Dienstag, 10. April 2012

Isländisch für Anfänger


Engel des Universums
(Englar alheimsins, Island/Norwegen/Dänemark/Deutschland/Schweden 2000)

Regie: Fridrik Thór Fridriksson
Darsteller: Ingvar Eggert Sigurdsson, Baltasar Kormákur, Björn Jörundur Fridbjörnsson, Hilmir Snaer Gudnason, Margrét Helga Jóhannsdóttir u.a.

Fridrik Thór Fridriksson, dessen “Children of Nature” (Börn náttúrunnar, 1991) noch für den “Auslands-Oscar” nominiert worden war, erntete in den letzten Jahren auf internationaler Ebene wesentlich weniger uneingeschränktes Lob als in seiner Heimat, wo er wohl mehr als Hrafn Gunnlaugsson den Ruf geniesst, das isländische “Wesen” mit seiner Schwermut, seiner Ironie und seinem Hang zum Mythos auf einzigartige Weise in Bilder und Geschichten umzusetzen. - Dass die Bilder von Filmen wie “Fálkar” (2002) oder “Niceland” (2004) bestechen, den mit dem isländischen Film weniger vertrauten Betrachter sogar bestechen müssen, ist unbestritten. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Island ein für bestechende Bilder privilegierter Flecken Erde ist - und dieses Privileg kann leicht dazu verlocken, im Kern immer wiederkehrende Geschichten über Aussenseiter mit oft recht banaler Botschaft als Verpackung für grossartige Aufnahmen zu benutzen.

“Englar alheimsins”, der erste Film, den ich von Fridriksson sah (eine Kollegin kehrte vor einigen Jahren nach längerem Aufenthalt aus Island zurück und drückte mir ein paar DVDs in die Hand, die mich erstmals auf das Revival des isländischen Films aufmerksam machten), ist dem Genre des Psychiatriefilms zuzuordnen, das natürlich geradezu zu “vieldeutig-raunenden” Bildern verführt. - Páll, ein begabter Maler und Musiker mit grossen Plänen, der - für ledige Männer in Island nicht untypisch - Ende der 60er Jahre noch bei seinen Eltern lebt, wird von seiner Freundin, Tochter aus besserem Hause, sitzen gelassen. Im Geiste des sensiblen jungen Mannes, der schon immer mit seiner Kindheit verbunden war und an seltsamen Vorstellungen hing (er denkt, die NATO wälze ihre Kriege in seinem Kopf ab oder hängt einem Traum seiner Mutter nach, in dem sie vier Pferde aus dem Meer daher galoppieren und eines zusammenbrechen sah), beginnt sich der Wahnsinn auszubreiten. Agonie und Aggression wechseln sich ab. Er hält sich für van Gogh, schmiert Bilder auf grossflächige Leinwände, bearbeitet sein Schlagzeug bis zur Erschöpfung und lässt sein Bett hin-und herschwanken, als hätte ein Poltergeist von ihm Besitz ergriffen. All diese Veränderungen überfordern die Eltern von Páll, der auch (ein weiteres Zeichen, dass ihm sein Körper zuwider ist) seinen Schädel kahlgeschoren hat, und sie weisen ihn in Kleppur, eine psychiatrische Klinik, ein. Dort diagnostiziert man: Schizophrenie.


In Kleppur begegnet Páll drei weiteren Männern, die unter einem Wahn leiden, den - wie man in Gesprächen bald feststellt - die Isländer für ihre verborgene Volkskrankheit halten, weshalb sie Leute mit einem deutlich abweichenden Bild von der traurigen Wirklichkeit wegsperren: Peter hält sich für Schiller, Óli (verkörpert von Baltasar Kormákur, der mittlerweile selber zu den bedeutenden Regisseuren Islands zählt) ist ein Musiker, der von den Beatles den Auftrag zu erhalten glaubt, ihre ungeschriebenen Songs zu schreiben - und Viktor hat sich in die Rolle eines philosophierenden Nazis hineingesteigert. In Gesprächen, die Christus als möglichen Wahnsinnigen (“man würde ihn heute wegsperren”) und die Tötung Gottes durch einen Satz von Nietzsche thematisieren, findet man rasch heraus, dass die eigentlichen Wahnsinnigen draussen in der Welt leben und in Kleppur nur durch das kühle, sterile Klinikpersonal vertreten sind. Fazit: Die ganze Welt ist eine Anstalt; wir aber sind die Engel, die von Gott in diese Anstalt Welt gesandt wurden. - Welch eine (billige) Botschaft, die durch eines jener unangenehm symbolträchtigen Bilder (Páll kann in einem “Traum” auf dem Wasser gehen) unterstrichen wird!

Der in die “Freiheit” entlassene Peter kommt - was durchaus realistisch erscheint - mit seinem neuen Leben nicht zurecht und wählt den Freitod. Seine drei Freunde erhalten für die Beerdigung Freigang (ein Zeichen des Vertrauens, wie der Arzt betont) und nutzen die Gelegenheit zum Besuch eines Nobelrestaurants, in dem sie sich mit den erlesensten Speisen verwöhnen lassen. Die Szene bildet den humoristischen Höhepunkt des sonst schwer verdaulichen Streifens und mündet in eine Pointe, die sich beinahe mit Hlynurs in “101 Reykjavík” (2000) gezeigtem Versuch, sich im Schnee das Leben zu nehmen, vergleichen lässt. - Am Ende entlässt man auch Páll, und der Zuschauer weiss, wie er, der in der Anstalt zu seiner “Berufung” fand, enden wird.

Es handelt sich bei “Englar alheimsins” um die Verfilmung eines Romans des mit Fridriksson befreundeten Schriftstellers Einar Már Gudmundsson. Die beiden Künstler gelten als ausserordentlich heimatverbunden und die isländische Mythologie, die zum Teil ins Christliche übertragen wird, auskostend. Dies erklärt wohl einige der etwas arg mit “Bedeutung” beladenen und letztlich gar nicht so originellen Vorstellungen und Bilder. Denn wenn Fridriksson sich einfach seiner Geschichte und den der natürlichen Umgebung abgerungenen Bildern hingibt, wirkt sein Film durchaus stark. Man sieht etwa Óli und Páll mit flatternden Mänteln durch eine triste, vom Wind beherrschte und sonnenlose Landschaft laufen (Óli will den Präsidenten besuchen und ihm von seiner Verbindung mit den Beatles erzählen) - und man begreift, weshalb die Häuser in Island so bunt und malerisch wirken müssen: Sie bilden eine mehr als nötige Festung gegen die Natur mit ihrer dunklen Traurigkeit (die Isländer sollen nur mit viel Sex und Alkohol durch die Wintermonate kommen), deren vergeblich unterdrückten Einfluss auf den Menschen sich in der Figur eines scheinbar glücklich verheirateten Schulfreundes von Páll bemerkbar macht, der sich auch das Leben nimmt. - Und der Schluss des wahrhaft nicht für schwache Gemüter und regnerische Herbsttage gemachten Films könnte geradezu überzeugend sein, weil er zunächst nicht mit Symbolik aufwartet, sondern einfach die Wirklichkeit zeigt: Die Kamera lenkt den Blick auf auf- und zuklappernde Balkontüren, fährt auf den Balkon hinaus, man sieht einen Stuhl, von dem aus Páll, der auf dem Boden in einer Blutlache liegt, den erlösenden Sprung gewagt hat; ein Krankenauto fährt heran, die Bilder überblenden sich. Páll wird abtransportiert, am Ende bleiben nur die Blutlache und die hilflosen, sich umarmenden Eltern in der leeren Wohnung. Doch während der Beerdigung (sie wird aus der Luft aufgenommen) erzählt uns Pálls Stimme aus dem Off, er sei nicht tot, sondern ein Bestandteil des Meeres geworden. Und dann eine mythologisierende Erhebung, die ebenso unnötig wie pathetisch wirkt. - Alles in allem: “Englar alheimsins” ist ein (gut gespielter) Film, der einen höchst zwiespältigen Eindruck hinterlässt, “Anfängern” in seinen starken Momenten vielleicht einen Einblick in die naturbedingte isländische Schwermut zu vermitteln vermag - aber von manchen Kritikern des Regisseurs nicht zu Unrecht als Beginn eines Abstiegs ins Aufdringlich-Symbolische mit fader Geschichte betrachtet wird. 


Sonntag, 1. April 2012

Die ideale literarische Vorlage

Der junge Törless
(Der junge Törless, Deutschland/Frankreich, 1966)

Regie: Volker Schlöndorff
Darsteller: Mathieu Carrière, Marian Seidowsky, Bernd Tischer, Fred Dietz, Lotte Ledl, Jean Launay, Barbara Steele u.a.

Im Jahre 1902 verfasste Hugo von Hofmannsthal unter dem Titel "Ein Brief" ein Werk, das für die Erzählkunst der Moderne von grösster Bedeutung sein sollte. In diesem Brief beklagt sich ein fiktiver Lord Chandos in allerdings erlesenen Worten über die Unfähigkeit der Sprache, dem Ausdruck zu verleihen, was ihn berührt, was er erzählen möchte. Hinter dem "Brief des Lord Chandos" verbirgt sich eine persönliche Verunsicherung des Autors. Er wurde jedoch von verschiedenen Literaten der Zeit als Aufforderung betrachtet, sich vom traditionellen Erzählen des 19. Jahrhunderts (man sprach gerne vom "Fontaneisierenden Erzählen") zu lösen und eine Sprache zu suchen, die die Schilderung bisher unerzählter Realitäten ermöglichen sollte. So entstanden innerhalb eines Jahrzehnts  Werke, in deren Mittelpunkt diese Suche nach einem neuen Erzählen stand: Robert Walsers "Der Gehülfe" (1908), Rainer Maria Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), in dem sich die Hauptfigur, ein in der Grossstadt seine Identität Verlierender, die Sprache wünscht, die das wiederzugeben vermöchte, was ihm die noch angedeuteten Räume an abgerissenen Häuserwänden mitteilen - und natürlich Robert Musils erster Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" (1906), ein Werk, das sich in die Seele eines Pubertierenden hineinversetzt, der vor der unverständlichen, ihn überfordernden Realität (man sagt oft, die Geschichte habe nur "zufällig" mit Sadismus und Homosexualität zu tun) in eine Welt des Traums flüchtet.

Kaum jemand hätte erwartet, dass eines dieser Werke später nicht nur verfilmt, sondern als Film sogar von beinahe ebenso grosser innovatorischer Kraft sein würde wie als Roman. Doch um 1960 geriet der deutsche Film in eine ähnliche Krise wie das Erzählen um die Jahrhundertwende, und der Rückgriff   auf Musils "Törless" sollte 1966 nicht nur einem begeisterten Cannes zeigen, dass "Papas Kino", lange Jahre eine Peinlichkeit für die Festspiele, tatsächlich tot war. - Volker Schlöndorff gehörte zwar nicht zu den Mitbegründern des "Neuen Deutschen Films": Während eine Reihe von Filmemachern das Oberhausener Manifest verlesend eine Auseinandersetzung des Films mit politischen und gesellschaftskritischen Themen verlangte, besuchte er die Cinémathèque française, um später als Regieassistent bei Louis Malle, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais  zu arbeiten. Seine Robert Musil-Adaption, die etwas wirklich Neues sein wollte, sich auch bewusst von der Nouvelle Vague abhob, sorgte aber international derart für Aufsehen, dass sie heute als erstes erfolgreiches Ergebnis jener Bewegung betrachtet wird, die dem deutschen Film der 70er und 80er Jahre wieder die Bedeutung zu geben vermochte, die ihm bis in die frühen 30er hinein einst zukam.

Schlöndorff bemühte sich – wie schon der Trailer betonte – nicht um eine exakte (man sprach von „akademischer“) Literaturverfilmung. Dies war zum Teil gar nicht möglich, weil das bei Musil offen ausgesprochene homosexuelle Verlangen (Törless lässt sich von Basini, einem betont hübschen, sexuell anziehenden Schüler, während eines im Internat verbrachten Urlaubs verführen) im Deutschland der 60er noch ein heisses Eisen war und nur angetönt werden konnte. Auch das Ende erscheint wesentlich ambivalenter als im Roman, der die „Verwirrungen“ als Bestandteil eines Erwachsenwerdens deklariert. – Stattdessen setzte der junge Filmemacher auf die "Offenheit" des Werks, seine Zeitlosigkeit, die es ihm tatsächlich ermöglichte, einem in unterkühltem Hochglanz gehaltenen Schwarzweiss-Streifen über Geschehnisse in einem Internat der Jahrhundertwende eine bemerkenswerte Brisanz zu verleihen, weil er die Figuren nicht nur als einer untergehenden Kultur angehörende Zöglinge, sondern auch als Wegbereiter des Nationalsozialismus zeichnete. (Es ist, dies nur nebenbei, eigenartig, wie oft literarische Werke, zum Beispiel der dritte Teil der „Schlafwandler-Trilogie“, 1930-1932, von Hermann Broch , die den Untergang der k. und k.-Monarchie beschreiben, den Eindruck erwecken, sie bezögen sich nicht nur auf den Ersten Weltkrieg, sondern nähmen zugleich die Zeit des Nationalsozialismus vorweg. Man kann dies allerdings nicht einer Weitsichtigkeit der Autoren oder einer sich wiederholenden Geschichte zuschreiben, höchstens einer später erfolgten Interpretation, die wie Schlöndorff unliebsame Zusammenhänge betont). Dass aus der Verfilmung von Musils Roman mehr herauszulesen war als die brutalen Vorgänge in einem Kadetten-Internat, dürfte etwa dem Goethe-Institut sauer aufgestossen sein: es verschmähte „Der junge Törless“ noch zehn Jahre nach seinem Entstehen. Vergangenheitsbewältigung war etwas Neues, Unbequemes.


Die Geschichte ist bekannt: Der Bürgersohn Thomas Törless wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von seinen Eltern in ein Elite-Internat an der österreichisch-ungarischen Grenze gebracht, wo er zusammen mit anderen Schülern aus gutem Hause zu Zucht und Ordnung erzogen werden soll. Der nachdenkliche, zunehmend seiner Sinnlichkeit ausgelieferte und dadurch erst recht verunsicherte junge Mann empfindet allerdings nicht nur das Internatsleben als öde; ihm kommt auch die Umgebung mit den arbeitenden Frauen und dem Schlächter fremd und seltsam vor. Er schliesst sich den forschen Mitschülern Reiting und Beineberg an, die ihm aber auch nur eine heruntergekommene Schänke und die Dorfhure Bozena zu bieten haben, ein Weib, das Wien kennt und wegen seiner Schwangerschaft einst von dort verjagt wurde. Es sieht in den Kadetten die Ebenbilder ihrer Eltern: „Ihr seid wie eure Eltern: scheinheilig, feige und verlogen.“ - Basini, ein weiterer Mitschüler, macht sich vor allem durch seine Spendierfreude und seine Angeberei bemerkbar (er schickt sich selber einen Brief mit einem Strumpfband, das er mit den Worten „Von meiner Dulcinea!“ herumreicht). Gleichzeitig leiht sich Basini, der, wie wir später erfahren, von seiner armen Mutter unterstützt wird, bei allen Kameraden Geld aus, das er nicht zurückzahlen kann. 

Als der Angeber von Beineberg und Reiting des Diebstahls überführt wird, melden ihn die zwei Kadetten nicht der Schulleitung, sondern machen ihn zu ihrem Sklaven, für den sie sich immer neue Erniedrigungen ausdenken. Während Reiting  hemmungslos seine sadistischen Triebe auslebt und Beineberg, gern als Kenner der indischen Philosophie auftretend, sich angeblich nur an diesem Fall „schulen“ will, beobachtet Törless – mehr auf der Suche nach einem Halt in dieser seltsamen Welt, in der sich Realität und Irrealität kreuzen –  die zunehmenden Quälereien zuerst arrogant-desinteressiert wirkend, später angewidert. Da aber selbst sein Mathematiklehrer, von dem er sich Antworten auf seine die Realität betreffenden Fragen nach den imaginären Zahlen, die es in Wirklichkeit doch gar nicht gibt, nur mit Ausflüchten reagiert (eine einzigartige, die sich verbergen wollende Unwissenheit der Obrigkeit mit einem „Mein lieber Freund; du musst einfach glauben“ abtuende Szene), begibt er sich in eine Abwesenheit der Hoffnungslosigkeit, die angesichts seiner Unfähigkeit, dem der Klasse ausgelieferten Basini beistehen zu können, in eine wirkliche Flucht mündet. Denn alles, was er dem ihn um Hilfe bittenden Gequälten sagen konnte, war: „Es gibt eben eine schmutzige und eine saubere Welt. Es ist die gleiche, in der beides geschieht. Das ist die ganze Weisheit.“ 


Schlöndorffs Bilder dringen unterstützt von der nicht nur die Zuschauer der 60er Jahre verstörenden Musik Hans Werner Henzes tief in die Seele des Kadetten ein, die wie die karge Landschaft um den Bahnhof in der Einöde noch nicht vollendet ist. Sie lassen uns sein „Manchmal möchte ich am liebsten weglaufen“ als Reaktion auf die Unfähigkeit, die Welt mit ihren abstrakten Vorgängen zu deuten, verstehen, die Suche nach einer eigenen Position auch detailliert miterleben. Der begehrte Hals des Serviermädchens in der Schänke wird mit Törless‘ Augen aufgesogen, das interessierte Rollen einer Zigarette, die sich Beineberg genehmigt, träumerisch verfolgt. Wir erkennen Reitings puren Sadismus an seinem Spiel mit der Fliege, die er während einer langweiligen Unterrichtsstunde genussvoll zu Tode quält. Und diese ständigen Blicke, die sich die Schüler zuwerfen: Wie bist du? Wo stehst du? – So viele Kleinigkeiten weisen darauf hin, dass wir es mit mehr als einer Internatsgeschichte zu tun haben: Die drei kleinen Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!) im Büro des sich windenden Mathematiklehrers, die Pistole, mit der Beineberg Basini während seines „Hypnoseversuchs“ wie ein Nazi bedroht – aber auch Törless‘ „Flucht“ in sein Spiegelbild während der Quälereien, die das Publikum der 60er Jahre nicht nur aller Illusionen über die Donaumonarchie der „Sissi“-Filme beraubten, sondern äusserst schockierend gewirkt haben dürften (obwohl zum Beispiel die Einfachheit, mit der die Lynchszene gegen Ende inszeniert wurde, kaum zu überbieten ist). --- All diese Details weisen zusammen mit dem (gespielten?) Unverständnis des Lehrkörpers darauf hin, dass dieser Film auch die Vorgeschichte des Nationalsozialismus behandelt. Hinzu kommt dieser eigenartige Schluss, von dem man annehmen darf, er stehe für eine Weigerung, sich als erwachsen werdender Mensch der Realität zu stellen, zeige einen Törless, der es vorziehe, Geborgenheit in den Armen seiner Mutter zu suchen. - Nur ein paar britischen Filmen ("If....", 1968, "Another Country", 1984) gelang es, die brutalen Gepflogenheiten im geschlossenen System "Internat" ähnlich eindringlich darzustellen.


Über den Glücksgriff, der Schlöndorff mit dem jungen Mathieu Carrière gelang, ist oft geschrieben worden. Es kommt vielleicht alle Jubeljahre einmal vor, dass ein junger, recht unerfahrener Schauspieler eine derartige Glanzleistung bietet. Carrière lässt sich allerdings nur stellenweise mit dem träumerischen Törless in Musils Roman vergleichen (unter anderem in einer Szene, die ihn allein draussen herumirrend beim Gleiten in seine eigene Welt zeigt). Er tritt vielmehr als überheblich-intellektueller Schüler auf (vielleicht als Alter Ego des Regisseurs, der in Frankreich ein Jesuiten-Internat besucht hatte), was den Eindruck verstärkt, „Der junge Törless“ lehne sich zwar an die Vorlage an, sei jedoch - zum Teil wohl auch wegen der Unfähigkeit der Bilder, Erzähltes detailliert wiederzugeben - um eine eigenständige Interpretation bemüht, die die Dekadenz des frühen 20. Jahrhunderts konsequent zum Vorläufer der Unmenschlichkeit einer späteren Zeit mache. – Aber auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt. Ich möchte hier nur auf Barbara Steele hinweisen, die als Dorfhure Bozena einen kleinen Auftritt hat. Man könnte sie, Musils Text folgend, einfach als billige Schlampe darstellen. Schlöndorff verlieh ihr jedoch das, was sie zur „femme fatale“ und für die jungen Kadetten überhaupt erst verlockend machte. Offenbar steckt doch das in der Figur, was wir ihr in einem Seminar unserem Professor einst energisch absprachen, weil sie sich schlicht nicht in eine Reihe stellen lassen will mit den verführerischen "femmes fatales" der Jahrhundertwende, in Heinrich Manns "Professor Unrat" oder Thomas Manns "Der Zauberberg", der, die Androgynität solcher Figuren auf die Spitze treibend, mit Madame Chauchat die einzige Frau mit Penis (symbolisch!) in der damaligen Literatur präsentierte.


Obwohl ich noch immer auf einen Regisseur warte, der den Mut aufbringt, Rilkes „Malte Laurids Brigge“ (ein durchaus zeitgemässer Stoff!) wenigstens fragmentarisch zu verfilmen, muss Musils „Törless“ als die ideale Vorlage für einen Film betrachtet werden, der den Tod von Papas Kino in den 60ern erst zum internationalen Ereignis zu machen verstand. - Sein mehr als berechtigter Erfolg brachte den jungen Regisseur leider auf die Idee, er sei geradezu prädestiniert, schwierige literarische Stoffe auf brisante Weise für das Kino aufzubereiten. Diese gefährliche, an Hochmut grenzende Vorstellung sollte in einzelnen Fällen wirklich gute Literatur-Verfilmungen hervorbringen („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975), oft aber zeigen, dass auch Schlödorff Bescheidenheit angemessen gewesen wäre. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass der zwar mit einem Auslands-Oscar prämierte „Die Blechtrommel“ (1979) höchstens bewies, wie gefährlich, ja desaströs es sein kann, wenn man sich an den Roman eines sprachlichen Virtuosen wagt. Die Verfilmung von „Die Fälschung“ (1981), einem Roman des jung verstorbenen Nicolas Born, wirkt ebenso unbeteiligt wie die Frisch-Adaption „Homo Faber“ (1991), schon als literarisches Werk ein trockenes Konstrukt, dessen Lektüre man Gymnasiasten nicht mehr zumuten sollte. Und der sowohl blasse als auch schwülstige Versuch, mit „Un amour de Swann“ (1984) sogar Marcel Proust zu verfilmen, lässt höchstens erkennen, dass Volker Schlöndorff ohne diese verbohrte Vorstellung, der Meister der verfilmten Literatur zu sein, nach seinem grandiosen „Törless“ noch eine weitaus beachtlichere Filmographie vorzuweisen hätte.

Sonntag, 25. März 2012

Jesus Kinski Superstar

JESUS CHRISTUS ERLÖSER
Deutschland 1971/2008
Regie: Peter Geyer
Text und Vortrag: Klaus Kinski

Ich spreche nicht von dem Jesus mit der gelben leberkranken Haut, den eine irrsinnige menschliche Gesellschaft zur größten Hure aller Zeiten macht. Dessen Kadaver sie pervers mit sich herumschleppt an infamen Kreuzen. Ich spreche von dem Abenteurer, dem furchtlosesten, modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren lässt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen.

Dieses Gesindel
[Störenfriede im Publikum] ist noch beschissener als die Pharisäer. Die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben.

(Klaus Kinski)


In der Frühphase seiner Karriere von 1952 bis 1962 gehörten Rezitationen auf der Bühne zu Klaus Kinskis Hauptbetätigungen, dann verzichtete er zugunsten seiner Filmkarriere darauf. Doch 1971 wollte er es noch einmal wissen. Er schrieb einen 30-seitigen Text über Jesus, wie er ihn sah (tatsächlich wollte Kinski schon Anfang der 60er Jahre ein ähnliches Projekt verwirklichen, konnte damals jedoch keinen Veranstalter davon überzeugen). Er beginnt mit einem Fahndungsaufruf: "Gesucht wird Jesus Christus!" Nach einer Charakterisierung des Gesuchten schlüpft Kinski selbst in die Rolle von Jesus und bedient sich dabei ausgiebig in Texten des neuen Testaments, verändert und angereichert durch aktuelle Bezüge. Es ist ein kämpferischer, ein revolutionärer Jesus, den Kinski da entwirft: "Seine Umgebung sind Gotteslästerer, Staatenlose, Zigeuner, Prostituierte, Waisenkinder, Kriminelle, Revolutionäre, Asoziale, Obdachlose, Arbeitslose, verurteilte Gefangene, Geflohene, Gejagte, Mißhandelte, Zornige, Kriegsverweigerer, Verzweifelte, schreiende Mütter in Vietnam, Hippies, Gammler, Fixer, Ausgestoßene, zum Tode Verurteilte." Kinskis Jesus bekämpft das Establishment - das vor 2000 Jahren, aber mehr noch das vor 40 Jahren, das wirtschaftliche, politische und kirchliche Establishment (und bei letzterem insbesondere den Papst). Parallelen zur "Befreiungstheologie", wie sie seinerzeit vor allem in Lateinamerika betrieben wurde, sind unübersehbar, und der Wiener Theologe Adolf Holl hat mit seinem Buch "Jesus in schlechter Gesellschaft" von 1971 einen direkten Einfluss auf Kinski ausgeübt. Natürlich entspringt die Stoßrichtung des Textes auch dem allgemeinen Zeitgeist und Kinskis künstlerischen und politischen Überzeugungen.


Mit diesem Text ging Kinski auf eine Tournee mit dem Titel "Jesus Christus Erlöser", die ihn eigentlich durch viele Großstädte führen sollte. Es kam jedoch nur zu zwei Vorstellungen. Die Auftaktveranstaltung fand am 20. November 1971 vor 3000-5000 Zuschauern in der Berliner Deutschlandhalle statt. Ein Aufnahmeteam filmte auf Kinskis Veranlassung das Ereignis auf 16mm mit - die Grundlage des hier besprochenen Films. Kinskis Vortrag ist intensiv und stellenweise exaltiert, wie man es von ihm kannte und erwartete. Er allein auf abgedunkelter Bühne vor dem Mikrofon stehend. Doch von Anfang an gab es störende Zwischenrufe. Ein Teil des Publikums nahm es ihm übel, dass er nicht der brotlosen Kunst frönte, sondern mit vielen Filmen (von oft zweifelhafter Qualität) gutes Geld verdient hatte, während sein Jesus nun den Mammon verdammte. So wurde er denn als Heuchler und ähnliches beschimpft. Natürlich gab es auch Christen im Publikum, die ihren Jesus durch Kinski verunglimpft oder zumindest falsch dargestellt glaubten. Zu dieser Kategorie gehörte einer, den Kinski nach wenigen Minuten auf die Bühne zitierte: "Komm Du jetzt hierher, der so ein großes Maul hat!". Nachdem der Mann kundtat, dass er an einen duldsameren Jesus als Kinski glaubt, widersprach Kinski heftig und verabschiedete ihn mit einem herzhaften "Du dumme Sau" von der Bühne. Und weiter: "Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder die, die nicht zu dem Gesindel gehören, schmeißen die anderen raus, oder sie haben ihr Geld umsonst bezahlt!" Dann verließ er die Bühne - nicht zum letzten Mal an diesem Abend. Jede dieser Pausen wird im Film durch kurze Einblendungen aus Kinskis Autobiographie "Ich brauche Liebe" von 1991 überbrückt, die sich auf jenen Abend beziehen (daraus sind auch die beiden eingangs angeführten Zitate entnommen).


Nachdem er sich beruhigt hatte und auf die Bühne zurückkehrte, begann er mit dem Text nochmal von vorn. Doch die Störungen gingen weiter, mal mehr, mal weniger lautstark. Mehrfach legte Kinski kurze Pausen ein, um dann seinen Text leicht abzuwandeln und ersichtlich auch gegen die Störer im Publikum zu richten. Etwa eine halbe Stunde nach dem Neubeginn erklomm einer die Bühne, diesmal ohne Einladung, wurde von Kinski am Sprechen gehindert und von einem Ordner von der Bühne gedrängt. Danach eskalierte die Stimmung, wurde fast tumultuös. Kinski verließ wieder die Bühne und kündigte an, er werde erst wiederkommen, wenn "das Scheißgesindel" weggegangen sei. Während seiner Abwesenheit wurde nun auf der Bühne diskutiert. Einer der Redner aus dem Publikum verlangte, Kinski solle sich bei dem von der Bühne Gedrängten entschuldigen, und er bezeichnete Kinski wegen des Vorfalls als "Faschist und Psychopath". Schließlich kam Kinski zurück und setzte seinen Text fort, doch die Stimmung beruhigte sich nicht wirklich, immer wieder gab es Zwischenrufe, und Kinski rang sichtlich um seine Konzentration. Nach 70 Minuten im Film (im Saal war schon deutlich mehr Zeit vergangen) war es wiederum soweit: Kinski verließ die Bühne, einer aus dem Publikum bemächtigte sich des Mikrofons, schließlich machte der Veranstalter von seinem Hausrecht Gebrauch und verwies einige Störer des Saals, Polizei war zu sehen. Kinski erklomm nur noch kurz die Bühne, erklärte die Veranstaltung für beendet und ging wieder.


Damit schien die Sache gelaufen, und der größte Teil des Publikums verließ den Saal. Aber ein Häuflein von vielleicht 100 Leuten versammelte sich auf dem Boden vor der Bühne und harrte aus. Und tatsächlich, gegen Mitternacht erschien Kinski und begann erneut, seinen Text zu sprechen - nicht auf der Bühne, sondern mitten unter den Leuten. Unruhe im Restpublikum ließ ihn erneut abbrechen, er wies die Leute zurecht, fing nochmal an, und diesmal trug er den Text bis zum Ende vor. Gegen 2:00 Uhr war die Veranstaltung zu Ende. Nur wenige Minuten vom Anfang und vom Ende der nächtlichen Zweitvorstellung sind im Film zu sehen, als Epilog nach den Endcredits. Es war schlicht nicht genug Filmmaterial vorhanden, um alles aufzuzeichnen - man hatte schließlich mit einer Veranstaltung von vielleicht zwei Stunden gerechnet, nicht mit einer, die einschließlich der Unterbrechungen sechs Stunden dauerte. Insgesamt wurden von vier Kameras 135 Minuten auf Film gebannt.


Die Veranstaltung wurde seinerzeit von der Presse skandalisiert, Kinski mit Häme übergossen. Wer aber von dem Film spektakuläre Exzesse erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar belegt Kinski die Störer mit deftigen Kraftausdrücken, wirft auch mal zornig das Mikro um, aber maßlose Wutausbrüche, wie man sie etwa in Werner Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND zu sehen bekommt, gibt es hier nicht. Wenn man bedenkt, dass Kinski von Anfang an provoziert, in seiner Konzentration gestört und letztlich am Vortrag gehindert wurde, dann war seine Reaktion sogar noch moderat - jedenfalls für Kinski-Verhältnisse. Er selbst hat den Abend als Erfolg bewertet und sogar als seinen wichtigsten Auftritt bezeichnet. Doch für den Tournee-Veranstalter war es ein Debakel. Er bat Kinski, den Vertrag einvernehmlich zu lösen. Eine Woche nach Berlin trug Kinski den Text in Düsseldorf vor, diesmal ohne Störungen. Es war dies Kinskis letzter Bühnenauftritt, und er absolvierte ihn ohne Honorar. Dann meldete der Veranstalter Insolvenz an, und der Rest der Tournee fiel ins Wasser.


Die Film- und Tonaufzeichnungen von Berlin blieben in Kinskis Besitz. 1999 nahm Peter Geyer Kontakt mit Kinskis Erben, seiner dritten Frau Minhoi Loanic und dem gemeinsamen Sohn Nikolai, auf, die in Kalifornien lebten. Anscheined war Geyer der Erste, der vernünftige Vorschläge zur Verwertung von Kinskis Nachlass machte. Er erhielt die Filme und Bänder von Berlin und weiteres Material und fungiert seitdem als Kinskis Nachlassverwalter. Er veröffentlichte 2006 eine Biographie Kinskis, den Originaltext "Jesus Christus Erlöser" (der, wie erwähnt, etwas von der Berliner Fassung abweicht) zusammen mit Gedichten Kinskis, eine Hörfassung des Berliner Abends auf einer Doppel-CD, und schließlich 2008 den 83-minütigen Film, der denselben Titel trägt wie der Text. Dass bei dem nicht gerade üppigen Ausgangsmaterial von 135 Minuten und der fragmentierten Natur des Abends der Film nicht wie Stückwerk wirkt, sondern in sich geschlossen ist, ist keine geringe Leistung. Aber der eigentliche Wert des Films besteht doch in seiner Eigenschaft als historisches Dokument. Quellen zum damaligen Zeitgeist gibt es genug, aber in Bezug auf Kinski liefert der Film einen echten Mehrwert. Man trifft auf einen Künstler, der, wenn er sich mit einem Projekt identifiziert, nicht auf Show aus ist, sondern der um seine Kunst ringt - wenn es sein muss, auch gegen einen Teil des Publikums. Der aber auch denjenigen Teil des Publikums, der ihm zu folgen gewillt ist, durchaus respektiert, der also nicht nur für sein eigenes Ego spielt. Dem Bild von Kinskis Persönlichkeit, wie man es aus seinen erratischen Interviews und aus Herzogs MEIN LIEBSTER FEIND kennt (oder zu kennen glaubt), wird damit eine interessante Facette hinzugefügt. Und nicht zuletzt ist der Berliner Abend Kinskis einzige Bühnenvorstellung, von der überhaupt eine längere Aufzeichnung existiert. - Nicht lange nach den Ereignisen von Berlin begann für Kinski ein neuer Abschnitt: Er brach mit Werner Herzog nach Südamerika auf, um mit AGUIRRE, DER ZORN GOTTES den ersten ihrer gemeinsamen Filme zu drehen.


JESUS CHRISTUS ERLÖSER ist auf DVD erhältlich. Man kann den Film auch komplett bei YouTube ansehen (ob legal, sei dahingestellt).

Freitag, 23. März 2012

Fünf Fragen

Ich möchte wieder einmal darauf hinweisen, dass Kettenbriefe in der Schweiz verboten sind und mir nie mehr als 3000 Fränkli einbringen. Dass ich noch ein letztes Mal auf ein solches als "Filmstöckchen" getarntes Ding eingehe, liegt nur an der recht neuen Verlinkung zwischen bullion, der mir das schändliche Ding zugeschoben hat, und mir. Weitere Versuche, mir mit Kettenbriefen mehr Klicks zu versprechen, landen im virtuellen Papierkorb. Das heisst: Wenn sie mir nicht Reichtum, ein langes Leben und viiiel Sex garantieren. So!

Dies das komplizierte Regelwerk, auf das ein Mensch, der sich heute endlich mal wieder einem lockeren Film widmen könnte, nur ungern eingeht:

  1. Verlinke die Person, die dich getaggt hat.
  2. Beantworte die Fragen, die dir gestellt wurden.
  3. Tagge anschließend 5 weitere Leute.
  4. Gib den Personen Bescheid, die getaggt wurden.
  5. Stelle anschließend 5 Fragen an die, die getaggt wurden.
Hier meine hyperintellektuellen Antworten auf die Filmfragen von bullion (inklusive offensichtlicher Werbung für ein Forum):

1.  Was war in eurer Kindheit euer Lieblingsfilm, von dem ihr jede TV-Ausstrahlung mitgenommen habt?
Das mag jetzt naiv klingen; aber es war tatsächlich Capra's "It's a Wonderful Life" (1947). Die erste Ausstrahlung gabs im Schweizer Fernsehen in der Originalversion mit deutschen Untertiteln. Ich las fleissig mit und stellte mir vor, wie anders, öde und nutzlos die Welt ohne den siebenjährigen Whoknows wäre. Vermutlich zog sich Ronald Reagan einst den Film mit ähnlichen Gedanken rein.

2. Was war eure erste DVD und wieviel Euro bzw. DM musstet ihr dafür über den Tresen wandern lassen?
Ich blieb lange - zu lange! - der VHS-Kassette treu und war überzeugt, diese komischen, überteuerten Scheiben hätten keine Zukunft. Dies rächte sich: Ich musste meine VHS-Kassetten Leuten schenken, die noch heute glauben... - Aber zur Frage: Meine erste DVD war tatsächlich "Far From Heaven" (2002) und kostete mich satte 30 Fränkli.


3. Ihr könnt abends nicht einschlafen. Welcher Film lässt euch aufgrund seiner famos zelebrierten Langeweile garantiert in den Schlaf hinübergleiten?
Würde ich unter Schlafmangel leiden, gäbs vermutlich Wim Wenders. Zum Beispiel "In weiter Ferne, so nah!" (1993). Diverse Oscar-Gewinner wären eine Option: aber wir wollen mal im deutschsprachigen Bereich verharren.


4. Analog zu Frage 3: Welcher Film hat euch schon einmal so richtig fies den Schlaf geraubt?
Wer das verstehen will, muss tief mit mir in meine Kindheit zurückgleiten: "The Body Snatcher (1946). Man stelle sich vor: Auf der einen Seite Frankenstein, auf der anderen Dracula - und in der Mitte eine Leiche, die sich plötzlich zu bewegen scheint. Das überforderte das wehlose Kind, und zwar nächtelang.


5. Das war ja wohl gar nichts, liebe(r) Regisseur(in)! Welchen Film hättet ihr viel besser drehen können und wie genau hättet ihr das angestellt?
Ähem - ja. Eigentlich ein ganzes Genre, nämlich sämtliche RomComs dieses Jahrtausends, mit denen uns Hollywood gelangweilt hat. Nehmen wir stellvertretend für andere misslungene Dinger "Wedding Crashers" (2005)! Owen Wilson ist ein Typ, der's drauf hat,  wenn man ihm - gelegentlich happige - Gags, die hier fehlen, gibt. Das Drehbuch ist zu geschwätzig, Wilson's Partner eine Null. Kurzum: Ich hätte mich zweifellos höchst erfolgreich an "There's Something About Mary" orientiert.

Und nun soll ich, dem Kettenbrief-System folgend, fünf Leute finden, die meine fünf dämlichen, der Brust entrissenen Fragen beantworten. Nehmen wir mal boshaft leon der profi, mono.micha, der mich dafür vermutlich umbringen wird, Timo. K., Splatter-Fanatic, der sein Blog bei filmforen.de betreibt, und Short Cuts (ebenfalls bei "filmforen")!

1. Der amerikanische Produzent, für den du neuerdings arbeitest, ist ein hoffnungsloser Sissi-Fan, und er möchte das Leben der Kaiserin unbedingt hollywoodgerecht verfilmen. Nun weiss er, dass die Amis von dem guten Kind keine Ahnung haben und der Titel "Sissi" keine Sau in die Kinos lockt. Er braucht aber einen Blockbuster, und er bittet dich, einen Titel zu finden, der Erfolg garantiert, ob er nun etwas mit Sissi zu tun hat oder nicht. - Wie heisst dein Sissi-Film made in USA?

2. Viel unnützes Zeugs wurde gedreht. Auch du bist überzeugt, dass es aber einen Film gibt, der unbedingt noch gedreht werden müsste. Wie heisst er, und wer wäre der ideale Regisseur?

3. In einer Kneipe setzt sich ein dämlich grinsender Typ neben dich. Da er einsam aussieht, fühlst du dich verpflichtet, ein wenig mit ihm zu reden - und erzählst ihm, dass du Filmblogger bist. "Und wie finden Sie denn mein filmisches Werk?", fragt dich der dämlich grinsende Typ interessiert. Wie lautet deine Antwort auf die Frage von Hansi Hinterseer?

4. Du bist Mitglied von filmforen.de, wo sich der Thread "Wir haben abgebrochen" grosser Beliebtheit erfreut. Welchen Film, den du tatsächlich abgebrochen hast, würdest du dort nie erwähnen? Und warum nicht?

5. Da du Film-Blogger bist, hat man dich verdientermassen zum Tod durch den Strang verurteilt. Den letzten Abend verbringst du trübselig in deiner Zelle, als der Gefängniswärter hereinkommt und zu dir sagt: "Ihre letzte Mahlzeit dürfen Sie sich wie üblich selber aussuchen. Und nennen Sie uns den Film, den Sie sich dazu ansehen möchten!" - Also: Welchen Film wünschst du dir zu deiner Henkersmahlzeit?

 Viel "Vergnügen"! Und bekay, der Admin von filmforen.de, dürfte sich ruhig mal für die Werbung bedanken, die ich mir ständig aus den Fingern sauge.


Montag, 19. März 2012

Es gibt nichts zu gewinnen

Vorbemerkung: Dieser kleine Eintrag befindet sich schon seit rund zwei Wochen in meiner Pipeline. Ich weiss nicht, ob ich ihn geschrieben hätte, wäre mir der anstehende Abschied des von uns hoch geachteten Bloggers Sieben Berge bekannt gewesen. Vielleicht sollte ich ihn der jetzt gedämpften Stimmung angemessen auch gar nicht veröffentlichen. Andererseits - Life must go on!




Am 19. März 2010 musste "Das Haus in Montevideo" von Curt Goetz als erste Besprechung für dieses unselige Blog herhalten. Man könnte also in aller Bescheidenheit behaupten, "Whoknows Presents" feiere sein zweijähriges Jubiläum. Dazu wäre es nie gekommen, hätte ich nicht im Februar 2011 in Manfred Polak zuerst einen Gastautor, bald auch einen gleichberechtigten Co-Admin gefunden, der meine unerträglich langen Einträge mit nicht weniger langen Einträgen bereichert - wobei er wenigstens der Spezialist für Geheimtipps ist. 

Üblicherweise sind solche Jubiläen ein Anlass für Gewinnspiele. Das ist bei uns erwartungsgemäss nicht der Fall: Wir sind viel zu geizig für solchen Unsinn!!! Und wie sollte ein DVD-Label auf die Idee kommen, uns einen vermeintlichen Blockbuster zu Werbezwecken als "Supergewinn"  zu überlassen? - Es gibt also nichts zu holen, Leute! Hingegen dürft ihr das mehr oder weniger freudige Ereignis als passende Gelegenheit für berechtigte und unberechtigte Kritik betrachten. Leeret endlich das, was euch während des Überfliegens des Blogs schon lange Sodbrennen verursacht, in eure Kommentare! Fordert uns ultimativ auf, einander gegenseitig rauszuwerfen! Verlangt die Besprechungen hochaktueller Filme, die als Oscar-Anwärter gelten, um kurz darauf in Vergessenheit zu geraten! Bittet mich, mit den wechselnden Bildli im Header Schluss zu machen! Hofft auf die baldige Reparatur eures Toasters! Schreibt einfach rein, was ihr wollt! Wir lesen es ja doch nicht. Und vor allem: Wir werden ausnahmsweise nichts zu rechtfertigen versuchen (behaupte ich mal leichtfertig). - Ist doch schön, oder? Vielleicht stellt Manfred sogar eines jener delirierenden Fotos rein, auf denen er sich mit Adele Sandrock nackig im Alpengras wälzt.

Zwei Jahre sind, wie ihr selber wisst, eine lange Zeit. Sie reduzieren die Möglichkeiten, sich allabendlich einfach zum Vergnügen einem Film hinzugeben. Und wer lange Besprechungen auf sich nimmt, hat manchmal den Eindruck, er lebe überhaupt nur noch für dieses dumme Blog. Ich bin mir deshalb ziemlich sicher, dass ich "Whoknows Presents" nicht noch ein weiteres Jahr durchziehen werde. Aber war ich das nicht schon letztes Jahr? Und sind wir es nicht immer wieder? - Vor allem aber: Möchte ich Manfred Polak wirklich Gelegenheit geben, das Niveau meines Kindes dank meines Abgangs merklich anzuheben?

Sonntag, 11. März 2012

Wer war Carl Theodor Dreyer?

Dieser Text stammt aus der langen Fassung von 2006 meiner Besprechung von LA PASSION DE JEANNE D'ARC.


Carl Theodor Dreyer wurde 1889 als unehelicher Sohn des armen schwedischen Hausmädchens Josefine Nilsson in Kopenhagen geboren. Nilsson arbeitete in Schweden auf einem Landgut des wohlhabenden Grundbesitzers und Pferdezüchters Jens Christian Torp und kam kurz vor der Geburt des Sohnes in dessen Kopenhagener Stadtwohnung. Dreyers leiblicher Vater ist nicht sicher bekannt, aber die Umstände sprechen dafür, dass es sich um Nilssons Arbeitgeber Torp handelte. Weder Nilsson noch der Vater, wer immer es nun war, gedachten sich um das Kind zu kümmern, und Nilsson verschwand zwei Wochen nach der Geburt wieder nach Schweden. Knapp zwei Jahre später starb Josefine Nilsson auf tragische und bizarre Weise. Sie war wieder schwanger, wollte aber diesmal das Kind nicht austragen. Weil sie sich keinen Engelmacher leisten konnte oder wollte, brach sie von einer größeren Menge Streichhölzer - die Rede ist von eineinhalb Schachteln - die Köpfe ab und schluckte sie, im Glauben, die darin enthaltenen Stoffe würden eine Fehlgeburt verursachen. Doch die Inhaltsstoffe waren stark giftig und ätzend, und Josefine Nilsson starb nach mehrtägigem qualvollem Todeskampf.

Carl Theodor Dreyer (1964)
Das kleine Kind blieb in Dänemark und erhielt zunächst den Namen Karl Nielsen. Er wurde in seinen ersten 18 Monaten von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht - insgesamt waren es sieben. Schließlich landete er bei dem Ehepaar Carl Theodor und Inger Marie Dreyer, die ihn adoptierten und ihm seinen endgültigen Namen gaben. Es wird oft behauptet, dass die Dreyers eine streng lutherische Familie gewesen seien, und dass diese Prägung verantwortlich für den starken religiösen Bezug in vielen von Dreyers Filmen sei. Doch das ist nichts als ein Märchen. In Wirklichkeit waren Dreyer senior - ein politisch linker, freidenkerischer Schriftsetzer - und seine Frau nicht religiös und sahen selten eine Kirche von innen. Doch sie übten eine Prägung ganz anderer Art auf ihren Adoptivsohn aus. Die Dreyers, die selbst ziemlich arm waren, hatten das Kind nicht aus Menschenfreundlichkeit adoptiert, sondern es war mit Nilsson die Zahlung eines Geldbetrags vereinbart worden, was jedoch durch Nilssons Tod nicht mehr zustande kam. Dreyers Adoptiveltern ließen ihn nun bei jeder Gelegenheit wissen, dass er im Hause Dreyer eigentlich nur geduldet sei, weil sich seine Mutter durch ihr Ableben aus der Erfüllung des Vertrags davongestohlen habe. Es versteht sich von selbst, dass diese lieblose Erziehung Dreyers Verhältnis zu den Adoptiveltern schwer belastete. Insbesondere seine Adoptivmutter muss er regelrecht gehasst haben. Als sie starb, ging er nicht zur Beerdigung, und er erklärte, dass sie für ihn schon lange tot sei. Dagegen verklärte er seine leibliche Mutter, von der er kaum etwas wusste, und legte sich Rechtfertigungen zurecht, warum sie, von den Umständen gezwungen, nicht anders konnte als ihn im Stich zu lassen. Dieses Idealbild der guten, unterdrückten Frau taucht in vielen seiner Filme wieder auf, wie etwa Dreyers Biograph Maurice (alias Martin) Drouzy recht detailliert aufgezeigt hat.

VAMPYR
Mit 17 Jahren verließ Dreyer das ungeliebte Elternhaus. Nach erfolglosen Versuchen als Barpianist und als Buchhalter wurde er 1910 Journalist. Dafür scheint er begabt gewesen zu sein, denn er arbeitete bald für die beiden ältesten und angesehensten Tageszeitungen Dänemarks, aber auch für ein Boulevardblatt und eine Zeitschrift, die er mit Kollegen selbst gegründet hatte. Durch seine journalistische Tätigkeit kam er schließlich in Kontakt mit der Filmwelt und erhielt ab 1912 zunächst sporadisch, dann regelmäßig Aufträge von diversen Produktionsfirmen, darunter die Nordisk Film Kompagni, wo er schließlich eine feste Anstellung erhielt. Dänemark war ab etwa 1910 bis in den ersten Weltkrieg hinein gemeinsam mit Italien und Frankreich die führende europäische Filmnation, und Nordisk war die größte Filmfirma des Landes. Dreyer war also bei einer erstklassigen Adresse gelandet, um das Handwerk zu erlernen.

VAMPYR
Seine erste Aufgabe bestand im Schreiben von Zwischentiteln. Er hatte einst in einigen Artikeln den gestelzten Ton vieler Zwischentitel gebrandmarkt und erhielt nun die Gelegenheit, es selbst besser zu machen. Danach arbeitete er als Cutter, wofür er sehr begabt gewesen sein soll, und schließlich als Drehbuchautor. Bis 1919 schrieb er die Bücher für über 20 Filme, und noch einmal fast dieselbe Zahl an unverfilmt gebliebenen Scripts. 1918 führte er erstmals selbst Regie. In PRÆSIDENTEN geht es um einen Richter, der über seine eigene uneheliche Tochter zu Gericht sitzt, weil diese selbst ein uneheliches Kind hatte, das zu Tode gekommen war. Die Bezüge zu Dreyers eigener Biographie sind unübersehbar. In BLADE AF SATANS BOG (BLÄTTER AUS DEM BUCHE SATANS) geht es um die Versuche des Teufels, Unfrieden unter den Menschen zu stiften und Seelen zu gewinnen. Der Film ist in vier Episoden unterteilt, die in verschiedenen historischen Epochen angesiedelt sind. Dreyer wurde durch D.W. Griffiths Monumentalwerk INTOLERANCE zu dieser Struktur inspiriert. In der ersten Episode geht es um die Versuchung Christi. Dreyer war mit dem Ergebnis unzufrieden, weil ihm ein künstlerischer Kompromiß bezüglich der Darstellung von Jesus aufgezwungen worden war. Diese unbefriedigende Erfahrung legte den Grundstein zu seinem Plan, das Leben von Jesus in einem eigenen Werk zu verfilmen. Diese Idee trug er sein ganzes Leben lang mit sich herum, ohne sie je verwirklichen zu können.

VREDENS DAG
Die nächsten Filme waren der in Norwegen mit schwedischem Geld produzierte PRÄSTÄNKAN bzw. PRÆSTEENKEN (DIE PASTORENWITWE), der in Berlin entstandene DIE GEZEICHNETEN bzw. ELSKER HVERANDRE (ein Film mit einigen Stanislawskij-Schauspielern), DER VAR ENGANG und MIKAËL (MICHAEL). Letzterer entstand wieder in Deutschland für die UFA. Das Drehbuch schrieb Dreyer mit Thea von Harbou, die Kamera führten Karl Freund und als sein Assistent Rudolph Maté. Es handelt sich um eine homoerotisch angehauchte Dreiecksgeschichte zwischen einem älteren Maler, seinem jungen männlichen Modell und einer Fürstin, für die sich der Jüngling schließlich entscheidet. DU SKAL ÆRE DIN HUSTRU (DU SOLLST DEINE FRAU EHREN) von 1925 ist eine pointierte Geschlechterkomödie um einen Haustyrannen, der seine Frau unterdrückt, aber schließlich durch die gemeinsame Anstrengung der drei Frauen im Haushalt eines Besseren belehrt wird. Der enorme Erfolg dieses Films in Frankreich bescherte Dreyer das Angebot von SGF für LA PASSION DE JEANNE D'ARC. Bevor er aber nach Frankreich ging, entstand als letzter Film vor seinem bekanntesten Werk noch GLOMSDALBRUDEN, wieder eine norwegisch-schwedische Produktion. 1927 zog Dreyer dann nach Frankreich, um mit der Arbeit an seinem Meisterwerk zu beginnen. Die wichtigsten Themen in Dreyers erster Schaffensperiode, und auch in einigen Filmen danach, sind die Geschlechterrollen und die Darstellung von leidenden, unterdrückten Frauen. Wie bereits erwähnt, wurde letzteres mit den Erfahrungen von Dreyers unglücklicher Kindheit und Jugend in Verbindung gebracht. Man kann Dreyer mit einiger Berechtigung als feministischen Regisseur bezeichnen.

VREDENS DAG
Nach den finanziellen Flops von LA PASSION DE JEANNE D'ARC und von Abel Gances monumentalem NAPOLÉON, der ebenfalls von SGF finanziert worden war, geriet die Firma in eine finanzielle Krise und weigerte sich, Dreyers nächsten Film zu produzieren, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Dreyer verklagte SGF wegen Vertragsbruchs und gewann den Prozess 1931, aber das nützte ihm wenig, weil er inzwischen mit der Arbeit an VAMPYR begonnen hatte und dafür das Geld selbst auftreiben musste. Dreyer gelang es, einen jungen holländischen Baron als Finanzier zu gewinnen, der dann unter einem Pseudonym auch gleich die Hauptrolle spielte. Dreyers erster Tonfilm VAMPYR, recht frei nach der Erzählung "Carmilla" aus Sheridan Le Fanus Sammelband "In a Glass Darkly" entstanden und bei Paris gedreht, ist ein Horrorfilm mit einem Minimum an Handlung und Dialog und einem Maximum an Atmosphäre. Dreyer und Maté, der hier vielleicht eine noch größere Rolle spielt als im vorangegangenen Film (Hermann Warm war auch wieder mit dabei), stopften den Film regelrecht voll mit visueller Symbolik, und sie tauchten viele Szenen durch einen optischen Trick in einen milchigen Schleier und erzeugten so eine latente, abstrakte Atmosphäre der Bedrohung, die bisweilen ans Surreale heranreicht. Leider waren das Publikum und ein Großteil der Kritiker mit der innovativen Ästhetik von VAMPYR überfordert. Die Rezensionen waren teilweise hämisch, und der Kassenerfolg blieb aus. Erst im Lauf der Zeit reifte die Erkenntnis, dass VAMPYR zu den Klassikern des Horrorfilms zählt. Dieser zweite finanzielle Flop hintereinander verschaffte Dreyer den Ruf (den er nie wieder richtig los wurde), ein Regisseur zu sein, der viel Geld vernichtet, statt welches einzuspielen, und er hinterließ Dreyer in einer tiefen psychischen Krise. Angeblich hat auch eine unglückliche, kurze homosexuelle Affäre (Dreyer war damals schon verheiratet und hatte Kinder) zu seiner schlechten Verfassung beigetragen. Jedenfalls erlitt er einen regelrechten Nervenzusammenbruch und ließ sich Anfang 1933 zwei Monate lang stationär psychiatrisch behandeln. Nach seiner Genesung zog er sich fürs erste aus dem Filmgeschäft zurück und ging mit seiner Familie zurück nach Dänemark.

Henri-Georges Clouzot, René Clément, Dreyer und François Truffaut (v.l.n.r.) 1964 in Paris
1936 gab es einen Comebackversuch. Dreyer schrieb das Drehbuch zu einem Film mit dem Titel L'ESCLAVE BLANC (DIE WEISSE SKLAVIN) und wurde als Regisseur engagiert. Er reiste sogar nach Afrika, um den Drehort (je nach Quelle Äthiopien oder Somalia) zu begutachten, musste jedoch kurz vor Beginn der Dreharbeiten krankheitsbedingt absagen. Er wurde durch den heute weitgehend vergessenen Jean-Paul Paulin ersetzt. Danach verschwand Dreyer vollends in der Versenkung. Er arbeitete in Kopenhagen als Autor und Journalist, letzteres meist unter Pseudonym. Die Person Dreyer geriet aus dem Blick der Filmwelt, auch wenn der Name in Erinnerung blieb, und kaum jemand wusste, wer sich hinter dem Verfasser seiner täglichen Artikel verbarg. Erst 1942 tauchte er wieder auf, und zwar mit dem kurzen Dokumentarfilm MØDREHJÆLPEN über junge ledige Mütter (Dreyers Biographie lässt wieder mal grüßen) im Auftrag von Dansk Kulturfilm. Die Tatsache, dass er diesen Film pünktlich und ohne Budgetüberschreitung ablieferte, dürfte dazu beigetragen haben, dass er 1943 wieder die Chance zu einem Spielfilm bekam. VREDENS DAG (TAG DER RACHE, auch TAG DES ZORNS) ist ein Familiendrama vor dem Hintergrund der Hexenverfolgungen im orthodoxen protestantischen Milieu Skandinaviens im 17. Jahrhundert. Die Aufnahme des Films bei der internationalen Kritik war ausgesprochen kontrovers. In einem Artikel aus dem Jahr 1951 schrieb ein Beobachter über die Kritiker in den USA, man habe den Eindruck, die Gegner und die Befürworter müssten zwei verschiedene Filme gesehen haben, so heftig seien die Auseinandersetzungen gewesen. Wie bei VAMPYR dauerte es seine Zeit, bis VREDENS DAG allgemein als Meisterwerk anerkannt wurde. Zu den Pluspunkten des Films zählen vor allem sorgfältig komponierte Einstellungen, die manchen Kritiker an Gemälde flämischer Meister erinnerten, und lange, fast schon gravitätisch wirkende Kamerafahrten. Vredens Dag entstand während der deutschen Besetzung Dänemarks, und manche zeitgenössischen Kritiker sahen in der Handlung eine verschlüsselte Abrechnung mit dem Besatzungsregime. Zwar sind solche Bezüge weniger deutlich als etwa in Clouzots LE CORBEAU und treten aus heutiger Sicht hinter allgemeineren Aussagen des Films zurück, und Dreyer hat diese Deutung des Films später zurückgewiesen, aber er setzte sich vorsichtshalber nach Schweden ab.

ORDET
Dort drehte er 1944 den Film TVÅ MÄNNISKOR (ZWEI MENSCHEN), aber ihm wurde eine Besetzung aufgenötigt, mit der er nicht einverstanden war, und am Ende war er mit dem Ergebnis derart unzufrieden, dass er sich heftig von dem Film distanzierte. Gelegentlich soll er sogar seine Existenz geleugnet haben. Man könnte sagen, dass er sich von TVÅ MÄNNISKOR scheiden ließ, wie sich Billy Wilder einmal über seinen eigenen mißratenen Film THE EMPEROR WALTZ (KAISERWALZER) ausgedrückt hat. Von 1946 bis 1954 drehte Dreyer sieben weitere dokumentarische Kurzfilme mit kulturellen oder sozialen Themen, wie etwa den Kampf gegen Krebs (KAMPEN MOD KRÆFTEN) oder Verkehrssicherheit (DE NAAEDE FÆRGEN), teilweise im Auftrag des dänischen Außenministeriums. Zu allen diesen Filmen schrieb er auch das Drehbuch, und obwohl diese Auftragsarbeiten natürlich nicht denselben Stellenwert besaßen wie seine Spielfilme, arbeitete er professionell und drückte den Filmen seinen Stempel auf. So bezeichnete etwa der Filmhistoriker James Leahy DE NAAEDE FÆRGEN als den außergewöhnlichsten Verkehrssicherheitsfilm aller Zeiten und einen der bemerkenswertesten Kurzfilme überhaupt. Erst 1954, zehn Jahre nach dem Debakel mit TVÅ MÄNNISKOR, gab es mit ORDET (DAS WORT) wieder einen Spielfilm. Es handelt sich um eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks des dänischen Schriftstellers und Pfarrers Kaj Munk, der 1944 von der Gestapo ermordet wurde. Die Handlung spielt im bäuerlichen Jütland und kreist um religiöse Fragen wie die Kraft des Gebets und Toleranz zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen, und am Ende gibt es eine Auferstehung von den Toten - ein Schluss, der nicht wenige Zuschauer ratlos zurückließ. Leider machte Dreyer seinerzeit den Fehler, das Wunder nicht für sich stehen zu lassen, sondern er wollte es im Nachhinein in Interviews mit Erkenntnissen der modernen Physik plausibel machen, was ihm viel Spott eingetragen hat. Nichtsdestotrotz ist ORDET ein Meisterwerk, wurde ein Erfolg und wurde 1955 bei den Filmfestspielen in Venedig als bester Film ausgezeichnet.

ORDET
Es dauerte abermals zehn Jahre, bis Dreyer seinen nächsten und letzten Spielfilm GERTRUD realisieren konnte. Untätig war er in der Zwischenzeit indes nicht, denn 1952 hatte man ihm die Leitung des renommierten Dagmar-Kinos in Kopenhagen übertragen. Diese Funktion hatte er bis zu seinem Tod inne. Der kammerspielartige GERTRUD handelt von einer gutbürgerlichen Frau, die in der Liebe die totale Hingabe sucht, diese aber weder bei ihrem Ehemann noch bei diversen Liebhaber-Kandidaten findet und sich schließlich resigniert in die innere Einsamkeit zurückzieht. Das Thema und der statische, theaterhafte Inszenierungsstil mit sehr langen Einstellungen erschienen 1964 vielen als anachronistisch, und so fand der Film eine sehr gemischte Aufnahme - teilweise wurde er sogar ausgebuht. Doch mit der Zeit lernte man auch ihn als Meisterwerk schätzen. VREDENS DAG, ORDET und GERTRUD bilden zusammen Dreyers Spätwerk (TVÅ MÄNNISKOR wird bei dieser Auflistung üblicherweise ignoriert). Die drei Filme sind von einer inhaltlichen Ernsthaftigkeit und einer ans Asketische grenzenden formalen Strenge, die an manche Filme von Ingmar Bergman erinnert, den Dreyer sicher beeinflusst hat. Auch die spröden Filme von Robert Bresson, wie etwa JOURNAL D'UN CURÉ DE CAMPAGNE (TAGEBUCH EINES LANDPFARRERS), sind mit denen Dreyers geistesverwandt. Der Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader schrieb einst ein Buch, in dem er die Filme Dreyers, Bressons und des japanischen Altmeisters Yasujiro Ozu einander gegenüberstellt.

GERTRUD
Es wäre aber verkehrt, Dreyer nur auf das Religiöse und Grüblerische zu reduzieren, wie das manchmal geschieht. "Eingehüllt in skandinavischen Nebel, agiert er als ein Kierkegaard der Filmkunst" - so hat sein Biograph Maurice Drouzy diese verkürzte Sichtweise ironisch auf den Punkt gebracht. In Wirklichkeit kommt bei Dreyer das Körperliche nicht zu kurz. Schon Dreyers Jeanne ist in erster Linie nicht die Heilige, sondern ein leidender Mensch, und auch seine anderen Heldinnen sind keine Geistwesen. So ist etwa Anne, die Hauptfigur aus VREDENS DAG, eine sinnliche und fröhliche junge Frau, und Inger aus ORDET hat nach ihrer Auferstehung von den Toten das dringende Bedürfnis, ihrem Mann um den Hals zu fallen und ihn zu küssen. In den 40 Jahren seit LA PASSION DE JEANNE D'ARC hat Dreyer nur fünf Spielfilme vollendet. Dass es nicht mehr wurden, lag einerseits an seiner künstlerischen Kompromisslosigkeit. Wenn er bei einem Projekt nicht die absolute Kontrolle und künstlerische Freiheit bekam, lehnte er ab - mit der einen Ausnahme TVÅ MÄNNISKOR, und der ging prompt daneben. Und andererseits hatte Dreyer immer noch den Ruf, dass man mit ihm nur viel Geld verliert. An Ideen für weitere Filme hätte es nicht gemangelt. Dreyer hatte konkrete Pläne für diverse Filme, die an so verschiedenen Orten wie in den USA, in Tahiti und auf Spitzbergen hätten verwirklicht werden sollen. In Großbritannien wollte er das Leben von Maria Stuart verfilmen, in Griechenland MEDEA, nach der Tragödie des Euripides. Dreyers fertiggestelltes Drehbuch zu MEDEA wurde 1987 von Lars von Trier für das dänische Fernsehen auf Videofilm realisiert.

GERTRUD
Doch Dreyers Lieblingsprojekt blieb der Jesus-Film. Er hätte sein Hauptwerk, sein opus magnum werden sollen. Um 1950 schien das Projekt konkrete Formen anzunehmen. Er hatte ein 400 Schreibmaschinenseiten starkes Drehbuch in der Tasche, und ein amerikanischer Produzent war bereit, den Film zu finanzieren. Der Mann hatte nichts mit Hollywood zu tun, sondern es handelte sich um den Multimillionär Blevins Davis, der reich geerbt und noch reicher geheiratet hatte. Davis verbrachte seine Zeit hauptsächlich als Theaterproduzent, und als er 1949 mit einer Theatertruppe, die den "Hamlet" gab, in Dänemark gastierte, lernte er Dreyer kennen. Das Budget belief sich auf 5 Mio. Dollar - für damalige Verhältnisse eine enorme Summe. Dreyer reiste zur Vorbereitung nach Israel, wo die Dreharbeiten stattfinden sollten, und er begann sogar, Hebräisch zu lernen. Auf Einladung von Blevins Davis weilte er längere Zeit in den USA, wo er am Drehbuch feilte und in Bibliotheken Quellen studierte. (Auf einer Party im Haus seines Gastgebers lernte er Harry S. Truman kennen, aber nach kurzem Smalltalk ließ er den verdutzten Präsidenten und die anderen Gäste stehen, weil er lieber wieder an die Arbeit am Drehbuch wollte.) Um die Authentizität des Films zu steigern, sollten die Darsteller nur Hebräisch, Griechisch und Latein sprechen - Mel Gibson war also nicht der erste, der auf solche Ideen kam. Dreyer wollte sich von den großen Hollywood-Studios die besten Gerätschaften borgen und die besten Techniker leihweise verpflichten, was ihm nach Sondierungsgesprächen in Hollywood auch zugesagt wurde. Und schließlich wollte Dreyer noch ein Schiff kaufen und mit einem Entwicklungslabor ausstaffieren, weil ihm die verfügbaren Labors in Israel nicht ausreichend erschienen. Doch all das wurde schließlich selbst dem spendablen Blevins Davis zu extravagant. Er zog sich aus dem Projekt zurück und machte keine Ausflüge ins Filmgeschäft mehr. Das Drehbuch wanderte wieder in die Schublade, aber Dreyer war jederzeit bereit, es hervorzuholen und den Film zu realisieren, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Als nach Davis' Ausstieg Carlo Ponti anbot, zu Dreyers Bedingungen einzuspringen, lehnte dieser mit einer skurrilen Begründung ab. Dreyer verstand den Film ausdrücklich als Beitrag gegen den Antisemitismus. Die Erfahrung der deutschen Besetzung Dänemarks hatte in ihm die Überzeugung reifen lassen, dass auch im damaligen Palästina die Besatzungsmacht letztlich allein bestimmte, wo es lang ging, und folglich gab sein Drehbuch den Römern die Alleinschuld an Jesu Kreuzigung. Da widerstrebte es ihm, den Film von einem "Römer" finanzieren zu lassen. Erst Anfang 1968 fand er dann doch noch Produzenten für das Projekt, das ihm immer noch sehr am Herzen lag, nämlich die italienische RAI. Diesmal war Dreyer nicht so pingelig, doch es war zu spät - wenig später starb Dreyer 79-jährig in Kopenhagen.