Donnerstag, 20. Juni 2013

Nachtasyl - der Dieb, der Baron und die Schnecke

LES BAS-FONDS (NACHTASYL)
Frankreich 1936
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Jean Gabin (Pepel), Louis Jouvet (Baron), Junie Astor (Natacha), Suzy Prim (Vassilissa), Vladimir Sokoloff (Kostylev), Robert Le Vigan (der Schauspieler), Jany Holt (Nastia), Gabriello (Inspektor), René Génin (Luka)

Ein Baron mit Schnecke
Am Anfang kreuzen sich die Wege von zwei Männern, die bisher nichts gemein hatten, abgesehen davon, dass sie beide Diebe sind. Der Baron (seinen Namen erfährt man nicht, ebenso wie jenen des Schauspielers) ist Angehöriger der Aristokratie und ein hoher Beamter, doch seine Spielsucht hat ihn ruiniert. Er hat nicht nur enorme Schulden, sondern er hat auch in eine geheime Kasse seiner Behörde gegriffen, was nicht unbemerkt blieb. Zunächst sah man darüber hinweg, doch nun fordert ihn sein Vorgesetzter in diplomatisch gedrechselten Worten auf, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ein letzter Versuch, im Spielcasino alles zurückzugewinnen, scheitert komplett, und er ist nun endgültig bankrott und wird von seinen Ämtern suspendiert. Für den nächsten Tag haben sich die Gläubiger mit dem Gerichtsvollzieher angesagt, um den geräumigen Stadtpalast des Barons leerzuräumen. Als er nächtens mit Selbstmordgedanken vom Casino dorthin zurückkehrt, trifft er einen unerwarteten Gast. - Pepel ist ein kleiner Dieb, der nichts anderes gelernt hat, weil schon sein Vater ein Dieb und Dauergast im Gefängnis war. Er haust in einem Nachtasyl, einem trostlosen Ort voller gescheiterter Existenzen, der im Wesentlichen aus einem einzigen großen Raum im Souterrain besteht, der auch tagsüber im Halbdunkel liegt. Dessen Besitzer, der windige Kostylev, ist zugleich Pepels Hehler, und Kostylevs Frau Vassilissa ist seine Geliebte. Er ist ihrer inzwischen überdrüssig, doch sie hängt an ihm wie eine Klette. Aber Pepel hat inzwischen ein Auge auf Vassilissas jüngere Schwester Natacha geworfen. Diese fühlt sich einerseits zu Pepel hingezogen, doch andererseits verachtet sie seine verbrecherische Lebensweise. Unter den Insassen des Asyls nimmt Pepel eine Sonderstellung ein: Er ist der einzige, der über Selbstachtung und Tatkraft verfügt, und der einer halbwegs einträglichen Arbeit nachgeht - und wenn es auch nur Einbruch und Diebstahl ist. Im Palast des Barons findet er aber in jener Nacht nicht die erhofften Reichtümer, und dann wird er auch noch vom Baron überrascht.

Der Baron noch in Amt und Würden; Pepel; Natacha; der Schauspieler
Die Begegnung verläuft anders, als man es unter solchen Umständen erwarten könnte. Der Baron erkennt in Pepel gewissermaßen einen Kollegen - Diebe unter sich -, und weil ihm in seinem Haus ohnehin nichts mehr wirklich gehört, lädt er Pepel kurzerhand ein. Der ist zunächst verblüfft und etwas misstrauisch, aber dann lässt er sich darauf ein. Und so gibt es ein improvisiertes Abendessen, und dann wird Karten gespielt bis zum Morgengrauen. Am Ende haben die beiden eigentlich sehr ungleichen Männer Freundschaft geschlossen, und der Baron hat aus der Unterhaltung mit Pepel die Erkenntnis gewonnen, dass auch ein Leben ohne Geld und Status lebenswert sein könnte. Zum Abschied schenkt er Pepel eine Bronzestatuette von zwei Pferden. Der wird damit von der Polizei aufgegriffen und ironischerweise für einen Dieb gehalten, doch der verständigte Baron, dessen Abstieg sich noch nicht herumgesprochen hat, eilt ins Polizeirevier und bekommt Pepel problemlos frei. Beim erneuten Abschied verspricht er, dass man sich wohl bald wiedersehen werde, ohne zu konkretisieren, was er damit meint. Doch das erweist sich bald: Er taucht in abgetragener Kleidung im Nachtasyl auf. Nachdem er buchstäblich alles bis auf die Kleider am Leib verloren hat, wird er jetzt selbst im Asyl wohnen. Dort hat sich unterdessen einiges getan. Pepel hat Vassilissa endgültig den Laufpass gegeben, aber die reagiert auf ihre eigene Art: Sie schlägt Pepel unverblümt vor, er solle Kostylev umbringen, dann könnten die beiden verschwinden und gemeinsam von dem Geld leben, das Kostylev durch seine Hehlerei angehäuft hat. Pepel lehnt nur angewidert ab. Kostylev droht Ungemach durch eine angekündigte Untersuchung der Polizei, aber ein korrupter jovialer Inspektor, der seine schützende Hand über seine krummen Geschäfte hält, bietet einen Ausweg: Er hat ebenso wie Pepel ein Auge auf Natacha geworfen, und so wird diese von Kostylev und Vassilissa genötigt, einen Sonntagsausflug mit dem Inspektor in ein Restaurant zu machen. Doch Pepel erwischt die beiden, was mit einem blauen Auge für den Inspektor endet und Pepel und Natacha dazu führt, sich gegenseitig ihre Liebe zu erklären. Pepel, der das Leben im Asyl schon lange satt hat, verspricht, das Stehlen aufzugeben und stattdessen seinen Unterhalt als ehrlicher Handwerker zu verdienen.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Aber zunächst kommt es anders. Nachdem sich der Inspektor bei Kostylev über den Vorfall im Restaurant beschwert hat, verprügeln dieser und seine Frau Natacha. Pepel schreitet ein und will nun seinerseits Kostylev verprügeln oder gar umbringen. Die anderen Bewohner des Asyls kommen hinzu, und im allgemeinen Tumult wird Kostylev umgestoßen, er fällt mit dem Kopf auf einen Amboss und stirbt. Das nutzt Vassilissa zur Rache: Sie behauptet gegenüber der Polizei, Pepel habe ihren Mann ermordet. Obwohl die anderen Asylbewohner für ihn aussagen, wird er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Vassilissa, die Kostylev jetzt los ist, packt ihre Koffer, um mit seinem Geld aus der Stadt (und aus dem Film) zu verschwinden, ohne juristisch oder vom Schicksal bestraft zu werden. Natacha dagegen bleibt und wartet auf Pepel. Am Tag seiner Freilassung holt sie ihn am Gefängnis ab, und nachdem sich die beiden im Asyl vom Baron verabschiedet haben, wandern sie auf einer Landstraße in eine gemeinsame Zukunft, die von ehrlicher Arbeit geprägt sein wird.

Auf baldiges Wiedersehen
LES BAS-FONDS beruht auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Maxim Gorki (das nacheinander zwei Titel trug - das deutsche "Nachtasyl" ist eine Übersetzung des ersten Titels, das franz. "Les Bas-fonds" und das engl. "The Lower Depths" des zweiten Titels, den das Stück bekam, nachdem es sich Gorki anders überlegt hatte). Doch Kenner von Gorki werden sich inzwischen wundern: Ziemlich wenig von dem, was ich bisher beschrieben habe, kommt in dem Stück vor, und jede Menge von dem, was bei Gorki passiert, habe ich noch nicht erwähnt. Renoir verstand Literaturverfilmungen immer so, nicht einfach eine Vorlage von einem Medium in ein anderes zu transportieren, sondern sich von einer Vorlage zu einer eigenständigen Schöpfung inspirieren zu lassen, und diese Einstellung rechtfertigt per se Abweichungen vom Original. Doch bei LES BAS-FONDS überstiegen diese Abweichungen das sonst bei ihm übliche Ausmaß. Gorkis Stück spielt komplett im Asyl, während im Film nicht einmal die Hälfte der Zeit dort verbracht wird. Etliche von Gorkis Figuren wurden von Renoir und seinem Co-Autor Charles Spaak in ihrer Bedeutung stark reduziert, bis hin zu Statisten ohne Dialoge, oder sie verschwanden ganz. Dagegen wurden die Rollen von Pepel und dem Baron stark ausgebaut und auch viel positiver gestaltet als im Stück. Nur wenige der ursprünglichen Charaktere bleiben im Film erwähnenswert. Da ist einmal der alte Vagabund Luka, der aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe heraus den anderen im Asyl Trost spendet, was sich jedoch als zwiespältig entpuppt. Einerseits erleichtert er der sterbenskranken Anna mit seinen Tröstungen den unausweichlichen Tod (sie stirbt dann auch direkt nach ihrer einzigen Szene im Film), andererseits macht er dem Schauspieler Hoffnungen, die sich nicht erfüllen lassen. Dieser Schauspieler, der, wie oben schon erwähnt, namenlos bleibt, ist starker Alkoholiker und musste deshalb seinen Beruf schon vor Jahren aufgeben, doch Luka erweckt in ihm die Hoffnung, er könne in einer Klinik mit etwas Willensstärke von seiner Sucht geheilt werden und dann auf die Bühne zurückkehren. Doch am Ende des Films, während gleichzeitig Pepel aus dem Gefängnis entlassen wird, und Luka inzwischen weitergezogen ist, macht der Baron dem Schauspieler klar, dass das nur Illusionen sind. Aller Hoffnungen beraubt, und schon halb im Delirium, erhängt sich der Schauspieler (was den Schluss des Stücks bildet, während im Film noch der Aufbruch von Natacha und Pepel folgt). Die letzte nennenswerte Figur ist Nastia, eine Prostituierte, die den anderen ständig von ihrem Liebhaber erzählt, der sie eines Tages aus der Hölle des Asyls holen wird. Doch der Liebhaber existiert nicht, es handelt sich um ein Wolkenkuckucksheim, das sie sich aus Kitschromanen zusammenliest; alle wissen es, und alle (außer Luka) machen sich darüber lustig.

Nastia geht ihrer Arbeit als Prostituierte nach
Dass Pepel und der Baron den Film dominieren, liegt nicht nur am Drehbuch, sondern auch an der grandiosen Besetzung. Louis Jouvet war zwar als Darsteller und Regisseur hauptsächlich ein Theaterstar, aber seit den 30er Jahren brillierte er auch regelmäßig auf der Leinwand, und seinem Baron verleiht er die nötigen Nuancen, um ihn zu einer ungemein interessanten Figur zu machen. Beispielhaft ist etwa eine Szene, in der Pepel und der Baron im Gras am Ufer eines russischen Flusses liegen (der für Eingeweihte wie die Marne aussieht, weil es die Marne ist) und sich von ihren Zukunftsplänen erzählen, wobei der Baron nicht Pepel ansieht, sondern fasziniert eine Schnecke betrachtet, die ihm auf die Hand gekrochen ist (die Schnecke stand übrigens nicht im Drehbuch, sondern wurde von Renoir improvisiert, nachdem die Szene für seinen Geschmack zunächst nicht richtig funktionierte). Jean Gabin war Mitte 1936 noch kein großer Star, aber LES BAS-FONDS beförderte ihn ein großes Stück in diese Richtung, und innerhalb weniger Jahre war er mit Filmen wie Renoirs LA GRANDE ILLUSION und LA BÊTE HUMAINE und Marcel Carnés LE QUAI DES BRUMES und LE JOUR SE LÈVE dort angekommen. Sein bodenständiger, im Grunde gutmütiger, aber bisweilen aggressiver Pepel gibt schon die Richtung dieser späteren Rollen vor, aber zu Gabins geradezu archetypischer Leinwand-Persona aus den letztgenannten drei Filmen fehlt noch der tragisch-fatalistische Zug zum Tod. Das dritte darstellerische Schwergewicht in LES BAS-FONDS ist Robert Le Vigans Schauspieler. Es ist eine pathetische, theatralische Figur, voller Selbstmitleid, gelegentlich Shakespeare-Verse deklamierend, und Le Vigan spielt das voll aus. Man kann das übertrieben finden, aber der Charakter ist jedenfalls in sich schlüssig. Es ist ein Jammer, dass dieser interessante Darsteller Le Vigan nach der Besetzung Frankreichs offen mit den Nazis sympathisierte und über das Radio antisemitische Botschaften verbreitete. Nach dem Krieg bekam er die Quittung präsentiert: Er wurde zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach drei Jahren wurde er auf Bewährung entlassen, was er nutzte, um sich zunächst nach Spanien und dann nach Argentinien abzusetzen. Leider gibt es in LES BAS-FONDS auch einen eklatanten schauspielerischen Schwachpunkt, und der heißt Junie Astor. Sie war eine Freundin von Produzent Kamenka (oder vielleicht auch seine Geliebte), der sie Renoir aufnötigte, und dieser äußerte sich später sehr unverblümt über ihr mangelndes Talent und ihr ausdruckloses Gesicht. Es ist zwar nicht in allen Szenen so schlimm, aber gerade in ihren gemeinsamen Auftritten mit Gabin, die ja eigentlich ein emotionales Zentrum des Films bilden sollten, wirkt sie schon sehr blass. So bleibt die Freundschaft zwischen Pepel und dem Baron eine weitaus interessantere Beziehung als die Liebe zwischen Pepel und Natacha.

Pepel, Vassilissa und Kostylev
Für die Aufwertung des Barons und Pepels gibt es außer der Absicht, Jouvet und Gabin Gelegenheit zur Entfaltung zu verschaffen, noch einen weiteren und tieferen Grund. Gorkis Nachtasyl ist eine in sich abgeschlossene Welt - nicht nur räumlich (wie gesagt spielt das ganze Stück im Asyl), sondern auch in Bezug auf die (nicht vorhandene) soziale Mobilität: Es gibt keinen Ausweg außer dem Tod. Das aber widerspricht Renoirs Ansichten fundamental. In seinen Filmen gibt es immer Möglichkeiten zur Veränderung, zum Besseren wie zum Schlechteren, Gelegenheiten für die Protagonisten, ihre eigene Zukunft zu beeinflussen. Und genau das wird in LES BAS-FONDS von den gegenläufigen Handlungssträngen der beiden Freunde widergespiegelt: Pepels bescheidener (aber aus seiner Sicht essentieller) Aufstieg vom Verbrecher zum Handwerker und der Abstieg des Barons aus der Aristokratie ins Proletariat. Dabei repräsentiert Pepels Entwicklung auch den optimistischen Geist der damals noch intakten Volksfront. Wenn man mag, kann man in der Freundschaft der beiden auch eine Metapher für die mögliche Aussöhnung der gesellschaftlichen Klassen sehen, aber ich finde, dass man das nicht überstrapazieren sollte. Niemand weiß, wie die Begegnung der beiden verlaufen wäre, wenn der Baron in jener Nacht nicht alles verloren, sondern alles gewonnen und somit seinen Status gewahrt hätte. Der Abstieg des Barons ist zwar nicht zu leugnen, aber er hat nicht nur tragische Aspekte, sondern er ist auch eine Befreiung von den sozialen Konventionen seines Standes. Nachdem der Baron erst einmal erkannt hat, dass man nicht nur in einem Federbett, sondern auch im Gras bequem schlafen kann, und dass ein Kartenspiel um ein paar Kopeken ebenso spannend sein kann wie eines um 1000 Rubel, kann er unbeschwert in den Tag hinein leben und sich weiter dem Glücksspiel widmen. Deshalb bleibt er am Ende auch freiwillig im Asyl, statt Pepel zu begleiten. Natacha, Vassilissa und Kostylev dienen dazu, um die Geschichte vom sozialen Auf- und Abstieg herum eine melodramatische Handlungsebene um Liebe, Eifersucht und Tod zu konstruieren, aber die anderen Bewohner des Asyls sind dazu nicht notwendig. Sie liefern nur den atmosphärischen Hintergrund des Films und werden von Renoir in ihrer Bedeutung entsprechend reduziert. Übrigens hat Renoir sein Drehbuch an Gorki geschickt, und der hat zu allen Änderungen am Stück seine Zustimmung erklärt und das sogar öffentlich kundgetan. Zumindest erzählt Renoir das so in einer sechsminütigen Einführung in LES BAS-FONDS, die er wohl für das französische Fernsehen aufnahm (das Zeitfenster für diese Korrespondenz war etwas eng, denn Gorki starb im Juni 1936).

Neuankömmling im Asyl
Die Idee zu LES BAS-FONDS hatte Produzent Alexandre (ursprünglich Alexander) Kamenka, der sie an Renoir herantrug. Der Exilrusse Kamenka hatte einen gewissen Anteil daran, dass Renoir überhaupt Regisseur geworden war. Als junger Mann ging Renoir in den frühen 20er Jahren sehr häufig ins Kino, aber er sah fast nur Hollywoodfilme, denn die französischen Filme dieser Zeit fand er langweilig und prätentiös. Unter diesen Umständen schien ihm eine eigene Karriere im Film aussichtslos. Doch 1923 produzierte Kamenka mit einer gemischten Crew aus Russen und Franzosen LA BRASIER ARDENT (Regie und Hauptrolle Ivan Mosjoukine), der offenbar ein unterhaltsames Spektakel war. Renoir war begeistert, und er war jetzt überzeugt, dass man auch in Frankreich solche Filme drehen konnte, wie sie ihm vorschwebten. 1924 nahm er seinen ersten Film in Angriff. - Obwohl die Dreharbeiten zu LES BAS-FONDS wegen der Verzögerungen bei PARTIE DE CAMPAGNE mit zwei Wochen Verspätung begannen, lief die Produktion völlig reibungslos. Der Film war an der Kasse ein enormer Erfolg (bei Renoir in den 30er Jahren eher die Ausnahme als die Regel). Die Aufnahme bei den Kritikern war gemischt, aber es gab einen Prix Louis-Delluc (den ersten, der überhaupt vergeben wurde). Eine Eigenheit von LES BAS-FONDS habe ich oben schon mit der Erwähnung der Marne angedeutet: Der Film spielt ja eigentlich in Russland, die Charaktere haben russische Namen, die Polizisten tragen russische (oder irgendwie russisch aussehende) Uniformen. Und doch ist das alles erkennbar nicht Russland, sondern Frankreich. Das liegt nicht nur an den Schauplätzen, sondern vor allem an der Besetzung. Um den Effekt zu vermeiden, hätte Renoir wohl mit Exilrussen als Darstellern arbeiten müssen. Die gab es in Frankreich reichlich, und Kamenka hatte auch die nötigen Kontakte. So hätte wohl Mosjoukine auch einen guten Baron abgeben können. Doch Renoir beschränkte sich auf Vladimir Sokoloff (und Jany Holt war eine gebürtige Rumänin). Ironischerweise beschwerten sich einige Kritiker, dass Sokoloff unter all den Franzosen "zu russisch" wirke. In der oben erwähnten Einführung erzählt Renoir, er habe von vornherein beabsichtigt, den Film nicht russisch, sondern französisch aussehen zu lassen. Ob das nun stimmt oder nicht - russisches Flair darf man von LES BAS-FONDS jedenfalls nicht erwarten. Die Stärken (und leider auch Schwächen) liegen bei den Schauspielern, und die Kameraarbeit (wie zu erwarten wieder mit reichlich deep focus) erfüllt die von Renoirs früheren Filmen gesetzten Standards, mit einigen interessanten Plansequenzen und stimmungsvoll-schummrigen Aufnahmen aus dem Asyl mit seiner verwinkelten Holz-Architektur.

Im Asyl (r.o. Luka mit dem Schauspieler)
1957 drehte Akira Kurosawa mit DONZOKO seine eigene, äußerst sehenswerte Version der Geschichte (dt. ebenfalls NACHTASYL). Kurosawa verlegte die Handlung ins Tokyo des 19. Jahrhunderts, ansonsten hielt er sich aber viel enger an die Vorlage als Renoir. Und obwohl Toshirō Mifune den Dieb spielt, ist DONZOKO ein astreiner Ensemblefilm, und kein Starfilm wie LES BAS-FONDS. Renoir, der DONZOKO in den 70er Jahren sah, bezeichnete ihn als "viel wichtiger" als seinen eigenen Film. Diese beiden bekanntesten Verfilmungen des Stoffs (es gibt noch weitere) sind zusammen in einem 2-DVD-Set von Criterion in den USA erschienen (als THE LOWER DEPTHS). Wer keine Probleme mit Regionalcode 1 hat, kann beherzt zu dieser Version greifen. Ansonsten ist LES BAS-FONDS auch in Frankreich auf DVD erhältlich.

Am Flussufer

Samstag, 8. Juni 2013

„Wer was hat, ist was wert!“: Wirtschaftswunder goes noir

KONTO AUSGEGLICHEN
Bundesrepublik Deutschland 1959
Regie: Franz Peter Wirth
Darsteller: Wolfgang Preiss (Robert Jacobi), Margot Trooger (Linda Brand), Herbert Tiede (Joachim Brand)



Im Sommer letzten Jahres lernte ich die Hölle kennen. Oder besser gesagt: das bundesdeutsche Fernsehen der 1950er und 1960er Jahre. Wie es dazu kam? Als Weimarer Redakteur des multimania-Magazins kann ich dem Chefredakteur (luzifus von the-gaffer.de) regelmäßig Wunschlisten für kommende DVD-Veröffentlichungen vorlegen, die ich dann auch bespreche. Dieses System hat natürlich einen Haken: bei nahendem Redaktionsschluss und entsprechender Dringlichkeit muss ich auch regelmäßig „Ladenhüter“-DVDs übernehmen. Unter diesen befinden sich auch regelmäßig Veröffentlichungen des Pidax-Labels, der unter anderem eine große Sparte an BRD-TV-„Trash“ der 50er und 60er bedient. Der kulturhistorische Wert dieser Begegnungen konnte die cinematographischen Abgründe, die mir hier teils entgegenschlugen, bisher nicht ansatzweise aufrechnen: miserable Darsteller, lachhafte Dekors, hirnrissige Drehbücher sowie latent deutsch-tümmelnde Biederkeit in Kombination mit krampfhaft auf Exotik getrimmten Settings. Vielleicht veröffentlicht das Pidax-Label tatsächlich nur das schlechteste, was das bundesdeutsche Fernsehen an Filmen und Serien zu bieten hatte. Vielleicht ist die Auswahl auch repräsentativ. Gesetzt diesem Fall scheinen Ausnahmen die Regel zu bestätigen, und Franz Peter Wirths KONTO AUSGEGLICHEN ist eine solche Ausnahme.

Robert Jacobi (Wolfgang Preiss) wird zum neuen Direktor einer kleinstädtischen Bankfiliale ernannt, die hauptsächlich die Konten von Kleinsparern verwaltet. Für die große Beliebtheit der Bank bei den Kunden ist der Chefkassierer Joachim Brand verantwortlich: seine zuvorkommende Freundlichkeit kommt gerade bei smalltalk-bedürftigen Rentnern sehr gut an, zumal er gerne das lästige Ausfüllen der Einzahlungsformulare für sie übernimmt. Sein Gesicht verzieht sich zwischen zwei Kunden immer wieder zu Grimassen des Schmerzes zusammen – ein Magenleiden macht ihm offenbar zu schaffen. Eines morgens bittet Linda Brand, die Ehefrau des Kassierers, den neuen Direktor um ein Gespräch. Sie bestätigt Jacobis Verdacht über Brands Leiden (ein Magengeschwür), spricht von der Notwendigkeit einer Operation und zugleich über die Ängste ihres Mannes, seinen Posten sei es auch nur für einen Tag aufzugeben. Vor ihrer Ehe habe sie selbst als Bankkassiererin gearbeitet und könne daher ihren Mann während seiner Behandlung problemlos vertreten.

Joachim Brand, Robert Jacobi; Linda Brand
Gesagt, getan: auf subtile Weise bringt Jacobi seinen besten Kassierer dazu, selbst seine Ehefrau als Vertretung vorzuschlagen und ins Krankenhaus zu gehen. Fortan arbeitet Frau Brand als Vertreterin ihres Mannes reibungslos, wenngleich nicht so geschickt im persönlich Umgang mit den Kunden. Direktor Jacobi ist mit ihrer Arbeit zufrieden, findet aber vor allen Dingen großen persönlichen Gefallen an den weiblichen Qualitäten seiner neuen Angestellten. Seine Annäherungsversuche sind so offensichtlich wie unsubtil: so erhält Frau Brand etwa verlängerte Mittagspausen, um ihren Mann im Krankenhaus zu besuchen. Als Jacobi sie kurz an der Kasse vertritt, fällt ihm eine kleine Unregelmäßigkeit beim Sparbuch eines Kunden auf. Nichtsdestotrotz, oder vielleicht deswegen lädt er seine neue Angestellte zu einer Kino-Abendvorstellung ein, was diese auch annimmt. Als er sie nach dem Film jedoch sehr direkt zu sich einlädt, weist sie ihn zurück und lässt sich nach Hause fahren.

Am nächsten Abend bekommt Jacobi zu Hause Besuch von Linda Brand: sie gesteht ihm nach einigem Zögern, dass ihr Mann etwa 4.000 Mark aus 43 Sparbüchern unterschlagen habe, möglicherweise, um Geld für eine Liebhaberin zu besorgen. Sie hatte in einem Notizbuch Brands Eintragungen mit Nummernkonten gefunden und die Krankheit ihres Mannes als Vorwand genutzt, um als Vertretung Klarheit in der Sache gewinnen zu können. Linda schlägt vor, die Sache zu vertuschen, indem alle betroffenen Sparbücher eingezogen und ersetzt werden (über schriftliche Aufforderungen), während sie die Fehlbeträge mit einer Leihgabe ihres Vaters auffüllt. So könne ihr Ehemann vor dem Gefängnis und ihre Ehe gerettet werden und zusätzlich (was unausgesprochen bleibt) Jacobi vor einem Skandal in seinem ersten Monat als neuer Bankdirektor bewahrt werden. Jacobi stimmt zu, ruft aber Linda zurück in seine Wohnung, als sie schon die Haustreppe herunterläuft: Er wird das Geld auslegen, sie könne es ihm später zurückzahlen... „so, wie es Ihnen passt“. Einen eindeutigen Annäherungsversuch später flieht sie aus Jacobis Wohnung.

Den Plan, die Sparbücher umzutauschen, wird in die Tat umgesetzt. Trotz einer Restunsicherheit über den jeweiligen Partner (ist Linda doch die Komplizin ihres Ehemanns und wird Robert sie sexuell erpressen, und wenn ja, wann und wie?), sitzen der Bankdirektor und die Vertretungskassiererin nach getaner Arbeit regelmäßig bei einem Feierabendbier zusammen in der nächsten Eckkneipe. Doch Herr Brand hat sich mittlerweile von seiner Operation erholt, kehrt zurück – und überfällt die Bank!

KONTO AUSGEGLICHEN beruht auf James M. Cains Noir-Roman „The Embezzler“ aus dem Jahre 1944. Cain, der etwas im Schatten seiner Kollegen Dashiell Hammett und Raymond Chandler stand, hat mehrere „hardboiled“-Romane geschrieben, die zu berühmten films noirs verarbeitet wurden. „The Postman Always Rings Twice“ erfuhr die meisten Verfilmungen: 1939 als LE DERNIER TOURNANT (Pierre Chenal), 1943 als OSSESSIONE (Luchino Visconti), 1946 und 1981 jeweils eponym (Tay Garnett und Bob Rafalson), 1998 als SZENVEDÉLY (Fehér György) und 2008 als JERICHOW (Christian Petzold). Cains „Double Indemnity“ von 1943 wurde schon ein Jahr später von Billy Wilder kongenial verfilmt, und einige Jahrzehnte später (1981) nicht weniger gut von Lawrence Kasdan als BODY HEAT. Der weitaus weniger berühmte „The Embezzler“ scheint jedoch tatsächlich nur von Franz Peter Wirth verfilmt worden zu sein (Hinweise auf Gegenteiliges sind herzlich willkommen).

In der biederen Bundesrepublik der ausgehenden Adenauer-Ära scheint ein Noir im TV auf den ersten Blick eine eher außergewöhnliche Erscheinung zu sein. Doch KONTO AUSGEGLICHEN ist, vielleicht mit wenigen Abstrichen, als solcher außerordentlich gut gelungen. 2012 ist er in der „Pidax Krimi-Klassiker Kollektion #1“ erschienen, und im Vergleich mit den drei anderen Filmen der Box fällt sofort auf, warum dies so ist. DETECTIVE STORY – POLIZEIREVIER 21 ist das sehr müde (und ermüdende) Remake eines William-Wyler-Films, und ist genauso in New York angesiedelt. DER BANDITENDOKTOR ist die Adaption einer Kurzgeschichte B. Travens (unter anderem bekannt für „Der Schatz der Sierra Madre“), angesiedelt an der US-mexikanischen Grenze. DER GEISTERZUG ist die Neuverfilmung eines britischen Theaterstücks aus den 1920er, und ist abweichend davon in den USA angesiedelt. Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, dass diese drei anderen Filme, deren Sichtung ich nur meinen allerschlimmsten Feinden empfehlen würde, in exotischen, also nicht bundesdeutschen Gefilden spielen. Diese TV-Produktionen sind teilweise auch deshalb so haarsträubend lächerlich, weil die billigen Fernsehdekors trotzdem als solche erkennbar sind und die Darsteller mit ihren schweren dialektalen Aussprachen große Mühe haben, die englischen oder spanischen Namen ihrer Figuren auszusprechen. KONTO AUSGEGLICHEN ist jedoch einen anderen Weg gegangen. Er verzichtete auf eine solch fehlgeleitete „Exotik“ und hat Cains US-amerikanische Geschichte aus den 1940er Jahren sehr konsequent und sehr selbstbewusst auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse der 1950er Jahre übertragen und adaptiert. 

Die Aneignung des Stoffs geschieht so radikal, dass KONTO AUSGEGLICHEN stellenweise fast wie eine komplett hausgemachte Satire auf das Wirtschaftswunder wirkt: Wie blind vertrauen die Kleinsparer, die von der Hochkonjunktur so schön profitiert haben, dem höflichen Bankier, der Smalltalk so gut beherrscht und sie zugleich skrupellos abzieht. Die Beliebtheit der Bank hat Brand mit einer von ihm in Eigenregie inszenierte PR-Kampagne unter dem Motto „Wer was hat, ist was wert“ erhöht. Fast schon wie eine überzeichnete Karikatur der „idyllischen“ Wirtschaftswunder-Ära, in der jeder was vom Kuchen abbekommen konnte und Zweifler sich bitte „nach drüben“ verpissen sollten, erscheint dieses Motto, und der freundliche Kassierer Brand ruft sie seinen Kunden gerne mit einem (wie wir wissen: hämischen) Lächeln hinterher. Der musterhafte Stoßarbeiter des Wirtschaftswunders – ein gewissenloser Betrüger.

Eine solche, selbstverständlich sehr subjektive Interpretation bietet sich sehr gut an. Sie bleibt natürlich auch eher ein Subtext in einem Film, der sich vor allem der Beziehung seiner beiden Protagonisten Linda Brand und Robert Jacobi widmet und hier einige crime-meets-sex-Motive des film noir exerziert. So platzt dem etwas langweiligen und biederen Bankdirektor beim Anblick der Ehefrau seines Kassierers fast die Hose, und im Grunde ist er fast froh über die Unterschlagungsaffäre, ermöglicht sie ihm doch, seine Angestellte in eine Zwangslage zu versetzen und bietet die Möglichkeit, sie später vielleicht sexuell zu erpressen – wobei freilich diese sexuelle Obsession seine Karriere ruinieren könnte. Linda Brand wäre im klassischen amerikanischen noir-Kontext wohl eine femme fatale gewesen. Hier, in der ausgezeichneten Darstellung Margret Troogers, besticht die Figur eher durch einen sehr bodenbehafteten menschlichen Charme als durch reinen Sexappeal. Sichtlich unangenehm hin und her gerissen ist sie zwischen einer selbstlosen Aufopferung für einen kriminellen Ehemann und der doch latenten Attraktion zum Bankdirektor.

Gitter überall!
KONTO AUSGEGLICHEN ist in seiner Erzählweise angenehm reduziert und dauert in der Tat lediglich 69 Minuten. Die Dekors sind fast minimalistisch (und man sieht ihnen teilweise an, dass sie eigentlich ein TV-Studio sind), und doch wird aus ihnen das Maximale rausgeholt. Sehr markant ist, dass immer wieder Bankschalter-Gitterstäbe die Gesichter der Darsteller „einsperren“, ob nun auffällig im Bildvordergrund oder eher subtil im Bildhintergrund. Überhaupt nutzt der Film, im Gegensatz zu den etwas schlechteren TV-Produkten der Ära, die Bildräumlichkeit. Zwischendurch finden sich immer wieder atmosphärische und expressive Bilder (ein Treppenmotiv darf selbstverständlich nicht fehlen), die freilich von den barock-expressionistischen und abstrakten Bildkompositionen manch amerikanischer noirs der späten klassischen Phase sehr weit entfernt sind.

Zahlreiche kleine und oft sehr subtile Details tragen ihren Teil zu einem positiven Gesamtbild bei. Als etwa Linda Brand zum ersten Mal auf Robert Jacobi in dessen Büro trifft, bietet dieser ihr – wir befinden uns ja noch in den 1950er Jahren – eine Zigarette an und zündet sich selbst eine an. Sie lehnt jedoch ab und weist beiläufig darauf hin, dass sie nur bei großer Nervosität rauche. Als die Anspannung im Verlaufe des Films ansteigt, beginnt auch Linda zu rauchen. Ihr Tabakkonsum nimmt stetig zu, bis sie gegen Ende des Films praktisch Kette raucht. Weiterhin offenbart sich eine auf den ersten Blick sehr alberne kleine Szene zu Filmbeginn als im weiteren Verlaufe sehr bedeutsam. Ganze drei Mal wird außerdem im Film erwähnt wird, dass Lindas Vater seit 30 Jahren ununterbrochen Beamter („im Staatsdienst“) ist – dezent oder nicht so dezent darauf hinweisend, dass die zeithistorischen Brüche seit 1929 ihn offenbar nur marginal betroffen haben.

Bizarres Verhör mit Ringturnerbild
Bizarre und auffällige Details gehören zum guten Ton eines film noir. In KONTO AUSGEGLICHEN wird diese Anforderung wohl in der Verhörszene nach Brands Überfall auf die Bank erfüllt: nacheinander werden Robert Jacobi, Linda Brand, ihr Vater sowie ein Bankangestellter von einem Polizeikommissar und seinem Assistenten auf der Wache befragt. Selten sah ein Kommissar so unfassbar lustlos, unmotiviert und schludrig aus: ihm bereitet es offensichtlich sogar Mühe, überhaupt den Mund aufzukriegen. Sarkasmus ist sein einziger Weg, um der Langeweile ein Ventil zu verschaffen. Doch wirklich unglaublich ist das eingerahmte Bild an der Wand im Hintergrund: das Foto eines Ringturners! Warum hängt es da, also im Verhörraum eines bundesdeutschen Polizeireviers der späten 1950er Jahre? Wer ist der Turner? Der Kommissar in früheren, schlankeren (und fröhlicheren?) Jahren? Es könnte sich um einen kolossalen Film-Goof handeln, weil vielleicht das Setdesign einer anderen parallel gedrehten Produktion genutzt wurde, aber dagegen spricht vehement, dass dieses Detail sehr offen und sehr selbstbewusst inszeniert wird...

KONTO AUSGEGLICHEN ist sicherlich kein DOUBLE INDEMNITY. Er ist sehr wohl auch weitaus braver inszeniert als die meisten seiner US-amerikanischen Vorbilder. Dennoch ist er überaus sehenswert – und als Experiment, US-amerikanische großstädtische sex & crime-Alpträume in eine bundesdeutsche Kleinstadt der Adenauer-Ära zu transplantieren, durchaus gelungen.

Neugierige mit stark masochistischen Veranlagungen können KONTO AUSGEGLICHEN in der „Pidax Krimi-Klassiker Kollektion #1“-Box mit Filmen erwerben, die ihm bei weitem nicht das Wasser reichen. Als Einzel-DVD ist er allerdings auch erhältlich. Der Ton ist immer wieder scheppernd und blechern. Das Bild weist große Altersspuren auf und ist leider sehr kontrastarm und verwaschen.

Sonntag, 2. Juni 2013

Den Mörder trifft man am Buffet - und nicht nur einen

BUFFET FROID (DEN MÖRDER TRIFFT MAN AM BUFFET)
Frankreich 1979
Regie: Bertrand Blier
Darsteller: Gérard Depardieu (Alphonse Tram), Bernard Blier (Inspektor Morvandiau), Jean Carmet (der Mörder), Geneviève Page (Geneviève), Jean Rougerie (Eugène Léonard), Jean Benguigui (Killer), Denise Gence (Gastgeberin im Schloss), Michel Serrault (Buchhalter), Carole Bouquet (junge Frau)

Trio Infernal
La Défense: Eine seinerzeit moderne, fast futuristische Trabantenstadt im Westen von Paris, bestehend vor allem aus Bürotürmen, und obwohl schon in den 60er Jahren begonnen, Ende der 70er noch nicht fertiggestellt. Hier wohnt Alphonse Tram, ein junger, von ständigen Albträumen geplagter Arbeitsloser, und zwar zusammen mit seiner Frau als einziger Mieter in einem Hochhaus. Der Film beginnt in der Metro-Station von La Défense. Am Bahnsteig sind nur zwei Personen, Alphonse und ein etwas älterer Herr. Alphonse rückt ihm auf die Pelle, zeigt ihm sein Springmesser - nicht, um ihn zu bedrohen, sondern um ein Gespräch zu beginnen, weil er die Einsamkeit und die Isolation in der sterilen Betonwüste schwer erträgt. Der andere Mann, der sich als Buchhalter vorstellt, ist dennoch irritiert, lässt sich nur widerwillig auf ein Gespräch ein. Am Ende der kurzen Unterhaltung ist Alphonses Messer auf wundersame Weise verschwunden. Später begegnet Alphonse dem Buchhalter in einem Gang der Metro wieder - er liegt blutend am Boden, mit einem Messer im Bauch - Alphonses Messer! Mit sehr befremdlicher Distanziertheit beantwortet der Sterbende Alphonses Fragen, als würde er nur mit einem verstauchten Knöchel da liegen. Er kann den Täter nicht beschreiben, weil er nicht darauf geachtet hat. Er bietet Alphonse an, ihm sein Geld zu überlassen, weil er es eh nicht mehr brauchen kann, und er ermahnt ihn, das Messer mitzunehmen, weil ja seine Fingerabdrücke darauf sind, was ihn in Schwierigkeiten bringen könnte. Zuhause in der Wohnung sehen wir Alphonse und seine Frau, wie sie routiniert nebeneinander her leben. Weder am Tisch noch im Bett haben sie sich etwas zu sagen. Als er den Mord erwähnt, erwidert sie nur, er solle bitte das Tischtuch abwischen, weil es gleich etwas zu essen gibt. Doch sie hat eine Neuigkeit: Im Stockwerk darüber ist ein zweiter Mieter eingezogen. Alphonse stattet ihm einen Begrüßungsbesuch ab und wird in die Wohnung gebeten. Monsieur Morvandiau ist ein alter Chefinspektor von der Pariser Kriminalpolizei. Das trifft sich gut, denkt sich Alphonse, und erzählt ihm vom Mord in der Metro. Doch der Inspektor wiegelt nur desinteressiert ab: Jetzt ist schließlich Feierabend, er sitzt gerade beim Essen, und er ist auch gerade erst eingezogen. Höflich, aber bestimmt, wird Alphonse hinauskomplimentiert.

In der Metro
Doch bald klingelt er wieder beim Inspektor: Seine Frau ist verschwunden, und er vermutet, dass ihr etwas zugestoßen ist. Morvandiau telefoniert mit seiner Dienststelle, und tatsächlich - die Vermisste wurde ermordet aufgefunden, was Alphonse jedoch mit Gleichmut zur Kenntnis nimmt. Etwas später erscheint ein unscheinbarer Mann bei Alphonse und bittet um ein Gespräch. Doch erst als er gesteht, dass er der Mörder von Madame Tram ist, wird er hereingebeten und zum Essen eingeladen. Als auch der Inspektor mit einer Flasche Wein aufkreuzt und dem Mörder - dessen Name nie genannt wird - vorgestellt wird, nimmt er dessen Geständnis mit freundlichem Desinteresse zur Kenntnis. Dann klingelt noch ein Mann. Eugène Léonard, wie er sich vorstellt, will gesehen haben, dass Alphonse den Buchhalter erdolchte, doch dieser bestreitet die Tat. Der Inspektor vermutet, dass Eugène auf Erpressung aus ist, doch der wiegelt ab: Er bitte Alphonse nur darum, doch auch für ihn noch jemanden zu erledigen, was ja nicht zuviel verlangt sei. Da können Alphonse, der Mörder und der Inspektor natürlich nicht widersprechen - also abgemacht! Als die drei in der Tiefgarage der angebenen Adresse lauern, stellt sich heraus, dass Eugène Léonard selbst das ausersehene Opfer ist. Alphonse will jetzt einen Rückzieher machen, doch Eugène drängt auf Einhaltung der Abmachung. Bei einem Handgemenge wollen die drei Eugène am Schreien hindern und bringen ihn eher versehentlich tatsächlich um die Ecke. In der Wohnung des Dahingeschiedenen werden sie von dessen Witwe Geneviève erwartet, die von ihrem Gatten schon vorab über die Umstände seines bevorstehenden Todes informiert wurde. Da die drei Herren sie zur Witwe gemacht haben, seien sie jetzt auch für sie verantwortlich, meint sie, und so wird sie in Alphonses Wohnung mitgenommen, wo sie sich häuslich einrichtet und auch gleich in seinem Bett landet. Doch die beiden werden vom Mörder unterbrochen, der sich nachts nicht mehr allein auf die Straße traut, wegen der vielen Verbrecher, die die Gegend unsicher machen.

Ein Messer
So begleitet Alphonse etwas widerwillig den Mörder, der die Gelegenheit nutzt, um sich mit Hilfe einer Sammlung von Dietrichen Zugang zu einer fremden Wohnung zu verschaffen, um wieder einmal eine Frau zu ermorden. Doch er begeht einen peinlichen Fehler, denn er trifft auf einen Mann, und er ermordet nun mal nur Frauen. Der kräftige Kerl im Unterhemd ist ob des unbefugten Eindringens etwas erbost, und erst recht darüber, mit einer Frau verwechselt worden zu sein. Doch Alphonse kann ihn beruhigen, und dann benennt der Mann auch bereitwillig ein geeigneteres (nämlich weibliches und alleinstehendes) Opfer in der Nachbarschaft. Bald nach diesem kleinen Abenteuer wird Geneviève krank und bekommt hohes Fieber. Der von der Notrufzentrale herbeigeschickte Arzt macht, von seinen Trieben übermannt, den Fehler, die drei Männer aus dem Krankenzimmer zu weisen, um mit Geneviève zu schlafen, doch dummerweise wird er von ihnen durch ein Fenster dabei beobachtet. Da ein derartiges ärztliches Fehlverhalten selbstverständlich nicht geduldet werden kann, wird der Herr Doktor mit drei Kugeln zur Ordnung gerufen. Beim Abtransport seiner Leiche in seinem eigenen Wagen trifft ein Funkspruch von der Zentrale ein, den Alphonse und der Inspektor stellvertretend entgegennehmen. Man trägt schließlich eine gewisse Verantwortung und kann einen Kranken nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Die fragliche Adresse entpuppt sich als kleines Schloss, in dem gerade eine Abendveranstaltung mit Kammerkonzert stattfindet. Alphonse und Morvandiau werden von der etwas sinistren Gastgeberin ins Krankenzimmer geleitet, doch dort gibt es gar keinen Kranken. Vielmehr wird der Inspektor ins Bett bugsiert, um die Rolle auszufüllen, mit seinem Tod als vorgesehenem Endpunkt. Alphonse sieht sich das teilnahmslos mit an. Dann werden noch die fünf Musiker des Kammer-Ensembles um das Bett postiert, um eine Privatvorstellung für den Inspektor zu geben. Doch der hat eine panische, fast schon psychopathische Abneigung gegen Musik im Allgemeinen, und gegen Streicher im Besonderen. Da Alphonse immer noch nicht eingreift, bleibt dem Inspektor nichts anderes übrig, als die Herren Musiker mit seiner Dienstwaffe niederzustrecken.

Neuer Nachbar
Wieder im Freien, kommt es wegen Alphonses Untätigkeit zu einem leichten Zerwürfnis zwischen ihm und dem Inspektor (mit anderen Worten, sie bringen sich beinahe gegenseitig um). Erst als die Kollegen des Inspektors eintreffen, beruhigt sich die Situation. Zurück im Hochhaus, müssen die beiden erkennen, dass sie bei ihrem Ausflug im Arztwagen einen Flüchtigkeitsfehler begangen haben: Sie ließen Geneviève und den Mörder unbeaufsichtigt zurück, und so ließ letzterer seinen Neigungen freien Lauf und erdrosselte erstere. Unter den tadelnden Blicken seiner beiden Bekannten bricht eine Verteidigungsrede aus ihm hervor, die (vielleicht bewusst, vielleicht auch nicht) etwas an Peter Lorres verzweifelte Rechtfertigung in Fritz Langs M erinnert, und hier kommt der Film explizit auf den Punkt: In dieser kalten Betonwüste, in leeren Hochhäusern und Straßenschluchten, muss man ja zum Mörder werden, um wenigstens irgendeinen Kontakt zu spüren. Wenn man Bäume, Vogelgezwitscher und frischen Sauerstoff um sich hätte, dann könnte sich das vielleicht ändern, aber so ... Alphonses Unterstellung, er hätte wohl ein überzähliges Chromosom, weist der Mörder dagegen entrüstet zurück.

Szenen einer Ehe
Merkwürdige Bewegungen des Fahrstuhls veranlassen den Inspektor, das ganze Hochhaus von einer Hundertschaft durchsuchen zu lassen, doch ein aufgegriffener Mann entpuppt sich als neuer Mieter. Als er seinen Beruf mit Musiker angibt, lässt ihn der Inspektor umgehend verhaften, und bei der Gelegenheit legt er vor seinen Kollegen und seinen beiden Freunden ein überraschendes Geständnis ab: Seine pathologische Abneigung gegen Streichermusik rührt daher, dass seine verstorbene Frau Geigerin war und ihn mit ihren pausenlosen Übungen von Tonleitern zur Verzweiflung trieb, bis er es nicht mehr aushielt. Die Verblichene ist nicht, wie bisher angenommen, bei einem Unfall im Badezimmer vom Leben zum Tode befördert worden, sondern er griff eines Tages zur Selbsthilfe. Das veranlasst einen der Polizisten zur Bemerkung, der Chef wirke in letzter Zeit etwas überarbeitet und solle mal Urlaub im Grünen machen.

Ein Mörder stellt sich vor
Gesagt, getan. Jetzt - in den letzten 20 Minuten des Films - sieht man zum ersten Mal Tageslicht und Natur. Alphonse, der Inspektor und der Mörder haben sich in eine Blockhütte in wildromantischer Berglandschaft zurückgezogen. Doch die zuvor ausgesprochene Hoffnung des Mörders, in einer solchen Umgebung würde sich die Seelenlage aufhellen, erweist sich als leere Illusion. Es ist kalt, der Ofen in der Hütte funktioniert nicht richtig, und die Abgeschiedenheit zerrt an den Nerven. So liegen die drei griesgrämig und fröstelnd in ihren Liegestühlen und gehen sich gegenseitig auf den Geist. Aber mit dem wenig idyllischen Idyll ist es ohnehin bald vorbei. Ein Fremder taucht auf und erkundigt sich nach einem gewissen Alphonse Tram. Nach dem Grund befragt, gibt er an, er habe den Auftrag, diesen Tram zu liquidieren. Der Killer wird zwar in seine Schranken gewiesen (wie das für ihn ausgeht, kann sich der Leser inzwischen denken), aber damit ist die Gefahr noch nicht vorbei ...

Die trauernde Witwe Geneviève
BUFFET FROID ist eine rabenschwarze, bitterböse und reichlich surreale Groteske. Der Film wird gelegentlich mit Luis Buñuels Spätwerken verglichen, aber im Ton unterscheidet er sich doch etwas von Buñuels meist fröhlich-anarchischen Scherzen. Unter der makabren Oberfläche ist es ein zutiefst pessimistischer, fast schon nihilistischer Film. Am ehesten buñuelesk ist wohl die Episode im Schloss, die so auch gut in DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE oder DAS GESPENST DER FREIHEIT gepasst hätte. Nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell ist BUFFET FROID ein dunkler Film: Die erste gute Stunde lang spielt er komplett bei Nacht, und die Wohnungen von Alphonse und dem Inspektor sind auch eher trüb beleuchtet. Am hellsten ist es noch ganz am Anfang in der Metro, doch es ist ein kaltes, steriles Neonlicht. Aber wie schon erwähnt: Auch das Tageslicht und die teilweise spektakuläre Natur bringen keine Erlösung von der Tristesse.

Im Schloss
Die Darsteller liefern eine vorzügliche Leistung ab. Depardieu, damals noch einer der Jungen Wilden im französischen Film (seine Hauptrolle in Bliers DIE AUSGEBUFFTEN von 1974 hat nicht unwesentlich zu diesem Image beigetragen), irrlichtert zwischen abgestumpft und entweder leicht neurotisch oder schwer psychotisch - denn im Verlauf des Films verdichtet sich der Verdacht, dass vielleicht doch Alphonse selbst den Buchhalter erstochen hat, ohne sich daran zu erinnern. Die Routiniers Bernard Blier (der Vater des Regisseurs) als lakonischer und abgebrühter Inspektor und Jean Carmet als an der Welt und sich selbst verzweifelnder Mörder harmonieren bestens mit ihm, und Nebendarsteller wie Serrault, Benguigui und Geneviève Page setzen mit ihren Kurzauftritten die i-Tüpfelchen. Carole Bouquet, die ganz am Schluss in Erscheinung tritt, bildet eine personelle Verbindung zu Buñuel: Zwei Jahre zuvor hatte sie als eine der beiden Conchita-Darstellerinnen in DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE ihr Spielfilmdebüt. - BUFFET FROID ist u.a. in Frankreich, England und den USA auf DVD erschienen.

Finale in der Natur

Sonntag, 19. Mai 2013

Italienische Station im Exil: Max Ophüls und LA SIGNORA DI TUTTI


LA SIGNORA DI TUTTI
Italien 1934
Regie: Max Ophüls
Darsteller: Isa Miranda (Gaby), Memo Benassi (Leonardo Nanni), Tatiana Pawlova (Alma Nanni), Federico Benfer (Roberto Nanni)



Gaby im OP-Saal, mit Leonardo, Roberto und Alma
Die international gefeierte Schauspielerin Gaby Doriot begeht einen Selbstmordversuch. Im Dämmerzustand zwischen Leben, Tod und der OP-Narkose durchlaufen Teile ihres Lebens wie ein Film ihr geistiges Auge... Als Jugendliche wird sie von ihrer Schule verwiesen, weil einer ihrer Lehrer, der mit ihr eine Liebesbeziehung unterhielt, aus Verzweiflung und Schuldgefühlen gegenüber seiner Familie heraus Selbstmord begangen hat. Fortan wird Gabriella von ihrem strengen Vater unterrichtet. Eines Tages beobachtet eine Gruppe Gymnasiasten das Mädchen im Garten. Einer von ihnen, Roberto, Sohn eines reichen Unternehmers, lädt Gabriella auf einen Familienball ein. Roberto ist in das Mädchen verliebt, und seine Gefühle stoßen durchaus auf Gegenliebe, aber die beiden jungen Menschen finden aus Verlegenheit nicht so recht zueinander, und die Anbahnung eines intimen Moments wird durch den Ruf von Robertos querschnittgelähmter Mutter Alma im Keim erstickt. Diese findet jedoch zur Freude ihres Sohnes schnell Gefallen an Gabriella, da ihr Mann ständig auf Reisen ist und sie sich mangels Bewegungsfreiheit über die nette Konversationsgesellschaft der jungen Frau freut. Als ihr Mann Leonardo zurückkehrt, verliebt er sich Hals über Kopf in Gabriella und vernachlässigt dabei immer mehr seine kranke Ehefrau. Die Rollstuhlfahrerin hegt eines Abends Verdacht, stürzt, als sie zornig und aufgeregt ihren Ehemann sucht, die Treppen hinunter und stirbt.

Die Trauer um seine verstorbene Frau betäubt der Industrielle damit, dass er mit seiner Geliebten Gabriella wochenlang verreist – nachdem er den Wunsch seines Sohns, die junge Frau zu heiraten, höchst energisch zurückgewiesen hat. Leonardos Liebesobsession wird immer besitzergreifender, während die junge Frau fast wahnsinnig vor Schuldgefühlen ob Almas Tod wird. Schließlich verlässt sie nicht nur ihren Liebhaber, sondern kehrt auch ihrem früheren Leben radikal den Rücken zu, um in Paris ihr Glück zu versuchen. Leonardo, der zur Finanzierung seiner ausgedehnten Reise mit Gaby in die Kasse seines Unternehmens gegriffen hat, wird der Veruntreuung angeklagt und landet nach einem Gefängnisaufenthalt auf der Straße. Derweilen kontaktiert Roberto die mittlerweile berühmte Filmdiva und teilt ihr mit, dass er deren Schwester vor einigen Jahren geheiratet hat. Aus Verzweiflung darüber, sich nicht rechtzeitig für Roberto entschieden und trotz Ruhms ein Leben in Einsamkeit geführt zu haben, versucht Gaby, sich umzubringen. Aus der OP-Narkose wird sie nicht mehr wieder aufwachen.


Falls diese Geschichte ein bisschen wie die Zusammenfassung eines schlechten Groschenheftchens klingt, so liegt das vielleicht daran, dass das Filmdrehbuch in der Tat auf einen Fortsetzungsroman basiert, der in einer italienischen Boulevardzeitschrift erschienen ist. Was jedoch Max Ophüls mit diesem Stoff in LA SIGNORA DI TUTTI angestellt hat, grenzt geradezu an ein Wunder. Er hat nicht nur einen höchst experimentellen Film inszeniert, sondern möglicherweise in Rom 1934 seine persönliche Handschrift als Regisseur gefunden. Alle Emotionen, die sich in den Händen eines anderen Filmemachers in Klischees und Plattitüden erschöpft hätten, flimmern in diesem italienischen Film geradezu. Doch wie kam Max Ophüls, ein deutsch-jüdischer Emigrant von 1933, dazu, ein Jahr später im damals bekanntermaßen faschistischen Italien einen Film zu drehen?

Im Frühjahr 1933 hatte er LIEBELEI fertig gestellt, der sein letzter deutscher Film überhaupt bleiben sollte (von der deutschen Produktionsbeteiligung am französischen LOLA MONTÈS abgesehen). Bei der Premiere des Films im März war er noch anwesend, verließ dann aber schnell das Deutsche Reich. Wie viele andere deutsche Film-Emigranten fand er Zuflucht in Paris, wo er als Bürger der Saar sogar relativ einfacher eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beschaffen konnte als seine Kollegen, die Reichsbürger waren. Sein letzter deutscher Film diente Ophüls zugleich auch als eine Art Visitenkarte, denn LIEBELEI wurde in Paris mit Wohlwollen von Publikum und Filmkritik aufgenommen. Unter dem Titel UNE HISTOIRE D‘AMOUR drehte er rasch eine französisch-sprachige Version des Films. Der weitere Weg des Emigranten in Frankreich verlief jedoch nicht so glänzend. Seinen Plan, ein politisches Plädoyer gegen das Nazi-Regime mit dem Titel JE SUIS UN JUIF („Ich bin ein Jude“) zu drehen, scheiterte an der Finanzierung und am mangelnden Interesse. Letzteres soll auch an einer deutschfeindlichen und latent antisemitischen Atmosphäre liegen, die Teile der französischen Filmindustrie und -presse nach dem Exodus deutsch-jüdischer Filmemacher entwickelte. So war es auch Erich Pommer, der Ophüls‘ erstes Filmprojekt im Exil vermittelte: ON A VOLÉ UN HOMME, eine Liebeskomödie um einen Krimiplot, in der sich ein entführter Industrieller und eine Entführungshandlangerin ineinander verlieben. Der Film gilt heute als verschollen.

Viel lieber hätte Ophüls ein anderes und weitaus anspruchsvolleres Pommer-Vorhaben gedreht, nämlich LILIOM, doch dieses ging an Fritz Lang, der nicht nur renommierter als der Saarbrücker war, sondern dem berühmten deutschen Produzenten Pommer aufgrund der langjährigen Zusammenarbeit natürlich näher stand. ON A VOLÉ UN HOMME wurde jedenfalls eher verhalten aufgenommen. Das lag teilweise auch daran, dass der Film (genauso wie der ebenfalls kommerziell wenig erfolgreiche LILIOM) als „deutsch“ wahrgenommen wurde. Nationalkonservative und rechtsradikale Medien veranstalteten eine regelrechte Hetzkampagne gegen die angebliche „Überfremdung“ der französischen Filmindustrie und die Kritik an der Krimikomödie gingen teilweise in persönliche antisemitische Beleidigungen gegen den Regisseur über. Obwohl eine Quotenregelung den Anteil an Ausländern in der französischen Filmindustrie bereits regulierte, zeitigte die anti-deutsche (anti-jüdische) Kampagne in Ophüls‘ Fall durchaus unangenehme Folgen: Ein bereits unterschriebener Regievertrag wurde ihm nach massiven Angriffen in der Presse gekündigt.

Das Angebot des italienischen Verlegers Angelo Rizzoli, in Rom einen Film zu drehen, kam Ophüls daher wie gerufen. Rizzoli (der später noch Filme Vittorio De Sicas, Federico Fellinis und Michelangelo Antonionis produzieren sollte) wollte sein Medienimperium nun auch auf den Filmbereich ausdehnen. Er gab auch den zu bearbeitenden Stoff vor: nämlich einen Roman des Schriftstellers Salvatore Gotta, der in einer seiner zahlreichen Illustrierten erschienen war. Abgesehen davon ließ Rizzoli dem Regisseur vollkommene künstlerische Freiheit, sowohl in der Bearbeitung des Romans wie auch in der Auswahl der Mitarbeiter und gewährte ihm zudem ein überaus üppiges Budget. Mit seiner Familie, den Drehbuchautoren Curt Alexander und Hans Wilhelm, dem Regieassistenten Ralph Baum und dem Sounddesigner Hans Bittman reiste Ophüls im März 1934 nach Rom und begann im Auftrag von Rizzolis frisch gegründeter Produktionsfirma „Novella“ sogleich mit den Dreharbeiten.

Standen hinter der Kamera zahlreiche Deutsche, so rekrutierte Ophüls die Darsteller vor Ort: den Theaterschauspieler Memo Benassi als Leonardo, die aus Russland stammende Theaterregisseurin und Schauspielerin Tatiana Pawlova als Alma, den Deutsch-Italiener Friedrich (Federico) Benfer als Roberto und die bislang eher unbekannte Isa Miranda für die Haupt- und Titelrolle. In letztere verliebte sich Ophüls praktisch auf den ersten Blick, und die Erwiderung seiner Avancen führte zu einer Affäre, die etwa ein halbes Jahr dauerte (knapp 16 Jahre später spielte sie eine Rolle in LA RONDE). Seine Premiere erlebte LA SIGNORA DI TUTTI am 13. August 1934 bei der zweiten Biennale in Venedig, wo er den Preis für den technisch besten Film erhielt – aus symbolischen Gründen sollte der Hauptpreis nicht an ein Filmvorhaben mit maßgeblicher ausländischer Beteiligung verliehen werden.

Ophüls hatte seinen Aufenthalt in Italien eigentlich nur als Notlösung gesehen. Doch nach seinem überaus positiven Arbeitserlebnis plante er weitere Filmprojekte. Gioachino Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ wollte er in Italien drehen: das Drehbuch war bereits fertig ausgearbeitet und eine Kooperation mit Tullio Serafin, dem Dirigenten der römischen Oper, schon in die Wege geleitet. Doch die Budgetvorstellungen sprengten jegliches vernünftiges Maß und da trotz der massiven Werbekampagne in den Rizzoli-Medien LA SIGNORA DI TUTTI beim Publikum floppte, verlief die Opernverfilmung im Sande. Und als ob dies nicht genug wäre, fiel das Saarland nach der Volksabstimmung über dessen Status dem Deutschen Reich zu, was Ophüls perspektivisch zu einem Staatenlosen machte. Er kehrte nach Frankreich zurück und beantragte als erstes die französische Staatsbürgerschaft, die er 1938 erhielt. Sein italienisches Intermezzo war damit jedoch beendet.

Doch der aus dieser Episode entstandene Film kann aufgrund seiner schieren inszenatorischen Bravour keineswegs als Fußnote in Ophüls‘ Werk abgetan werden. Der Filmhistoriker Jean Gili, Spezialist für den italienischen Film, lobte die „dramatische Intensität“ und das „expressionistische Delirium“ von LA SIGNORA DI TUTTI.

Bereits die ersten Minuten, ja gar Sekunden des Films machen deutlich, welch Bild- und Tonstrudel die nächsten anderthalb Stunden bestimmen wird. Als der Vorspann endet (bemerkenswert: ohne eigene Credits für Regisseur Max Ophüls), läuft das romantische Schlagerlied weiter und eine Schwarzblende wird spiralförmig aufgelöst (dieses eigentlich auf den Stummfilm zurückgehende Auf- und Zudecken von Bildarealen nutzte Ophüls später noch ausgefeilter bei LOLA MONTÈS): eine Schallplatte kommt zum Vorschein, die das Vorspann-Lied abspielt. Der Plattenspieler befindet sich in einem Büro, wo zwei Herren sich angeregt unterhalten. Der eine ist ein Filmproduzent, der andere der Agent der Schauspielerin Doriot. Ihre Unterhaltung ist schwer zu verstehen, nicht nur, weil sie die meiste Zeit gleichzeitig sprechen, sondern vor allem, weil die Musik (ein Lied, das die Doriot singt) ihre Unterhaltung fast übertönt. Es geht um die Preisverhandlung für die nächsten beiden Doriot-Filme. Entnervt hebt schließlich der Agent den Tonarm des Spielers (und beendet damit die Musik) und will gehen, doch der Produzent versucht ihn davon abzuhalten, führt ihn, einen Arm vertraulich um die Schultern gelegt, um seinen Schreibtisch, greift versöhnlich nach der Platte und legt sie auf den Grammophon-Teller. Letzteres führt uns in einer Plansequenz von einer Nahaufnahme des Spielers durch das Büro zurück zu einer Nahaufnahme des Spielers.
Natürlich denkt man bei Ophüls an die langen, eleganten Plansequenzen (und die gibt es in LA SIGNORA DI TUTTI zur Genüge), doch gerade die ersten Minuten zeigen, dass der Regisseur auch bei der Nutzung des Tons nur wenig kreative Grenzen kannte. Was im Prolog angelegt ist, also das Überfließen extradiegetischer in intradiegetische Musik, überhaupt die Weiterführung der Soundkulisse in szenendramaturgisch klar abgetrennten Szenenwechsel , die Überlappung von Dialog- und Geräusch-Kulisse, taucht immer wieder im Film auf.

Am beeindruckendsten ist sicherlich die Art, wie ein Opernstück in die Handlung eingefügt wird, indem es die unglückliche Liebe zwischen Gaby und Leonardo begleitet. Beide gehen, auf Anregung Almas, zusammen in die Oper und hören dort erstmals das Stück – die beiden künftigen Liebhaber werden in Doppelbelichtung mit dem Orchester gezeigt. In jener Nacht, als Gaby und Leonardo sich aus dem Haus schleichen, hört Alma gerade dieses Stück aus dem Radio, als sie beginnt, Verdacht zu schöpfen und ihren Ehemann suchen geht. Der dramatische Höhepunkt des Musikstücks begleitet den dramatischen Höhepunkt der Szene: Alma stürzt die Treppen herunter und stirbt. In höchster Erregung stürmt Gaby in Almas Zimmer und zertritt das Radio, bis es wieder schweigt. Und schließlich, nach dem Tod Almas und der ausgiebigen „Hochzeitsreise“ der beiden Geliebten, kehren sie in das trauernde Haus zurück. Der Geist Almas, besonders in Form eines Portraits über dem Kamin, scheint über alles zu schweben (an einer Stelle sehen wir das Wohnzimmer aus dem Point-Of-View-Blick der Portrait-Alma). Plötzlich hört Gaby – aber eben nur sie – das Opernstück aus dem Kamin „strömen“. Die schulderfüllte Erinnerung an die Frau, die ihr vertraut hatte und der sie den Ehemann weggenommen hat, führt sie in einen hysterischen Anfall, während die Musik in ihrem Kopf immer weiter anschwillt.

Der vielleicht irritierndste Einsatz des Tons findet sich jedoch gegen Ende des Films: Leonardo, inzwischen heruntergekommen und wahrscheinlich auf der Straße lebend, besucht die Vorhalle eines Kinos, in dem gerade die Premiere des neuesten Doriot-Films läuft. Er spaziert durch die geräumige Vorhalle und betrachtet weinend die Werbefotos seiner einstigen Geliebten. Die Titel- und Vorspannmelodie „La Signora di tutti“ läuft (ob extradiegetisch oder als in die Vorhalle tönender Abspann des Films aus dem nebenliegenden Kinosaal bleibt unklar). Vor allem aber hört man, bis Leonardo von einem skeptischen Wachmann angesprochen und aus dem Kino raus gebeten wird, eine Alarmglocke! Erst bei einer wiederholten Sichtung und bei meiner intensiveren Auseinandersetzung mit LA SIGNORA DI TUTTI bin ich darauf gekommen, was diese kryptische Tonstörung bedeuten könnte: im Prolog, als der Filmproduzent von dem Selbstmordversuch Gabys erfährt, drückt dieser eine Art Rundtelefon-Alarmknopf, mit dem er Dringlichkeits-Sitzungen der Studioabteilungen einberufen kann. Es ertönen daraufhin eine ganze Reihe verschiedener Alarmglocken. Der Störton, als Leonardo bei der Premiere durch die Vorhalle schlendert, weist also wohl darauf hin, dass etwa zeitgleich Gaby im Sterben liegt. Leonardo geht in Trauer raus und wird von einem Auto überfahren: das Stimmengewirr der Passanten geht beim Szenenübergang nahtlos in das Stimmengewirr des Produktionsbüros über.

Leonardos Streifzug durch die Kinovorhalle ist übrigens eine ausgedehnte, etwa 160 Sekunden dauernde Plansequenz. Die Plansequenz: das vielleicht bekannteste und hervorragendste Merkmal von Max Ophüls‘ Filmen. Sie folgt den Figuren und passt sich dabei an ihren Rhythmus an: in der erwähnten Vorhallen-Sequenz bewegt sich die Kamera zwar stetig, aber relativ langsam und gemächlich. Wenn aber die Figuren hektisch sind, dann beschleunigt auch die Kamera ihr Tempo. Das wird schon im Prolog deutlich, wenn rennende Regie-Assistenten die „verschwundene“ Gaby (die sterbend in ihrem Zimmer liegt) in Kantinen, Schminkräume und Tanzsalons suchen und die Kamera ihnen hinterherrennt – die Bilder bleiben dabei von einer bewundernswerten Klarheit. 

Wie auch in späteren Filmen (am extremsten schließlich in LOLA MONTÈS) lässt sich die Kamera von nichts beirren, was im Weg stehen könnte. Selbst eine Wand kann die Kamera nicht aufhalten, wenn Gabys Agent auf der Suche dem Star deren Hotelsuite Zimmer für Zimmer durchschreitet. Ophüls demonstriert hier auch, dass er eine der Meisterdisziplinen der Plansequenz, nämlich die Kamera-Begleitung tanzender Paare auf einer gerappelt vollen Tanzfläche, schon früh beherrschte (überhaupt war er einer der interessantesten Regisseure für Tänze überhaupt!). Das musikalische Kreisen endet hier mit einem abrupten 360-Grad-Reissschwenk, als Gaby im Freudenrausch (und vor lauter Drehen) auf den Boden sinkt und meint, dass sich ihr alles drehe. 

Nicht nur auf einer audio-visuellen Ebene experimentiert LA SIGNORA DI TUTTI. Zwischen Prolog und Epilog handelt es sich im Prinzip um einen Film-im-Film als Narkose-Traum einer Sterbenden. Innerhalb dieser Traum-Erzählung kommt es mehrmals zu Flashbacks. Viele Wendungen werden sehr implizit angedeutet und nicht weiter erklärt. Manch ein Zeitsprung wird erst im Verlauf der weiteren Handlung als solcher erkennbar und viele Überleitungen werden einfach ausgespart: wenn Gabrielle etwa nach dem Liebschaftsskandal aus der Schule genommen und von ihrem Vater regelrecht zu Hause eingesperrt wird, wenn sie nach einer kurzen Begegnung mit Alma von einer flüchtigen Bekanntschaft zu einer vertrauten Freundin wird oder wenn Leonardo seinem Sohn die Hochzeit mit Gaby mit einem brutalen „Nein“ verweigert und sofort auf den Zug und dann auf das gemeinsame Schlafabteil des Unternehmers und seiner jungen Geliebten geschnitten wird oder gegen Schluss eben aus der provinziellen Gaby ein Weltstar wird. Das führt dazu, dass LA SIGNORA DI TUTTI sich voll und ganz auf die rudimentäre Handlung konzentriert und dadurch auch einen erstaunlich flotten Erzählrhythmus entwickelt.

Wie so oft in Ophüls‘ Filmen steht hier ein weibliches Schicksal im Vordergrund (auch wenn der Name der Figur noch mit „G“, und nicht mit „L“ beginnt). Wie bei vielen anderen Ophüls-Filmen scheint die Grenze zwischen mitfühlendem Humanismus und desillusioniertem Zynismus sehr verschwommen zu sein. Zweifelsohne fühlt Ophüls mit dem Leidensweg der Protagonistin durchaus mit. Da sie gewissermaßen für den Tod zweier Männer und einer Frau und für eine nicht wirklich befriedigende Ehe verantwortlich ist, könnte man sie durchaus als eine Art femme-fatale-Typus sehen. Doch der Film gibt ihr nicht die Schuld und zeigt auch mitfühlsam, wie sie an den Erwartungen ihrer Mitmenschen zerbricht. Ihre Flucht nach vorne (ins Showbusiness) ist auch der Anfang ihres Endes. Trotz einiger heiterer Szenen ist der Grundton des Films arg pessimistisch: niemand entkommt hier seinem Schicksal, aber am allerhärtesten trifft es schlussendlich Gaby selbst. Alma hatte wenigstens noch Menschen um sich, die sie betrauert haben. Doch als Gaby am Ende stirbt, gibt es keine Trauer für sie. Die Filmproduzenten können sie nun nicht mehr gebrauchen und betrauern am ehesten den Verlust von Gewinnen. Die letzten Bilder zeigen, wie die Druckerpresse, die die aktuellsten Gaby-Doriot-Werbeplakate herstellt, abgestellt wird. Ein verbitterter Kommentar über die Pervertierung menschlicher Beziehungen im Showbusiness und ein absolut vernichtendes Ende – auch wenn es 21 Jahre später Lola noch erheblich grausamer treffen würde.


LA SIGNORA DI TUTTI ist in einer italienischen DVD-Edition mit italienischen und englischen Untertitel und in einer englischen Edition mit englischen Untertiteln zu erwerben. Bild und Ton sind – zumindest in der mir vorliegenden italienischen Edition – absolut hervorragend und für das Alter dieses Films auch erstaunlich klar. Eine Anschaffung lohnt sich also durchaus!
Die DVD dauert 86 Minuten. Gemäß imdb läuft LA SIGNORA DI TUTTI jedoch 97 Minuten. Mit einem Film-zu-DVD-Konvertierungsverlust von vier bis fünf Minuten würden also immer noch sechs bis sieben Minuten fehlen. Helmut G. Aspers mutmaßt in seiner Ophüls-Biographie (auf der auch die kontextualisierenden historischen Passagen meiner Besprechung größtenteils aufbauen), dass der Film möglicherweise zwischen der Festival-Premiere und der Kinoauswertung noch bearbeitet worden ist. Eine Zensur sei dabei auszuschließen, da einerseits Ophüls mit Rizzoli einen mächtigen, einflussreichen und wohlwollenden Patron auf seiner Seite wusste, andererseits der komplette Film auf der Kippe hätte stehen müssen, da er mit seiner überaus offenen Thematisierung von Selbstmord gegen die italienischen Zensurbestimmungen verstieß.

Freitag, 10. Mai 2013

Eine Landpartie fällt ins Wasser ... und taucht wieder auf

PARTIE DE CAMPAGNE (EINE LANDPARTIE)
Frankreich 1936/46
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Sylvia Bataille (Henriette), Georges Darnoux (als Georges Saint-Saens, Henri), Jane Marken (als Jeanne Marken, Madame Dufour), Gabriello (Monsieur Dufour), Jacques-Bernard Brunius (als Jacques Borel, Rodolphe), Paul Temps (Anatole), Gabrielle Fontan (Großmutter), Jean Renoir (Père Poulain), Marguerite Renoir (Kellnerin)

"Mit PARTIE DE CAMPAGNE (Sommer 1936) beginnt die vielleicht ›Renoirst'sche Periode‹. Der Film ist wie ein Bild seines Vaters und aller anderen Impressionisten zusammen." (Jacques-Bernard Brunius: En marge du cinéma français, Paris 1954)

Ankunft
Es beginnt mit zwei Texteinblendungen, unter denen das träge dahinfließende Wasser eines Flusses zu sehen ist. Die erste klärt über die Entstehungsgeschichte des Films auf: Jean Renoir konnte den Film nicht beenden, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in seiner Abwesenheit fertiggestellt, und um die Verständlichkeit zu gewährleisten, wurden zwei Zwischentitel hinzugefügt. Der erste davon folgt unmittelbar darauf: An einem Sonntag im Sommer 1860 macht Monsieur Dufour, ein Eisenwarenhändler aus Paris, mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seiner Tochter und mit Anatole, der sein Gehilfe, designierter Nachfolger und zukünftiger Schwiegersohn ist, mit einem vom Milchmann geliehenen Pferdewagen einen Ausflug aufs Land, um die Natur zu entdecken und zu genießen. - Die Handlung beginnt mit der vormittäglichen Ankunft der Dufours am Landgasthaus des bodenständigen Père Poulain am Ufer der Seine. Schon die ersten Dialoge und das Aussteigen aus der Kutsche bringen uns die Familie Dufour näher: Sie wirken sympathisch, ihr Umgang miteinander ist respekt- und liebevoll. Monsieur Dufour ist ein großer dicker Mann, während der schlanke Anatole linkisch und etwas beschränkt wirkt - zusammen erinnern sie etwas an Laurel & Hardy, Anatole allein auch an einen jungen Karl Valentin. Madame Dufour, um die 40, ist auch schon vollschlank, aber recht proper, und die ca. 18-jährige Tochter Henriette ist hübsch. Der schwerhörigen Großmutter nimmt niemand übel, dass man ihr alles zwei- oder dreimal sagen muss, bis sie es versteht. Gemeinsam beschließt man, das bei Père Poulain bestellte Mittagessen als Picknick auf der Wiese hinter dem Gasthaus einzunehmen, wo es auch Schaukeln für die Gäste gibt.

Père Poulain und die Kellnerin; Henri (links), die Kellnerin und Rodolphe
In der Gaststube des Wirtshauses sitzen bereits zwei andere Gäste: Henri und Rodolphe, zwei sportliche junge Männer aus der Gegend, die mit ihren Ruderbooten einen ihrer regelmäßigen Ausflüge machen. In ihrer legeren Sportkleidung bilden sie einen augenfälligen Kontrast zu den bis oben hin zugeknöpften, gutbürgerlichen Dufours in ihrem Sonntagsstaat. Als sie die neuen Gäste ankommen hören, sind sie wenig begeistert. Sie mokieren sich auf arrogante Art über die Großstädter, die sich "wie die Mikroben" breitmachen und jetzt ihre Ruhe stören werden. Aber als sie von der Kellnerin hören, dass sich auch Damen in der Gesellschaft befinden, werden sie neugierig und öffnen die bisher geschlossenen Fensterläden, um sich die Fremden anzusehen. Das Ergebnis ist eine fast schon spektakuläre Einstellung: Renoir arbeitet wie so oft mit deep focus, und das Gastzimmer wird zur Nebensache. Durch das offene Fenster, das jetzt wie ein Bilderrahmen wirkt, flutet das Licht herein und zeigt die Dufours auf der Wiese, wobei Madame und Henriette auf den Schaukeln sitzen bzw. stehen. Die auf ihrer Schaukel stehende Henriette erinnert dabei an ein Gemälde von Renoirs Vater, La Balançoire von 1876. Der Anblick der beiden schaukelnden Damen fasziniert Rodolphe, und er überredet den zögernden Henri, die Ankunft der Pariser ins Positive zu wenden, indem man die beiden verführt. Unterdessen beschäftigen sich die Dufours, nach Geschlechtern getrennt, mit dem, was sie in der "Natur" sehen. Für Monsieur Dufour und Anatole ist es ein Abenteuerspielplatz, den sie in Form von Angeln erkunden wollen. Dufour erzählt vom Hecht, dem "Süßwasserhai", der einen Finger bis auf den Knochen durchbeissen könne, und Anatole hört gebannt zu, als ginge es um Großwildjagd in Afrika. Mutter und Tochter dagegen sitzen unter einem Kirschbaum, beobachten das Krabbeln auf der Wiese und geben sich einer sentimentalen Naturschwärmerei hin. Die fast erwachsene Henriette spürt eine vage, unbestimmte Sehnsucht in sich, die sie auf die Natur projiziert, und sie fragt ihre Mutter, ob sie das in ihrer Jugend auch kannte. Diese weiß, dass die Schmetterlinge im Bauch ihrer Tochter auch andere Ursachen haben, und sie erwidert, dass sie dieses Gefühl immer noch kennt, aber durch ihre Vernunft im Zaum hält.

Schaukeln (l.o. La Balançoire von Pierre-Auguste Renoir)
Nach dem Mittagessen schlägt die Stunde für Henri und Rodolphe. Mutter und Tochter Dufour möchten etwas unternehmen, aber die Männer haben etwas zu sehr dem Essen und dem Wein zugesprochen und sind entsprechend träge. Zuerst machen sie ein Schläfchen, dann wollen sie angeln. Da lassen sich die beiden Damen gern zu einer Ruderpartie einladen, und Dufour gibt auch gern seine Zustimmung, als er von Rodolphe die Angelruten erhält, die er selbst nicht dabei hat. Eigentlich wollte der extrovertierte Rodolphe Henriette "übernehmen" und die Mutter dem verschlosseneren und etwas zynischen Henri überlassen, aber der ist zunehmend von Henriette fasziniert und schnappt sie sich selbst, was Rodolphe sportlich gelassen hinnimmt. So fahren also Henri und Henriette sowie Rodolphe und Madame Dufour mit ihren Booten auf der Seine, um getrennt einsame Uferabschnitte anzusteuern. Während Rodolphe auf einer Lichtung wie ein bocksfüßiger Pan mit Madame herumschäkert, um dann mit ihr hinter einem Busch zu verschwinden, bringt Henri seine ausersehene Beute auf eine kleine Insel. Von der idyllischen Stimmung und vom Gesang einer Nachtigall ist Henriette in eine so sentimentale Stimmung versetzt, dass ihr die Tränen kommen. In diesem Zustand gelingt es Henri mühelos, sie zu verführen. Danach sieht man ihr Gesicht in einer extremen Großaufnahme, und wieder stehen ihr Tränen im Gesicht, aber jetzt vielleicht auch aus anderen Gründen. Ihr kommt wohl die Erkenntnis, dass sich dieser Augenblick nicht festhalten lässt, und dass ihr bald eine vermutlich langjährige und sicher monotone Ehe mit dem unbedarften Langweiler Anatole bevorsteht. Ein Unwetter, das sich schon angekündigt hatte, beendet den Ausflug. Im strömenden Regen wird zurückgerudert, und zugleich schwemmt der Regen symbolisch die Ereignisse des Nachmittags weg, ertränkt sie in bleierner Schwermut. Der zweite Zwischentitel leitet zum Epilog über: "Jahre vergingen, mit Sonntagen so trist wie Montage. Anatole heiratete Henriette, und eines Sonntags ...". Henri rudert wieder einmal zu "seiner" Insel, da läuft er dort Henriette in die Arme. Anatole liegt im Gras und schläft. Henriettes Gesicht ist erwachsener, die naive Schwärmerei ist daraus verschwunden. Henri sagt, dass er oft hierher kommt, weil es seine glücklichsten Erinnerungen zurückbringt, wobei er sentimental wie ein Dackel dreinblickt, und Henriette erwidert, dass sie sich jede Nacht daran erinnert. Da erwacht Anatole und ruft nach Henriette. Wortlos trennen sich Henri und Henriette, die wieder Tränen in den Augen hat. Sie rudert mit ihrem Mann davon, Henri bleibt zurück und steckt sich eine Zigarette an. Die letzten Bilder gehören dem Fluss.

Der "Süßwasserhai" wird beobachtet
PARTIE DE CAMPAGNE ist mit 40 Minuten der kürzeste Film von Renoir in den 30er Jahren. Eigentlich hätte er etwas länger ausfallen sollen, so um die 50 Minuten, dafür waren die zwei Zwischentitel nicht vorgesehen. Dass es anders kam, lag am Wetter. Es hätte für die Beteiligten ein Wohlfühlfilm werden sollen. Vorgesehen waren acht Drehtage vor Ort in der Landschaft, danach noch zwei Drehtage im Studio in Paris. Da es an der Seine im weiten Umkreis von Paris keine unberührten Uferabschnitte mehr gab, wurde in der Nähe des Walds von Fontainebleau am Loing und an der Essonne gedreht, zwei Nebenflüssen der Seine. Das Gasthaus von Père Poulain gehörte in Wirklichkeit einem Förster, dessen Frau mit Renoir befreundet war, und die Equipe war in einem nahe gelegenen Hotel untergebracht. Renoir kannte die Gegend seit seiner Kindheit gut, denn sein Vater hatte hier oft gemalt, und sein erster eigener Film LA FILLE DE L'EAU wurde ganz in der Nähe gedreht. Renoir beschäftigte bei seinen Filmen in den 30er Jahren oft Freunde und Familienmitglieder, und bei PARTIE DE CAMPAGNE war das mehr denn je der Fall. Sein Neffe Claude führte, wie mehrfach in diesem Jahrzehnt, die Kamera, und seine Lebensgefährtin Marguerite Renoir (eigenlich Marguerite Houllé, denn sie waren nicht verheiratet) war nicht nur wie üblich seine Cutterin, sondern sie spielte auch die Kellnerin - keine große Rolle, aber immerhin mit einigen Dialogen. Renoirs damals 14-jähriger Sohn Alain spielte einen fischenden Jungen, ebenfalls mit etwas Text, und er war gleichzeitig Clapper Boy. Dazu kamen einige von Renoirs Freunden, die schon öfters mit ihm gearbeitet hatten. Jacques-Bernard Brunius war schon als Darsteller, Regieassistent und in weiteren Funktionen an Renoir-Filmen beteiligt, Georges Darnoux (eigentlich ein Comte Georges d'Arnoux oder D'Arnoux) ebenfalls schon als Statist und Regieassistent (nebenbei war er auch Autorennfahrer). Renoir beschäftigte neben den offiziellen, in den Credits genannten ein oder zwei Regieassistenten oft noch weitere - hier waren es insgesamt gleich sechs. An erster Stelle gelistet war Jacques Becker, der diese Position in den 30er Jahren am häufigsten inne hatte, an zweiter Stelle Henri Cartier-Bresson, der auch schon Renoir-Erfahrung bei LA VIE EST À NOUS gesammelt hatte, und ungenannt blieben Brunius, Luchino Visconti (der schon bei TONI als Praktikant dabei war), Claude Heymann (der immerhin schon ein Drehbuch zusammen mit Renoir geschrieben hatte), und als Renoir-Neuling Yves Allégret, wie Becker und Visconti später selbst ein Regisseur von Rang. Die meisten der Freunde und Familienmitglieder arbeiteten für wenig oder gar keinen Lohn und wurden dafür am zu erwartenden Gewinn beteiligt, was sich hier aber nicht auszahlte. Becker, Cartier-Bresson, Sylvia Batailles erster Mann, der Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille, sowie Pierre Lestringuez, der als Darsteller und Drehbuchautor an Renoirs ersten Stummfilmen beteiligt war, haben auch einen Cameo-Auftritt als drei Priester-Seminaristen und der beaufsichtigende Pfarrer, der einen davon zurechtweist, als er zu auffällig der schaukelnden Henriette zusieht. Renoir war der Meinung, dass seine Assistenten solche Kurzauftritte absolvieren sollten, um zu wissen, wie es sich anfühlt, vor statt hinter der Kamera zu stehen.

Mutter und Tochter unterhalten sich über das Leben der Raupen und der Menschen
Die Arbeit begann im Juni 1936, und laut Drehbuch spielten alle Szenen bei schönem Wetter. Aber dummerweise war der Sommer 1936 im Norden Frankreichs der verregnetste seit Menschengedenken. Es konnte nur sehr sporadisch in den kurzen Schönwetterphasen gedreht werden, ansonsten saß man herum und wartete, und es verging Woche um Woche. Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, wie sich das auf die Stimmung auswirkte. Laut Sylvia Bataille stellte sich bald der Lagerkoller ein, und alle gingen sich auf die Nerven. Renoir dagegen behauptete später, dass alle außer Bataille guter Dinge waren. Die Wahrheit wird wohl irgendwo dazwischen liegen. Auf jeden Fall war das knappe Budget bald aufgebraucht, und je länger sich die Sache hinzog, desto klarer wurde, dass es keinen finanziellen Gewinn geben würde. Renoir glänzte mehrfach durch längere Abwesenheit, weil er (je nach Bericht) entweder zunehmend das Interesse verlor oder in Paris weiteres Geld auftreiben wollte, während er den Mitwirkenden Anwesenheitspflicht auferlegte, damit bei schönem Wetter unverzüglich gedreht werden konnte. So sollen auch einige Szenen von Becker und Heymann statt von Renoir inszeniert worden sein. Wie immer die Stimmung nun war, dem Film sieht man nichts Negatives davon an. Das Ensemblespiel der Akteure wirkt immer entspannt und natürlich, und gerade Sylvia Bataille liefert eine vorzügliche Leistung. Produzent Pierre Braunberger bewies so viel Geduld, wie man sich nur wünschen konnte, aber schließlich erklärte Renoir selbst das Projekt für beendet, weil sein nächster Film LES BAS-FONDS (mit einem anderen Produzenten) keinen Aufschub mehr duldete. Es fehlten keine wirklich wichtigen Szenen vom Land, aber die Drehtage im Studio fielen ersatzlos weg. Sie hätten zwei Szenen erbringen sollen. Zunächst die Familie Dufour, wie sie sich in Paris den Wagen leiht und dann aufbricht. Und dann eine weitere Szene in Paris, die einige Wochen nach dem Hauptteil spielt: Henri taucht im Eisenwarengeschäft auf, erkundigt sich nach Henriette und erfährt von Madame Dufour, dass ihre Tochter jetzt mit Anatole verheiratet ist. Enttäuscht macht Henri kehrt, nachdem sich Madame noch nach dem Befinden von Rodolphe erkundigt hat.

Beim Picknick und nach dem Picknick
Braunberger unternahm Versuche, die Situation zu retten. Er ließ zunächst von Marguerite Renoir einen Rohschnitt anfertigen, der ungefähr die Länge des jetzigen Films hatte, aber so erschien der Film nicht veröffentlichungsfähig. Braunberger hatte dann die Idee, einen kompletten Spielfilm daraus zu machen, und er ließ Pierre Prévert ein Drehbuch dafür schreiben. Das hätte knapp die Hälfte des bereits gedrehten Materials integriert und einige Charaktere stark verändert. Renoir hielt überhaupt nichts davon und lehnte jede Mitarbeit ab. Daraufhin bot Braunberger den Stoff anderen Regisseuren an, darunter Douglas Sirk, der gerade von Deutschland über Frankreich in die USA emigrierte, aber keiner hatte Lust. Braunberger ließ noch ein weiteres Drehbuch schreiben, aber Renoir hatte endgültig das Interesse verloren, und der Film schien jetzt endgültig gescheitert. 1940 emigrierte Renoir in die USA, und Braunberger, der Jude war, musste untertauchen. Doch nach dem Krieg nahm er seine Pläne wieder auf. Das geschnittene Positiv war von den Nazis zerstört worden, aber ein ungeschnittenes Negativ hatte überlebt. Marguerite Renoir, unterstützt von ihrer Schwester Marinette Cadix, die ebenfalls Cutterin war, schnitt den Film erneut, wobei sie sich am Drehbuch und an ihrer Erinnerung an die erste Fassung orientierte. Laut Braunberger war die zweite Fassung dann sogar besser als die erste. Renoir, der noch in Hollywood unter Vertrag stand, beteiligte sich nicht daran, und er war von Braunbergers Aktivitäten überhaupt nicht begeistert. Er fürchtete, dass die Veröffentlichung dieses unvollendeten Films seinem Ruf eher schaden als nützen würde, aber Braunberger ließ sich nicht beirren. Die Idee, die beiden fehlenden Szenen durch Zwischentitel zu ersetzen, war für jemanden, der wie Braunberger seine Produzentenlaufbahn noch im Stummfilm begonnen hatte, eigentlich naheliegend (er hatte auch schon einige von Renoirs ersten Filmen produziert). Eine weitere gute und ebenfalls naheliegende Idee Braunbergers war es, die Musik von Joseph Kosma schreiben zu lassen, der zu MONSIEUR LANGE ein Lied beigesteuert und dann von LA GRANDE ILLUSION bis LA RÈGLE DU JEU vier Renoir-Filme hintereinander vertont hatte. Kosmas ausdrucksstarke, aber unaufdringliche Musik fügt sich perfekt in den Rhythmus des Films ein, der mit Dialogen und Geräuschen, aber ohne Musik, noch immer keinen veröffentlichungsreifen Eindruck gemacht hatte. Sylvia Bataille formulierte das später so: "Nach dem Krieg, als uns Braunberger den geschnittenen Film ohne Musik zeigte, glaubte keiner, dass es möglich war, das zu veröffentlichen. [...] Aber ehrlich, als Kosma seinen wunderbaren Score hinzugefügt hatte, war der Film mit einem Schlag fertig, fehlerlos - eine echte Überraschung!" Als PARTIE DE CAMPAGNE dann 1946 in den Pariser Kinos anlief, war er ein voller Erfolg bei Kritik und Publikum, und Renoir war auch zufrieden, und er beglückwünschte Braunberger. Die Kritik lobte neben Renoir und Braunberger (für sein Beharrungsvermögen) vor allem Sylvia Bataille, doch deren Karriere, die trotz ihres Talents nie so recht abgehoben hatte, war da ironischerweise kurz vor ihrem Ende. 1946 drehte sie mit Marcel Carnés LES PORTES DE LA NUIT ihren vorletzten Spielfilm, dann folgte noch ein Kurzfilm und 1950 ein letzter Spielfilm. Danach betätigte sie sich als Mitarbeiterin ihres zweiten Mannes, des Psychoanalytikers und Philosophen Jacques Lacan.

Ruderpartie mit impressionistischer Uferstimmung
PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Verfilmung der (fast) gleichnamigen Erzählung Une partie de campagne von Guy de Maupassant (der trotz völlig unterschiedlicher künstlerischer Temperamente mit Pierre-Auguste Renoir befreundet war), die 1881 in der Sammlung La Maison Tellier erschien (eine etwas altertümlich angestaubte Übersetzung kann man hier lesen). Renoir hielt sich eng an die Handlung, dagegen änderte er den Ton der Erzählung gründlich. Während Maupassant seine Protagonisten mit der kühlen Distanziertheit eines Insektenforschers beschreibt, mit gelegentlichen Anflügen von Spott und Zynismus, ist der Film von vorn bis hinten von Renoirs warmherzigem Humanismus erfüllt. Dieser durchzieht fast alle seine Filme, aber selten in einer solchen Reinkultur wie hier. Und wo Maupassant die Charaktere nur sehr skizzenhaft schildert, erfüllt sie Renoir mit Leben und Charakter, durch Details im Dialog, im Schauspiel, in der Ausstattung, immer möglichst fern von vorgefertigten Klischees. Auch das zieht sich durch Renoirs Werk, aber im direkten Vergleich mit Maupassant sieht man es wie in einem Brennglas. Ebenso wichtig wie das bittersüße (fast) Nichts an Handlung ist das Drumherum, die Atmosphäre. Abgesehen von den kurzen Szenen mit Henri und Rodolphe in der Gaststube ist PARTIE DE CAMPAGNE ein kompletter Freiluftfilm, und mit Claude Renoirs Aufnahmen von der Schaukel, vom Garten mit dem Kirschbaum, vom flirrenden Licht auf dem Wasser, mit der am Ufer entlanggleitenden Kamera in den Ruderbooten ist er ein Pendant zur impressionistischen Freiluftmalerei. Renoir hat gelegentlich betont, dass er von den Bildern seines Vaters vor allem den Sinn für eine gute Bildkomposition gelernt habe. Den besaß er zweifellos, aber aus den Renoir-Filmen im Allgemeinen lässt sich dieser Einfluss kaum herauslesen, wenn man es nicht schon weiß. Doch bei PARTIE DE CAMPAGNE (und beim Spätwerk LE DÉJEUNER SUR L'HERBE von 1959) ist der Einfluss der impressionistischen Malerei direkt greifbar. PARTIE DE CAMPAGNE ist eine Ode an den Fluss, an die Natur, an das Leben. Es ist doch noch ein Wohlfühlfilm geworden, im besten Sinn des Wortes.

Eine Nachtigall leistet Henri Schützenhilfe
PARTIE DE CAMPAGNE ist in England auf einer DVD des British Film Institute mit (nicht ausblendbaren) Untertiteln und mit einem Audiokommentar erschienen. Es gibt auch eine französische Ausgabe auf zwei DVDs, die aber derzeit nur stark überteuert zu haben ist. - Der rumänisch-französische Fotograf und Kameramann Eli Lotar war als Standfotograf beim Dreh dabei. Seine Bilder vom Set sind in einem Buch erhältlich.