit dem klangvollen Namen "L'Atalante", das die Seine, ihre Nebenflüsse und Seitenkanäle befährt. (Atalante ist übrigens eine amazonenhafte Jägerin aus der griechischen Mythologie.) Juliette, die Braut, hat das Dorf noch nie verlassen und wird fortan mit Jean auf der L'Atalante leben. Ebenfalls an Bord sind der kauzige Maat Jules, genannt Père Jules (Papa Jules), ein halbwüchsiger Schiffsjunge, dessen Namen man nicht erfährt, sowie ungefähr ein Dutzend Katzen, um die sich Père Jules kümmert. Juliette bringt zunächst frischen Wind in das Leben an Bord, aber bald ist sie von der Eintönigkeit des Tagesablaufs und von den beengten Platzverhältnissen genervt. Einzige Abwechslung ist das Radio, und als sie zum ersten Mal den Sender Paris empfängt, kann Juliette es kaum abwarten, dort einzutreffen, um bei einem Landgang die Metropole kennenzulernen. Doch es kommt anders. Als sie endlich in Paris sind, macht sich Père Jules davon, um eine "Konsultation" einzuholen, wie er sich ausdrückt. Solange er weg ist, können Jean und Juliette das Schiff nicht allein lassen. Wie sich herausstellt, konsultiert Père Jules nicht etwa einen Arzt oder einen Anwalt, sondern eine Wahrsagerin. Nachdem sie ihm aus der Hand gelesen hat, bietet ihm die rustikale Dame die "volle Behandlung" - ein eindeutig erotisches Angebot, das Père Jules nicht ausschlägt. Anschließend sucht er eine Bar auf - wo er einen Schalltrichter für sein defektes Grammophon mitgehen lässt -, und als er schließlich mitten in der Nacht stockbesoffen und grölend zurückkommt, ist für Jean und Juliette an einen Landgang nicht mehr zu denken, und am nächsten Tag ist keine Zeit mehr, weil das Schiff weiter muss. Juliette ist jetzt langsam frustriert.


Nächster Halt ist ein Vorort von Paris, wo Jean und Juliette ein Tanzlokal aufsuchen. Ein fahrender Händler will Juliette ein Tuch aufschwatzen und macht ihr schöne Augen. Der Luftikus unterhält die Gäste des Lokals mit Taschenspielertricks und einer Gesangseinlage, und er erzählt Juliette von den Verlockungen von Paris. Jean wird eifersüchtig, und es kommt fast zur Schlägerei. Zwischen den Eheleuten herrscht jetzt dicke Luft. Juliette will es nun wissen: Sie schleicht sich davon und fährt mit der Straßenbahn allein nach Paris. Jean ist eingeschnappt und befiehlt, nicht auf ihre Rückkehr zu warten, sondern sofort abzulegen. Als Juliette nach einem ausgiebigen Schaufensterbummel zurückkehrt und die L'Atalante verschwunden ist, ist sie ratlos. Sie kennt niemanden, hat wenig Geld und keine Ortskenntnisse. Schnell lernt sie die Schattenseiten von Paris kennen. Ein schmächtiger, armselig und hungrig wirkender Taschendieb entreißt ihr ihre Handtasche, doch er wird von einer richtigen Meute Passanten gestellt und übel verprügelt, bevor die Polizei ihn abführt. Man bekommt regelrecht Mitleid mit dem armen Wicht. Auf den Straßen begegnet Juliette einem ganzen Heer von Arbeitssuchenden, die von der Polizei mißtrauisch beäugt werden, und sie wird von Männern mit eindeutigen Absichten angesprochen. Traurig und ratlos, nimmt sie am Ende eines zermürbenden Tages ein Zimmer in einer billigen Absteige. Die nächste Zeit verbringt sie damit, auf Brücken nach der L'Atalante Ausschau zu halten.


Unterdessen hat Jean seinen Entschluß längst bitter bereut. Er sehnt sich nach Juliette, aber er sitzt nur apathisch da und ist unfähig, etwas zu unternehmen. Es hat sich herumgesprochen, dass Jean seine Pflichten als Skipper vernachlässigt, und in Le Havre werden er und Père Jules ins Büro der Reederei zitiert. Père Jules kann die Sache noch mal geradebiegen, aber er beschließt, dass jetzt etwas geschehen muss. Und das kann nur heißen: Juliette muss wieder her. Da Jean weiterhin nur herumsitzt, macht sich Père Jules auf, um Juliette zu suchen. Das aussichtslos scheinende gelingt: In einem Laden, wo man für ein paar Münzen in einer Art Jukebox Musik nach Wahl abspielen kann, wählt Juliette ein Lied, das sie und Jean gemeinsam auf der L'Atalante gesungen hatten. Père Jules kommt zufällig an dem Laden vorbei, hört das Lied, geht hinein und findet Juliette. Nachdem der Schiffsjunge die Rückkehr von Père Jules und Juliette angekündigt hat, wirft sich Jean in Schale, und als Juliette endlich wieder an Bord ist, fallen sich die beiden wortlos in die Arme. Eine Luftaufnahme der auf dem Fluss dahinziehenden L'Atalante ist die letzte Einstellung des Films.


Wie man sieht, ist der Kern der Handlung schnell erzählt. Ein großer Teil der Szenen dient nicht dazu, die Handlung voranzutreiben, sondern mit vielen überraschenden Wendungen im Kleinen eine Atmosphäre der Frische und Spontaneität zu erschaffen. Und das gelingt Vigo und den Schauspielern in einer Weise, die auch heute noch überzeugen kann. Ich erwähne die Schauspieler bewusst, denn Vigo hat seine Darsteller geradezu zum Improvisieren aufgefordert. Das kam besonders Michel Simon entgegen. Simon ist ein Naturereignis. Wie er mit exzessiver Körpersprache, mit seiner rauen, krächzenden Stimme, und mit ausgelassener Spielfreude eine entfesselte, geradezu anarchische Performance hinlegt, das muss man gesehen haben! Michel Simon wurde 1895 in Genf als Sohn eines Metzgers geboren. 1914 wurde er zur Schweizer Armee eingezogen, aber wegen Aufsässigkeit und schlechter Gesundheit (er war an Tuberkulose erkrankt) bald wieder entlassen. Früh schon wollte er Schauspieler werden. Er versuchte sich als Artist in Varietés, als Boxer, Fotograf und in diversen anderen Gelegenheitsjobs. 1920 debütierte er auf Genfer Bühnen, bald darauf in Paris, gefördert von den französischen Theaterlegenden Louis Jouvet und Georges Pitoëff. Ab 1924 spielte er auch kleinere Rollen in Stummfilmen. Es wird gern behauptet, dass Simon eine Hauptrolle in Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC von 1928 spielte, aber das beruht auf einem Irrtum späterer Restauratoren von Dreyers seinerzeit verstümmeltem Film. In Wirklichkeit ist Simon in diesem Meisterwerk nur in zwei winzigen Einstellungen von zwei oder drei Sekunden Dauer zu sehen.


Sein tatsächlicher Durchbruch beim Film kam 1931 mit der Hauptrolle in Jean Renoirs LA CHIENNE (DIE HÜNDIN), gefolgt von weiteren Filmen Renoirs wie BOUDU SAUVÉ DES EAUX (BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET). Als er die Rolle in L'ATALANTE übernahm, war er bereits ein bekannter Mann, und im Verlauf der 30er Jahre wurde er zu einem der beliebtesten Stars des französischen Kinos, der in Dramen wie LA CHIENNE oder Marcel Carnés QUAI DES BRUMES (HAFEN IM NEBEL) ebenso überzeugen konnte wie in Komödien, etwa Carnés DRÔLE DE DRAME (EIN SONDERBARER FALL) an der Seite von Jouvet. Später wurde er zwar von anderen Stars, wie etwa Jean Gabin, an Popularität überflügelt, aber er blieb für Jahrzehnte ein gefragter Charakterdarsteller. Bemerkenswert sind etwa seine Rollen in René Clairs LA BEAUTÉ DU DIABLE (DER PAKT MIT DEM TEUFEL) oder Sacha Guitrys LA POISON (DAS SCHEUSAL). Dem deutschsprachigen Publikum dürfte er vor allem an der Seite von Heinz Rühmann in ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG in Erinnerung sein, wo er einen des Mordes verdächtigten Landstreicher spielt. Simon spielte nicht nur oft sonderbare Figuren, er war auch selbst ein ausgesprochen exzentrischer Charakter. In jungen Jahren entwickelte er anarchistische Ideen, teilweise vermengt mit rechtem Gedankengut. Sein Lebensstil entsprach seiner Persönlichkeit. In seinen wilden Jahren in Paris soll er einige Zeit in einem Bordell gelebt haben. Später entwickelte er sich zu einem Einzelgänger, aber er war ein ausgesprochener Tierfreund. Auf seinem Landsitz in der Nähe von Paris beherbergte er nicht nur viele Hunde, Katzen und Vögel, sondern auch mehrere Affen. Im besetzten Frankreich war er ins Visier der Gestapo geraten, weil man ihn für einen Juden hielt, aber nach dem Ende des 2. Weltkriegs beschuldigte man ihn, ein Kollaborateur gewesen zu sein, weil er in einigen Filmen mitgespielt hatte, die die Zustimmung der Nazis fanden. Zeitweilig soll er Leibwächter benötigt haben, um sich vor den Anfeindungen zu schützen. 1957 wurde Simons Karriere beinahe beendet. Bei den Dreharbeiten zu UN CERTAIN MONSIEUR JO benutzte er Schminke, die mit einer giftigen Chemikalie verunreinigt war. Er erlitt eine Gesichts- und Körperlähmung und benötigte fast zwei Jahre und viel Disziplin, um wieder drehen zu können, doch danach konnte er seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzen. Michel Simon starb 1975 in der Nähe von Paris.


Simon liebte es, zu improvisieren, und er hasste es, lange zu proben und eine Szene mehrmals zu wiederholen. "Das zweite Mal ist bereits eine Lüge", sagte er in einem Interview. Es liegt auf der Hand, dass er mit dieser Einstellung oft auf wenig Gegenliebe stieß. Nur wenige Regisseure ließen ihm freien Lauf, und im erwähnten Interview nennt er als Beispiele Renoir, Guitry, und eben Vigo. (Was Renoir betrifft, so empfehle ich den schon genannten BOUDU SAUVÉ DES EAUX von 1932. Es handelt sich um das Original zum Hollywood-Remake DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) mit Nick Nolte, Richard Dreyfuss und Bette Midler und zum erneuten Remake mit Gérard Depardieu. In dieser Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen liefert Simon als Boudu eine ebenso unberechenbare, anarchische Vorstellung wie in L'ATALANTE.) Nicht nur Vigos lockerer Inszenierungsstil, sondern auch das Drehbuch ließ Simon viel Raum zur Entfaltung. Dieser Père Jules ist schon ein Original der besonderen Art. Er überrascht seine Freunde, insbesondere Juliette (und damit den Zuseher), immer wieder aufs neue. Mit seinem tätowierten Oberkörper (in einer Szene steckt er sich vor Juliette eine Zigarette in den Bauchnabel, der den Mund eines tätowierten Gesichts bildet), mit einer improvisierten Ringer-Trockenübung ohne Partner (im griechisch-römischen Stil, wie er anmerkt) auf dem Deck der L'Atalante, mit brachialen Gesangseinlagen, mit frivolen Bemerkungen und immer wieder mit unerwarteten Aktionen und Dialogen sorgt er für ein permanentes Moment der Unberechenbarkeit. Seine Kajüte auf der L'Atalante ist ein Mikrokosmos für sich, vollgestopft mit Krempel und Souvenirs aller Art. Höhepunkt des Sammelsuriums ist ein Einmachglas mit zwei abgetrennten menschlichen Händen (die übrigens echte Präparate waren). Sie gehörten einst einem verstorbenen Freund von ihm - "sie sind alles, was mir von ihm geblieben ist", erklärt er der konsternierten Juliette.


Juliettes Darstellerin Dita Parlo wurde 1906 als Grethe Gerda Kornstädt in Stettin geboren. Nach einer Ausbildung als Balletttänzerin besuchte sie die Filmschule in Babelsberg. 1928 gab sie ihr Filmdebüt, und sie war bald erfolgreich. Zunächst spielte sie in deutschen Filmen, 1930 erstmals auch in einem französischen. Im selben Jahr versuchte sie ihr Glück in Hollywood. Sie spielte zwei Rollen in unbedeutenden Originalfilmen, außerdem einige Rollen in deutschsprachigen Alternativversionen englischsprachiger Produktionen. Als der Erfolg ausblieb, gab sie 1933 die Hollywoodpläne auf und kehrte nach Europa zurück. Sie heiratete einen Franzosen und lebte und drehte fortan in Frankreich. Zweiter Höhepunkt ihrer Karriere nach L'Atalante war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION (DIE GROSSE ILLUSION) von 1937. Darin spielt sie die deutsche Witwe Elsa, die den von Jean Gabin und Marcel Dalio gespielten französischen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt und ihnen zur endgültigen Flucht verhilft. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs wurde Parlo von den Franzosen zwangsweise nach Deutschland zurückgeschickt, was ihre Laufbahn abrupt beendete. Nach dem Krieg arbeitete sie als Schriftstellerin, nur 1950 und 1965 kehrte sie noch zweimal auf die Leinwand zurück. Dita Parlo starb 1971 in Paris. Jean Dasté schließlich, 1904 in Paris geboren, war Schüler und Schwiegersohn des Theaterdirektors Jacques Copeau. Er gab sein Filmdebüt mit einer Nebenrolle in Renoirs BOUDU, und sein zweiter Film ZÉRO DE CONDUITE war zugleich der dritte von Vigo, mit dem sich Dasté befreundete. L'ATALANTE war bereits der Höhepunkt seiner Filmkarriere. Bis 1945 spielte er in zwölf weiteren Filmen, darunter drei von Renoir, aber fast nur noch Nebenrollen. Sein Schwerpunkt lag ohnehin bei der Arbeit am Theater, wo er auch Regie führte und ab 1947 ein eigenes Haus in Saint-Étienne führte. Bis 1963 zog er sich völlig vom Filmgeschäft zurück, dann holte ihn Alain Resnais auf die Leinwand zurück. Dastés zweite Film- und Fernseh-Karriere dauerte bis ins hohe Alter von 85 Jahren und erbrachte rund 30 weitere Filme, darunter insgesamt vier von Resnais, drei von François Truffaut (der Vigo sehr schätzte), und Z von Costa-Gavras, aber wiederum nur Nebenrollen. Sein Hauptbetätigungsfeld blieb die Bühne, und als er 1994 in Saint-Étienne starb, wurde dort ein Theater nach ihm benannt.


Neben dem Element des Unberechenbaren wird L'Atalante noch von einem ganz anderen Stilmittel geprägt, nämlich dem für das französische Kino der 30er Jahre typischen Poetischen Realismus. Die Flusslandschaft, die Hafen- und Industrieanlagen, die L'Atalante selbst sind realistisch in Szene gesetzt und doch immer mit einem Hauch Poesie versehen. Nie wirkt ein Schauplatz trostlos oder menschenfeindlich, manche Bilder erzeugen gar den Eindruck einer leicht surreal angehauchten Traumlandschaft. Das ist vor allem das Verdienst des Haupt-Kameramannes Boris Kaufman. Kaufman wurde 1897 als Sohn einer russisch-jüdischen Familie in Bialystok geboren, das damals zum Zarenreich gehörte und heute zu Polen. Er war der jüngere Bruder des russischen Avantgarde-Regisseurs Dsiga Wertow (bürgerlich Denis Kaufman), und von Michail Kaufman, der als Kameramann bis 1930 eng mit Wertow zusammenarbeitete, bis sie sich verkrachten. Boris wurde ebenfalls Kameramann, aber er ging früh eigene Wege. Schon 1917 schickten ihn seine Eltern nach Frankreich, um ihn den Unwägbarkeiten der Revolutionswirren zu entziehen. Nach einem Studium an der Sorbonne und Reisen durch Deutschland und Belgien ließ er sich 1927 endgültig in Frankreich nieder. Nachdem er 1927/28 bei vier kurzen Dokumentar- und Experimentalfilmen, darunter einen in eigener Regie, die Kamera führte, traf er 1929 Jean Vigo. Die beiden verstanden sich prächtig, und Kaufman filmte alle vier Filme Vigos, die ersten drei alleine, L'ATALANTE mit Louis Berger und Jean-Paul Alphen als Verstärkung, die ihm aber eindeutig untergeordnet waren.


Nach Vigos Tod 1934 drehte Kaufman mit Regisseuren wie Christian-Jaque, Marc Allégret und Abel Gance, sowie vier Filme mit dem heute eher vergessenen Léo Joannon. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs diente er in der französischen Armee; nach der Niederlage und Besetzung Frankreichs emigrierte er in die USA. Kaufman hätte gern in Hollywood gearbeitet, aber die dortigen Gewerkschaftsbestimmungen verhinderten das zunächst. So blieb er in New York, wo er die Bekanntschaft mit Avantgardisten wie Maya Deren und Jonas Mekas pflegte. Er lebte einige Jahre von Dokumentarfilmen, etwa einer Folge der vom amerikanischen Office of War Information (OWI) produzierten Propaganda-Serie WHY WE FIGHT, dem ebenfalls vom OWI produzierten HYMN OF THE NATIONS über Arturo Toscanini, sowie einigen Arbeiten im Auftrag des National Film Board of Canada, das unter der Leitung des emigrierten britischen Dokumentar-Pioniers John Grierson stand. Einige dieser Filme hatten den in Linz geborenen Alexander Hammid als Regisseur, damals Ehemann von Maya Deren. Ebenfalls mit Hammid drehte Kaufman 1951 THE GENTLEMAN IN ROOM 6, einen kurzen Experimentalfilm mit subjektiver Kamera. Letztlich zog es Kaufman aber doch noch nach Hollywood, wo er endlich eine Arbeitserlaubnis bekam. Er bewarb sich bei Elia Kazan für ON THE WATERFRONT (DIE FAUST IM NACKEN) und wurde prompt engagiert. Der Film geriet zum Klassiker, und unter den acht Oscars dafür ging einer auch an Kaufman für die beste Schwarzweiß-Kamera, und als Zugabe gab es auch noch einen Golden Globe. Nach diesem perfekten Einstand war Kaufman ein gefragter Mann für hochwertige Scharzweiß-Fotografie. Er drehte u.a. nochmals mit Kazan (Oscar-Nominierung für Kaufman für BABY DOLL), mit Martin Ritt, Jules Dassin und Otto Preminger. Insbesondere aber wurde Kaufman der Leib- und Magen-Kameramann von Sidney Lumet, für den er siebenmal filmte, u.a. Lumets Einstand 12 ANGRY MEN, THE FUGITIVE KIND und den brillanten THE PAWNBROKER. Kaufman zog sich 1970 zurück und starb 1980 in New York.


In L'ATALANTE gelingen Kaufman Einstellungen von magischer Schönheit. Etwa eine Szene, in der Juliette in der Abenddämmerung in ihrem weißen Brautkleid über das Deck der L'Atalante schreitet. Das Kleid hebt sich so hell leuchtend vom dunklen Hintergrund ab, dass Juliette fast ätherisch wie eine Fee wirkt. In einer Szene hat Juliette Jean weisgemacht, dass man den Geliebten sieht, wenn man den Kopf unter Wasser hält und dabei die Augen öffnet, was Jean gleich an einem Eimer Wasser ausprobiert. Als nun Juliette weg ist und sich Jean hilflos nach ihr sehnt, erinnert er sich daran - und macht einer spontanen Eingebung folgend in voller Kleidung einen Kopfsprung in die Seine. Und tatsächlich glaubt er unter Wasser, sie zu sehen. Juliette, wieder im Brautkleid, wirkt in dieser surrealen Szene wie ein im Wasser schwebendes überirdisches Wesen. (Es erforderte übrigens viel Mut von Jean Dasté, sich bei den winterlichen Dreharbeiten in die eiskalte Seine zu stürzen.) Ein besonderes Kunststück vollbringen Vigo und Kaufman mit einer Szene, in der gleichzeitig Juliette im Bett in ihrem Hotelzimmer und Jean in seiner Koje auf der L'Atalante liegen. Beide sind einsam, beide sehnen sich nach dem jeweils anderen, und beide werden offensichtlich gleichzeitig von erotischen Anwandlungen überfallen und wälzen sich entsprechend hin und her. Durch eine mehrfache Überblendung der beiden wird der erstaunliche Eindruck einer Liebesszene auf Entfernung erweckt.


Neben Kaufmans Kameraführung ist auch die schlichte, aber stimmungs- und wirkungsvolle Musik von Maurice Jaubert für den poetischen Eindruck mit verantwortlich. Manchmal erinnert sie mich an Stücke, die Nino Rota für Filme von Fellini geschrieben hat. Jaubert, der schon für Vigos ZÉRO DE CONDUITE die Musik geschrieben hatte und später vor allem für Carné arbeitete, fiel 1940 40-jährig an der Front in Frankreich. In späteren Jahren hat Truffaut die Erinnerung an ihn hochgehalten, indem er von Jaubert geschriebene Stücke (darunter auch aus L'ATALANTE) in vier seiner Filme verwendete. Und in Truffauts LA CHAMBRE VERTE (DAS GRÜNE ZIMMER) von 1978 gibt es einen Raum, in dem Fotos und Memorabilien Verstorbener aufbewahrt werden. In Wirklichkeit zeigen die Fotos Personen, die in Truffauts Leben oder Werk eine Rolle spielten, und eines davon ist ein Porträt von Jaubert. Truffaut hielt nicht nur Jaubert, sondern vor allem auch Vigo in Ehren, und da war er nicht der einzige seiner und späterer Generationen von französischen Regisseuren. Gerade die Vertreter der Nouvelle Vague betrachteten Vigo neben der großen Lichtgestalt Jean Renoir als einen der Helden der Vergangenheit, denen sie nacheiferten. Vigos geistige Unabhängigkeit, sein spontaner Inszenierungsstil, das Drehen an Originalschauplätzen und die seinerzeit wie heute überzeugende Frische des Ergebnisses lagen voll auf ihrer Wellenlänge.


Vigo wurde 1905 in einer Dachkammer, die ebenso von Katzen bevölkert war wie die L'Atalante, in Paris geboren. Sein Vater war ein seinerzeit prominenter Anarchist und Journalist, der eigentlich Eugène Bonaventure de Vigo hieß, aber unter dem Pseudonym Miguel Almereyda bekannt war. Als Herausgeber der militanten Zeitschrift Le Bonnet Rouge besaß er großen Einfluss auf linke Gruppierungen und Gewerkschaften. 1917, als Almereyda sich für Friedensverhandlungen mit Deutschland einsetzte und deshalb nationalistischen Kreisen ein Dorn im Auge war, wurde er unter dem Vorwand, ein deutscher Spion zu sein, inhaftiert. Wenig später starb er unter dubiosen Umständen im Gefängnis: Man fand ihn mit einem Schnürsenkel stranguliert am Bettgestell hängend. Wahrscheinlich wurde er ermordet, auch wenn Selbstmord nicht ganz ausgeschlossen werden kann. Der Tod seines Vaters traf den 12-jährigen Vigo natürlich tief. Es wird allgemein angenommen, dass Vigos ausgeprägte Freiheitsliebe und seine Abneigung gegen Autoritäten auf den direkten Einfluss seiner anarchistischen Eltern zurückgehen. Nach Almereydas Tod konnte Vigos Mutter nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen, außerdem war er in Paris als "Sohn des Spions" heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Deshalb lebte er mehrere Jahre unter falschem Namen bei Verwandten und in verschiedenen Internaten. Insbesondere verbrachte er vier Jahre in einem Internat in Millau in Südfrankreich. Vigo hasste das Leben im Internat mit seinen strengen Regeln und Ritualen. Ab 1922 lebte er wieder bei seiner Mutter und besuchte, wieder unter seinem richtigen Namen, die Sorbonne. Vigo litt schon als Kind unter einer schlechten Gesundheit, und als junger Mann erkrankte er an Tuberkulose. 1926 lernte er in einem Sanatorium Elisabeth Lozinska kennen, die Tochter eines polnischen Industriellen, die ebenfalls an einer angegriffenen Gesundheit litt. 1929 heiratete er Elisabeth, die er "Lydou" nannte. Vigos Schwiegervater überschüttete das Paar nicht gerade mit Geld, aber er spendierte doch einen gewissen Betrag, den Vigo nutzte, um sich eine Kameraausrüstung zu kaufen. In Nizza, wo das Paar wohnte, arbeitete er 1929 als Kameraassistent, z.B. bei VÉNUS von Louis Mercanton. Nebenbei machte er mit seiner eigenen Kamera Aufnahmen in Nizza für einen geplanten Dokumentarfilm über die Stadt.


Zu dieser Zeit lernte er Boris Kaufman kennen, und wie bereits erwähnt, verstanden sie sich auf Anhieb. Sie beschlossen, das Nizza-Projekt mit Kaufman an der Kamera ernsthaft in Angriff zu nehmen. Das Ergebnis mit dem Titel À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) ist ein satirischer Angriff auf die feine Gesellschaft von Nizza. Der ca. 25-minütige Stummfilm steht formal in der Tradition der Großstadt-Symphonien der 20er Jahre wie Alberto Cavalcantis RIEN QUE LES HEURES (NICHTS ALS STUNDEN) oder Walter Ruttmanns BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSTADT. Auch Kaufmans Brüder hatten mit MOSKAU und DER MANN MIT DER KAMERA zu diesem Genre beigetragen. Wie die Vorgänger bedienen sich Vigo und Kaufman origineller Bildmotive, ausgefallener Kamerapositionen und -winkel sowie einer dynamischen Montage. Die Schnitte sind allerdings nicht ganz so schnell wie bei den eigentlichen Großstadt-Symphonien. Die längeren Einstellungen geben aber Vigo die Gelegenheit, genauer hinzusehen, und davon macht er reichlich Gebrauch. In einer Abfolge von Gegenüberstellungen werden die mondänen Vergnügungen und der Müßiggang der High Society mit dem Leben der einfachen Leute kontrastiert, wobei er einerseits auch in die Hinterhöfe und Kloaken blickt und andererseits die Reichen durch eine Reihe von überraschenden Bildeinfällen deftig karikiert. Vigo macht also keinen Hehl daraus, dass seine Sympathie den kleinen Leuten gehört.


Als nächstes drehten Vigo und Kaufman als Auftragsarbeit einen zehnminütigen Dokumentarfilm (diesmal mit Ton) mit dem länglichen Titel NATATION PAR JEAN TARIS, CHAMPION DE FRANCE, auch als TARIS, ROI DE L'EAU bekannt. Der Inhalt ist schnell erzählt: Der seinerzeit sehr bekannte und erfolgreiche Schwimmer Jean Taris demonstriert in einem Sportbecken verschiedene Schwimmstile und spricht selbst einen Kommentar dazu. Das Thema war wohl schon damals nicht besonders aufregend und kann heute erst recht niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, doch der Schwerpunkt des Films liegt ohnehin in der visuellen Gestaltung. Vor allem durch die geschickte Ausleuchtung werden sehr harte Kontraste erzeugt; grelle Lichtreflexionen auf der Wasseroberfläche, Spritzer und Luftblasen im aufgewühlten Wasser und damals innovative Unterwasseraufnahmen erzeugen einen eigentümlichen optischen Reiz, der dafür sorgt, dass man den Film auch heute noch ansehen kann, ohne sich zu langweilen. Vigo selbst verlor schnell das Interesse daran, nachdem er erst einmal fertiggestellt war. Das war beim nächsten Projekt ganz anders. ZÉRO DE CONDUITE (BETRAGEN UNGENÜGEND) von 1933 war ihm eine Herzensangelegenheit, denn darin verarbeitete er seine Internatserfahrungen zu einem surrealen Angriff auf die Autorität der Lehrer und sonstiger Honoratioren.


In einem Knabeninternat beginnt ein neues Schuljahr. Die Lehrer sind strenge und verknöcherte alte Herren, abgesehen vom neuen Lehrer Huguet (Jean Dasté), der mit den Kindern schon mal auf dem Schulhof Rugby spielt oder sie mit einer Chaplin-Einlage unterhält. Einmal macht er im Klassenzimmer einen Handstand und zeichnet dabei noch eine Comicfigur - die plötzlich für einige Sekunden wie in einem Zeichentrickfilm animiert wird. Ein weiteres Beispiel für Vigos unerwartete Einfälle. Ansonsten ist der Alltag der Schüler eher trist. Sie werden im Schlafsaal von einem unsympathischen Hausaufseher überwacht und bei Gelegenheit auch bestohlen; ein dicker Chemielehrer betatscht einen der Schüler; es gibt aus Kostengründen ständig nur Bohnen zu essen (auch in Vigos Internat in Millau gab es zwar nicht immer, aber doch ziemlich oft Bohnen, wie sich ein Schulfreund von ihm erinnerte). Die lächerlichste Figur im Internat ist der Direktor: Ein rauschebärtiger Zwerg, dem Disziplin und Ordnung über alles gehen. Und so braut sich etwas zusammen: Die Schüler planen eine Rebellion. An einem Gedenktag, zu dem sich der Direktor mit dem Gouverneur und weiteren Ehrengästen im Schulhof versammelt, verschanzen sich die Kinder auf dem Dachboden der Schule und bewerfen die ehrenwerte Versammlung unter Gejohle mit Büchern, Dosen, alten Schuhen und weiterem Gerümpel. Zuletzt erklimmen sie triumphierend den Dachfirst, wie um hinter dem Horizont in die Freiheit zu entschwinden.


Produzent von ZÉRO DE CONDUITE war ein Pferdezüchter namens Jacques-Louis Nounez. Er war mit der zeitgenössischen französischen Filmproduktion unzufrieden und beschloss, Geld in einen hoffnungsvollen Nachwuchsregisseur zu investieren, und so stieß er auf Vigo. Es wurde ein Vertrag über einen Film von rund 45 Minuten Dauer geschlossen, aber Vigos erste Fassung war deutlich länger und musste gekürzt werden. So kommt es, dass die Handlung nicht besonders stringent ist und einige Sprünge aufweist. Vigo und Kaufman legten viel mehr Gewicht auf eine Darstellung kindlicher Fantasiewelt durch teilweise surreale Bildgestaltung. Bestes Beispiel dafür ist eine Kissenschlacht. Sie beginnt zunächst in einem realistisch-dynamischen Stil, aber dann wirbeln Federn wie Flocken bei einem Schneesturm durch den Schlafsaal und es wird Zeitlupe eingesetzt, wodurch die Darstellung ins Unwirkliche kippt. ZÉRO DE CONDUITE war ein anarchischer Frontalangriff auf die Autoritäten und Stützen der Gesellschaft, und die reagierten heftig: Der Film wurde von der Zensur komplett verboten. Das Verbot wurde erst 1945 aufgehoben. Das wirft zwar kein gutes Licht auf die französische liberté, aber es hatte immerhin ein Gutes: Der Film wurde von den Scheren der Verleiher verschont. L'ATALANTE sollte es da ganz anders ergehen.


Produzent Nounez erlitt durch das Verbot einen hohen finanziellen Verlust, aber er hielt an Vigo fest. Doch erstens ging er zur Sicherheit eine Kooperation mit der Produktionsgesellschaft Gaumont-Franco Film-Aubert ein, und zweitens sollte es diesmal ein Stoff sein, der Vigo keine Gelegenheit zur Subversion und damit der Zensur keinen Anlass zum Einschreiten bieten sollte. Das Buch zu L'ATALANTE stammte ursprünglich von einem Jean Guinée, wurde aber von Vigo und Albert Riéra noch stark überarbeitet. Riéra, der auch einer der beiden Regieassistenten bei L'ATALANTE war, war ein Freund von Vigo, ebenso wie der zweite Regieassistent Pierre Merle. Überhaupt wirkten bei ZÉRO DE CONDUITE und L'ATALANTE neben professionellen Schauspielern und Technikern auch viele Freunde, Verwandte und Bekannte Vigos sowie Laiendarsteller mit. Die Jungen in ZÉRO DE CONDUITE wurden alle in der Nachbarschaft des Drehorts zusammengesucht und verbrachten für einige Wochen sozusagen einen Abenteuerurlaub bei den Dreharbeiten. Der mit Vigo befreundete belgische Dokumentarfilm-Regisseur Henri Storck ist in einer Nebenrolle als Priester zu sehen. In L'ATALANTE spielen neben Riéra auch das Brüderpaar Pierre und Jacques Prévert sowie Charles Goldblatt, der auch die Liedtexte schrieb. Alle gehörten zu Vigos Freundeskreis. Als für die Taschendieb-Szene Komparsen gebraucht wurden, war kein Geld für die Bezahlung übrig. Also sprangen Mitglieder eines linksgerichteten Theaterkollektivs unentgeltlich ein. Die Katzen auf der L'ATALANTE stammten übrigens auch nicht vom Tiertrainer, sondern wurden mit Zustimmung der Besitzer in der Umgebung zusammengefangen.


Die Dreharbeiten zu L'ATALANTE fanden im Winter 1933/34 statt und zehrten an den Kräften der Beteiligten, insbesondere aber an denen von Vigo. Es wurde fast nur vor Ort an Originalschauplätzen gedreht, und das Wetter war meist schlecht. Vigo empfand das aber nicht als Behinderung, sondern ließ sich von den jeweiligen Gegebenheiten zu spontanen Regieeinfällen inspirieren. Schon bei den Dreharbeiten mussten wegen Vigos Tuberkulose mehrere Pausen eingelegt werden. Nach Drehschluss reiste Vigo zur Erholung für etwa einen Monat in die Berge, doch als er wiederkam, war er nicht etwa genesen, sondern sein Zustand hatte sich deutlich verschlechtert. Unterdessen hatte Louis Chavance, der ein geschickter Cutter war, nach Vigos Anweisungen, aber ohne seine direkte Aufsicht, den Schnitt besorgt. Chavance verlegte sich später auf das Verfassen von Drehbüchern. Er schrieb unter anderem gemeinsam mit Henri-Georges Clouzot das Buch zu Clouzots heftig umstrittenen Skandalfilm LE CORBEAU (DER RABE). Vigo sah sich nach seiner Rückkehr aus den Bergen Chavances Schnittfassung an und war ziemlich zufrieden. Nach einer Probevorführung vor Kinobesitzern und Verleihern sollten nur noch einige kleinere Schnitte durchgeführt werden. Es war dies das erste und letzte mal, dass der bereits bettlägerige Vigo den kompletten Film sah. Die Probevorführung geriet zur Katastrophe. Die Verleiher und Kinobesitzer befürchteten einen finanziellen Reinfall, sie hassten den Film regelrecht. Sie verlangten drastische Schnitte, und Gaumont-Franco-Aubert schlug sich auf ihre Seite. Produzent Nounez war gegen die Eingriffe, aber Gaumont saß finanziell am längeren Hebel, und so musste Nounez nachgeben. L'ATALANTE wurde um über zwanzig Minuten drastisch gekürzt. Außerdem wurde Jauberts Musik komplett durch einen damals populären Schlager mit dem Titel "Le Chaland qui passe" ersetzt, gesungen von einer Lys Gauthy. Obendrein wurde der Titel des Film nach dem Lied in LE CHALAND QUI PASSE umgeändert. Vigo wusste von den Eingriffen zunächst nichts. Als er es erfuhr, war er schon zu geschwächt, um irgendetwas unternehmen zu können, und er resignierte.


Diese verstümmelte Fassung von L'ATALANTE kam im September 1934 in die Kinos. Es kam, wie es kommen musste: Die verhunzte Version fiel nun erst recht durch, und wurde bald wieder aus den Kinos genommen. Wenig später war Vigo tot. Im Oktober 1934 erlag er einer Blutvergiftung als Folge seiner Tuberkulose. Seine Frau Lydou überlebte ihn nur um viereinhalb Jahre. 1940 brachte ein neuer Verleiher L'ATALANTE unter dem originalen Titel, und wieder mit der Musik von Jaubert, erneut in die Kinos, aber immer noch verstümmelt. Auch diesmal wollte das Publikum den Film nicht sehen. Im Lauf der Jahre existierten dann mehrere verschiedene Schnittfassungen, unter beiden Titeln, alle unvollständig und meist mit schlechter Bild- und Tonqualität. Allerdings bildete sich langsam das Bewusstsein heraus, dass da ein Meisterwerk im Dornröschenschlaf liegt. Als 1945 das Verbot von ZÉRO DE CONDUITE aufgehoben wurde, holte man den unversehrten Film aus dem Giftschrank, und Vigos bereits guter Ruf festigte sich enorm. Henri Beauvais, ein früher bei Gaumont beschäftigter und jetzt unabhängiger Produzent, besaß rund 30 Stunden an Rohmaterial und Schnittabfällen von L'ATALANTE. Dieses und weiteres Material wurde 1949 von Henri Langlois, einem der Gründer der Cinématheque Française, zusammengetragen und zu einem Rekonstruktionsversuch benutzt. Der war allerdings von einer gewissen Konzeptlosigkeit geprägt, so dass den diversen kursierenden Versionen des Films nur eine weitere ohne Anspruch auf Authentizität hinzugefügt wurde. Trotzdem war der gute Ruf von L'ATALANTE jetzt gesichert. Die eine oder andere Version wurde auf Festivals gezeigt, und 1962 schaffte es L'ATALANTE bei den alle zehn Jahre stattfindenden Umfragen der Zeitschrift Sight and Sound nach den besten Filmen aller Zeiten unter die Top Ten. Bei aller Fragwürdigkeit solcher Listen zeigt das die Wertschätzung, die Vigo inzwischen erfuhr.


1985 kaufte Gaumont die Firma von Henri Beauvais und damit sein Material von L'ATALANTE samt den Rechten. Das war der Auftakt zu einem erneuten Rekonstruktionsversuch. In den Filmarchiven der Welt wurde nach weiterem Material gesucht, und man wurde fündig. Hervorzuheben ist ein Fund im Archiv des British Film Institute: Eine vermutlich nie gezeigte Version von 1934, von der man glaubt, dass sie der von Vigo mit Abstrichen abgesegneten ersten Schnittfassung von Chavance so nahe kommt wie keine andere noch existierende Fassung. Außerdem zeigt diese Version eine vergleichsweise sehr gute Bild- und Tonqualität. Aus diesem Material wurde eine Fassung angefertigt, die Vigos Intentionen so nahe kommen sollte wie möglich. Sie wurde 1990 beim Filmfestival in Cannes erstmals präsentiert. Wie schon nach dem ersten Rekonstruktionsversuch, schaffte es L'ATALANTE 1992 wieder unter die Top Ten bei Sight and Sound. Die Version von 1990 wurde 2001 einer kritischen Revision unter Leitung des Filmhistorikers Bernard Eisenschitz unterzogen. Man kam zu dem Schluss, dass die Restauratoren von 1990 etwas zu forsch vorgegangen waren und Szenen hinzugefügt hatten, die Vigo weggelassen hätte. So wurden also einige wenige Szenen wieder gekürzt oder weggelassen (was die Restauratoren von 1990 zu einer heftigen Polemik veranlasste). Diese hoffentlich nun wirklich endgültige Version wurde auch einer digitalen Bild- und Tonrestauration unterzogen und dient als Grundlage diverser DVD-Ausgaben von L'ATALANTE. Ohne die Credits der Restauratoren dauert sie 87 Minuten.


Vigos Spätwirkung zeigt sich nicht nur in Umfragen wie denen von Sight and Sound, sondern auch daran, dass ihm immer wieder mal Regisseure ihre Referenz erweisen, sei es verbal, sei es in ihren Filmen. Truffaut erwähnte ich bereits; Lindsay Anderson war ein großer Bewunderer von Vigo, und sein IF.... steht ganz in der Tradition von ZÉRO DE CONDUITE; ein weiteres Beispiel ist Bernardo Bertolucci, der in DER LETZTE TANGO IN PARIS und in einem weiteren Film L'ATALANTE referenziert. Am Ende von Leos Carax' LES AMANTS DU PONT-NEUF (DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF) werden die Titelhelden von einem alten Paar auf einem Frachtkahn, in dem man zwanglos Jean und Juliette erkennen kann, aus der Seine gefischt. Und in einem Buch über den Regisseur Philippe Garrel steuert Carax quasi als Vorwort ein Foto (ohne Begleittext) von Vigo und Lydou bei. In Jean-Luc Godards ÉLOGE DE L'AMOUR (AUF DIE LIEBE) schließlich gibt es ein Paar, das sich am Ufer der Seine unterhält, und dazu erklingt Maurice Jauberts Hauptthema aus L'ATALANTE.

L'ATALANTE ist in Deutschland bei Arthaus auf DVD erschienen. In England und den USA ist jeweils eine Box mit allen vier Filmen Vigos auf DVD erschienen, letztere auch auf Blu-ray.

Samstag, 8. Oktober 2011

Drehen in der Höhle des Löwen: DILEMMA

DILEMMA (engl. auch A WORLD OF STRANGERS)
Dänemark 1962
Regie: Henning Carlsen
Darsteller: Zakes Mokae (Steven Sitole), Ivan Jackson (Toby Hood), Evelyn Frank (Anna Louw), Marijke Haakman (Cecil Alexander), Gideon Nxumalo (Sam Mofokenzazi)


Johannesburg um 1960. In der südafrikanischen Metropole kreuzen sich die Wege von mehreren jungen Menschen. Anna Louw, die aus einer Burenfamilie stammt, ist eine politisch engagierte Rechtsanwältin in einem Rechtshilfebüro, das Schwarzen, Mischlingen und Indern kostenlose Vertretung gewährt. Einer ihrer regelmäßigen Klienten ist Steven Sitole, ein intelligenter und sorgloser Luftikus, der mal dieses und mal jenes treibt - momentan versucht er sich als Fotograf - und dabei gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Einen solideren Lebenswandel pflegt sein Freund Sam, ein Komponist, vor allem, seit seine Frau schwanger ist. Ein Neuankömmling in Südafrika ist der Brite Toby Hood, der neuerdings die Johannesburger Filiale eines englischen Verlagshauses leitet. Er ist der Neffe des Verlegers und soll irgendwann den gesamten Verlag führen.


Als Mitglied der Oberschicht erhält Toby Einladungen in die feinen Kreise Johannesburgs. Er lernt Cecil Alexander kennen, eine reiche Tochter aus gutem Haus (den Vornamen schreibt man wirklich so - eine Referenz an Cecil Rhodes). Gelegentlich arbeitet sie als Model, sonst tut sie nichts; sie ist gelangweilt und leicht blasiert, aber nicht unsympathisch. Auch die Mitglieder ihrer Clique sind nett, adrett und gastfreundlich. Sie wohnen in strahlend weißen Villen, sie haben schwarze Hausdiener, Kindermädchen und Caddies zum Golfen - aber diese müssen nach Feierabend die Gegend verlassen, dann gilt für das Wohnviertel "Whites only". Durch die Angelegenheiten eines seiner schwarzen Angestellten lernt Toby auch Anna kennen, und über sie auch Steven und Sam, und er befreundet sich mit allen dreien. So lernt er auch die andere Seite des südafrikanischen Lebens kennen, die Dynamik und Lebensfreude urbaner südafrikanischer Kultur, und natürlich die Apartheid und alle Abstufungen von Rassismus. Für den liberalen, unbefangenen Engländer Toby ist die Freundschaft mit den Schwarzen Steven und Sam nichts Außergewöhnliches, aber bei seinen vornehmen Bekannten würde er damit völliges Unverständnis auslösen, deshalb erwähnt er dort nichts davon.


Toby bemerkt schnell, dass Anna nicht nur Rechtshilfe leistet, sondern dass sie auch in verbotene politische Aktivitäten verstrickt ist - sie wird auch bereits seit längerem von der Geheimpolizei observiert. Tobys Freundschaft zu Anna ist platonisch, aber mit Cecil beginnt er ein Verhältnis, das jedoch oberflächlich bleibt. Als er ihr von Sam erzählt, findet sie es nur amüsant, dass er jemanden kennt, der den Namen "Mofokenzazi" trägt. Während Toby mit Cecil schläft, schiebt ihm Steven eine Nachricht unter die Tür - Anna wurde verhaftet. Toby, Steven und Sam treffen sich zu einer Krisensitzung, doch die endet in Ratlosigkeit - es gibt nichts, was sie tun könnten. Und es kommt noch schlimmer ...


DILEMMA ist Henning Carlsens erster Spielfilm. Zuvor hatte er ab 1949 ca. 25 Dokumentar- und Industriefilme gedreht. Einer davon, der 1958 zum 25-jährigen Jubiläum der Firma Danfoss entstand, führte Carlsen um die halbe Welt, und auch nach Südafrika. Dort lernte er völlig unvorbereitet die Apartheid kennen, von der damals in Europa wenig bekannt war. Carlsen erzählt im Bonusmaterial der DVD von DILEMMA, wie auch ältere Schwarze von jungen Weißen mit "Boy" angeredet wurden, oder wie er zusammen mit einem Mitarbeiter und einem jungen Schwarzen in einem Hotel drei Bier bestellte und nur zwei bekam, weil an "Kaffern" kein Alkohol verkauft wurde. Damals nahm sich Carlsen vor, dass sein erster Spielfilm dieses Thema behandeln sollte, falls er je das Geld dazu hätte. Die Gelegenheit ergab sich bald durch eine Erbschaft. Um unter dem Vorwand, den für Danfoss gedrehten Film zu erweitern, in Südafrika arbeiten zu können, erbat sich Carlsen von einem Danfoss-Manager ein Empfehlungsschreiben - und er erhielt gleich eine Blanko-Vollmacht in dreifacher Ausfertigung, ausgestellt von Danfoss-Gründer Mads Clausen persönlich. Für Carlsens Vorgehen gab es schon ein Vorbild: 1958 hatte der Amerikaner Lionel Rogosin unter dem Vorwand, harmlose südafrikanische Musiker zu filmen, im Großraum Johannesburg seinen dokumentarischen Spielfilm COME BACK, AFRICA gedreht, unter Einbeziehung dokumentarischer Aufnahmen im Stil des Direct Cinema bzw. Cinéma vérité, und dafür Festivalpreise gewonnen. Im März 1960 erregte das Massaker von Sharpeville internationale Aufmerksamkeit, aber Hintergrundberichte zum System der Apartheid waren nach wie vor dünn gesät.


Carlsen konsultierte drei skandinavische Autoren, die bereits über dieses Thema gearbeitet hatten, und erhielt den Rat, sich mit Nadine Gordimer in Verbindung zu setzen. Die südafrikanische Literatur-Nobelpreisträgerin von 1991 hatte 1958 ihren zweiten Roman "A World of Strangers" veröffentlicht. Sie traf sich mit Carlsen, und sie beschlossen, aus dem Roman ein Drehbuch zu entwickeln. Gemeinsam nahmen sie die nötigen Kürzungen und Änderungen vor - insbesondere der Schluss wurde dramaturgisch zugespitzt (der Roman kommt laut Kindlers Literaturlexikon ohne dramatische und melodramatische Effekte aus). Noch während der Arbeit am Film wurde die Taschenbuchausgabe von Penguin Books verboten, denn diese konnte sich auch das schwarze Massenpublikum leisten, und das machte den ohnehin mißliebigen Roman für das Regime zum gefährlichen Sprengstoff.


Durch eine glückliche Fügung war Carlsen gleich mit zwei Kameramännern nach Südafrika gereist, dem Dänen Henning Kristiansen und dem Schweden Arne Lagercrantz. Ähnlich wie Toby im Film, wurde Carlsen von der südafrikanischen High Society freundlich empfangen - man erhoffte sich eine positive Berichterstattung. Carlsen wurde sogar ins engere Umfeld von Hendrik Verwoerd aufgenommen, dem damaligen Ministerpräsidenten und Architekten der Apartheids-Gesetze. Die beiden Kameramänner ermöglichten Carlsen ein regelrechtes Doppelleben: Während der eine Kameramann mit leerer Kamera so tat, als würde er gesellschaftliche Ereignisse filmen, drehte Carlsen mit dem anderen in Townships, wo er sich nicht einmal aufhalten, geschweige denn filmen durfte. Die belichteten Filmrollen wurden unentwickelt mit Diplomatenpost nach Dänemark geschickt. Das ging lange gut, doch dann wollten die Kameramänner die Qualität ihrer Arbeit kontrollieren, und es wurde eine Filmrolle an ein südafrikanisches Kopierwerk geschickt. Zwar ohne Ton, aber die Südafrikaner bekamen trotzdem Wind vom politischen Inhalt des Films - vielleicht durch einen Lippenleser. Jedenfalls war jetzt die Geheimpolizei auf der Spur der Filmemacher, und es gab eine diplomatische Anfrage im zuständigen dänischen Konsulat. Nur mit Mühe konnte der Film fertiggestellt und die letzten Filmrollen außer Landes geschafft werden. Wie Zakes Mokae viel später gegenüber Carlsen feststellte, hätte sogar die Gefahr bestanden, dass das Regime das komplette Filmteam verschwinden lässt. Als dann der Film Premiere hatte, kam es zu einer regelrechten diplomatischen Krise zwischen Südafrika und Dänemark. Bald danach bildeten sich in Kopenhagen, Stockholm und Oslo Anti-Apartheid-Komitees, und Dänemark, Schweden und Norwegen gehörten in den folgenden Jahren zu den Ländern, die am intensivsten gegen die Apartheid kämpften.


DILEMMA hat durchaus seine Fehler. Das Budget war minimal, Carlsen hatte keine Erfahrung mit Schaupielerführung, und die Darsteller, überwiegend Amateure, sind gelegentlich etwas hölzern. Manches wirkt plakativ, auf den politischen Zweck abgestellt. So wird etwa Annas indischer Ex-Mann nur eingeführt, damit Anna später Toby etwas über die sozialen und psychologischen Probleme von gemischtrassigen Ehen in Südafrika erzählen kann. Ereignisse der jüngeren südafrikanischen Zeitgeschichte - etwa die Enteignungen und Zwangsumsiedlungen von Schwarzen aus den Townships Alexandra und Sophiatown ins weiter vom Zentrum Johannesburgs entfernte Soweto - werden dramaturgisch etwas holprig in die Handlung integriert. Wie schon erwähnt, wird der alltägliche Rassismus in unterschiedlichen Abstufungen vorgestellt. Manchmal frontal: Etwa, wenn ohne weiteren Kommentar (der auch nicht nötig ist) eine Parkbank gezeigt wird, auf der "Nur für Weiße" steht - hier setzt Carlsen eine der Erfahrungen, die ihm 1958 einen Schock versetzten, eins zu eins ins Bild um. Tobys Sekretärin ist konsterniert über seinen freundschaftlichen Umgang mit Steven; als sie Steven Kaffee und Sandwiches servieren soll, reagiert sie patzig, und als sich Toby davon nicht beeindrucken lässt, kündigt sie. Ähnlich Tobys Vermieterin: Sie duldet keine "Kaffern" in ihrem Haus, und sie droht mit der Polizei, als Toby sie selbst und nicht Steven und Sam aus seiner Wohnung wirft. Aber es geht auch subtiler. Auf einer Party von Annas liberalen Freunden bittet eine junge Weiße Steven um eine Zigarette. Der hat nur noch eine, und er steckt sie sich, durch ein Gespräch abgelenkt, selbst in den Mund und zündet sie an, um sie dann doch der Frau anzubieten. Doch die zögert - sie zögert sehr lange, bis sie die Zigarette schließlich annimmt, und die Kamera hält währenddessen auf ihr Gesicht und zeigt ihre vielsagenden Blicke, die Unsicherheit ausdrücken. Solche Szenen waren es, die manche Rezensenten an John Cassavetes erinnerten.


Die kleinen Schwächen verblassen vor dem dokumentarischen und zeitgeschichtlichen Wert des Films. Immer wieder eingeschnittene Straßenszenen aus Johannesburg und den Townships, Aufnahmen aus verrauchten Kaschemmen, in die Toby - quasi als Kundschafter des Zuschauers (Gordimers Roman ist aus Tobys Ich-Perspektive geschrieben) - mit Steven vordringt, zeigen eine dynamisch pulsierende, urbane Metropole. Und das Wesen der Apartheid wird so deutlich enthüllt wie in keinem europäischen Film zuvor (von Hollywood ganz zu schweigen). (Diese Qualitäten - Stärken im Dokumentarischen und gewisse Schwächen in der Spielhandlung - wurden übrigens auch Rogosins COME BACK, AFRICA zugeschrieben.)


DILEMMA verfügt noch über eine andere Stärke, nämlich den Soundtrack. Dieser stammt zum überwiegenden Teil von Gideon Nxumalo, dem Darsteller von Sam (das "Nx" im Namen ist übrigens ein Schnalzlaut). Er spielte nicht nur einen Komponisten und Musiker, er war tatsächlich einer. Und zwar, bis zu seinem frühen Tod 1970, einer der vielseitigsten in Südafrika. Von europäischer Klassik über verschiedene Jazzrichtungen bis zu traditionellen einheimischen Musikstilen war er auf einem weiten Feld bewandert, aber sein Schwerpunkt lag im Jazz. Ein bekannter Radio-DJ war er auch. Seine Vielseitigkeit bewies Nxumalo auch in DILEMMA. Einerseits gibt es mehrere Szenen, in denen eine Band mit Sängern und Sängerinnen einen "Marabi" genannten eingängigen Jazz mit einem Einschlag von Rhythm and Blues spielt. Andererseits werden einige der Szenen in der schönen, strahlend hellen Wohngegend der weißen Oberschicht mit bewusst süßlicher Klaviermusik unterlegt und so ironisch kommentiert. An einigen markanten Stellen des Films stammt die Musik nicht von Nxumalo, sondern aus "We Insist! Freedom Now Suite", einem wegweisenden Konzeptalbum, das der Schlagzeuger Max Roach mit einer Handvoll Musiker 1960 in New York aufnahm. Die Sängerin und Gelegenheitsschauspielerin Abbey Lincoln, die später auch mit Roach verheiratet war, übernahm den Gesang. Formaler Höhepunkt von DILEMMA ist eine grandiose Montage, die eine Gewalttat mit der Geburt von Sams Kind verknüpft, und über die Lincolns expressiver Vocalpart aus dem Stück "Triptych" gelegt ist. Allein dieser Geniestreich macht schon sämtliche Schwächen des Films wett.


Zakes Mokae begann seine Laufbahn in den 50er Jahren in einer Theatertruppe, die er mit dem weißen südafrikanischen Schriftsteller Athol Fugard gegründet hatte. Nach DILEMMA fühlte er sich in Südafrika nicht mehr sicher, er verließ fluchtartig das Land und ging zunächst nach England, 1969 dann in die USA. Dort war er ein vielbeschäftiger Schauspieler, vor allem am Theater. 1982 gewann er für eine Rolle in einem Stück von Fugard einen "Tony", den Broadway-Oscar. Evelyn Frank war keinen direkten Schikanen ausgesetzt, aber das allgemeine Klima der Repression veranlasste auch sie 1965, mit ihrer Familie in die USA zu emigrieren. 1996 trafen sich Carlsen, Mokae, Evelyn Frank und Nadine Gordimer in Johannesburg wieder, was von dem dänischen Regisseur Anders Høgsbro Østergaard in der 53-minütigen Doku GENSYN MED JOHANNESBURG (JOHANNESBURG REVISITED) festgehalten wurde.


DILEMMA lief 1962 auf der Internationalen Filmwoche Mannheim und gewann dort drei Preise, darunter den Hauptpreis für den besten Spielfilm. Henning Carlsen stieg im Verlauf der 60er Jahre in die Oberliga der dänischen Regisseure auf, insbesondere durch die grandiose Hamsun-Verfilmung HUNGER (1966). Carlsens Website liegt zum größten Teil auch auf Englisch vor. Dort kann man auch seine Spielfilme auf DVD bestellen (jedoch nicht alle mit Untertiteln). Die DVD von DILEMMA bietet GENSYN MED JOHANNESBURG sowie ein 25-minütiges Video-Statement von Carlsen, in dem er die Entstehung von DILEMMA rekapituliert, als Bonus; die dänischen Teile des Bonusmaterials haben engl. Untertitel. UPDATE: Nach Carlsens Tod im Jahr 2014 ist die Website nicht mehr online.

Trailer:

Donnerstag, 29. September 2011

Ein Künstler in Auflösung: RYAN

RYAN
Kanada 2004
Regie: Chris Landreth
Sprecher: Ryan Larkin, Chris Landreth, Felicity Fanjoy, Derek Lamb


Der Kanadier Ryan Larkin (1943-2007) war vor über 40 Jahren ein Shooting Star, um nicht zu sagen ein Wunderkind, des Animationsfilms. Unter der Ägide des National Film Board of Canada (NFB) schuf er von 1966 bis 1972 vier Kurzfilme, außerdem ein paar kurze Clips, z.B. einen für die kanadische Forstverwaltung, in dem vor Waldbränden gewarnt wird. Norman McLaren, die geniale und über Jahrzehnte produktive Galionsfigur des NFB, nahm ihn unter seine persönlichen Fittiche. Nach der eineinhalbminütigen Talentprobe CITYSCAPES erregte schon sein zweiter Film SYRINX, der in impressionistischer Manier, mit Holzkohle gezeichnet, die griechische Sage von der Nymphe Syrinx interpretiert, Aufsehen. Der nächste Film, WALKING (franz. EN MARCHANT), der den menschlichen Gang zum Thema hat, wurde für einen Oscar nominiert und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, ebenso wie der darauf folgende STREET MUSIQUE, der Figuren in unablässiger surrealer Metamorphose zeigt. Mit WALKING und STREET MUSIQUE beeinflusste Larkin eine ganze Generation junger Animationsfilmer. Doch STREET MUSIQUE war für mehr als 30 Jahre sein letzter Film. Larkin, der schon seit seiner Kindheit psychische Probleme mit sich herumschleppte, wurde in den 70er Jahren alkohol- und kokainsüchtig. Er war nicht mehr zu kreativer Arbeit fähig, und schließlich ging sein Leben ganz in die Binsen - er landete als Bettler auf der Straße. In den letzten Jahren vor RYAN hatte Larkin immerhin einen ständigen Wohnplatz in einem Asyl in Montreal, aber er lebte weiterhin von der staatlichen Wohlfahrt und vom Betteln. Die Kokainsucht hatte er inzwischen überwunden, aber er trank immer noch zuviel.


Vor gut zehn Jahren lernte Chris Landreth, seinerseits ein Shooting Star des (computergenerierten) Animationsfilms, Larkin kennen und befreundete sich mit ihm. Mit Larkins Einverständnis beschloss er, eine animierte Dokumentation über dessen Karriere und Abstieg zu drehen. Akustische Grundlage des 14-minütigen RYAN bilden aufgezeichnete Gespräche zwischen Larkin und Landreth, zu denen Landreth mit seinem Team dann die Bilder schuf. Und was für Bilder! Ausgangspunkt sind realistische 3D-Animationen, die aber bei Chris - im Film werden die Figuren nur beim Vornamen genannt - von farbigen Strähnen und Fasern, die etwas an Arnulf Rainers Übermalungen erinnern, überlagert werden, und die die Brüche und Verletzungen der Person symbolisieren. Noch krasser ist die Darstellung von Ryan. Die jahrelange Sucht hatte ihre Spuren hinterlassen: Zwar sah er noch ganz gut aus, aber die Bewegungen waren fahrig, die Sprechweise oft stockend. Landreth visualisiert Ryans schlechten Zustand durch die Weglassung ganzer Körperteile und findet dabei schrecklich schöne Bilder, die etwas an David Cronenberg, an Salvador Dali und an Gunther von Hagens' "Körperwelten" erinnern. Landreth nennt den sich aus solchen Mitteln ergebenden Stil "Psycho-Realismus".


Die Figuren des Films werden komplettiert durch den langjährigen NFB-Produzenten Derek Lamb und Ryans frühere Lebensgefährtin Felicity, die ihre Sicht auf Ryans Weg beisteuern. Beim Gespräch mit Felicity kommt es zu einem gleichermaßen bewegenden wie befremdlichen Moment: Ryan sagt zu Felicity, dass er sie immer noch liebt, und dass sie hätten Kinder haben sollen. Hätte das seinen Abstieg verhindert? Das weiß natürlich niemand, aber Ryan glaubte es offenbar in diesem Moment. Im nächsten Abschnitt spricht Chris Ryans Alkoholismus an und will ihn überreden, auf den Alkohol zu verzichten, um wieder kreativ tätig werden zu können - was mit einem Wutausbruch Ryans endet. Weil sich Landreth in dieser Szene nachträglich wie ein Prediger vorkam, visualisiert er das mit grandioser Selbstironie, indem er Chris eine als Heiligenschein gestaltete Neonröhre aufsetzt und im passenden Moment anknipst. Der Heiligenschein brennt durch und fällt ab, als Chris auch in Bezug auf sich selbst persönlich wird: Indem er nämlich seine an den Folgen ihres Alkoholismus verstorbene Mutter Barbara (der der Film gewidmet ist) in die Erzählung einbezieht. Den Schluss des Films bildet eine Szene, die Ryan beim Betteln in seinem Viertel in Montreal zeigt.


RYAN gewann den Oscar für den besten animierten Kurzfilm, drei Preise in Cannes und diverse weitere Auszeichnungen. Parallel zur Entstehung des Films und darüber hinaus drehte der Dokumentarist Laurence Green die 52-minütige Doku ALTER EGOS, die das Verhältnis von Landreth und Larkin beleuchtet, weiteren Aufschluss über Larkins Vergangenheit bietet und dabei Aspekte anschneidet, die im kurzen RYAN fehlen mussten. Emotionaler Höhepunkt von ALTER EGOS ist die Szene, in der Larkin zusammen mit Landreth zum ersten Mal RYAN gesehen hat. Er ringt sich ein "I'm not very fond of my skeleton image!" ab und ist ansonsten ziemlich sprachlos - er muss erst verdauen, was er da gesehen hat. (Später soll er sich beschwert haben, dass er von Landreth zu grotesk dargestellt wurde.) Obwohl RYAN fast komplett in ALTER EGOS enthalten ist, ist Greens Film alles andere als ein übliches Making Of. Tatsächlich lässt Green kritische Distanz zu Landreth erkennen: Sowohl im Film selbst als auch in seinem Audiokommentar dazu lässt er durchblicken, dass er das, was Landreth mit Larkin gemacht hat, für eine Art von Ausbeutung hält. Landreth selbst sagt auch in ALTER EGOS, dass er das Projekt als Künstler und nicht als Sozialarbeiter anging. Doch da trifft er sich mit Larkin, für den ebenfalls die Kunst die einzige Motivation für seine Filme war.


Für Ryan Larkin schien es nach RYAN ein Happy End zu geben. Er bekämpfte seinen Alkoholismus, wurde wieder kreativ tätig und begann die Arbeit an einem neuen Film mit dem Titel SPARE CHANGE. Landreth, Green und das durch RYAN erzeugte neue Interesse mögen zu dieser Wende beigetragen haben, aber die wichtigste Motivation bestand in dem Ehepaar Laurie Gordon und Krassy Halatchev, die zusammen das Elektropop-Duo Chiwawa bilden. Tatsächlich begann Larkins Freundschaft und Zusammenarbeit mit Chiwawa schon 2002. Aus Skizzen für ein Albumcover entstand der Plan zu SPARE CHANGE, Larkin übernahm auch andere kleine Aufträge, z.B. gestaltete er Bumpers für MTV Canada, und er hatte wieder ein eigenes Einkommen und ein Bankkonto. Als er wegen schlechten Betragens aus dem Asyl flog, zog er bei Gordon und Halatchev ein. SPARE CHANGE behandelt zunächst selbstironisch Larkins bisherige Existenz als Straßenbettler und bricht von diesem Ausgangspunkt zu einem Trip in den Himmel und die Hölle auf. Der Soundtrack wird von Chiwawa beigesteuert. Larkin war also auf einem guten Weg, doch im Februar 2007 starb er an Krebs. Die einzelnen Szenen von SPARE CHANGE waren schon weitgehend animiert. Der Film wurde von Laurie Gordon als Produzentin und Co-Regisseurin gemäß Larkins Anweisungen fertiggestellt und 2008 herausgebracht.


RYAN ist in den USA auf einer Special Edition DVD erschienen, die auch ALTER EGOS, Larkins SYRINX, WALKING und STREET MUSIQUE sowie THE END und BINGO, die ersten beiden Filme von Landreth, enthält. Alle sieben Filme sind auch mit einem Audiokommentar des jeweiligen Regisseurs versehen.

RYAN:


ALTER EGOS:


Filme von Ryan Larkin:










Die Filme von Ryan Larkin und Chris Landreth und weiteres Material wie Interviews gibt es auch bei YouTube.

Samstag, 24. September 2011

Cole Porter in den Mühlen einer verlogenen Traumfabrik

De-Lovely - Die Cole Porter Story
(De-Lovely, USA/Grossbritannien 2004)

Regie: Irwin Winkler
Darsteller: Kevin Kline, Ashley Judd, Jonathan Price, Kevin McNally, Sandra Nelson, Allan Corduner, Keith Allen, James Wilby u.a.

Kevin Kline ist zweifellos ein mehr als beachtlicher Schauspieler, der sowohl im dramatischen Fach (“Sophie’s Choice”, 1982) als auch in Komödien (“A Fish Called Wanda”, 1988) Ausserordentliches vorzuweisen hat. Zu Beginn des Jahrtausends liess er sich jedoch zu zwei Filmen unter der Regie von Irwin Winkler hinreissen, die ich nicht nur als enttäuschend, sondern - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - als regelrechte Ärgernisse empfand. Dass ihm die angebotenen Projekte verlockend, weil prestigeträchtig und wie für ein amerikanisches Publikum gemacht, vorkommen mussten, ist nachvollziehbar. Irwin Winkler war allerdings als Regisseur nicht annähernd so gut wie als Produzent von Filmen wie “Music Box” (1989) oder “Goodfellas” (1990); dies hatte schon sein Erstling “Guilty by Suspicion” (1991) gezeigt. Was die beiden Filme mit Kevin Kline jedoch so bedenklich erscheinen lässt, ist nicht bloss ihre konventionelle, uninspirierte Machart. Eine ausführlichere Besprechung der Krebs-Schmonzette mit reaktionärer Botschaft "Life as a House" (2001), einer Zumutung für jeden Schwerstkranken, der kurz vor seinem Tod nicht mehr auf Dachbalken herumjonglieren kann, erspare ich mir hier  und beschränke mich auf das Machwerk, das sich offenbar als zeitgemässe Darstellung des Lebens eines der grossen Musical-Komponisten der Vereinigten Staaten versteht.


Zuerst ein Outing: Ich bin ein grosser Fan älterer Musicals im Film und auf der Bühne, und ich schätze Cole Porter nicht zuletzt deshalb, weil er seiner Musik einzigarte, oft rotzfreche, aber auch zärtliche Liedtexte zu unterlegen vermochte. Diese Möglichkeit verdankte er einer Zeit, in der das Motto “Anything Goes” mit einer Bedeutung erfüllt war, die in einer Musical-Verfilmung oder gar in einem Biopic deutlich zum Ausdruck kommen müsste... - Leider erwies sich das moralinsaure Hollywood stets als unfähig, diese Aufgabe auch nur annähernd zu bewältigen: Filme wie “Kiss Me, Kate” (1948) oder “High Society” (1955) kommen viel zu bieder daher; das von Michael Curtiz gedrehte Biopic “Night and Day” (1946) mit Cary Grant muss sogar eine derart überzuckerte und verlogene Schnulze sein, dass mir ein paar Ausschnitte reichten. - Im Jahre 2004 hätte man eine dem Leben des Komponisten angemessene Verfilmung, die das Schrille, Abgründige jener Zeit, in der der von inneren Dämonen gequälte Cole Porter seine grossen Erfolge feierte, nicht bloss andeutungsweise (Dekor und Kostüme) vermittelt wird, erwarten dürfen - freilich nicht unter der Regie von Irwin Winkler!

“De-Lovely” bettet die Geschichte von Cole Porter in eine bereits vielsagende Rahmenhandlung ein: Der dem Tode nahe Komponist darf seine wichtigsten Stationen (Paris, Venedig, New York, Hollywood) noch einmal in Form einer Nummernrevue an sich vorüberziehen lassen - Regisseur ist Gabe (der Erzengel!). Und wir erleben mit ihm noch einmal in schwelgerisch-farbenfroh arrangierte Bilder (das himmlische Personal hat weder Kosten noch Mühen gescheut!) eingebettete Höhepunkte aus dem wiederum zurechtgerückten Leben eines Genies, die mit den wunderschönen, leider oft von bedeutungslosen Dialogen begleiteten Songs (sie werden z.T. von zeitgenössischen Künstlern wie Robbie Williams, Alanis Morissette, Sheryl Crowe und Natalie Cole interpretiert) der Musical-Legende angereichert sind - und ohne jeglichen Tiefgang geradezu langweilig-uninspiriert abgespult werden (selbst das berühmte Duett “Well Did You Evah!” wirkte 1955 von Bing Crosby und Frank Sinatra dargeboten wesentlich frecher, dem Geist von Cole Porter entsprechender, als hier), was den Eindruck erweckt, Winkler habe lediglich eine - allerdings kostspielige - Pflichtübung in Sachen Kitsch absolviert.

Kevin Kline und Ashley Judd spielen ihre Rollen als Ehepaar (genauer: Komponist und Muse) Cole und Linda Porter, der wohlhabenden Frau, die sich den Luxus leistete, täglich neue Handschuhe anzuziehen und ihrem Mann zu jeder Premiere ein teures Zigarettenetui zu schenken, hervorragend, überzeugen als jugendliche “Let’s Misbehave”- Europäer ebenso wie als langsam alternde und leidend-gehässige Figuren (Cole Porter war nach einem Reitunfall schwer verletzt und musste sich gegen Ende seines Lebens beide Beine amputieren lassen, die Kettenraucherin Linda starb an einer kaputten Lunge); sie wurden entsprechend auch für den Golden Globe nominiert. Die sie umgebenden Figuren, die - wie Monty Woolley, Irving Berlin oder Louis B. Mayer - für Leben und Karriere des Komponisten von grosser Bedeutung waren, wirken hingegen so blass und bedeutungslos wie die vielen Männer, mit denen Cole Porter Sex hatte (Cole war schwul, wenn er hier auch als bisexuell gezeichnet und bloss beim Sich-Anziehen nach einer Nacht mit einem russischen Balletttänzer oder beim Kuss im Halbdunkel gezeigt wird - was der reaktionären Tendenz des Films entspricht). - Das Ehepaar scheint sich jedoch nicht viel zu sagen zu haben: Cole betont höchstens alle drei Minuten, er habe den eben gehörten Song bloss für Linda geschrieben. Wie unsagbar billig, einfallslos und verlogen!


Einige Szenen deuten an, was aus “De-Lovely” hätte werden können: Ich denke etwa an die Reaktion Porter’s auf das Aufbegehren eines Schauspielers, er könne das (einen grossen Stimmumfang benötigende) Lied “Night And Day” nicht singen. Der Komponist begibt sich auf die Bühne, zeigt dem sich Beklagenden, wie man sich einfühlt - und dann performt der Junge, der nach der Premiere seinem Lehrer zur "Verfügung” steht, den Song perfekt vor Publikum. Besonders hübsch wirkt auch Cole’s Reaktion auf die Bitte von Louis B. Mayer, für den Film einfache Songs zu schreiben: Er macht ihn zum Song “Be A Clown” zum - Clown! - Andererseits verzichtet Winkler auf eine lineare Abfolge der Songs, was wenigstens die Chronologie der Erfolgsmusicals von “Paris” über “Anything Goes” bis zum nach einem langen Tief unerwarteten Comeback mit “Kiss Me Kate” rekonstruieren liesse. Stattdessen werden - und das empfand ich als grösstes, weil richtig peinlich wirkendes Ärgernis - die Songs so eingebaut, dass sie der Handlung gerade entgegenkommen: Wenn Cole mit Linda im Park spaziert, stösst man "zufällig" auf ein Klavier und trällert “Easy to Love”, wenn er eine Bar mit schwulen Strichern betritt, erklingt passend “Love For Sale” - und kurz vor seinem Tod tröstet ihn der Chor mit “Blow, Gabriel, Blow”(keine Hintergedanken, bitte!). Dass man zum Song "De-Lovely"  auch noch laute Streitereien zwischen Linda und ihrem Ex-Mann aufgetischt bekommt oder den Small Talk zum untypischen Duett "True Love" geniessen darf, macht den Film zum denkbar fragwürdigsten "Erlebnis".  - Dies sind die Momente, in denen man bereut, dass man sich anstelle der DVD nicht eine CD mit Cole Porter-Songs gekauft hat. Denn die jugendliche "Ausgelassenheit" in Europa, der dekadente Lebensstil, dem man sich an einem Swimming Pool in Hollywood hingibt und die diversen Trennungen und Erpressungen wegen der Männergeschichten füllen beim besten Willen kein offensichtlich hoffnungslos überteuertes Biopic, das zwar nicht gar so langatmig sein mag wie Taylor Hackford's "Ray" (2004) oder "Walk the Line" (2005)  von James Mangold, jedoch noch eine Spur banaler.

Die “Komische Oper Berlin” inszenierte 2008 “Kiss Me Kate” auf eine Weise, die dem Perfektionisten Cole Porter vielleicht nicht gefallen hätte, jedoch zeigte, dass man den der Musik zugrunde liegenden Geist heute sehr wohl zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln vermag: schrill, ausgelassen, wild, bewusst dekadent eben. Die Bianca umschwärmenden Männer (“Any Dick, Tom, Or Harry”) werden zu glitzernden Cowboys, einer von ihnen zieht sich hinter der Bühne gelegentlich eine Prise Koks rein und der Beginn des zweiten Akts (“Too Darn Hot”) präsentiert herrlich gelangweilt-besoffene Gestalten usw. usw. - Leider war es mir nicht möglich, mir diese heute eines Cole Porters würdige Inszenierung in Berlin anzusehen, und ich musste mich auf eine Aufzeichnung von 3sat verlassen. Sollte sich der Sender gelegentlich zu einer erneuten Ausstrahlung aufraffen: dort kann man sehen, was gezeigt werden müsste, man von einem Vertreter des neuen reaktionären Kinos wie Irwin Winkler jedoch nicht im Traum erwarten darf.

***

Eigentlich wollte ich mich mit einem fulminanten, beinahe schon dekadenten Musical in den Urlaub verabschieden. Fehlende Zeit und Energie machten es jedoch nötig, den schon an anderer Stelle veröffentlichten Verriss leicht zu modifizieren und als Ersatz anzubieten. Dies möge der Leser bitte entschuldigen!

Ich muss aus privaten Gründen leider auch auf das übliche Versprechen verzichten, mich prompt nach sechs Wochen Absenz wieder hier einzufinden und meinen Mist im gewohnten Rhythmus zu liefern. Es wird sicher wieder "Whoknows" geben, möglicherweise aber nicht mehr gar so oft und häufiger mit Kurzbesprechungen. - Aus diesem Grund möchte ich meinem Co-Admin Manfred Polak auch noch öffentlich das gestatten, was er eigentlich schon längst dürfte: grundsätzliche Änderungen am Layout nach Absprache, die Aufnahme neuer spannender Blogger in die Blogroll - und sollte er auf einen würdigen und interessierten (Teilzeit-)Mitautor (alle drei bis vier Wochen ein Beitrag) stossen, wäre dies nur in meinem Interesse. --- Mag  all das jetzt auch ein wenig  gedämpft wirken: Geniesst die Zeit ohne mich! Wir lesen uns!