Sonntag, 22. Juli 2012

Ein Senator sieht rot: politische Unkultur in Washington

ADVISE & CONSENT
USA 1962
Regie: Otto Preminger
Darsteller: Charles Laughton (Senator Seab Cooley), Don Murray (Senator Brig Anderson), Walter Pidgeon (Senat-Mehrheitsführer Robert Munson), George Grizzard (Senator Fred Van Ackerman), Burgess Meredith (Herbert Gelman), Henry Fonda (Robert Leffingwell)

Von wegen mächtigster Mann der Welt! Der US-amerikanische Präsident muss die Amtsernennungen, die er vornimmt, vom Senat beraten und absegnen („advice and consent“) lassen. So sieht es der Artikel 2, Abschnitt 2, Paragraph 2 der US-Verfassung vor. Das gilt auch für die Ernennung seines Staatssekretärs — des Außenministers der USA.
Als der Präsident einen gewissen Robert Leffingwell (Henry Fonda) zu seinem Staatssekretär nominieren möchte, kommt es im Senat zu einer Kontroverse. Der designierte Kandidat ist ein selbstbewusster Vertreter einer Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock. Vielen Senatoren ist er zudem auch unbequem, da er als Universitätsprofessor kein Berufspolitiker ist, sondern ein Intellektueller mit eigensinnigen Ideen und Umgangsformen. Er ist die absolut ideale Projektionsfläche bzw. der ideale Sündenbock in einer politischen (Un-)Kultur, bei der sich politische Argumente mit persönlichen Egoismen, Machtphantasien und Rachegelüsten zu einer unappetitlichen Brühe vermischen. In „Advise & Consent“ geht es nicht so sehr um die „Person Leffingwell“ als um den „Diskurs Leffingwell“: daher ist seine Figur in Henry Fondas Verkörperung in 135 Minuten für gerade mal eine knappe halbe Stunde zu sehen.

Um sich Klarheit über den Kandidaten und seine Eignung oder Nicht-Eignung zu verschaffen, richtet die Senats-Abteilung für auswärtige Beziehungen ein Unterkomitee ein. Dieses soll für das Senats-Plenum eine Wahlempfehlung erarbeiten. Die Leffingwell-Unterstützer sind scheinbar in der Mehrheit: der Vize-Präsident (verfassungsmäßig auch der Senatsvorsitzende), und der Führer der Mehrheitspartei im Senat schaffen es schnell, einen freundlich gesinnten Unterkomitee-Vorstand zu bilden. An der Spitze steht der junge Senator Brig Anderson aus Utah, der eine neutrale Position einnimmt. Die schärfste Gegenposition zu Leffingwell nimmt der Senatsälteste aus Süd-Carolina Seab Cooley (Charles Laughton) ein: ein rechter Konservativer, den Leffingwell vor Jahren öffentlich als Lügner enttarnt und lächerlich gemacht hatte und der diesem heute vor allem deshalb eins auswischen möchte. Senator Van Ackerman, ein radikaler Befürworter Leffingwells, entwickelt schnell eine Abneigung gegen Anderson, der bei der Besetzung des Komitee-Vorsitzes bevorzugt worden ist.

Bei den Anhörungen wird schnell deutlich, wohin die Reise gehen soll: Senator Cooley beschuldigt Leffingwell der Sympathie gegenüber Linken und Kommunisten. Anfänglich geht es nur um die Frage nach seinem politischen Absichten: der designierte Staatssekretär will die Säbelrassel-Mentalität des Kalten Krieges überwinden und zu einer Verständigungspolitik mit der kommunistischen Welt finden (was in Deutschland knapp zehn Jahre später unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ ebenso umstritten sein sollte). Leffingwells Gegner geben sich aber nicht mit der Zukunft zufrieden, sondern klopfen mit der Kommunisten-Keule auch die Vergangenheit jenes Mannes ab, der es wagt, sie dank seiner scharfen Eloquenz während den Anhörungen öffentlich als intellektuelle Nullen zu entblössen.
Tatsächlich findet sich ein „freundlicher“ Zeuge, der Leffingwell als ehemaliges Mitglied einer kommunistischen Zelle anschwärzt. Anschuldigungen, die formell falsch (der offensichtlich geschmierte Zeuge hat Adressen und einige Namen erfunden), inhaltlich aber richtig sind. Der designierte Staatssekretär sieht sich nolens volens gezwungen, trotz eidesstaatlicher Erklärung zu lügen und beichtet dies dem engsten Kreis seiner Unterstützer. Der Präsident, der Vize-Präsident und der Mehrheitsführer des Senats wollen trotzdem an seiner Nominierung festhalten. Doch der Komitee-Vorsitzende Anderson entwickelt aufgrund dieser Situation Gewissenskonflikte. Seine eigene weit entfernte Vergangenheit in Form einer kurzweiligen homosexuellen Beziehung wird jedoch von seinem Rivalen Van Ackerman zur Erpressung ausgenutzt. 

Klingt verwirrend und hochkompliziert, ist es aber nicht: „komplex“ trifft es eher. Langweilig? Kaum! Mit „Advise & Consent“ ist Otto Preminger vielmehr ein faszinierendes und eindringliches Werk über politische Unkultur gelungen, dessen 135 Minuten wie im Fluge vergehen. Das liegt nicht zuletzt an der überaus gelungenen Inszenierung: das Politdrama wird in ruhigen Bildern mit fließenden, eleganten Kamera-Bewegungen erzählt. Preminger weiß das Breitbildformat exzellent auszunutzen, um etwa im Senat verschiedene Personen und Personengruppen ohne plötzliche Schnitte zu kontrastieren, oder um die Einsamkeit einzelner Figuren zu verdeutlichen. Eine kolorisierte Fassung im 4:3-Format, die im US-Fernsehen tatsächlich im Umlauf gebracht worden sein soll, dürfte daher wohl eher die Wirkung eines überlangen und latent öden Films entfalten.
Die komplexen Intrigen, die in „Advise & Consent“ entfaltet werden, sind von Anfang bis Ende fesselnd, setzen aber wahrscheinlich ein minimales Interesse am Themenkomplex der politischen Kultur voraus. Denn der Film ist tatsächlich sehr „politisch“ und gibt sich mit einfachen „Macht korrumpiert eben Menschen“-Erklärungen keineswegs zufrieden. Er ist eindeutig als Plädoyer für mehr politische Kultur zu lesen. Erwähnenswert ist, dass Otto Preminger als lebenslanger liberaler Demokrat seine (kritische) Sympathie für die gemäßigte Pro-Leffingwell-Fraktion kaum verhehlt und damit die Bestsellervorlage „Advise & Consent“ von Allen Drury aus dem Jahre 1959 offensichtlich uminterpretiert hat. Dem ehemaligen Senats-Korrespondenten und radikal antikommunistischen Konservativen Drury ging es eher darum, eine real existierende Gefährlichkeit (pro-)kommunistischer Unterwanderung aufzuzeigen und anzumahnen.


„Advise & Consent“ zeigt, vielleicht nur unterbewusst, die theoretische Diskrepanz zwischen dem „real existierenden“ Kommunismus in den USA und dem Diskurs über den Kommunismus. Zwischen einer Splitterpartei, die in ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit permanent an der Schwelle der Lächerlichkeit kratzte und einer „Red-Scare“-Massenhysterie, die heute befremdlich und fast lächerlich wirkt, hätte sie nicht zahlreiche Lebensläufe zerstört... und würden ihre Mechanismen nicht heute teilweise immer noch nachwirken. Premingers Werk ist daher auch eindeutig als Abrechnung mit der antikommunistischen Hexenjagd der frühen 1950er zu lesen, in der einfache Beschuldigungen à la „He‘s a communist!“, vorgestrige Parolen und einfache Verleumdungen die Debattenkultur aushöhlen und zerstören. Diese Unkultur — die heute in gewissen Teilen des politischen Spektrums immer noch quicklebendig ist — hatte gerade Hollywood mit voller Wucht getroffen. Hunderte Karrieren fielen den „black lists“ zum Opfer. Otto Preminger, der selbst verschont geblieben war, jedoch immer wieder gerne mit „heißen“ Themen aneckte, trug maßgeblich zur Aufweichung der „Listen“ bei, als er 1960 Dalton Trumbo (einer der berühmten „Hollywood Ten“) offiziell als Drehbuchautor für „Exodus“ ankündigte.

An „Advise & Consent“ wurden insbesondere zwei „blacklistees“ beteiligt. Der Komponist Jerry Fielding bekam hier seinen ersten Auftrag für einen Kinofilm, nachdem seine Karriere beim Radio vorzeitig beendet worden war. An bitterer Ironie jedoch kaum zu übertreffen ist die Besetzung des „freundlichen“ Zeugen Herbert Gelman, der Leffingwell anschwärzt, mit Burgess Meredith: nachdem er sich selbst bei Anhörungen im House Committee „unfreundlich“ verhalten hatte, kam in er in Hollywood auf die „schwarze Liste“ und erhielt jahrelang keinerlei Kinorolle. Die Zusammenarbeit mit Otto Preminger jedoch sollte auch nach „Advise & Consent“ andauern.

Eine besondere Beachtung bekam „Advise & Consent“ jedoch nicht aufgrund seiner politischen Sprengkraft und seiner Abrechnung mit dem „Red Scare“, sondern weil er der erste US-amerikanische Film war, der eine Schwulenkneipe zeigte! Der Senator Brig Anderson, von Senator Van Ackerman und seinem Kreis mit der Kopie eines alten Briefs an seinen früheren Liebhaber Ray erpresst, fliegt nach New York, um herauszufinden, wie das Dokument in die Hände seiner Rivalen gelangen konnte. Bei der alten Adresse trifft Anderson einen Mann, der ihm Rays Aufenthaltsort nur nach Überreichung eines üppigen Obolus verrät — eine Andeutung, dass der ehemalige Liebhaber sich gelegentlich an reiche Männer prostituiert. Anderson fährt zur angegebenen Adresse und findet dort die besagte Schwulenkneipe. Voller Abscheu flieht der Senator in die Hauptstadt zurück... seinem Verderben entgegen. Ein Moment des Films, der knapp fünf Minuten dauert. Die Kneipe selbst ist eine Minute zu sehen. In seiner vierstündigen Dokumentation zum US-amerikanischen Film würdigte Martin Scorsese Otto Preminger als jener Regisseur, der mehr als alle anderen Filmemacher zur Zerschlagung des Production Codes beigetragen hat... und „Advise & Consent“ als Premingers größten Schlag.
Sicher ist die Darstellung von Homosexualität ambivalent und gehört in eine Zeit, in der man besonders als Amtsperson erpressbar war. Dass Ray seinen ehemaligen Liebhaber im betrunkenen Zustand für Geld „verraten“ hat, macht ihn nicht gerade sympathisch. Die Schwulenkneipe wird klassisch expressionistisch inszeniert: als schlecht ausgeleuchteter Ort. Ob dies Homosexuelle als latente Bedrohung darstellt oder aber sie als Gruppe präsentiert, die aus gesellschaftlichen Gründen „im Dunklen“ leben muss, wird heute noch genauso kontrovers diskutiert wie die Frage, wie sehr man den Film im Kontext seiner Zeit sehen muss. Andererseits ist deutlich, dass „Advise & Consent“ den Erpresser Van Ackerman als verächtliche, durchtriebene und durchweg korrupte Figur und seine Erpressungsintrige als erbärmlich und unwürdig darstellt. Ironischerweise wurde er von George Grizzard dargestellt, der bis zu seinem Tod 2007 über 40 Jahre lang mit dem selben Mann zusammen gelebt hatte.


Auch Charles Laughtons Homosexualität war trotz seiner langjährigen Ehe ein „offenes Geheimnis“. Besonders erwähnenswert ist jedoch, dass er in „Advise & Consent“ seine allerletzte Filmrolle spielte und knapp sechs Monate nach der Premiere verstarb. Auch wenn alle beteiligten Schauspieler hervorragend sind, spielt sie Laughton alle an die Wand. Subtil ist er dabei sicherlich nicht, aber sein völlig übertriebenes Overacting passt hervorragend zu einer Figur, die ihre schwere narzisstische Störungen mit Hilfe unablässlicher Theatralik und geschwungener Worte als Altersweisheit zu verstecken versucht. Auch andere Zuschauer werden es bestimmt lieben, den ehrenwerten Senator von Süd-Carolina zu hassen.

Hinweis:
Auch mit „Advise & Consent“ steht meinerseits nach wie vor die Besprechung eines Films aus, der in Deutschland auf DVD veröffentlicht worden ist. Das genutzte Exemplar, aus dem auch die Screenshots erstellt wurden, ist eine französische Ausgabe (OmfU), hier erhältlich. Als US-Exemplar ist der Film gelegentlich für akzeptable Preise hier und drüben erhältlich, ansonsten auch in einer Kollektion kontroverser Klassiker. Ich meinerseits habe meine DVD bei einer gängigen Internet-Auktionsplattform für den Wert einer Münze mit Silberrand erworben. Glück gehabt, aber der Film kann dem gepflegten Cinephilen durchaus auch mehr wert sein...

Samstag, 14. Juli 2012

Der zur Jahrhundertfigur erhobene Scharlatan

Hanussen
(Profeta, Ungarn/Deutschland/Österreich 1988)

Regie: István Szabó
Darsteller: Klaus-Maria Brandauer, Erland Josephson, Ildikó Bánsági, Walter Schmidinger, Károly Eperjes, Grazyna Szapolowska, Colette Pilz-Warren, Adrianna Biedrzynska, György Cserhalmi, Michal Bajor u.a.

"The movie is thick with period costumes, furniture and music, and thin on coherence and character", urteilte Vincent Canby in einer Kritik für die "New York Times". Ich stimme diesem Urteil vollumfänglich zu, würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und "Hanussen" als durch und durch verlogenes Machwerk bezeichnen, das als Abschluss einer Trilogie über die Konsequenzen des Aufstiegs von Figuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu eine Peinlichkeit ist. - Mein hartes Urteil hat nichts damit zu tun, dass der Regisseur 2006 zusammen mit Kardinal László Paskai als ehemaliger Stasi-Spitzel enttarnt wurde - obwohl ich als Schreiber, der auf die Nazi-Vergangenheit von Regisseuren hinweist, auch diesen "Flecken" in Szabós Vita nicht unerwähnt lassen darf. Es ist heute jedoch schwer zu beurteilen, was es bedeutete, in einem kommunistischen Land der 50er Jahre als IM für den Geheimdienst "Berichte" zu schreiben. Manche waren sich ihrer Tätigkeit gar nicht bewusst, andere übten sie aus purem Opportunismus aus und dachten, sie sei ihrer Karriere förderlich. Von Szabó lässt sich wenigstens sagen, dass er offenbar niemanden ans Messer geliefert hat. Er hielt aber auch ein Wort des Bedauerns nicht für nötig, sondern betonte: "Alles, was ich dazu sagen möchte, habe ich in meinen Filmen gesagt." - Seine ungarischen Verehrer gaben sich damit zufrieden.  Vielleicht enthalten seine frühen Filme tatsächlich bereits ausreichend versteckte Rechtfertigungsversuche, und die Filme, die ihn international bekannt machten, drehen sich ja immer wieder um Gesellschaften im Zeichen von Diktatur und Fremdbestimmung. "Hanussen" jedoch tut dies auf denkbar oberflächliche, lediglich scheinbare Art.

1981 präsentierte Szabó einem grösseren Publikum die Verfilmung des in der alten BRD lange Zeit verbotenen Romans „Mephisto“ von Klaus Mann, der trotz gegenteiliger Behauptungen des Autors natürlich eine Abrechnung mit dem Schauspieler Gustaf Gründgens war, an dem sich exemplarisch aufzeigen liess, wie ein lediglich an seinem Aufstieg interessierter Mann sich den Nazis auslieferte und am Ende erkennen musste, welche Konsequenzen diese Auslieferung hatte. Klaus Maria Brandauer, ein beinahe ausschliesslich durch seine Tätigkeit als Bühnenkünstler am Wiener Burgtheater bekannter Schauspieler, verkörperte die Titelrolle. Er hatte zwar nicht die geringste Ähnlichkeit mit Gründgens, wartete aber mit einer Leistung auf, die ihn weit über den deutschen Sprachraum hinaus berühmt machte. Der um Werktreue bemühte "Mephisto" erhielt – meines Erachtens zurecht – den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Denn was da über den Weg von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus in erlesene Bilder gepackt wurde, war schlicht überwältigend – und wenn man miterlebte, wie ein als Göring überragend agierender Rolf Hoppe dem „grossen“ Schauspieler zu verstehen gab, wie leicht er ihn zerquetschen könnte, wollte man einfach mehr von Szabó sehen. Tatsächlich entschloss sich dieser zu einer weiteren Zusammenarbeit mit Brandauer. Und wieder sollte es um einen Aufsteiger gehen, nämlich um Alfred Redl, der sich kurz vor dem Untergang der k. und k.-Monarchie aus ärmlichen Verhältnissen in die Oberschicht hinaufarbeiten wollte und an seiner Homosexualität scheiterte. „Oberst Redl“ (1985) – sich nicht detailliert an der Biographie der historischen Figur orientierend - wurde zwar wieder mit einer Oscar-Nomination belohnt, vermochte aber trotz Brandauers Leistung und der brisanten Story nicht an die erste Zusammenarbeit anzuknüpfen, weil er etwas arg von der k. und k.-Gemütlichkeit zerrte.

Ich vermag nicht zu sagen, ob die Idee, das Aufsteiger-Thema als Trilogie anzulegen, schon früh im Kopf des Regisseurs reifte. Auf jeden Fall wirkte die Ankündigung, man wolle die gemeinsame Zusammenarbeit mit einem Film über Hanussen beenden, mehr als verlockend. Hanussen, der Scharlatan, der sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vom Hokuspokus-Clown zum steinreichen Hellseher der Nazis mit dem für Orgien berüchtigten „Palast des Okkulten“ entwickelt hatte, um nach seiner Ankündigung des Reichstagsbrands von den Machthabern ermordet zu werden, schien wie gemacht für einen Film, der sich als abschliessender Höhepunkt des Themen-Zyklus eignete – und wer sollte die Hauptfigur besser verkörpern als Klaus Maria Brandauer? Zwar hatte sich O.W. Fischer, noch persönlich bekannt mit dem „Hellseher“, 1955 unter eigener Regie als Hanussen präsentiert; jetzt aber war es an der Zeit, die faulen Tricks und den unausweichlichen Aufstieg eines der berühmtesten Leute-Verführers des letzten Jahrhunderts filmisch festzuhalten. Schliesslich war er zu einer Legende geworden.  


Erik Jan Hanussen hiess eigentlich Hermann Chajm Steinschneider und wuchs als Sohn eines jüdischen Schmierenkomödianten im Varieté-Milieu auf. Schon früh interessierte er sich für das scheinbar Okkulte und schlich sich in das Vertrauen betrügerischer Hellseher ein. Deren Tricks entlarvte er anschliessend in der Öffentlichkeit, um sie sich später selber anzueignen. Im Ersten Weltkrieg verblüffte er seine Vorgesetzten und Kameraden mit angeblichen Zukuntsvoraussagen (er fing gegen Bezahlung Schreiben aus der Heimat ab und verkündete dann deren Inhalt unter grossem Getue). Bald darauf bewies er seine „Fähigkeiten“ als Wünschelrutengänger, um sich vor gefährlichen Einsätzen zu drücken. Nach dem Krieg rückte der Showman mit Sexappeal mit immer neuen Einfällen an und leistete sich Fehden mit seinen Rivalen. Die vorgespielten Hypnose-Akte und das Zettellesen brachten dem zum Dänen gewordenen Steinschneider aber mehrere Anzeigen wegen Betrugs ein. In dem berühmten Prozess von Leitmeritz gab er sogar zu, ein Hochstapler zu sein (ein Geständnis, das er in seiner ansonsten aus Flunkereien bestehenden Autobiographie „Meine Lebenslinie“, 1930, wiederholte). All dies tat dem Erfolg des als intelligent geltenden Mannes, der mehrere Zeitungen herausgab, keinen Abbruch. Selbst das Zerwürfnis mit seinem bisherigen Manager Erich Juhn, der bald alle seine Tricks verriet, schadete ihm nicht. Im Gegenteil: Die angeblichen Hellsehshows füllten zweimal täglich die Berliner Scala.  Als er in seinen astropolitischen Zeitschriften sogar den Aufstieg Hitlers zu unterstützen begann, spielte auch seine jüdische Herkunft keine Rolle mehr. Selbst Nationalsozialisten waren abergläubisch (es wird sogar gemunkelt, der Führer habe sich mehrmals persönlich von ihm beraten lassen), und der „Hellseher“ bot der Berliner Schickeria auf seiner Yacht willige Damen und Knaben an. Seine Voraussage des Reichstagsbrands wird mit den guten Kontakten zur SA erklärt, deren Chef Ernst Röhm an den für ihn reservierten Knaben seine grosse Freude gehabt haben dürfte. – Über die Gründe, die zu Hanussens Ermordung durch seine bisherigen Gönner führte, herrscht Uneinigkeit. Sein Tod ist vielleicht das einzige Rätsel, das der angebliche Hellseher hinterlassen hat.


Wer nun freilich erwartete, Szabó habe diese mehr als reichhaltige Vita tatsächlich zum Anlass genommen, den Aufstieg eines Scharlatans im Schatten eines noch weitaus gefährlicheren Scharlatans, Hitler, darzustellen, sah sich getäuscht. Das Gegenteil war der Fall. Denn was der Zuschauer da vorgesetzt bekam, war nicht nur die schamlos zusammengewürfelte Lebensgeschichte eines Märtyrers, die – wiederum in erlesenen Bildern - zum Teil sogar auf Hanussens Autobiographie basierte; es zeugte, und das macht das Lügengebilde weitaus schlimmer als die nicht ganz der Wahrheit entsprechende „Redl“-Geschichte, von einem unerschütterlichen Bemühen, die seherischen Fähigkeiten Hanussens als echt hervorzuheben, ein Bemühen, das so viel Raum in Anspruch nahm, dass zeitgeschichtliche Abläufe nur noch für den „Hellseher“ von Bedeutung waren, während die Angst eines Juden vor der Zukunft kurz mit einem vorübereilenden Trupp der SA abgetan wurde, den ein Blick aus dem Fenster zeigte. Denn im Mittelpunkt stand Erik Jan Hanussen, der hier vom Scharlatan in den Rang einer von ihren Visionen beherrschten Jahrhundertfigur erhoben wurde: 

Im Ersten Weltkrieg zieht sich der Österreicher Klaus Schneider bei einem Gefecht eine Kopfverletzung zu. Der ihn behandelnde Arzt Dr. Bettelheim erkennt rasch, dass sein Patient über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügt („Schneider ist in jeder Hinsicht ein interessanter Fall.“), und er möchte ihm mit Hypnose helfen. Tatsächlich erweist sich Schneider, der ständig von Ahnungen redet, nicht nur bald als Frauenheld (er spannt dem Doktor dessen Freundin, Schwester Betty, aus), er liefert auch einen Beweis seiner Macht zur „Willensübertragung“, indem er einen lebensmüden Soldaten davon abhält, sich und das ganze Lazarett mit einer Handgranate in die Luft zu jagen. Nowotny, ein Hauptmann, ist von diesem Ereignis begeistert und überredet Schneider, bei einem Fronttheater für Unterhaltung zu sorgen. – Nach dem Krieg wird Nowotny zum Manager des Mannes, der sich jetzt Hanussen nennt. Man klappert gemeinsam die Grenzstädte ab (die gelungene Aufnahme eines Spaziergangs durch Karlsbad zeigt, wie gefragt damals Varieté-Künstler und Hellseher waren), und als Hanussen eine Schiffskatastrophe voraussagt, erlangt er nicht nur Berühmtheit sondern zeigt sich auch ob seiner „Gabe“ völlig überwältigt. In einem Prozess führt er dem Staatsanwalt vor, dass er mit seiner Willenskraft sämtliche Zuschauer zum Aufstehen zu bewegen vermag. - Die Weltstadt Berlin, wo sich alles trifft, was sich schon vom Krieg her kannte, ruft. Von nun an splittert sich der Film vornehmlich in unzusammenhängende Episoden auf, die den Weg des „Hellsehers“ durch die esoterische Szene der 20er und frühen 30er Jahre nachzeichnen und dessen herausragende Fähigkeiten beleuchten sollen: Er setzt einen Störenfried unter Hypnose und fordert ihn auf der Stuhllehne zum Krähen auf, wandelt durch das dekadente Reich einer Inderin und betont in einem Gespräch mit Politikern: „Ich interessiere mich nicht für Politik“ – um dann doch Hitler als nächsten Reichskanzler zu „sichten“. Die politische Äusserung führt zum Bruch mit seinem Manager, was jedoch am Aufstieg des „Hellsehers“ nichts ändert: An seiner legendären „astrologischen Bar“ lässt er sein Medium verkünden, die neue Zeit bringe Ordnung. Und dann geht er einen Schritt zu weit. 

Es wäre eigentlich faszinierend, die Etappen des wiederbelebten Esoterischen zu verfolgen, spielte es doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Rolle (ich erinnere nur an den Kreis um den selbsternannten Dichter-Propheten Stefan George oder an Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie). Auch die Vereinnahmung dieses Esoterischen durch den ohnehin einem Mystizismus huldigenden Nationalsozialismus (der ältere irische Dichter W. B. Yeats, der sich sein esoterisches Weltbild aus verschiedenen Kulturen zusammengebastelt hatte, fühlte sich regelrecht geehrt, als man zu erkennen glaubte, er habe in seinem unverständlichen Gedicht „The Second Coming“ das Herannahen des „Dritten Reichs“ vorausgesehen) liesse sich an der Figur des Mannes, der als Hanussen in die Geschichte einging, eindrücklich darstellen. Was Szabó aber bietet, ist eine sich durch das gewohnt sanfte Licht der Bilder und belanglose Dialoge auszeichnende langatmige Huldigung an den Scharlatan der Nazis. Dabei versucht er dessen Glaubwürdigkeit („Der Reichstag wird in Kürze in Flammen stehen!“) noch zu erhöhen, indem er das Feuer als Motiv den ganzen Film durchziehen lässt (Höhepunkt: der Hellseher bringt in einer seiner Shows eine Zuschauerin dazu, den Bühnenvorhang in Brand zu setzen). 


Einzelne Szenen lassen durchaus erahnen, was ein solcher Film zu bieten hätte: Das Treffen mit der Männerkleidung tragenden Fotografin Henni Stahl, die zuerst nackte Arierkörper zu Riefenstahl’schen Pyramiden formiert und anschliessend am Hellseher herausfinden möchte, worin das Geheimnis des Charismas liegt (kurz darauf lässt sich Hitler in den Posen ablichten, die für Hanussen charakteristisch sind). Solche zeitgeschichtlich aufschlussreiche Momente (Hitler muss sich das Charisma aneignen!) sind allerdings eine Rarität in dem Film, von dem Szabó zwar sagte, er sei keine Dokumentation, sondern eine Modellgeschichte, dessen Verlogenheit aber nichts mehr mit der Devise zu tun hat: „Wenn wir über unsere Gegenwart sprechen wollen, müssen wir wissen, von wo wir gekommen sind“ (zitiert nach „Der Spiegel“, 42/1988). Dass statt Hanussen sein sich in Berlin ängstigender Arzt zum Juden gemacht wird oder der „Hellseher“ sein Geburtsdatum mit dem des Führers teilt, gehört zum harmlosen Teil der Flunkereien, die der angeblichen Devise des Ungarn widersprechen. Wichtiger ist: Es geht ihm einzig um die Verherrlichung des Scharlatans, er ist an der Vergangenheit gar nicht interessiert, weist nur am Rande - mit einem Propagandaminister, dessen sympathische Ausstrahlung geradezu pervers wirkt - auf sie hin. Und man kommt um die Frage nicht herum: Was macht diese Figur so faszinierend, dass für den letzten Teil der Aufsteiger-Trilogie sämtliche Grundsätze über Bord geworfen wurden, die man einem ehemaligen Stasi-Spitzel eigentlich hoch anrechnen würde?


Der Verdacht liegt nahe, es sei Szabó und Brandauer zum Abschluss der gemeinsamen Arbeit nicht nur um eine Verherrlichung der Hauptfigur, sondern vor allem um eine des Darstellers gegangen. Brandauer war kurz zuvor mit einer Oscar-Nomination geehrt worden („Out of Africa“, 1985), und der zum Weltstar avancierte Bühnenkünstler hatte offenbar seine „One Man Show“ verdient. Tatsächlich entdeckt man in „Hanussen“ (wie auch in einigen seiner späteren Filme) weniger das grosse Können des Schauspielers als die wohl unvermeidliche Eitelkeit, die mit dem Ruhm einhergeht. Und diese Eitelkeit führt zu unnötig eindringlichen Gesichtsausdrücken im falschen Augenblick, zu hysterischem Herumschreien, ja sogar zu einem regelrecht dämlichen Lächeln, wenn er seine Bettgefährtin auffordert, aus dem Fenster zu springen. Er mag gelegentlich galant wirken, überzeugend ist er nie als geschwätziger Alleinunterhalter. Und für diese verlogene Brandauer-Show wurden Schauspieler wie Erland Josephson verheizt, die wahrlich bessere Rollen in besseren Filmen verdient hätten. – Vielleicht wäre Klaus Maria Brandauer sogar eindrucksvoller gewesen, wenn er den Hellseher wirklich als Scharlatan hätte geben dürfen. So aber bleibt die letzte Zusammenarbeit mit Szabó eine Enttäuschung, ein schicker und belangloser Untergang des Abendlandes, für den sich wohl nur Leute begeistern können, die als Reinkarnation von Hanussen durchs Internet geistern. Soll uns so etwas helfen, wenn wir wissen wollen, von wo wir gekommen sind?

Samstag, 7. Juli 2012

Glauser

Glauser
(Glauser, Schweiz 2011)

Regie: Christoph Kühn

Der Dokumentarfilm galt lange Zeit als eine Kernkompetenz im Schweizer Filmschaffen. Er war billiger als die im Ausland ohnehin nie sonderlich erfolgreichen Spielfilme, und der Bund zog es, was weltweit einmalig war, vor, ihm einen Grossteil seiner Filmförderungsgelder zukommen zu lassen. Internationale Beachtung war die Folge; es entstanden bis in die Mitte dieses Jahrtausends hinein zum Teil in Zusammenarbeit mit anderen Nationen Perlen, von denen hier nur drei genannt seien: Christian Freis "War Photographer" (2001), für einen Oscar nominiert, "Elisabeth Kübler-Ross - Dem Tod ins Gesicht sehen" (2003) von Stefan Haupt und "Skinhead Attitude" (2003) unter der Regie von Daniel Schweizer. - Doch bereits 2005 sprachen Schweizer Dokumentarfilmer in einem Aufruf von einem Alarmzustand: Die Senkung der Kosten für Spielfilme und die Tendenz in Richtung Fernsehproduktionen verführten die Geldgeber einerseits zur Abkehr vom "Cinéma du réel"; andererseits standen immer mehr - talentierte - Dokumentarfilmer an und wollten auch ihre Projekte verwirklichen. Subventionen für das Genre wurden gekürzt, und es entstanden nur noch kleine, mit etwas Glück kurze Zeit in den Kinos einzelner Schweizer Städte laufende Dokumentarfilme, die kaum Aufsehen erregten und nach einer Fernsehausstrahlung vielleicht von wenigen Interessierten als kostspielige (!) DVD gekauft wurden. Von internationaler Ausstrahlung konnte keine Rede mehr sein, da sie sich aus Kostengründen vor allem Themen annehmen mussten, die nur für die Schweiz, oft sogar nur für eine bestimmte Region von Interesse waren.

Der Zuger Filmer Christoph Kühn erweckt den Eindruck, er habe mit seinen Dokumentarfilmen, die sich ausschliesslich aussergewöhnlicher Figuren der Schweizer Geschichte annehmen, gar nie internationales Ansehen angestrebt. Zu wenig „ambitioniert“ wirken auf den ersten Blick die – spannenden -  Versuche, sich in die von ihm gezeichneten Gestalten hineinzuversetzen, aber auch Zeitgenossen und Experten zur Sprache kommen zu lassen – eher fürs Fernsehen als für eine Kinoauswertung gemacht, die für Furore sorgen würde. Berühmt wurde 1985 sein „FRS – Das Kino der Nation“, ein filmischer Essay über den Schweizer Regisseur Franz Schnyder, der von mir an anderer Stelle „gewürdigt“ wurde. 1993 folgte eine Auseinandersetzung mit der Vielfältigkeit der Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber-Arp – und 2007 eine Dokumentation über den Umweltaktivisten Bruno Manser, der mit seinen Vorträgen über das Schicksal der Urvölker des Regenwaldes von sich reden machte und seit dem Jahr 2000 als im indonesischen Teil Borneos verschollen gilt.

Im Januar dieses Jahres gelangte nun Kühns Dokumentarfilm über den Schweizer Schriftsteller Friedrich Glauser in wenige Kinos vor allem der Region Bern. Glauser ist als Vater des Schweizer Kriminalromans und als Vorläufer des (modernen) deutschen Krimis überhaupt in die Geschichte eingegangen. Seine erst in den letzten drei Lebensjahren entstandenen und zum Teil mehrfach verfilmten Werke „Wachtmeister Studer“, „Matto regiert“ und „Der Chinese“ haben in der Literaturgeschichte mittlerweile ihren festen Platz. Der Untertitel von Kühns Dokumentation „Das bewegte Leben des grossen Schriftstellers“ lässt aber erkennen, dass der Film weniger am Werk als am „Irrenhäusler“, am „Morphinisten“, der hinter ihm steht, interessiert ist.  

Der Film beginnt im Irrenhaus Münsingen, wo der ein Leben lang vor der Bürgerlichkeit und dem harten Vater fliehende Dadaist, Fremdenlegionär und Schriftsteller in einer Nacht des Jahres 1934 über sein Leben nachdenkt. Eine Stimme aus dem Off, die den Zuschauer 75 Minuten lang begleitet, zitiert aus dem Nachlass Glausers, der reichhaltiger ist, als oft angenommen wird, und der uns ein Leben im Fieberrausch zwischen Rebellion und Resignation vermittelt. Fiktive Szenen bieten Einblicke in die Kindheit des Schriftstellers, der sowohl zum Opfer seines Vaters (dieser liess ihn entmündigen und in eine Klinik einweisen, wo man fälschlicherweise Schizophrenie diagnostizierte) als auch seiner eigenen ständigen Unrast werden sollte. Der Stimme folgend entwickelt sich der Film zum ruhelosen, rauschhaften Mosaik, wechselnd zwischen Schriftdokumenten, Photos, Aufnahmen ehemaliger Aufenthaltsorte und Archivaufnahmen. Eine dem Wesen dieser irrenden, ständig die Brücke von der Anstalt und der Welt da draussen suchenden Stimme ("Ich bin von einer Mürbe, die bei einer Linzertorte vielleicht als Qualität aufgefasst werden kann") gerecht werdende Bereicherung bilden die mehr schwarzen als weissen Zeichnungen von Hannes Binder, der schon mehrere Romane Glausers illustriert hatte. --- Daneben stehen geradezu bieder wirkende Interviews mit dem Literaturkritiker und Glauser-Spezialisten Hardy Ruoss oder der anrührenden Lebensgefährtin Berthe Bendel, die er als Pflegerin in Münsingen kennengelernt hatte und die später dem Schweizer Fernsehen erzählen sollte, wie es nach Glausers Entlassung mit ihnen weiterging: ein ruheloses Leben zwischen Atlantik und Mittelmeer – und dann sein Tod unmittelbar vor der geplanten Hochzeit.

Kühns Film wurde nicht von allen Kritikern geschätzt. Man vermisste wohl eine eingehendere Beschäftigung mit dem literarischen Werk Glausers, zeigte sich auch etwas irritiert wegen der Mischung aus Biederkeit und Wahn – obwohl gerade diese Mischung das Leben des Schriftstellers, der von seinem ehemaligen Psychiater als „pfiffig und verschmitzt, aber auch verwundbar“ charakterisiert wurde, ausmachte. – Ich möchte mir nach einer einmaligen Sichtung kein abschliessendes Urteil erlauben, muss aber betonen, dass ich nicht nur viel über den Menschen Friedrich Glauser erfahren habe, sondern von der Art, wie man sich diesem näherte, gepackt war. Ich hoffe vor allem, der Dokumentarfilm werde nach seiner zu erwartenden Fernsehausstrahlung einmal auf einer DVD erhältlich sein, die auch den Ansprüchen deutscher Käufer genügt (Untertitelung des Interviews mit Bendel etc.). Denn Glauser ist nicht nur Bestandteil der Schweizer Literatur, er gehört zu den bedeutenden deutschsprachigen Schriftstellern seiner Zeit – und Kühn hat mit dem dokumentarischen Essay über sein Leben zu einem Thema gefunden, das weit über die Schweiz hinaus auszustrahlen verdient. 


Sonntag, 1. Juli 2012

Afrikanische Tragödie ... an der Côte d'Azur

LA NOIRE DE... (dt. DIE SCHWARZE AUS DAKAR)
Senegal/Frankreich 1966
Regie: Ousmane Sembène
Darsteller: Mbissine Thérèse Diop (Diouana), Anne-Marie Jelinek (als Anne-Marie Jelinck, Madame), Robert Fontaine (Monsieur), Momar Nar Sene (Diouanas Freund), Ibrahima Boy (Junge)


Ein schönes großes weißes Passagierschiff fährt, aus Dakar kommend, in den Hafen von Marseille ein, und unter denen, die von Bord gehen, ist Diouana, eine junge Senegalesin. Ihre Blicke und ein innerer Monolog verraten, dass sie fremd ist in diesem Land. Sie ist nach Frankreich gekommen, um in Antibes an der Côte d'Azur für Madame und Monsieur zu arbeiten, als Kindermädchen - wie sie glaubt. Abgesehen von Diouana und den drei kleinen Kindern von Madame und Monsieur bleiben die Namen aller Personen im Film ungenannt. Später im Film zeigen zwei Rückblenden, wie es zu Diouanas Engagement kam: Sie hatte schon in Dakar für das Paar gearbeitet, das dort eine geräumige Villa mit mehreren Angestellten bewohnte. Diouana musste mit den Kindern spielen und sie zur Schule bringen - eine leichte und angenehme Tätigkeit, und als sie von Madame gefragt wurde, ob sie bald nach Frankreich nachkommen will, sagte sie gerne zu. Mehr noch als um den Lohn ging es ihr darum, das ferne Land kennenzulernen und ihre Verwandten und Bekannten vor Neid erblassen zu lassen, wenn sie ihnen Fotos von sich in Frankreich schicken würde. Diouanas Freund dagegen, ein intelligenter und politisch interessierter junger Mann, hält nicht viel von der ehemaligen Kolonialmacht, und er stand ihren Plänen sehr skeptisch gegenüber. Doch in ihrer jugendlichen Unbefangenheit setzte sie sich über seine Einwände hinweg.


In der 70-minütigen vollständigen Fassung enthält der ansonsten schwarzweisse Film nach Diouanas Ankunft eine ca. zehnminütige Farbsequenz, die Diouanas erste Eindrücke von der Côte d'Azur wiedergibt. Diese Sequenz wurde jedoch schon für den französischen Verleih gestrichen und der Film auf eine knappe Stunde gekürzt. Auf DVD gibt es nur die gekürzte Fassung, die längere mit der Farbsequenz hat aber überlebt (Jonathan Rosenbaum berichtet, dass er sie 2008 sah). In Antibes angekommen, wird Diouana von Madame die Aussicht auf die Küste mit den daran gelegenen Städten gezeigt: Hier Nizza, dort Cannes, dazwischen Antibes. Doch die klingenden Namen bleiben bloße Verheißung, die nicht eingelöst wird. Es erweist sich, dass Madame und Monsieur ihren luxuriösen Lebensstil nur im postkolonialen Dakar pflegen können. Hier in Frankreich sind sie ein ganz normales Mittelklasse-Paar. Sie fahren einen Kleinwagen mit Delle, die Wohnung ist auch nicht besonders groß, und Diouana ist jetzt die einzige Hausangestellte. Und sie ist nicht mehr Kindermädchen, sondern Mädchen für alles: Putzen, Kochen, Geschirr spülen, Wäsche waschen, und nochmal Putzen. Außer zum Einkaufen kommt sie nicht aus dem Haus. Als sie das geforderte Arbeitstempo kaum einhalten kann, wird die anfangs noch freundliche Madame zunehmend ruppig. Monsieur findet das Verhalten seiner Frau zwar übertrieben, aber er gibt sich weitgehend indifferent, statt Diouana beizustehen. Diouana empfindet sich bald nicht mehr als Person, sondern wie ein Einrichtungsgegenstand behandelt. Das bringt auch der ambivalente Filmtitel zum Ausdruck: Das "de..." kann nicht nur für die geographische Herkunft stehen, sondern auch ein Besitzverhältnis anzeigen - "Die Schwarze von Monsieur und Madame" (der plumpe deutsche Titel macht die Ambivalenz natürlich zunichte). Diouanas faktisches Eingesperrtsein wird von Sembène durch die kontrastierende Wahl der Schauplätze veranschaulicht: Während die meisten Szenen in Dakar im Freien spielen, wird Diouana nach der Ankunft in Antibes nur noch in den vier Wänden von Madame und Monsieur gezeigt, so dass sich schnell eine klaustrophobische Stimmung einstellt. Diouanas Gemütsverfassung, die von anfänglicher Neugier und Hoffnung schnell in Ernüchterung, Wut und schließlich Verzweiflung und Resignation übergeht, wird durch ihren per Voice-over vermittelten inneren Monolog dargestellt.


Zur Arbeitsüberlastung und Isolation kommen kleinere und größere Demütigungen. Es beginnt schon damit, dass Madame ihr verbietet, schöne Kleider und Schuhe eigener Wahl zu tragen und ihr stattdessen schmucklose Arbeitskleidung aufnötigt. Als Madame und Monsieur Gäste bewirten, gibt ein älterer Herr Diouana einen Schmatz - weil er "noch nie eine Negerin geküsst" hat, wie er ganz unverblümt sagt. Der konsternierten Diouana bleibt nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Peinlich gestaltet sich auch die Ankunft eines Briefs von Diouanas Mutter. Da Diouana Analphabetin ist, liest Monsieur den Brief vor: Die Mutter beklagt sich, dass Diouana noch kein Geld geschickt hat, weil sie wohl alles verprasst - dabei hat sie noch gar keinen Lohn erhalten. Als wäre das noch nicht genug, macht sich Monsieur gleich daran, den Brief zu beantworten. Weil ihm Diouana trotz seiner Aufforderung nichts diktiert, schwadroniert er selbst eine Antwort zusammen, natürlich ohne auf die tatsächliche Situation von Diouana einzugehen. Diese ist in dieser Situation sprachlos, ihr fehlen komplett die Worte.

Madame, Monsieur und einer ihrer Gäste
Monsieur hat die Zeichen verstanden und händigt Diouana nun den ausstehenden Lohn aus, aber er dringt nicht mehr zu ihr durch - sie hat sich nun emotional komplett von ihrer Umgebung abgekapselt, selbst den Sohn von Madame und Monsieur ignoriert sie jetzt. Am Beginn ihrer Anstellung in Dakar hatte sie Madame eine Maske geschenkt, die sie einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft für wenig Geld abgekauft hatte. Als Zeichen ihrer inneren Kündigung nimmt sie die Maske nun wieder an sich, worauf es zu einer regelrechten Rauferei mit Madame kommt. Danach packt Diouana ihre Koffer. Doch sie wagt sich nicht ins fremde Frankreich hinaus. Stattdessen legt sie sich in die Badewanne und schneidet sich mit einem Rasiermesser die Kehle durch. Etwas später sieht man Monsieur am Strand liegend, wie er in der Zeitung eine dürre Notiz über Diouanas Selbstmord liest. In einem Epilog versucht er, offenbar vom schlechten Gewissen geplagt, in Dakar Diouanas Lohn und ihre Habseligkeiten an ihre Mutter auszuhändigen. Doch er prallt am Stolz der Mutter und ihrer Nachbarn ab, das Geld wird nicht angenommen. Nur der Junge nimmt die Maske an sich, die ihm schon einmal gehört hatte. Obwohl ihn niemand bedroht und ihm außer dem Jungen mit der Maske niemand folgt, gestaltet sich Monsieurs Rückzug zur Flucht - eine Szene, die man auch allegorisch verstehen kann.

Unbeschwerte Tage in Dakar
Sembène enthält sich in seinem ersten Spielfilm jeder Sentimentalität und Melodramatik. Stattdessen ist LA NOIRE DE... betont nüchtern gestaltet, die Tragödie wird sachlich-analytisch protokolliert. Sembène moralisiert auch nicht. Madame und Monsieur sind keine Bösewichter. Sie können kaum anders handeln, weil sie die Situation überhaupt nicht begreifen. Als Diouana am Ende kurz vor dem psychischen Zusammenbruch steht, kommen sie nur auf den Gedanken, dass sie krank sein könnte. Dass sie selbst etwas damit zu tun haben, kommt ihnen nicht im Entferntesten in den Sinn. Es geht wohlgemerkt nicht darum, dass die Europäer nicht in der Lage wären, das "unergründliche" Afrika zu verstehen. Derlei Exotismus ist einem afrikanischen Regisseur wie Sembène natürlich fremd. Madame und Monsieur fehlt schlicht jedes Verständnis für Diouanas Bedürfnisse als Person, es fehlt vor allem am Respekt. Wie auch an der Unterhaltung mit den erwähnten Gästen deutlich wird, handelt es sich letztlich um die latent rassistische Ignoranz der ehemaligen Kolonialherren.


Die nüchterne Machart von LA NOIRE DE... bedeutet nicht, dass es sich um einen filmsprachlich schlichten Film handeln würde. Sembène arbeitet viel mit betonten Kontrasten. Kameramann Christian Lacoste (ein in Dakar lebender Franzose) fängt viele harte Schwarzweiß-Kontraste ein, was man durchaus als bewusste Metaphorik deuten kann. Im Soundtrack findet sich - passend zum jeweiligen Schauplatz - westafrikanische neben europäischer Musik (ein Stück, das zweimal angespielt wird, erinnert stark an Georges Delerues Klaviermusik aus SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN). Die Gegenüberstellung afrikanischer Außen- und europäischer Innenräume wurde schon erwähnt. Sembène nimmt auch, nicht weiter verwunderlich, gewisse Anleihen bei der Nouvelle Vague, und der Einfluss des Neorealismus (der bei Regisseuren aus Ländern mit unterentwickelter oder fehlender Filmindustrie, wie damals der Senegal, auch nach seinem Abklingen in Italien noch Vorbildfunktion hatte) ist noch spürbar, wenn auch nicht so deutlich wie in Sembènes Kurzfilm BOROM SARRET von 1963 (der ähnlich wie FAHRRADDIEBE endet). Wie in den meisten Filmen Sembènes sind auch in LA NOIRE DE... alle Darsteller Laien (Mbissine Thérèse Diop war damals Näherin, Anne-Marie Jelinek und Robert Fontaine waren auch im echten Leben miteinander verheiratet, und sie hatten eine "koloniale" Vergangenheit - Fontaine wurde in Saigon geboren, und Jelinek in Algerien). Sembène selbst übernahm eine Cameo-Rolle als Grundschullehrer in Diouanas Viertel in Dakar, der als Nebenbeschäftigung gegen eine Gebühr Schreibarbeiten für die Bevölkerung übernimmt - ein nebenbei verabreichter Hinweis auf den weit verbreiteten Analphabetismus im damaligen Senegal.

Harte Schwarzweiß-Kontraste
LA NOIRE DE... ist eines der Gründungswerke des schwarzafrikanischen Kinos (die Einschränkung auf Schwarzafrika ist nötig, weil es in Ägypten mit Regisseuren wie Youssef Chahine schon deutlich früher losging). Er gilt als der erste Spielfilm eines schwarzafrikanischen Regisseurs, der wenigstens teilweise in einem afrikanischen Land entstand. In Französisch-Westafrika war Einheimischen das Drehen von Filmen schlichtweg verboten, so dass Regisseure aus dieser Region vor 1960 nur außerhalb Afrikas arbeiten konnten. (Wichtig war vor allem der 1955 in Paris entstandene Kurzfilm AFRIQUE-SUR-SEINE von Paulin Soumanou Vieyra, aus Benin stammend und danach ebenfalls Senegalese. Vieyra war später mit Sembène befreundet und arbeitete gelegentlich mit ihm zusammen, z.B. als Produzent von Sembènes XALA (1975), und er schrieb mehrere Bücher über das afrikanische Kino, darunter 1972 eines über Sembène.)

Die Maske und ihr alter und neuer Besitzer
Ousmane Sembène (1923-2007) war schon in seiner Jugend in den 30er Jahren ein eifriger Kinogänger. "Wir kannten die Filme von George Raft, Charlie Chaplin und Shirley Temple auswendig", erinnerte er sich einmal. Am meisten beeindruckte ihn und seine Freunde in Dakar aber Leni Riefenstahls OLYMPIA. Nicht etwa wegen seiner filmischen oder gar propagandistischen Qualitäten, sondern weil sich mit Jesse Owens ein Schwarzer erdreistete, die Weißen zu besiegen. Sembène wurde zwar islamisch erzogen, wandte sich aber als junger Mann dem Sozialismus zu. 1944 wurde er zu den Senegal-Schützen, einer Abteilung der französischen Armee, eingezogen, und er kämpfte unter de Gaulle gegen die Nazis. Nach seiner Entlassung 1946 ging er zunächst in den Senegal, wo er in einen großen Eisenbahnstreik involviert war, aber 1948 ging er wieder zurück nach Frankreich. Indem er sich in einem feinen Anzug unter die Passagiere eines Dampfers mischte, erschlich er sich die freie Überfahrt, so wie es auch 1973 das Paar in Djibril Diop Mambétys TOUKI BOUKI in Angriff nimmt. Er arbeitete als Fabrik- und Hafenarbeiter, zunächst kurz in Paris, dann jahrelang in Marseille. Sembène wurde Mitglied der Gewerkschaft CGT und der Kommunistischen Partei Frankreichs, und er war wieder an Streiks beteiligt, die den Nachschub für den Kolonialkrieg in Indochina behindern sollten. Mitte der 50er Jahre begann er zu schreiben, wobei er vorwiegend autobiographische Erfahrungen verarbeitete. Um 1960 herum stellte sich der Erfolg als Schriftsteller ein, doch Sembenès auf Französisch verfasste Romane und Kurzgeschichten wurden fast nur von Europäern gelesen. Um auch die Massen seiner Landsleute erreichen zu können, beschloss er, auf Filmregisseur umzusatteln.


Sembène bewarb sich in verschiedenen Ländern um entsprechende Stipendien, und er wurde 1961 in Moskau angenommen. Nach einem Jahr an der staatlichen Filmhochschule WGIK und einem weiteren Jahr Praktikum in den Gorki-Studios (zu seinen Lehrern gehörten Mark Donskoi und Sergej Gerassimow, nach dem die Filmhochschule heute benannt ist) ging er 1963 mit einer 35mm-Kamera im Gepäck in den Senegal, wo er mit 40 Jahren seine ersten Filme drehte. Zunächst im Auftrag der Regierung von Mali eine kurze Doku über die Geschichte des historischen Reichs Songhai, dann den schon erwähnten BOROM SARRET, bereits mit Christian Lacoste an der Kamera. Er behandelt einen Tag im Leben eines Mannes, der mit einem Pferdekarren ein Einmann-Fuhrunternehmen in Dakar betreibt. Am Ende des Tags steht er ohne Arbeitsgerät und damit ohne Einkommensquelle da. BOROM SARRET gewann einen Ersten Preis bei einem Filmfestival in Tours, und Sembenès nächster Kurzfilm NIAYE, der von einem Inzestskandal in einer Dorfgemeinschaft handelt, erhielt einen Preis in Locarno. Dann folgte schließlich LA NOIRE DE..., der ebenfalls nicht ohne Auszeichnungen ausging - Erste Preise bei Festivals in Dakar und Karthago, und in Frankreich einen Prix Jean Vigo.


Alle Filme bis LA NOIRE DE... kamen französisch nachsynchronisiert in die Kinos (Sembène konnte mit seiner einfachen Ausrüstung damals ohnehin keinen brauchbaren Direktton aufnehmen), alle weiteren bis auf den letzten wurden dann auf Wolof (die wichtigste Sprache des Senegal und Sembènes Muttersprache) gedreht und veröffentlicht (je nach Thema des Films auch mit Einschüben von Französisch und weiteren Sprachen). Wie auch einige andere seiner Filme, beruht LA NOIRE DE... auf einer von Sembènes literarischen Arbeiten, die 1962 in der Kurzgeschichtensammlung Le Voltaïque erschienen war, und diese wiederum wurde von einem wahren Ereignis inspiriert, dem Selbstmord einer afrikanischen Hausangestellten, von dem Sembène 1958 in einer südfranzösischen Regionalzeitung las - dieselbe Zeitung, die Monsieur nach Diouanas Tod am Strand liest.

Ousmane Sembène in einer Cameo-Rolle als Lehrer in Dakar
1963 rief die französische Regierung ein Filmbüro ins Leben, das afrikanische Filmemacher technisch und finanziell unterstützen sollte, und BOROM SARRET war der erste davon geförderte Film. Das eingereichte Drehbuch für LA NOIRE DE... war dem Filmbüro jedoch nicht genehm und wurde abgelehnt. Sembène musste dennoch nicht ohne französische Hilfe auskommen. Wie schon NIAYE, ist LA NOIRE DE... eine Coproduktion von Sembènes eigener Firma Filmi Domirev und der französischen Wochenschau Les Actualités Françaises. Deren damaliger Herausgeber André Zwoboda, in den 30er Jahren ein Freund und Mitstreiter von Jean Renoir, fungierte als Produzent, und in den Einrichtungen der Wochenschau fand auch die Postproduction von LA NOIRE DE... statt.


Nach den Festivalerfolgen seiner frühen Filme war Sembène eine anerkannte Größe - 1967 saß er bereits in den Jurys bei den Festivals von Cannes und Moskau -, und er blieb bei Publikum und Kritik erfolgreich. Bis zu seinem letzten Film MOOLAADÉ von 2004, der die Genitalverstümmelung von Mädchen in Afrika anprangert, gewann er jede Menge Preise und Auszeichnungen, und er ist die Ikone des schwarzafrikanischen Films. LA NOIRE DE... ist mit BOROM SARRET als Bonusfilm in den USA bei New Yorker Films auf DVD erschienen (engl. Titel BLACK GIRL), ebenso wie etliche weitere Filme Sembènes. MOOLAADÉ gibt es auch in Deutschland und England auf DVD.

Samstag, 23. Juni 2012

Nieder mit Goethe, lang lebe Murnau! Ein (un)typischer Stummfilm-Abend in Weimar

FAUST: EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE
D 1926
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
Darsteller: Emil Jannings (Mephisto), Gösta Ekman (Faust), Camilla Horn (Gretchen), Hanna Ralph (Herzogin von Parma) u.a.
„Murnau hat Goethe aber ganz schön gefickt!“ lautete das Fazit einer meiner Kompagnons zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm-Interpretation des Faust-Stoffes. Solch bildhafte Worte würde ich selbst natürlich niemals verwenden. Jedoch stimme ich dem dahinterstehenden Gedanken im Grunde zu, wenngleich aus anderen Gründen als mein höchst Faust-affiner Kollege. Dieser verstand diese Worte als negative Kritik an einer seiner Meinung nach zwar bildgewaltigen, aber doch etwas zu „freien“ Adaptation von Goethes Werk. Ich hingegen sehe ich sie als Ausdruck der absoluten Genialität von Murnaus letztem deutschen Film und als Bestätigung meiner persönlichen Meinung, dass das Kino als Kunstform dem Theater bei weitem überlegen ist, und dass Murnau in meinem Kulturkanon immer eine größere Rolle spielen wird als der Wahlweimarer aus Frankfurt.

Aber erst einmal alles der Reihe nach. Mein Verhältnis zu „Faust“ kann man als grundsätzlich konflikthaft bezeichnen. Wie Abertausende Schüler in Deutschland wurde selbstverständlich auch ich in meinem – zumal Weimarer! – Deutschkurs mit Goethes „Faust“ gequält und regelrecht geprügelt. Der Besuch einer Vorstellung im Deutschen Nationaltheater Weimar hat meine Abneigung gegen „Faust“ nicht nur nicht zerstreut, sondern sogleich auch noch meine Grundskepsis gegenüber Theater überhaupt noch erhöht. Dies erklärt auch, warum „künstlerische Freiheiten“ bei der Anpassung des Stoffes für das Kino nicht unbedingt meine Empörung hervorrufen werden...
Interessanterweise hat meine Annäherung an Murnau fast ebenso schlecht begonnen, nämlich mit „Nosferatu“. Die erste Sichtung im Fernsehen hat mich abgeschreckt, was vielleicht nicht zuletzt am dämlichen und fürchterlichen Elektrolärm lag, der als „musikalische“ Begleitung diente. Das mittlerweile vierte „Nosferatu“-Erlebnis vor wenigen Wochen hat meine Meinung lediglich weiter verstärkt: der ultimative Stummfilm, um Stummfilm-Anfänger zu verscheuchen! Die große Freude, Murnaus Meisterwerke „Der letzte Mann“ und „Sunrise“ zu sehen, hat mir erlaubt, „Nosferatu“ besser einzuordnen. So kann man in diesem Horror-Film im Lichte der späteren Werke die amateurhafte Fingerübung eines Regisseurs auf der Suche nach visuellen Gestaltungsmöglichkeiten erkennen.
Dies sind also die groben Voraussetzungen für den titelgebenden Stummfilm-Abend im Weimarer Lichthaus-Kino. Eine andere ist eher nicht-kultureller Art. Wenn das tonlose Zelluloid zur Begleitung von Richard Siedhoffs Klavier ins Rollen gebracht wird, dann platzt üblicherweise Kinosaal 1 aus allen Nähten. Da zur gleichen Zeit aber in der Hauptstadt Galiziens 22 geistig minderbemittelte Männer einem ins Rollen gebrachten Ball hinterherrannten, um drauf zu treten und 11 dieser Männer – oder besser gesagt die Bildschirme, die sie zeigten – bei dieser irgendwie ziemlich sinnlosen Beschäftigung mit atavistischem „Schland“-Gebrülle angefeuert wurden, war an diesem Abend die Zuschauerzahl ausnahmsweise übersichtlich.

Und der Film begann. Überraschend und sehr untypisch war, dass er dies ohne die üblichen einleitenden Worte des Pianisten Richard Siedhoff tat, der ansonsten über die historische Bedeutung des jeweiligen Films oder über die Erhaltung, Länge und Qualität der Filmkopie kurz referiert. Vielleicht gar nicht so unpassend. Wenngleich Murnau nach „Der letzte Mann“ nun doch wieder Zwischentitel nutzte, so sind Worte doch gewissermaßen überflüssig bei einem Werk, das solch pures Kino, reines Bild und schlichte visuelle Poesie ist.
Beginnen wir zunächst mit dem, wofür „Faust: Eine deutsche Volkssage“ am berühmtesten wurde: seine Spezialeffekte. Diese bilden noch bis heute den offensichtlichsten Schauwert des Films. Durch Doppel- und Mehrfachbelichtungen, gekoppelt mit stilisierten Setdesigns und raffinierten Attrappen-Arrangements lässt Murnau den Zuschauer in eine komplexe, surreale und (alp)traumhafte Parallel-Welt eintauchen. So breitet zu Beginn des Films Mephisto seine riesigen Flügel über die Stadt und bringt ihren Bewohnern die Pest. Eines der ikonischsten Bilder des Films, und trotz der offensichtlichen Nutzung einer Miniatur-Attrappe noch heutzutage ein ergreifender Filmmoment. Die Anrufung Mephistos erinnert selbstverständlich an einen anderen großen „Kassenschlager“ der Ufa. Die über Fausts Körper schwebenden Feuer-Ringe konnten ein Jahr später in Fritz Langs „Metropolis“ als Licht-Ringe bewundert werden, namentlich in der Szene, in welcher der Maschinenmensch geschaffen wird. Auch Emil Jannings Mephisto verschwindet und taucht dank Mehrfachbelichtungen überall und an den unmöglichsten Stellen auf, um seine teuflischen Spiele zu treiben.
Metropolis
Remineszenz an die Anrufung Mephistos
Solcherlei Spezialeffekte setzt Murnau auch ein, um die inneren Gemütszustände der Figuren zu externalisieren – wie könnte es in einem expressionistischen Film auch anders sein. Fausts Sehnsüchte und Ängste, die aus seinem Pakt mit Mephisto heraus gezwungenermaßen entstehen, breiten sich im wörtlichen Sinne vor seinen Augen aus. Mephisto verführt Faust letztlich mit Sex! Mit fliegendem Mantel führt er ihn zur Hochzeit der Herzogin von Parma, bringt dort gleich ihren Bräutigam um und sorgt für ein deutsch-italienisches Techtelmechtel. Bevor es richtig zur Sache geht, zerrt Mephisto Faust aus dem Bett und verkündet das Ende des Pakt-Probetages. Dem „jungen“ Faust wird durch diesen „coitus interruptus“ das Schreckensbild seiner eigenen Impotenz bzw. seines wahren Alters vorgeführt, und er ist für seine Jugend nun bereit, Mephisto für ewig verfallen zu sein. Eine ziemlich einfache, aber sehr effiziente Szene.
Doch Faust merkt, dass adelige Damen zu besteigen nicht automatisch selig macht und sehr schnell hockt er dann trübsinnig auf einem kargen Felsbrocken und schwärmt seinem düsteren Kumpanen von der Idylle der Heimat vor. Hier verwandelt sich der rauchig-düstere Hintergrund in Fausts Phantasie eben jener Idylle von Haus, Hof und Familie. Die Projizierung der Gemütszustände auf den Hintergrund würde Murnau in „Sunrise“ noch auf die Spitze treiben.
Die „entfesselte Kamera“, die Murnau in „Der letzte Mann“ bereits sehr eindrucksvoll von der ersten Minute an demonstriert hatte, nutzte er in „Faust“ seltener wenngleich nicht weniger eindrucksvoll. Einige Kamera-Schwenks über etwas, das man mühelos als Miniatur-Modell von Städten, Wiesen, Wäldern, Gebirgen und Meeresküste ausmachen kann, werden zum phantastisch-teuflischen Flug auf Mephistos Mantel: Der Atem stockte, die Augen waren weit aufgerissen und der restliche Körper war angespannt angesichts dieses atemberaubenden Kinoaugenblicks, und hier hat tatsächlich niemand aus der Versammlung hämisch gelacht. Der phantastische Flug endet damit, dass man sich einem Gebäude aus anscheinend hunderten Metern Entfernung fliegend annähert und in die offene Terrasse hineinstürzt – solche Kamerafahrten von extremen Exterieur-Totalen ins Innere eines Gebäudes werden heute immer noch gerne gemacht, jedoch meist mit CGI. Danach folgt noch ein direktes Zitat aus „Der letzte Mann“, wenn wir aus der Turmspitze des Gebäudes in die prunkvolle Hochzeitsgesellschaft der Herzogin von Parma wie in einem Fahrstuhl „herunterfahren“.
Die Spezialeffekte sind bewundernswert. Einigen merkt man sicherlich an, dass sie 85 Jahre auf dem Buckel haben und gewissermaßen den alten bärtigen Faust als Jungspund vormachen mussten. Dies mag das immer wieder auftauchende latent höhnische Gelächter während der Filmvorführung erklären – wenngleich selbstverständlich nicht entschuldigen. Denn die Spezialeffekte sind nur ein (und vielleicht gar nicht unbedingt das wichtigste) von mehreren Elementen, die „Faust“ zu einem zutiefst modernen Film machen; und zwar damals wie auch heute.

Da wir gerade so schön da sind, bleiben wir gleich bei dieser Hochzeitsgesellschaft: im Vordergrund der innere Kreis der Gesellschaft, eine Treppe tiefer weiter hinten eine Tänzerinnen-Gruppe, und ganz weit hinten die Gebäude der Stadt. Alle drei Elemente sind, zumindest auf großer Leinwand, gestochen scharf zu sehen. Durch kleinere Wechsel der Kameraposition und der Beleuchtung wird in den folgenden Momenten ihr Anteil am und ihr Gewicht im Gesamtbild immer wieder leicht geändert. Worauf ich eigentlich hinauskommen will: vielleicht noch beeindruckender als die Spezialeffekte ist die fast permanente extrem plastische Räumlichkeit der Bilder! Durch scheinbar einfache Elemente wie Bildkomposition und Tiefenschärfe taumeln die Figuren nicht vor zufälligen Kulissen, sondern bewegen sich durch einen fühlbaren Raum.
     
Gerade der zweite Teil des Films, wo es um die Annäherungen Faustens und Gretchens geht, wird in Foren gerne mal als schwach, ja gar langweilig im Vergleich zur vorangehenden tour de force belächelt. Das stimmt nicht! Denn gerade die Szenen in Gretchens Haus sind Mini-Kunstwerke plastischer Rauminszenierung. Hier wird deutlich, dass Orson Welles‘ „Citizen Kane“ nicht aus dem Himmel fiel, sondern im Grunde Techniken des expressionistischen Stummfilms für den Tonfilm adaptierte, modernisierte, zuspitzte und radikalisierte. 15 Jahre, bevor Charles Kane und seinen Redaktionskollegen die Zimmerdecke regelrecht auf den Kopf knallte, tat sie das schon bei Gretchen, ihrer Mutter, ihrem Bruder und Mephisto. Mit Tiefenschärfe, einem geeigneten Setdesign und vor allen Dingen auch einer relativ niedrigen Kameraposition ist die Decke fast permanent zu sehen. Das erzeugt nicht nur eine bedrückende und klaustrophobische Stimmung. Wenn die drei Ebenen Wand 1, Wand 2 und Zimmerdecke in einer Ecke sichtbar zusammentreffen, dann entstehen besonders bei handlungsarmen Momenten aus potentiell relativ drögen flächigen Bildern ein Reigen dreidimensionaler kleiner Kunstwerke.
Citizen Kane
Ähnliche Mittel der Räumlichkeits-Inszenierung
Es scheint gar so, dass – ACHTUNG: KULTURPESSIMISMUS-MODUS AN – die heutige 3-D-Technik nicht nur die Geldbeutel von Verleihen, Produzenten, und Studios noch weiter auffüllen soll, sondern auch die Unfähigkeit manch eines Regisseurs, Räume und Räumlichkeit zu inszenieren, ausgleichen soll – ACHTUNG: KULTURPESSIMISMUS-MODUS AUS. Die kommende erste deutsche DVD-Edition hat also bestimmt keine 3-D-Digitalisierung gebraucht, denn „Faust“ wurde schon in der Originalversion in 3D gedreht. Wer meine Ausführungen zur Gestaltung von Räumlichkeit in Murnaus letzten deutschen Film für Quatsch hält und/oder mehr dazu wissen möchte und über erweiterte Französisch-Kenntnisse verfügt, kann die Darlegungen Eric Rohmers zum selben Thema lesen.
Was bleibt noch zur Machart des Films zu sagen? Augen und Gegenstände werden stellenweise zu blendendem Glitzern gebracht. Murnau beweist Mut zur völligen Bildabstraktion in Momenten, wo Feuer und Rauch eine gewisse Rolle spielen. Der Emil Jannings als pfiffiger Mephisto. Das irgendwie latent kitschige Ende...
Die Weimarer Aufführung vom 17. Juni 2012 war also ein voller Erfolg und Murnaus Meisterwerks durchaus würdig. Die Klavierbegleitung war typischer Siedhoff, nämlich individuell, ausdrucksstark, mit Mut zur Pause und einfach großartig. „Klavierbegleitung“ ist wortwörtlich zu nehmen: die Bilder werden tatsächlich „begleitet“, ihre visuelle Sprache unterstützt, aber sie werden niemals von der Musik ertränkt oder stranguliert! Gerade schlechte Musikbegleitungen haben die Tendenz, sich selbst wichtiger zu nehmen als der eigentliche Film und entwickeln sich – egal ob live, oder auf DVD oder im Fernsehen – zu „Konzerten mit Filmrollen-Begleitung“.
Der Film wurde anschließend in einer etwas kleineren Gruppe besprochen und gewürdigt bzw. kritisiert – in einer fast menschenleeren (da „public-muh-ing“-freie Kneipe). In der Hauptstadt Galiziens haben 11 der 22 Schwachköpfe das hirnrissige Tritt-auf-den-Ball-Spiel gewonnen. In der ehemaligen Kulturhauptstadt Europas hat an diesem Abend Murnau Goethe eine eklatante Niederlage beigefügt – je nach Standpunkt im guten (ich) oder im schlechten Sinne (mein Kollege). Sicher folgt Murnaus Faust nicht besonders treu der Goetheschen Version, zumal er explizit auch andere Faust-Quellen aufgenommen hat. Und ganz sicher fehlt seinem „Faust“ die narrative Tiefe und die grundlegende emotionale Involvierung, die vorher „Der letzte Mann“ und später „Sunrise“ ausmachten. Wer mit Goethes „Faust“ auf gutem Fusse steht, wird mit „Murnaus“ Faust nicht unbedingt sehr glücklich werden. Wer eine Geschichte erzählt bekommen will, wird hier wohl auch nicht auf seine Kosten kommen (gerade Menschen mit diesem Anspruch könnten andere Murnau-Filme dahingehend besser ertragen). Wer pures Kino erleben will, wird hier seine volle Dröhnung bekommen. Denn wie sagte Martin Scorsese: das einzige Mittel, um Filmsucht zu kurieren, ist noch mehr Film!