Samstag, 5. Oktober 2013

Ein Fisch als Detektiv

POLAR (POLAR - UNTER DER SCHATTENLINIE, POLAR - EIN DETEKTIV SIEHT SCHWARZ)
Frankreich 1984
Regie: Jacques Bral
Darsteller: Jean-François Balmer (Eugène Tarpon), Sandra Montaigu (Charlotte Le Dantex), Roland Dubillard (Jean-Baptiste Haymann), Pierre Santini (Inspektor Coccioli), Marc Dudicourt (Le Loup), Jean-Paul Bonnaire (Gérard Sergent), Claude Chabrol (Théodore Lyssenko)

Eugène Tarpon
Jacques Brals POLAR ist eine wunderbare Hommage an den alten Film noir, an Hollywoods Schwarze Serie, und doch ein durch und durch französischer Film. Eugène Tarpon, der traurige Held der Geschichte, ist Privatdetektiv, ein Nachfahre im Geiste von Sam Spade und Philip Marlowe - mit einigen Abweichungen. Sein stilechtes Voice-over wird den Film durchgehend begleiten. Tarpon - wie ihm im Verlauf des Films mehrfach erklärt wird, obwohl er es natürlich ohnehin weiß, der Name einer Fischgattung (Tarpun auf Deutsch, wiss. Megalops) - war früher Gendarm, aber er hat den Dienst quittiert, nachdem er bei einer Demonstration versehentlich einen Demonstranten mit einer Tränengasgranate getötet hatte. Jetzt ist er also Detektiv - und zwar ein völlig erfolgloser. Er ist melancholisch, ziemlich lethargisch, und dass sein Büro im 4. Stock (ohne Lift) liegt, trägt auch nicht zu seinem Erfolg bei. Ein Stümper ist er aber nicht - er kennt die Regeln und die nötigen Tricks, und obwohl er kein sportlicher Typ ist, körperlich sogar schlaff und träge wirkt, kann er auch hinlangen, wenn es sein muss. Als ihn eine kleine Ratte mit Springmesser "überreden" will, ihn zu seinen Auftraggebern zu begleiten, überrumpelt und entwaffnet ihn Tarpon auf eine geradezu demütigende Weise. Die Szene erinnert etwas an John Hustons THE MALTESE FALCON, wo Sam Spade Mr. Gutmans Revolverhelden Wilmer Cook ähnlich vorführt. Doch Tarpons Kommentar dazu im Voice-over zeigt, dass er kein Sam Spade und kein Humphrey Bogart ist: "Ich hab dich geschlagen, weil du mir Angst gemacht hast. Kein Grund, darauf stolz zu sein."

Schutzloses Mädchen oder femme fatale?
Nach drei Monaten fast ohne Kunden, ohne Fall, steht Tarpon vor der Pleite, und er resigniert. Er ruft seine Mutter an und kündigt an, seine Zelte in Paris abzubrechen und in das kleine Dorf mit 50 Einwohnern zurückzukehren, aus dem er stammt. Doch natürlich kommt es anders. Als er das Büro eigentlich schon geschlossen hat, steht eine wunderschöne junge Frau vor der Tür und bittet um seine Hilfe. Charlotte Le Dantex, wie sie sich vorstellt, ist verzweifelt, weil ihre Freundin Louise Dupuis ermordet wurde, und weil sie jetzt fürchtet, dass die Polizei sie für die Mörderin halten wird. Denn eigentlich war Louise nicht wirklich ihre Freundin. Eigentlich mochte sie sie nicht mal. Eigentlich hasste sie sie sogar. Der pragmatische Tarpon drängt darauf, zunächst einmal die Polizei über den Mord zu informieren, doch Charlotte sträubt sich, und als Tarpon sie nicht ohne Anruf bei der Polizei gehen lassen will, gibt sie ihm einen Tritt in die Eier und verduftet. Tarpon will der Sache auf den Grund gehen und fährt mit dem Taxi (einen eigenen Wagen besitzt er nicht) zu Louises Adresse - und läuft geradewegs der Polizei in die Arme, die bereits am Tatort ermittelt. Und schon steckt Tarpon bis über beide Ohren in einem verworrenen Mordfall. Nacheinander treten verschiedene Personen an ihn heran, die alle etwas von ihm wollen. Zunächst verhört ihn Inspektor Coccioli, der den Mord bearbeitet, stundenlang; vor allem will er wissen, wo sich Charlotte Le Dantex aufhält, aber damit kann Tarpon nicht dienen, und weil nichts Konkretes gegen ihn vorliegt, wird er laufen gelassen. Vor dem Polizeipräsidium wird er von dem verkrachten und versoffenen Journalisten Haymann aufgegabelt, der eine Geschichte über den Mord schreiben will. Er glaubt, dass Tarpon mehr über den Fall weiß, als er zugibt, und er will von ihm mit Einzelheiten für seine Story versorgt werden. Später trifft Tarpon die Auftraggeber der kleinen Ratte, zwei Revolverhelden. Sie bringen ihn zu ihrem Chef in einer Waldgegend außerhalb von Paris. Der Chef, der sich in einem weißen Rolls-Royce kutschieren lässt, will ebenfalls wissen, wo sich Charlotte aufhält. Als Tarpon danach Haymann erzählt, dass er im Wald war, fragt dieser scherzhaft, ob er dem Wolf begegnet sei. Fortan ist der Chef im Rolls-Royce für Tarpon "der Wolf" - Le Loup. Seinen tatsächlichen Namen erfährt man bis zuletzt nicht.

Nach dem Verhör durch Coccioli sieht Tarpon nicht mehr frisch aus
Als nächstes steht Gérard Sergent bei Tarpon auf der Matte. Er hat Louise geliebt - zumindest behauptet er das -, und nun erklärt er ganz unverblümt, dass er ihren Mörder tot sehen will. Und als ersten Schritt dazu - Überraschung! - soll ihm Tarpon verraten, wo sich Charlotte Le Dantex befindet. Obwohl Tarpon protestiert, lässt ihm Sergent bei seinem Abschied einen Batzen Geld da. Der Reigen geht weiter: Zwei Ganoven entführen Tarpon und halten ihn in einer Bruchbude irgendwo außerhalb von Paris gefangen. Doch, o Wunder, sie wollen nicht wissen, wo Charlotte steckt. Mehr noch: Sie taucht plötzlich selbst in Tarpons Gefängnis auf, und sie kennt die Entführer, steckt anscheinend sogar mit ihnen unter einer Decke. Dann taucht auch der Drahtzieher der Entführung auf, der Fotograf Alfonsino, der mit Louise zu tun hatte, und er gibt den Befehl, Tarpon umzubringen. Gleichzeitig nimmt er Charlotte einen kleinen Gegenstand ab, der noch eine wichtige Rolle in dem Fall spielen wird, dann verschwindet er. Es steht also schlecht, doch da kreuzen auch die beiden "Sekretäre" (wie er sie nennt) von Le Loup auf und erschießen Alfonsinos Handlanger. Tarpon und Charlotte nutzen das Durcheinander zur Flucht, und um endlich aus der Schusslinie zu geraten, nehmen die beiden ein Zimmer in einem billigen Hotel. Charlotte, die ziemlich verzweifelt ist, oder vielleicht auch nur so tut, wirft sich Tarpon an den Hals, und sie schläft sogar mit ihm. Doch ganz traut er ihr nicht - zu Recht. Er beschattet sie, als sie ohne ihn das Atelier von Alfonsino aufsucht, und er findet dort Alfonsinos Leiche. Tarpon will jetzt Charlotte der Polizei ausliefern, und diese rückt nun mit einer neuen Geschichte heraus: Sie selbst hat Louise umgebracht. Die beiden hatten sich als 16-jährige Teenager kennengelernt und allerhand gemeinsam erlebt, aber Louise hatte sich immer mehr zu einem Ungeheuer entwickelt, das alle möglichen Menschen in ihrer Umgebung in den Abgrund riss, und Charlotte hatte sich durch den Mord aus der fatalen Abhängigkeit befreit - sagt sie. Den Mord an Alfonsino streitet sie aber ab. Als Tarpon sie noch einmal in Alfonsinos Atelier schleppt, steckt sie heimlich den Gegenstand wieder ein, den ihr Alfonsino zuvor abgenommen hatte. Danach verständigt Tarpon die Polizei von Alfonsinos Ableben, und er kann sich wieder einmal mit Coccioli herumschlagen.

Haymann
Fast immer hat Tarpon bisher nur reagiert, statt selbst zu agieren. Nur einmal dreht er den Spieß um und ergreift selbst die Initiative, um jemanden zu befragen, nämlich den Pornoregisseur Lyssenko (von Claude Chabrol mit einer guten Portion Selbstironie dargestellt), in dessen Filmen Louise mitgespielt hat, doch dabei erfährt er nicht viel, außer dass Lyssenko von einem Unbekannten bedroht wird. Unterdessen wurde Haymann von den "Sekretären" des Wolfs böse verprügelt, weil sie wissen wollten, wo Tarpon und Charlotte sind (und er beides nicht wusste). Als Le Loup noch einmal aufkreuzt, stellt sich heraus, worauf er wirklich aus ist, nämlich jenen ominösen Gegenstand, der schon mehrfach den Besitzer wechselte. Aus einem Zeitungsbericht, der nur kurz und undeutlich zu sehen ist, kann man entnehmen, dass es sich um eine wertvolle Statuette handelt. Der längst heillos verwickelte Fall strebt nun seinem Ende zu. Um es kurz zu machen: Charlotte wird verhaftet und wieder freigelassen, Sergent wird beim Versuch, Lyssenko zu ermorden, von Coccioli erschossen, Tarpon bekommt dabei auch eine Kugel von Sergent ab, wird aber im Krankenhaus wieder hochgepäppelt. Der tote Sergent wird von der Polizei als der Mörder von Alfonsino (was wahrscheinlich stimmt) und von Louise (was sicher nicht stimmt) präsentiert. Charlotte besucht Tarpon im Krankenhaus ein paar Mal, aber dann verschwindet sie, und Tarpon sieht sie nie wieder. Wegen der vielen Halbwahrheiten, die er der Polizei erzählt hat, wird er vom Untersuchungsrichter zur Schnecke gemacht, aber ohne formale Anschuldigung laufen gelassen. Und nach einigen Wochen bekommt Tarpon einen Brief von Charlotte mit einem Scheck über 30.000 Francs. Sie rät ihm, kein Depp zu sein, sondern den Scheck einzulösen, und er befolgt den Rat. Tarpon wurde mehrfach beschossen und entführt, aber es hätte schlimmer kommen können. Und er behält jetzt erst mal sein Detektivbüro.

Ein Ganove zuerst mit und dann ohne Messer
Uff! Am Ende hat man ein schwer durchschaubares Knäuel an Handlungsfäden vor sich, das man beim ersten Sehen des Films nur schwer nachvollziehen kann, und man kann trefflich über nicht aufgeklärte Hintergründe spekulieren (z.B., ob Charlotte von Anfang an in die Machenschaften um die Statuette verwickelt war und vielleicht sogar deshalb Louise getötet hat - was eine viel dunklere Figur aus ihr machen würde). Dass der Fall so verworren ist, ist keineswegs ein Versehen (wie etwa in LA NUIT DU CARREFOUR), sondern gehört erkennbar zum Konzept, und es erinnert natürlich an Vorbilder wie Howard Hawks' THE BIG SLEEP und an THE MALTESE FALCON. Eine konkrete Ähnlichkeit zu letzterem Film habe ich bereits erwähnt, und dass eine wertvolle Statuette zur Triebfeder des Geschehens wird, ruft natürlich das eponyme Utensil aus THE MALTESE FALCON ins Gedächtnis. Während in den Vorbildern meistens eine femme fatale zugegen ist, hat man bei POLAR gleich zwei davon, die tote Louise und die umso präsentere Charlotte.


POLAR endet nicht mit FIN, sondern À SUIVRE (FORTSETZUNG FOLGT), doch ein Sequel gibt es nicht - dabei wäre der Stoff dazu vorhanden gewesen. Denn der Film beruht auf dem 1973 erschienenen Roman Morgue pleine von Jean-Patrick Manchette, dem er 1976 mit Que d'os ! einen weiteren (und letzten) Roman mit Eugène Tarpon als Helden folgen ließ. Ich weiß aber nicht, ob beim Dreh von POLAR tatsächlich beabsichtigt war, auch Que d'os ! zu verfilmen. Jean-Patrick Manchette war in den 70er Jahren einer der führenden Autoren des Néo-polar, einer stärker politisch ausgerichteten Variante des Roman noir. Manchette wurde aufgrund seiner sprachlichen Meisterschaft auch von der "gehobenen" französischen und internationalen Literaturkritik anerkannt (sein Roman Nada fand Eingang in die geheiligten Hallen von Kindlers Literaturlexikon), und seine Vorlage trägt dazu bei, aus POLAR trotz aller Hommage doch einen sehr französischen Film zu machen. Dem dient auch die ungemein atmosphärische, den resignativen Geist des Films tragende Musik von Karl-Heinz Schäfer. Schäfer vertonte von 1973 bis 1993 gerade mal zehn Filme, darunter noch einen weiteren von Bral, ansonsten habe ich nicht viel über ihn herausgefunden, als dass er Komponist, Arrangeur und Dirigent war. Regisseur Jacques Bral, 1948 in Teheran geboren, hat auch nur ein schmales Œuvre von sechs Spielfilmen vorzuweisen, von denen ich außer POLAR keinen kenne. Nebenbei produzierte Bral 1989 Sam Fullers letzten Kinofilm STREET OF NO RETURN.


POLAR wird vom Anfang bis zum Ende getragen von Jean-François Balmer. Der gebürtige Schweizer und naturalisierte Franzose Balmer ist einfach umwerfend als Tarpon. Die Mischung aus Resignation und Berufsehre, aus Phlegma und genau dosierter Action gelingt ihm schlichtweg perfekt. Mit seinem weichen Erscheinungsbild und seiner sanften Stimme hat er, wie schon erwähnt, nichts von einem Bogart, eher schon ein bisschen von Robert Mitchum, aber er ist kein Epigone, sondern er erschafft eine völlig eigenständige Figur. Ich kenne nicht viele Filme des bis heute vielbeschäftigten Balmer (zusammen vielleicht ein halbes Dutzend), aber ich würde doch meinen, dass ihm mit Tarpon eine der Rollen seines Lebens gelungen ist. Aber auch Sandra Montaigu verfügt nicht nur über optische Reize, sondern spielt ausgezeichnet, und auch Roland Dubillard als Haymann und die anderen Nebendarsteller überzeugen. - POLAR ist in Frankreich auf einer DVD ohne Untertitel erschienen. Deutsche Untertitel gibt es zum Download auf einschlägigen Seiten.

Der Wolf und seine "Sekretäre" besuchen Haymann und Tarpon

Sonntag, 22. September 2013

Ein siebenbürgischer Emigrant in Mexiko


EL VAMPIRO
Mexiko 1957
Regie: Fernando Méndez
Darsteller: Ariadna Welter (Marta), Abel Salazar (Dr. Enrique), Germán Robles (Duval), Carmen Montejo (Eloisa), Alicia Montoya (María)


Die junge Marta reist zum Landgut ihrer Tante María, die gerade im Sterben liegt. Am Bahnhof ist jedoch niemand da, um sie abzuholen und so kommt sie mit einem anderen Reisenden ins Gespräch, der ohne Mitfahrgelegenheit da steht: Dr. Enrique. Da sie beide nicht am Bahnhof übernachten möchten, überzeugen sie nur mit großer Mühe einen Kutscher, sie ein Stück weit mitzunehmen. An einer Weggabelung werden sie höchst unfreundlich weggeschickt. Auf dem Landgut stellt sich heraus, dass Martas Tante María verstorben ist und bereits beerdigt wurde. Als Erbin der Hacienda muss Marta nun entscheiden, was mit dem bereits stark verfallenden und verödenden Gebäude passieren soll. Ihre Tante Eloisa bedrängt sie höchst penetrant dazu, die Immobilie zu einem Freundschaftspreis an den adeligen Nachbarn Duval zu verkaufen. Das tut die düstere Tante durchaus in eigenem Interesse: Duval ist nämlich nicht nur ihr Liebhaber, sondern wie sie selbst auch ein Vampir...

Die Menschen (oben): Marta und Dr. Enrique
Die Vampire (unten): Eloisa und Duval
Ein Vampirfilm aus Mexiko – das klingt zunächst einmal ziemlich exotisch und abgefahren. Ist es aber eigentlich nicht wirklich. Denn Horrorfilme haben im mexikanischen Kino schon seit den 1930er Jahren eine eigene Tradition. Diese ist vor allem verbunden mit dem Namen Juan Bustillo Oro, der in diesem Jahrzehnt zahlreiche Drehbücher schrieb und Filme inszenierte, die in Mexiko großen Erfolg hatten, jedoch außerhalb des Landes kaum wahrgenommen wurden. In den 1950er Jahren erlebte das mexikanische Kino eine zweite Horrorfilm-Welle, und an dieser war Fernando Méndez maßgeblich beteiligt. Méndez wurde 1908 in eine bereits recht filmaffine Familie geboren: Sein Onkel, Francisco Garcia Urbizu, war in den 1920er Jahren Stummfilmregisseur. Méndez selbst ging Anfang der 1930er Jahre in die USA, wo er das Filmhandwerk erlernte, kehrte dann in seine Heimat zurück und inszenierte 1939 seinen ersten Film. In den 1950er Jahren wurde er zu einem der produktivsten Regisseure Mexikos: zwischen 1950 und 1961 drehte er 36 Filme – Komödien, Westerns, Musicals, und eben auch Horrorfilme. Nur kurze Zeit vor EL VAMPIRO erzielte sein LADRÓN DE CADÁVERES ein Sensationserfolg in den mexikanischen Kinos. In diesem Film ermitteln ein Detektiv und ein Wrestler gegen einen verrückten Wissenschaftler, der Sportlern Tiergehirne einpflanzt. Mit diesem Film trug Méndez auch wesentlich zum mexikanischen Sub-Genre des Lucha-Libre-Horrorfilms bei: Horrorfilme, in denen Wrestler maßgebliche Figuren sind. Sein EL VAMPIRO, tatsächlich nur eine Woche nach LADRÓN DE CADÁVERES veröffentlicht, war ein ebenso großer Erfolg in Mexiko und zog ein Sequel nach sich (EL ATAÚD DEL VAMPIRO, 1958). Wegen Gesundheitsproblemen zog sich Méndez 1961 aus dem Filmgeschäft zurück, und verstarb fünf Jahre später an einem Herzinfarkt in Mexico City.

EL VAMPIRO, in Mexiko ein Sensationserfolg, erlitt im Ausland ein etwas unglückliches Schicksal. Die Hammer Film Productions in Großbritannien lancierten etwa zeitgleich ihre äußerst erfolgreiche Dracula-Reihe mit Christopher Lee, beginnend mit DRACULA, der seine US- und UK-Premieren über ein halbes Jahr nach der Mexiko-Premiere von EL VAMPIRO feierte. Der internationale Vertrieb des mexikanischen Kassenschlagers jedoch zog sich wesentlich länger hin, als diese wenigen Monate. Als EL VAMPIRO also schließlich auch in nordamerikanische und europäische Kinos kam, hatte das dortige Publikum schon längst den DRACULA mit Christopher Lee kennen und lieben gelernt. Gegenüber dem britischen Technicolor-Film wirkte der mexikanische Schwarzweiß-Film durch das höchst ungünstige Timing wie ein Billig-Abklatsch der Hammer-Produktion, obwohl er in Wirklichkeit als erster gedreht worden war!

Deep focus photography & intradiegetische Rahmen
Die bemerkenswerten ästhetischen Qualitäten des lateinamerikanischen Vampirfilms blieben deshalb jahrelang eher unbeachtet. Vom Drehbuch her ist EL VAMPIRO eher schwach: es ist bestenfalls als solides Mittelmaß zu bezeichnen, und auch die Figuren wirken größtenteils wie grobe Klötze aus dem Genre-Baukasten. Umso bemerkenswerter sind die ausdrucksstarken Bilder, die Méndez mit seinem Kameramann Rosalío Solano und seinem Setdesigner Gunther Gerszo geschaffen hat und deren Wirkung durch Gustavo César Carrións dramatische Musik noch verstärkt wird. EL VAMPIRO geht vollkommen in seinen bedrohlichen Bildern und seiner brodelnden Atmosphäre auf. Die Welt des Films spielt in höchst künstlichen, barocken Studiobauten, die mit Nebel durchflutet und mit zahllosen vollen Spinnweben verhangen sind, erleuchtet in starken Hell-Dunkel-Kontrasten.

Das Landgut, in dem der größte Teil der Handlung spielt, inszenieren die Macher praktisch als eigenständige Filmfigur, als drohendes Monstrum, das die Figuren geradezu zu verschlucken droht: in zahlreichen Totalen (besonders in den Innenhof-Szenen) werden sie zu „Winzlingen“ degradiert, und von intradiegetischen Rahmen noch zusätzlich bedrängt. Letzteres ist ein Stilmittel, das 35 Jahre zuvor schon Friedrich Wilhelm Murnau in NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS ausgiebig im Prototyp des Vampirfilms eingesetzt hatte. In EL VAMPIRO verbindet Méndez dieses Mittel mit einer sehr ausladenden Raumtiefe. Die Analogien zum Stummfilm erschöpfen sich allerdings nicht nur darin, dass er allgemein ein „expressionistisches“ Feeling hat. Vielmehr hat Méndez‘ Film auch ausgedehnte, minutenlange Passagen ohne jegliche Dialoge und mit gedämpfter Geräuschkulisse, in denen die Handlung ausschließlich durch die Bilder, die Montage, die teils sehr komplexen Kamerafahrten und die Musik vorangetrieben werden. Man könnte natürlich sagen, dass auch die Spezialeffekte auf dem Niveau von Stummfilmen sind: die technischen Unzulänglichkeiten sind kaum zu übersehen (die Modell-Fledermäuse sind recht „putzige“ Stoffknäuel und die Fäden, an denen sie gezogen werden, sind klar sichtbar), allerdings dürfte man sie bei der schieren visuellen Fantasie, die der Film sonst aufzubieten hat, rasch vergessen. Denn EL VAMPIRO ist durch und durch ein 80-minütiger visueller Leckerbissen.

Höchst interessant ist auch, wie der Film den Vampir, ein europäisches Konstrukt, und seinen metaphorischen Anhang sehr glaubwürdig in einen spezifisch mexikanischen Kontext einbettet. EL VAMPIRO spielt nicht in einem nachgebauten Europa, sondern in einem nachgebauten ländlichen Mexiko, wo starker Katholizismus und bäuerlicher Volks-Aberglaube einen guten und natürlichen Nährboden für den Vampirismus bilden. Das wird besonders in der beeindruckenden Begräbnis-Sequenz zu Beginn sehr deutlich. Der Blutsauger-Mythos, auch eine Metapher für den Untergang des Adels in der bürgerlichen Gesellschaft, wirkt in einer verfallenden mexikanischen Hacienda nicht weniger plausibel als auf dem Landsitz eines Adeligen in Osteuropa. Dass der Hauptvampir des Films letztendlich doch ein Emigrant aus Siebenbürgen ist und seine ungarische Erde in Holzkisten importieren muss, bestätigt eigentlich nur den Befund, wie anpassungsfähig so ein Blutsauger doch ist.

Spukige Gestalten in der Hacienda
Selbstironie?
Wo man auch hinsieht: überall beigesetzte Méndez-Angehörige in der Familiengruft
Ein Film voller expressiver Bilder

EL VAMPIRO ist gibt es in britischer, italienischer, deutscher und US-amerikanischer DVD-Edition. Ich persönlich kann die deutsche Edition von Subkultur Entertainment nur wärmstens empfehlen: solide Bild- und Tonqualität, hübsche Aufmachung, dazu ein schönes Booklet mit einem Essay von Caspar Lein, dem ich einige Informationen für diese Besprechung verdanke.
Noch eine kleine Bemerkung: gemäß imdb dauert der Film 95 Minuten, und wurde in Großbritannien in einer 84-Minuten-Fassung veröffentlicht. Es wäre also zu vermuten, dass es eine einheimische mexikanische Fassung gibt, und für die internationale Auswertung eine kürzere Version erstellt worden ist. Tatsächlich aber dauern alle DVD-Fassungen, die ich gefunden habe, 84 Minuten bzw. (mit Frame-Rate-Unterschied) 80 Minuten. Gemäß ofdb dauert gerade auch die Fassung auf der mexikanischen DVD nur 84 Minuten. Hiermit seien also die Spekulationen eröffnet: gab es tatsächlich unterschiedliche Cuts und die mexikanische 95-Minuten-Urfassung ist verschollen? Gab es eine Vorpremieren-Fassung, die kurz vor der Auswertung in Mexiko noch umgeschnitten wurde (und auch verschollen ist)? Oder irrt sich imdb?

Samstag, 7. September 2013

Zwischenruf: Nehmt euch in acht!

Denn Filme gucken ist gefährlich! Es ist an der Zeit, diese seit Jahrzehnten bekannte, aber sträflich vernachlässigte Tatsache wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen. Schon vor 100 Jahren warnte ein verdienstvoller Kämpfer für die Volksgesundheit vor den unvermeidlichen Folgen des Filmkonsums:
Der schnelle Bildwechsel in Verbindung mit dem Flimmern der Bilder strengen bei längerem Verweilen im Lichtbildtheater Augen und Nerven so sehr an, daß bei häufigerem Besuch dieser Veranstaltungen sicher Schädigungen eintreten. Es interessierte mich nun die Frage, wie lange kann ein Mensch derartigen Vorführungen beiwohnen?
Ich wählte aus: einen Durchschnittsmenschen robuster Konstitution, einen geistig tätigen Akademiker, beide mit gesunden Augen, alsdann einen nervösen Künstler mit einer Schwäche der Augennerven. Wir wohnten nun gemeinsam einer Kinodauervorstellung bei. Am frühesten versagte erstaunlicherweise der kerngesunde Mensch. Nach kaum mehr als 5 Stunden zeigte sich hochgradige Ermattung, eine Schwere der Lider. Der Akademiker hielt etwas über 5½ Stunden stand. Der nervöse Künstler, der schon vor Ablauf von 2½ Stunden Augentränen, nach 3 Stunden Kopfweh bekam, hielt 550/60 Stunden aus. Noch lange nach dem Niederlegen war ihm zumute, als hebe und senke sich die Bettstatt mit ihm.
Die hohe Schädlichkeit für Augen und Nerven dürfte damit erwiesen sein und man sollte jeder Einschränkung des Kinogewerbes aus gesundheitlichen Gründen zujubeln.
(Die Umschau in Wissenschaft und Technik 13, 1913. Zitiert nach Spektrum der Wissenschaft, März 2013, S. 97)
Die repräsentative Stichprobe von 3 (in Worten: drei) Probanden lässt keinen Zweifel an der Stichhaltigkeit dieses erschütternden Ergebnisses zu. Doch nicht nur gesundheitliche Zerrüttung, nein, schlimmer noch, auch moralische Verlotterung drohen, ja sind für die gefährdete Jugend geradezu unabwendbar:
Wahrlich: dieser Kino ist der passende Ausdruck unserer Tage. Dieser Abklatsch der nackten Wirklichkeit, diese brutale Bildreporterei konnte nur in einer Zeit zu Ehren kommen, in der die Phantasie in die Leichenschauhäuser und auf die Verbrecherfährten gedrängt ist. Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäuser, diese triviale Dreiheit gehören zusammen. Und angesichts dieser Zeiterscheinungen ist es schwer, von Kulturfortschritten zu träumen.
(Franz Pfemfert. In: Die Aktion, 19.06.1911. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 30)

Das zeigt, wie sehr in den Großstädten die Jugend unter dem Banne des Kino steht. Mag immerhin der einzelne Film nicht zweideutiger sein als manche Operette und manches Lustspiel, so muß man doch bei der Häufigkeit des Besuches, bei dem Interesse, das besonders den Sittendramen entgegengebracht wird, und in Anbetracht der Begleitung durch die "Freundin" oder den "Freund" von einer starken sittlichen Gefährdung der Großstadtjugend durch den Kino reden.
(Subrektor Eduard Mayrhofer. In: Volkswohl, Wien, Nr. 6, 1914. Zitiert nach Altenloh2, S. *32)

Es wächst im Volke unter dem Einfluß des Kinos ein ganz neuer seelischer Typus heran. Eine Menschenart, die nur noch in groben Allgemeinvorstellungen zuckend "denkt", die sich von Eindruck zu Eindruck haltlos hinreißen läßt, die gar nicht mehr die Fähigkeit hat, klar und überlegen zu urteilen. Eine Menschenart, die während der Revolution bereits unheilvoll genug gewirkt hat, und die, je mehr Generationen durch den seelischen Zermürbungsapparat des Kinos bearbeitet werden, immer mehr anwachsen und der Kultur (auch der politischen Kultur) ihr Gepräge geben wird. Das Kino bildet einen neuen, geistig wie sittlich minderwertigen Menschentyp: den homo cinematicus.
(Wilhelm Stapel: Der homo cinematicus. In: Deutsches Volkstum, Okt. 1919. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 39)

Geradezu vergiftend wirkt der Detektiv- oder Aufklärungsfilm auf die Jugend, bei der das ganze Geistesleben sich noch in der Entwicklung befindet, die Einbildungskunst viel lebhafter arbeitet, die Eindrücke stärker wirken, die verstandesmäßigen Hemmungen oft fehlen und daher die Gefahr der Verführung viel größer ist. Wie unendlich viele Jungen hat das Kino schon vor Gericht und ins Gefängnis gebracht, und jeder Tag fordert neue Opfer. Der Jugendrichter, der Seelsorger, der Verteidiger, der nach dem Grunde der Tat forscht, hört von den Angehörigen immer wieder: er konnte nicht anders, er mußte in alle Films rennen, und dort sieht und lernt er ja, wie er es zu machen hat!
(Dr. jur. Galleiske: Kino und Kriminalität. In: Der Reichsbote, 10.10. 1919. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 42ff.)
Doch alles Mahnen war umsonst! Selbst eine so vorbildliche Publikation wie Die Hochwacht. Monatsschrift zur Bekämpfung des Schmutzes und Schundes in Wort und Bild konnte der bestürzenden geistig-moralischen Verwahrlosung nicht Einhalt gebieten!


"Der Kino ist eben in erster Linie für moderne Menschen da." (Emilie Altenloh)

Nun aber Schluss mit dem Unsinn! Denn ich möchte gar nicht den Eindruck erwecken, als hätten Wissenschaftler und andere Bedenkenträger damals nur Blödsinn zum Thema Film verzapft. Ganz im Gegenteil: Ebenfalls vor 100 Jahren entstand Emilie Altenlohs Dissertation Zur Soziologie des Kino (Heidelberg 1913, gedruckt 1914 in Jena), die als weltweit erste ernsthafte wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet gilt. Die Befragungen unter Kinogängern, die die Basis des zweiten Teils der Dissertation bilden (der erste Teil beschäftigt sich mit den Grundlagen der Filmproduktion), führte die Autorin 1911/12 in Mannheim und Heidelberg durch. Altenlohs Datenbasis war etwas größer als die des wackeren Mediziners von oben: Sie verteilte mehr als 3000 Fragebögen. Die rund 100-seitige Schrift des "Kinematographen-Mädels" - wie sie ihr Doktorvater Alfred Weber (Bruder von Max Weber) in einem Brief an seine Geliebte Else Jaffé einmal nannte - mit dem Untertitel Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, die ihr ein "summa cum laude" einbrachte, wurde oft zitiert, war aber lange schwer aufzutreiben. Doch seit 2012 wird das Buch als Faksimile nachgedruckt2, ergänzt um ca. 120 Seiten an alten und neuen Texten, die über Entstehung und Rezeption des Werks und über die Autorin informieren. Emilie Kiep-Altenloh, wie sie später hieß, ließ den Film im Stich und ging in die Sozialpolitik. In der Weimarer Republik war sie Abgeordnete der linksliberalen DDP in Altona und im Reichstag, und sie war Mitbegründerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Im Nationalsozialismus hatte sie politisches Betätigungsverbot, und sie vertrieb sich die Zeit, indem sie auch noch Biologie und Zoologie studierte, und sie beschäftigte sich mit der Ausbildung von Blindenhunden. Nach dem Krieg war sie für die FDP Abgeordnete und Senatorin in Hamburg, danach für eine Legislaturperiode im Bundestag. Sie starb 1985 mit 96 Jahren.


1 Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 1993.

2 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Neu herausgegeben von Andrea Haller, Martin Loiperdinger und Heide Schlüpmann. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel, 2012.

Samstag, 31. August 2013

Psychologischer Krieg auf Guadalcanal: THE THIN RED LINE

THE THIN RED LINE (SIEBEN TAGE OHNE GNADE)
USA 1964
Regie: Andrew Marton
Darsteller: Keir Dullea (Private Doll), Jack Warden (Sergeant Welsh), Ray Daley (Captain Stone), James Philbrook (Colonel Tall), Bob Kanter (Private Fife)




DER ROMAN

„Lässig, viel lässiger als ihm zumute war, trat er zu einer der Leichen, um sie zu betrachten. Er überlegte, ob er mit dem Bajonett hineinstechen solle, um zu zeigen, daß auch er abgebrüht sei, glaubte aber, daß dies affektiert wirken könne.“ Viele wiederkehrende Themen und Motive aus James Jones Roman „The Thin Red Line“ sind in diesen zwei Sätzen enthalten: die Entmenschlichung im Krieg, der Verlust jeglichen moralisch-ethischen Kompasses, der allgegenwärtige soziale Druck in männlichen Kriegergemeinschaften.

Doch zunächst der Reihe nach: James Jones, Jahrgang 1921, erlebte als junger Soldat den Angriff auf Pearl Harbor und nahm wenig später an der Schlacht von Guadalcanal gegen die japanische Armee teil. Diese prägenden Erlebnisse verarbeitete er in einer literarischen Trilogie aus „From Here To Eternity“ (1951), „The Thin Red Line“ (1962) und „Whistle“ (1978). Der erste Roman wurde 1953 von Fred Zinnemann mit großem Staraufgebot verfilmt. Diese Adaption erhielt acht Academy Awards (bei 13 Nominierungen) und gilt heute als Filmklassiker der 1950er Jahre. „The Thin Red Line“ wurde ebenso zwei Jahre nach Erscheinen des Romans verfilmt, doch diese von Publikum und Kritikern weitestgehend ignorierte Leinwandadaption hinterließ im kollektiven Kino-Gedächtnis wenig Spuren – zu unrecht!

Der Roman „The Thin Red Line“ sorgte, genauso wie „From Here To Eternity“, mit seinem harten Naturalismus und seiner unapologetischen Charakterisierung des Krieges im Allgemeinen und der US-Armee im Speziellen für Furore. Er erzählt die Geschichte der Schlacht um Guadalcanal aus der Sicht einiger Dutzender Soldaten eines Regiments. Am Ende besteht das Regiment als Institution nach wie vor, doch in einer anderen personellen Zusammensetzung: Das Team vom Anfang der Schlacht ist zu großen Teilen entweder gefallen, oder als schwerverwundet abtransportiert worden, oder wegen tatsächlichem oder vermeintlichem Fehlverhalten versetzt worden. Ohne identifizierbare Hauptfigur und erst recht ohne Held folgt der Roman dieser Truppe durch die brutalen Schlachten, durch die zermürbenden Tagesmärsche, durch die Lazarette, und dabei auch durch das Alltags- und Seelen-Leben der Soldaten.

„The novel explores the idea that modern war is an extremely personal and lonely experience in which each soldier suffers the emotional horrors of war by himself.“ Diese Zusammenfassung beim englischen Wikipedia-Beitrag des Romans ist überaus zutreffend und als erste Erklärung sicherlich sehr einleuchtend. Die Soldaten in „The Thin Red Line“ werden stets von Gedanken, Wünschen, Ängsten und Gelüsten geplagt, die sie nie einem anderen Menschen mitteilen würden. Folglich prägen innere Monologe und auktoriale Gedanken-Beschreibungen einen großen Teil des Romans. Das einführende Zitat, in dem ein Soldat abwägt, inwiefern die Schändung einer Leiche seinem Status innerhalb der Mannschaft zu Gute kommt, ist typisch für den Grundton der Erzählung: Handlungen werden durch eine repressive soziale Konditionierung bestimmt, und nicht (mehr) durch eine moralisch-ethische Orientierung geprägt; Kameraderie und Solidarität sind negativ definiert, als (zeitweilige) Abwesenheit von Missgunst, Demütigungen, geäußertem Neid und latenter Gewalt zwischen den Soldaten, die den Normalzustand bilden; die völlige Dehumanisierung gegenüber dem Feind ist die Normalität, und nicht die Ausnahme.

Vor allem ist „The Thin Red Line“ auch ein Roman über die Herausforderung traditioneller Männlichkeitsvorstellungen. Fast noch mehr als vor japanischen Soldaten und deren Kugeln und Granaten fürchten sich die Soldaten davor, ihre Männlichkeit zu verlieren (oder das, was sie sich darunter vorstellen). Sie haben Angst, als Weicheier vor ihren Kameraden da zu stehen. Mutproben werden zu existentiellen Entscheidungen. Wer eine Grenzüberschreitung anfängt, wird sie bis zum bitteren Ende führen, etwa bei summarischen Hinrichtungen an japanischen Kriegsgefangenen oder später bei der Schändung ihrer Leichen. Bewusste oder unwillkürliche homosexuelle Neigungen werden mit aller Gewalt unterdrückt und verschwiegen. Der extreme Gruppendruck wirkt auf die Dauer genauso zermürbend wie die (nicht geäußerte) Angst vor den Gefechten. Einen Aufstand gegen diesen sozialen Zwang proben einige Soldaten, und scheitern letztendlich. Für den aufgestauten Druck bieten lediglich tagelange kollektive Besäufnisse und Massenprügeleien an den Ruhetagen ein Ventil. In der Tat: Krieg ist in „The Thin Red Line“ eine höchst individuelle und entfremdende Erfahrung.


DER FILM

Andrew Martons Verfilmung von James‘ Roman variiert einige Handlungsstränge, fokussiert sich auf wenige Hauptfiguren, hat aber zumindest ansatzweise versucht, atmosphärisch einige der eben genannten Motive des Romans filmisch umzusetzen. Im emotionalen Zentrum von THE THIN RED LINE steht der Soldat Doll – im Roman nur eine von vielen Dutzenden von Figuren, deren Eigenschaften teilweise auf ihn gebündelt übertragen werden. Doll hat nicht nur gegen japanische Soldaten und gegen den zunehmenden Verfall seiner psychischen Verfassung zu kämpfen, sondern auch gegen die permanenten Schikanen seines unmittelbaren Befehlsgebers, des Sergeant Welsh. Was sich als eine Art Reise in den Wahnsinn entwickelt ist episodisch gestaltet, allerdings im Gegensatz zum Roman relativ klar in sechs Abschnitte unterteilbar.

1 Prolog auf dem Schiff
Oben: Stone (links), Tall (rechts)
Unten: Welsh und Doll
Zu Beginn warten die Soldaten noch auf einem Schiff vor der Küste Guadalcanals auf den Beginn ihres Einsatzes. In dieser klaustrophobischen Atmosphäre werden die wichtigsten Charaktere eingeführt. So der Hauptmann Stone, der dem Oberst Tall bei der Frage, wie wahrscheinlich ein Luftangriff auf das Schiff ist, mittels einfacher mathematischer Berechnungen direkt widerspricht und dafür als Klugscheißer abgekanzelt wird. Kurz darauf rügt und demütigt Sergeant Welsh den Soldaten Doll vor versammelter Mannschaft, weil dieser entgegen den Anweisungen den Dienstplan der Einheit angeblich nicht fertig gemacht habe (eine falsche Beschuldigung, wie wir erfahren). Sergeant Welsh wird wiederum für diese Aktion von Hauptmann Stone zurechtgewiesen: nach dem Sinn dieser ungerechtfertigten Rüge befragt, antwortet Welsh damit, dass alles eh keinen Sinn habe, und dass die Soldaten den Irrsinn des Schlachtfelds auch schon auf dem Schiff proben könnten.
Derweilen bekommt der Soldat Doll die fixe Idee, sich eine Pistole (die Offizieren vorbehalten ist) zu besorgen, was er seinem Kameraden Fife mitteilt. Das ganze wird zu einer persönlichen Mutprobe aufgebauscht: Doll spaziert durch das Schiff auf der Suche nach einer herrenlosen Pistole und wird schnell fündig. Sein Diebesgut präsentiert er schwadronierend einigen Kameraden, bis Welsh ihn damit erwischt. Der Sergeant lässt Doll zwar die Pistole, warnt ihn aber in drohendem Ton damit, dass er ihn gut beobachten wird, nur um zu sehen, wie weit er es in der Schlacht schaffen wird.

2 Doll tötet einen Japaner
Nach der Landung und einem Gewaltmarsch durch dichten Regenwald und strömenden Regen wird das erste Nachtlager eingerichtet. Während Oberst Tall den Hauptmann Stone rügt, weil dieser gerne ökonomisch mit dem Leben seiner Soldaten umgehen möchte, gehen einige von diesen, darunter Doll, auf private Kundschaft durch den Wald. Doll entfernt sich etwas von der Gruppe und wird von einem japanischen Soldaten angegriffen. Mit seiner gestohlenen Pistole versucht er ihn zu töten, was misslingt. Voller Schrecken stürzt sich Doll auf den Japaner und zertrümmert ihm im Gewaltrausch mit bloßen Händen den Schädel auf dem Boden – ein Wendepunkt und eine Schlüsselszene des Films. Vor den erstaunten Augen Welshs und seiner Kameraden torkelt Doll völlig benommen und wie „abwesend“ weg.

Als Welsh später den aufgebrachten Soldaten zu beruhigen versucht, sind seine Worte nicht besonders aufmunternd: „All right. So now you know there aren‘t any heroes. Just guys who get so scared they get crazy and kill. I was watching you. You killed that Jap ten times. Now you‘re a little mixed up. You‘re afraid you like killing and you hate yourself for it. Well forget it. All it means is you‘re becoming a soldier. Look kid, that jap was just a hunk of meat. Just a hunk of meat, now you remember that?“ Später versucht auch Fife Doll etwas zu beruhigen: „There‘s no sense blaming yourself. That jap‘s number was up. If you didn‘t get him, somebody else would have. That‘s the way it is with all of us, I guess. When your number is up, it is up.“
Die letzte Bemerkung löst bei Doll einen Traum aus: in einem Schlafzimmer bereitet er sich auf eine Liebesnacht mit seiner Ehefrau vor. Doch zwei Mal wird diese Szenerie durch einen Telefonanruf gestört: in der Leitung fragt eine Stimme mit orientalischem Akzent Doll nach seiner Nummer und ruft dessen Soldatenmatrikel auf. Entsetzt legt Doll auf. Schließlich klappt es auch mit der Liebesnacht. Doch über die beiden Liebhaber im Bett taucht in Doppelbelichtung ein (ver)störendes Bild auf: wie Doll den Japaner ermordet und dabei aus vollem Halse schreit. Der Schrei geht in den Ton des Bombenalarms über, und Doll wacht auf.
Als die Bombardierung beginnt, springt Doll in einen Schützengraben, in dem bereits Fife liegt. Ein Kampf um den Platz beginnt zwischen den beiden, bis schließlich Fife Doll dazu auffordert, mit ihm im Graben zu liegen, da eigentlich Platz genug für beide sei. Während um sie herum Bomben explodieren, setzt sich Doll aufrecht an den Rand des Grabens: weil er sich selbst beweisen möchte, dass er mutig genug ist, während einer Bombardierung nicht in Deckung zu gehen; weil er den Befehl Welshs, in Deckung zu gehen, aus Trotz missachten möchte; vielleicht auch, weil er Angst vor einer körperlichen Nähe zu Fife hat (was später deutlicher wird).

3 Der Sumpf
Nach der nächtlichen Bombardierung zieht die Truppe in die erste Schlacht: ein Sumpf muss durchquert werden, was der nunmehr stark dezimierten Vorgängertruppe nicht gelungen ist. Das Gelände wird von zwei japanischen MG-Stellungen verteidigt. Unter deren Feuer und unter den Schüssen japanischer Soldaten, die sich auf Bäumen versteckt haben, fallen die ersten Soldaten der Truppe. Als Hauptmann Stone jeweils Welsh und Doll damit beauftragt, sich mit je zwei Mann über Umwege von hinten an die MG-Stellungen heranzupirschen und anzugreifen, agiert Doll eigensinnig, und attackiert von vorne – erfolgreich. Später, bei einer Pause, rügt Welsh Doll für seine Eigensinnigkeit, und prophezeit, dass ihm das Glück bald ausgehen wird.

4 Die „Bowling-Bahn“
Die nächste Station des Regiments ist die Durchquerung der „Bowling-Bahn“, einer verminten, mit Stacheldraht zugesperrten und stark bewachten Gebirgsschlucht, die zu einem strategisch wichtigen Dorf führt. Als zwei Männer versuchen, die Stacheldrahtvorrichtung zu sabotieren, explodieren einige Minen: einer der Soldaten stirbt sofort. Der andere, der eine schwere Bauchverletzung davonträgt, beginnt vor Schmerz wie wahnsinnig zu kreischen. Welsh ergreift die Initiative, schnappt sich ein Morphin-Päckchen des Sanitäters und rennt im Kugelhagel zum Verwundeten, um ihm die Schmerzmittel zu verabreichen. Unter ebenso intensivem Kugelhagel kehrt Welsh zur Truppe zurück.

Von Welshs Tat beeindruckt reicht Doll ihm seine Feldflasche. „Well, you never know!“, antwortet der Soldat auf die Frage des Sergeants, ob er ihn möglicherweise doch für einen ganz anständigen Kerl hält. Der kurze kameradschaftliche Moment wird zerstört, als Welsh nach einem großen Schluck den Inhalts von Dolls Flasche mit einem grimmigen Lächeln auf den Boden ausschüttet. Doll solle sich ja keine Illusionen machen, meint Welsh, und wirft ihm die leere Feldflasche verächtlich hin.
Das Regiment kann die „Bowling-Bahn“ nicht durchqueren. Ungeachtet der schwierigen Situation fordert Oberst Tall über das Feldtelefon Hauptmann Stone ultimativ dazu auf, genau dies rasch zu tun und das Dorf hinter der Gebirgskette bis zum Abend zu erobern. Stone verweigert den Befehl, da er es für suizidal hält, seine Truppe durch ein schwer bewaffnetes, nicht geräumtes Minenfeld zu treiben.
Nach diesem unbequemen Feldtelefonat ziehen sich die japanischen Schützen zurück und Welsh schlägt vor, sich am Rande der „Bowling-Bahn“ mit einem Seil entlang zu hangeln, um das Minenfeld zu vermeiden. Er würde als erster gehen und schlägt Doll als Gehilfen vor. Doll ist alles andere als begeistert und Welsh macht ihn sarkastisch darauf aufmerksam, dass er ja jemand anders nehmen könnte. Eine weitere Runde im psychologischen Kleinkrieg zwischen den beiden Kontrahenten wird eröffnet: Welsh und Doll erklettern sich am Rande der „Bowling-Bahn“ einen Weg, hauptsächlich, um sich gegenseitig zu beweisen, wie todesmutig sie sind.
Als Doll aus Versehen einen ganzen Felsblock zum Einstürzen bringt, löst er eine Kettenexplosion im unter ihnen liegenden Minenfeld aus und „räumt“ ihn dadurch unbeabsichtigt aus. Stone steht nun vor Oberst Tall, der gerade zu diesem Zeitpunkt die Front besucht, wie ein Idiot da und kassiert eine weitere Rüge.

5 Das Dorf
Nun steht die Einnahme des Dorfes Bulabula auf dem Plan. Diese verläuft erstaunlich einfach und rasch. Trotzdem wird Stone von Oberst Tall zur Besprechung abgerufen und abgesetzt. Die Begründung: er sei nicht hart genug gegenüber seinen Leuten und auch nicht bereit, deren Leben zu opfern. Stones und Talls Vorstellungen, wie ein Offizier sich zu verhalten habe, prallen unversöhnlich aufeinander, doch Stone zieht aufgrund seines Ranges den kürzeren und muss gehen.
Am Abend veranstalten die Soldaten im Dorf eine große Party. Alkohol fließt in Strömen. Die Habseligkeiten der getöteten japanischen Soldaten werden geplündert, und zum Vorschein kommen unter anderem Frauen-Kleider. Welsh schlägt Doll vor, diese anzuziehen und allen eine kleine Show vorzuführen. Doll lehnt ab, aber Soldat Fife meldet sich freiwillig und mit Begeisterung dafür. Beim Gesang und Gelächter der anderen zieht Fife Nylon-Strümpfe und Kimono an, schminkt sich, lässt sich von Welsh mit zwei Schalen an der Brust ausstatten und beginnt zu tanzen. Doll wendet sich vom Spektakel scheinbar angewidert ab und betrinkt sich alleine in der Ecke. Währenddessen lauern, ohne Kenntnis der Amerikaner, verschanzte Japaner im Dorf.
Auf dem Höhepunkt von Fifes Show beginnen diese, die feiernden und daher unbewaffneten US-Soldaten niederzuschießen. Es sind Welsh und Doll, die am schnellsten Sinne und Orientierung wieder finden und den Angriff abwehren, bis auch die anderen wieder verteidigungsfähig sind. Die Schlacht endet schließlich, als die letzten überlebenden Japaner, die sich in einem Tarnnetz verfangen haben, von Doll mit einer Maschinenpistole hingerichtet werden. Kurz danach sucht Doll unter den zahllosen im Dorf verstreuten Leichen nach Fife, der als einer der ersten beim Angriff getötet worden ist. Fife trägt immer noch Dolls Uhr, der ihm diese kurz vor der Aktion bei der „Bowling-Bahn“ anvertraut hatte. Der Überlebende hat nun Hemmungen, die Uhr von dem Toten wieder an sich zu nehmen, auch, wenn ihn Welsh dazu ermuntert. Als der Sergeant die Uhr für sich mitnehmen will, wird er von Doll angegriffen. Dies nimmt Welsh als gute Gelegenheit wahr, um Doll zu verprügeln. Die beiden werden erst getrennt, als Welsh beginnt, Doll zu erwürgen.

6 Der „tanzende Elefant“
In der letzten Episode erfolgt die Eroberung des „tanzenden Elefanten“, eines Gebirgszugs, in dessen Gängesystem sich japanische Soldaten verschanzen. Die Truppe kommt nur mühsam und mit vielen Verlusten voran. Doll hingegen prescht vor, wieder in Missachtung jeglicher Befehle und jeglicher persönlichen Gefahr. Er dringt in das Bergstollen-System ein und beginnt im Alleingang, die dortigen MG-Stellungen anzugreifen. Nach und nach wird Doll von japanischen Soldaten auch in Nahkämpfe verwickelt, und muss aus immer kürzeren Distanzen kämpfen. Einen unbewaffneten Japaner, der ihn schließlich mit bloßen Händen zu erwürgen versucht, tötet Doll mit seiner Pistole. In diesem Moment gerät er erneut in eine Art Rausch-Zustand. Wie blind und wahnsinnig beginnt er, auf alles zu schießen, was sich bewegt. Seine Kameraden haben inzwischen auch den Weg in das Gängesystem gefunden, und so kommt es, dass Doll letztendlich vor allem sie unter Beschuss nimmt.
Als er wieder zu sich findet, greift ihn ein Japaner von hinten an, und impulsiv drängt sich Welsh vor und fängt die Kugeln, die für Doll bestimmt waren. Warum er, ausgerechnet er das getan habe: „Because I‘m stupid!“, antwortet Welsh, reisst sich seine Matrikel-Plakette ab, überreicht sie Doll und stirbt kurz nach den Worten „What‘s the matter, kid? It‘s only meat.“ Wie ein „Haufen Fleisch“ wird Welshs Leichnam von Doll und einem anderen Soldaten zum weiteren Abtransport weggeschleift.


GEWALT, SEXUALITÄT UND STIL

Dass THE THIN RED LINE 1964 offenbar ziemlich unterging, und im Grunde bis heute nicht wirklich wieder „aufgetaucht“ ist, hängt wohl vor allem damit zusammen, dass es sich um einen eher günstig produzierten Film ohne großes Staraufgebot handelte. Keir Dullea ist erst durch seine Rolle als David Bowman in Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY international (mäßig) berühmt geworden. Jack Warden, der interessanterweise schon in der Jones-Verfilmung FROM HERE TO ETERNITY eine Rolle hatte, war zwar stets ein sehr markanter Darsteller (etwa als Geschworener Nr. 7 in Sidney Lumets 12 ANGRY MEN), spielte aber im Kino vor allem Nebenrollen und war in den 1950er Jahren eher Theater- und TV-Schauspieler. Regisseur Andrew Marton war stets eher ein Mann der zweiten Reihe, sogar im ganz wörtlichen Sinne, aber dazu später noch mehr. Nichtsdestotrotz war und ist THE THIN RED LINE im Verhältnis zu seiner Entstehungszeit ziemlich außergewöhnlich. In seiner rohen und unbändigen emotionalen Wucht, seiner desillusionierten Darstellung der US-Armee und dem sehr hohen Gewaltniveau, erinnert THE THIN RED LINE eher an Narrative und Ästhetik von Antikriegsfilmen aus den späten 1960er, den 1970er und 1980er Jahren. Der relative Misserfolg des Films liegt vielleicht daran, dass er seiner Zeit voraus war, und das Publikum zu dieser Zeit noch nicht an solche drastischen Bilder gewöhnt war.

THE THIN RED LINE ist auch heute ein verblüffend und schockierend brutaler Film. Zwar gibt es in den zahlreich vorhandenen Kriegs-Massenszenen viele Momente, in denen Soldaten tatsächlich einfach „nur“ fallen. Hervorstechender sind jedoch die Momente, in denen sehr bewusst körperliche Gewalt und ihre Konsequenzen thematisiert werden – für die Opfer selbst, für die Täter, für die „einfachen“ Augenzeugen. Die initiierende Gewalttat im Film für Figuren und Zuschauer gleichermaßen ist die bestialische Ermordung des japanischen Soldaten durch Doll, der für mehrere Sekunden regelrecht zum wilden Tier wird – nach meinem persönlichen Empfinden eine der bizarrsten, schockierendsten und einprägsamsten Gewaltszenen, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Hier steht (sicher auch aus rein szenischen Gründen) der Täter im Mittelpunkt, und wie dieser extrem körperliche Gewaltakt auf ihn einwirkt. Wie sie ihn zum Tier werden lässt, dann zu einer apathischen Hülle, und dann wieder zum schmerzgeplagten Menschen, der sein Handeln in Sexträumen verarbeitet – die verstörende Verknüpfung von Gewalt und sexueller Erregung ist auch in Jones‘ Roman ein wiederkehrendes Motiv. Später, wenn er eine Gruppe wehrloser japanischer Soldaten hinrichtet oder im Bergstollen wahllos um sich und auch auf seine Kameraden schießt, wird Doll in seinem Gewaltrausch geradezu blind und taub, und kehrt erst zur Besinnung zurück, wenn das Magazin seiner Maschinenpistole leer ist. Eine Lösung bzw. Erlösung für diesen Zustand gibt es nicht. Nichts dergleichen bietet der Film an: Doll wird weiterhin kämpfen und weiterhin in (sexuell aufgeladenen?) Gewalttaten morden.

Auch die Auswirkung von Gewalt auf nicht unmittelbar beteiligte Augenzeugen zeigt der Film in markanten Bildern. Ein Regimentsaustausch an der Front – kurz vor der Durchquerung des Sumpfes – wird zu einem wenig glorreichen Rückzug verletzter, blutender und verstümmelter Soldaten. Die Soldaten des Regiments, die deren Stelle einnehmen, blicken wahlweise entsetzt, furchtvoll oder besorgt rein und selbst abgebrühte Soldaten wie Welsh wissen um die ernüchternden Auswirkungen dieses Anblicks bescheid. Noch weitaus dramatischer ist die Episode bei der Eroberung der Bowling-Bahn, als ein Soldat von einer Mine am Bauch verletzt wird: die hysterischen, hohen Schmerzensschreie machen die Szene für die anderen Soldaten (und für den Zuschauer) zu einem nervenzerrenden Erlebnis. Es ist die wohl erschreckendste Darstellung von Schmerz in THE THIN RED LINE: der Schmerz wird auch auf die Augenzeugen übertragen. Die Gewalt kann nicht rückgängig gemacht werden, aber die Äußerung von Schmerz soll unterbunden werden. Wenn Welsh also unter tödlichem Kugelhagel losstürmt, um dem Soldaten Morphin zu verabreichen, tut er das vor allem für sich selbst und die anderen (noch) unversehrten Soldaten – (die Kategorie der „Schmerz-Darstellung“ kennt man nicht nur von Fritz Lang: inspiriert hat mich vor allem Oliver Nöding von „Remember It For Later“, der große, integrale Schmerz-Darstellungen als wiederkehrendes Motiv bei Robert Aldrich ausmacht).

Gewalt taucht in THE THIN RED LINE auch in struktureller, psychischer und latenter Form auf. Denn mehr als die eigentlichen Kriegshandlungen steht der Konflikt zwischen Doll und Welsh im Mittelpunkt des Films, der sich immer mehr zum psychologischen Kleinkrieg ausweitet – ja: dieser überlagert die militärischen Handlungen sogar stellenweise. Die völlige Entsolidarisierung, die die Beziehung zwischen den beiden prägt, durchzieht (auf wesentlich mehr Figuren ausgeweitet) auch den ganzen Roman. Missgunst und Verachtung sind auch im Film der Normalzustand, ihre kurzfristige Abwesenheit eher eine Ausnahme.

Die etwa dreiminütige Travestie-Sequenz gehört zu den wohl erstaunlichsten Momenten im ganzen Film. Es ist eine Szene des hemmungsfreien Feierns, des Fallenlassens, des Loslassens. THE THIN RED LINE weicht hier ein wenig vom Buch ab, wo kollektives Feiern immer in (selbst)zerstörerische Massenbesäufnisse mit Schlägereien mündet, wo aber die nach außen getragenen Ideale von „traditioneller“ Männlichkeit nie aufgegeben werden. Im Film geben sich hingegen die Soldaten dem Spaß des Transvestismus mit Freude hin – im US-Kino der Zeit (zumal in einem solchen „Macho-Genre“) trotz Filme wie GLEN OR GLENDA, SOME LIKE IT HOT und PSYCHO sicherlich eher ungewöhnliche Bilder, die in Europa schon 25 Jahre vorher etwa in LA GRANDE ILLUSION zu sehen waren.

Latent homoerotische Stimmung kommt in dieser Sequenz auf, besonders, wenn Fife beginnt, mit den ihn umgebenden Soldaten tanzend zu flirten. Dies wird umso mehr durch Dolls abwehrende Haltung deutlich, und zwar besonders, wenn man Jones‘ Buch kennt. Im Roman beginnt Doll an einer Stelle, sich sexuell für einen Soldaten zu interessieren, mit dem er während eines Bombenangriffs einen Schützengraben geteilt hat. Diesen Impuls wird Doll fortan mit aller Kraft zu unterdrücken versuchen. Als sich während einer Gefechtspause eine Gelegenheit zwischen ihm und besagtem Soldaten anbahnt, zieht sich Doll mit großer verbaler Aggressivität zurück.

Dieser Subplot im Roman scheint an dieser Stelle des Films zumindest andeutungsweise oder verschlüsselt aufgegriffen worden zu sein (der Production Code, gleichwohl stark geschwächt, ist damals noch in Kraft): Doll zieht sich demonstrativ angewidert zurück, als Fife sich als Frau zu verkleiden beginnt. Dennoch guckt er sich das Spektakel von der Ferne an, kann den Blick nicht abwenden, und will doch den Impuls, zu schauen, mit noch mehr Alkohol unterdrücken. Erst mit dem Tod Fifes bekennt er seine Zuneigung zu ihm, als er ihn nach der kurzen, aber heftigen Schlacht im Dorf verzweifelt und drängend sucht.

Sehr bemerkenswert bei THE THIN RED LINE ist auch die Tatsache, dass der Film sehr konsequent auf jegliche konkrete historische Kontextualisierung verzichtet. Die Grundlagen (Guadalcanal-Schlacht im Zweiten Weltkrieg) werden als bekannt vorausgesetzt: es gibt weder zu Beginn, noch zwischendurch und vor allem auch am Schluss keine erklärenden Texttafeln. Narrativ heißt das letztlich, dass der Krieg weder einen konkreten Beginn hat, noch einen genauen Schluss, und vor allen Dingen nicht deterministisch siegreich endet: das Bergstollensystem des „tanzenden Elefanten“ ist erobert worden, aber mit schweren Verlusten, und von da an geht es einfach weiter. Es gibt keinen erleichternden retrospektiven Blick (hier übertrifft der Film den Roman auch an Radikalität).

Dieser Verzicht auf Kontextualisierung ist aber nicht nur eine narrative Entscheidung, sondern steht durchaus im Einklang mit der allgemein sehr ökonomischen Inszenierung des Films. THE THIN RED LINE verzichtet weitestgehend auf lange erklärende Übergänge oder ausgedehnte Szenen-Expositionen und weist in seinen schnörkellosen 95 Minuten ein sehr hohes Erzähltempo auf. Der Kameramann, der Spanier Manuel Berenguer, hat in wundervollem Schwarzweiss viele einprägsame Bilder geschaffen, die die Grenze zwischen „realistisch“ und „expressionistich“ oft verschwimmen lassen. Gedreht wurde der Film in dessen Heimatland, in der Nähe von Madrid. Daher werden die Bilder von THE THIN RED LINE vor allen Dingen von bergigen, Wüsten-ähnlichen Landschaften geprägt, wie man sie auch aus zeitgenössischen italienischen Westerns kennt – und nicht von tropischer Landschaft, wie es das historische Setting eigentlich verlangen würde. In Verbindung mit der fehlenden historischen Kontextualisierung verleiht das dem Film eine fast abstrakte Note, die ihn geradezu irritierend „zeit- und ortlos“ wirken lassen. Teile der Sequenz im Sumpf, aber auch das Innere des „tanzenden Elefanten“, sind möglicherweise im Studio gedreht worden. Gerade letzteres mit seinen feuergetränkten Gängen wirkt wie eine symbolisch-stilisierte Hölle, als wäre der verstörte, lodernde Geisteszustand des Protagonisten zur Kulisse externalisiert worden.


DER REGISSEUR

Der Regisseur Andrew Marton hatte eine verhältnismäßig bewegte und wenig geradlinige Karriere, so dass sich ein näherer Blick auf seine Vita durchaus lohnt. Er wurde 1904 als Márton Endre in Budapest geboren und begann seine Karriere in der Filmindustrie noch in der Stummfilmära, und zwar als Cutter in Wien und Berlin. Während eines kurzen Aufenthalts in den USA arbeitete er unter anderem für Ernst Lubitsch. Dort drehte er 1929 auch seinen ersten Film als Regisseur. Anfang der 1930er Jahre kehrte er nach Europa zurück, drehte eigene Filme und arbeitete als Cutter bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Er floh nach Ungarn, wo er 1935 lediglich einen Film drehte. Unter dem Druck des auch dort zunehmenden Antisemitismus zog er schließlich nach Großbritannien weiter, wo er Musicals, Komödien, Romanzen und Abenteuerfilme inszenierte.

Nach seiner definitiven Übersiedlung in die USA drehte Marton vor allen Dingen Kriegs- und Abenteuerfilme, wobei er nicht gerade als Regisseur „erster Wahl“ galt. KING SOLOMON‘S MINES etwa übernahm er 1950, nachdem der eigentliche Regisseur (Compton Bennett) von MGM auf Wunsch des Hauptdarstellers Stewart Granger gefeuert worden war. Mindestens genau so viel Zeit verbrachte Marton damit, als Second Unit Director für andere Filmemacher zu arbeiten. Kurz: Marton wurde nie ein besonders berühmter Regisseur und in Hollywood nahm man ihn vor allen Dingen als fähigen Regieassistenten wahr.

Martons in der Öffentlichkeit am breitesten rezipierte Werk dürfte die berühmte Wagenrennen-Episode in BEN HUR sein. Zusammen mit dem Stunt-Spezialisten Yakima Canutt hat er als Second Unit Director die wohl berühmteste Actionszene der 1950er Jahre inszeniert, und zwar weitestgehend unabhängig von Regisseur William Wyler (der viele lobende Worte für die beiden übrig hatte). Marton und Canutt, die selber wiederum einen gewissen Sergio Leone in ihrem Assistenz-Team beschäftigten, erhielten für die Szene einen Special Achievement Award bei den Golden Globes.

Marton assistierte auch viele andere berühmte Regisseure als Second Unit Director, etwa Frank Capra (LOST HORIZON), George Cukor (TWO-FACED WOMAN), John Huston (THE RED BADGE OF COURAGE), den ebenfalls Budapest-gebürtigen Charles Vidor (A FAREWELL TO ARMS), Joseph Mankiewicz (CLEOPATRA), Anthony Mann (THE FALL OF THE ROMAN EMPIRE), Robert Siodmak (KAMPF UM ROM), FROM HERE TO ETERNITY-Regisseur Fred Zinnemann (THE SEVENTH CROSS, THE DAY OF THE JACKAL) und Mike Nichols (CATCH-22). Seine Mitarbeit an Nicholas Rays 55 DAYS AT PEKING begann Marton ebenfalls als Second Unit Director, und er drehte den Film zusammen mit Guy Green zu Ende, als Ray während des Drehs einen schweren Herzinfarkt erlitt.

Für THE LONGEST DAY, ein Film, der vor allem durch sein beeindruckendes internationales Staraufgebot Berühmtheit erlangt hat, drehte Marton die US-amerikanischen Außenszenen, als einer von insgesamt fünf Regisseuren (zwei davon ohne Credits). Ab den späten 1950er Jahren war Marton auch beim Fernsehen als Regisseur tätig und drehte Episoden unter anderem für die Taucher-Abenteuer-Serie SEA HUNT, für das sensationalistische Proto-„Galileo“ THE MAN AND THE CHALLENGE, für das familienfreundliche FLIPPER, für die Tier-Safari-Abenteuer-Serie DAKTARI und für das ebenfalls afrikazentrierte COWBOY IN AFRICA (die aus Martons Pilotfilm AFRICA: TEXAS STYLE von 1967 heraus entstand). Gemäß imdb hat Marton 1977 seine Karriere beim Film beendet. 1992 ist er 87-jährig in Santa Monica verstorben.

Vom europäischen Stummfilm-Cutter zum TV-Regisseur für US-Serien wie FLIPPER, und dazwischen die Inszenierung einer der legendärsten Action-Szenen der Kino-Geschichte: eine geradezu schillernde Karriere hat Andrew Marton absolviert. Den größten Teil davon hat er in der zweiten Reihe verbracht, als Verantwortlicher für Nebendrehs, als Assistent, der eingreift, wenn was schief läuft. Vermutlich wird er nie die Berühmtheit der Filmemacher erlangen, die er assistiert hat. Für eine breite Neubewertung von THE THIN RED LINE stehen die Zeichen sogar noch schlechter: der Status eines gewissen Regisseurs, der sich von einem der originellsten New Hollywood-Cineasten zu einem christlich-esoterischen New-Age-Kitsch-Produzenten entwickelt hat, wird dies wohl auch noch in Zukunft leider verhindern.

Ein kurzer Vergleich mit Andrew Martons knapp ein Jahr später veröffentlichtem Nachfolgefilm, CRACK IN THE WORLD, dürfte zumindest ein Hinweis dafür sein, dass THE THIN RED LINE wahrscheinlich kein  „Zufallstreffer“ eines Akkordarbeiters war. Vom Drehbuch her ist der Film eigentlich vollkommen anders (ein Wissenschaftler lässt zwecks Energiegewinnung Bohrungen bis zum flüssigen Kern der Erde durchführen, und dies führt zu einem Riss in der Erdkruste, der in die Apokalypse münden könnte). Doch die ökonomische, stellenweise fast bis zur Abstraktion reduzierte Inszenierung mit ihrem hohen Erzähltempo ist durchaus mit der Machart von THE THIN RED LINE vergleichbar. Die Action- und Spannungssequenzen sind mit einer genauso meisterlicher Hand gedreht. Wie THE THIN RED LINE hat auch CRACK IN THE WORLD einen überaus präzisen Blick für die psychologischen und zwischenmenschlichen Auswirkungen von Extremsituationen, die in ihrem Detailreichtum oft die eigentliche Handlung überlagern. Ein Blick auf Martons andere „triviale“ Filme könnte also durchaus lohnenswert sein.


THE THIN RED LINE wurde im Herbst 2012 in Deutschland unter dem Titel "Sieben Tage ohne Gnade" auf DVD veröffentlicht. James Jones‘ Roman ist in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Der tanzende Elefant“ und „Insel der Verdammten“ erhältlich.

Montag, 26. August 2013

GLI ULTIMI - Spät-Neorealismus und Vogelscheuchen aus Friaul

GLI ULTIMI (DIE LETZTEN)
Italien 1962
Regie: Vito Pandolfi
Darsteller: Adelfo Galli (Checo), Lino Turoldo (Zuan), Margherita Tonino (Anute), Laura De Cecco (Josette), Vera Pescarolo (Lehrerin)


Ein Off-Sprecher stimmt auf Thema und Schauplatz ein: "In den 30er Jahren begann die Landflucht auch in Friaul. Diese scheinbar zufälligen Ereignisse erzählen die Geschichte eines Jungen, der fühlte, wie die Tragödie von vielen auch sein Heim bedrohte. War es richtig zu bleiben, oder besser zu gehen?" Friaul im Nordosten Italiens war damals, abgesehen von der Provinzhauptstadt Udine, eine agrarisch geprägte Gegend, doch der Landbevölkerung ging es schlecht. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch in dieser randständigen Region Italiens zugeschlagen, und die mühsam beackerten Böden gaben oft nicht viel her. So kam es zur angesprochenen Landflucht: Einzelne Familienmitglieder oder ganze Familien verließen die Dörfer zeitweise oder dauerhaft, um sich anderswo Arbeit zu suchen. Um das mit Zahlen zu veranschaulichen: Die Gemeinde Sedegliano, zu der das Dorf Coderno di Sedegliano, der Hauptschauplatz des Films, gehört, rund 20 km von Udine entfernt, hatte 1931 5775 und 1936 5350 Einwohner.

Eine Vogelscheuche wird aufgestellt
Der Held des Films ist der zehnjährige Checo. Auch seine Familie ist von der Armut betroffen. Seine ältere Schwester Nerina arbeitet bereits als Dienstmädchen im fernen Novara in Piemont, sein Bruder Roberto, der älteste der Geschwister, hat sich sogar in einem Kohlebergwerk in Belgien verdingt, obwohl er noch keine 18 ist. So leben nur noch Checo und seine kleine Schwester Liana bei ihrem Vater Zuan und ihrer Mutter Anute. Die Landwirtschaft, die sie betreiben, besteht aus einer Kuh, drei Schafen, und etwas mühsamem Ackerbau. Weil das nicht ausreicht, muss Zuan gelegentlich auch als Tagelöhner arbeiten, z.B. beim Bau eines Bewässerungskanals mit Hacke und Schaufel. Checo hat es doppelt schwer: Unter den Kindern im Dorf ist er ein Außenseiter. Er ist kleiner und schmächtiger als seine Klassenkameraden, und dabei der Klassenbeste - eine ungünstige Kombination. So wird er ständig gehänselt, als Schandfleck und Vogelscheuche bezeichnet, und auch körperlich malträtiert. Da er oft die drei Schafe hüten muss, ist er regelmäßig mit sich und den Schafen allein auf freiem Feld, wo eine echte Vogelscheuche zu einem Anlaufpunkt und einer Art von Freund für ihn wird, und er gibt sich dann seinen Tagträumereien hin. Seine einzige echte Freundin wird das kleine belgische Mädchen Josette. Ihr Vater, ein Bergmann, war an Tuberkulose gestorben, und einer seiner Kollegen, ein alter Freund von Zuan, hat sie adoptiert und in seine Heimat Friaul mitgenommen, wohin er wegen seiner Staublunge zurückkehrte.

Anute und Zuan
Wie der Satz von den "scheinbar zufälligen Ereignissen" schon andeutet, besteht GLI ULTIMI aus etlichen nur lose miteinander verbundenen Episoden. Der Tod eines noch relativ jungen Mannes, in dessen Haus Zuan mit anderen Dorfbewohnern Totenwache hält, versetzt Checo, der wohl zuvor noch nicht mit dem Tod konfrontiert wurde, in Schrecken. - Zwischen den Episoden gibt es immer wieder Szenen, die im Haus, vor allem in der Wohnstube, spielen, und die sowohl die Armut veranschaulichen als auch die Familie charakterisieren. Die Einrichtung ist karg, fast spartanisch, und zu essen gibt es meist nur Polenta mit irgendeinem Salat. Aber trotz zweier abwesender Kinder - die regelmäßig schreiben - ist die Familie intakt. Zuan liebt seine Kinder, und er zeigt es auch, auch wenn er gelegentlich streng zu Checo ist. Bezeichnend ist eine Szene beim Abendessen: Zuan gibt Checo und Liana je ein Stück Polenta, und sagt "das ist die Polenta". Dann gibt er ihnen noch ein Stück Polenta, und sagt "das ist der Käse". Die beiden nehmen es mit Humor, aber eigentlich schämt sich Zuan etwas, und er verspricht, dass es bald richtigen Käse gibt. Zuan ist auch kein Patriarch. Wenn Anute anderer Meinung ist als er, hört er auf sie, und wenn er böse auf Checo ist oder zuviel von ihm verlangt, gelingt es ihr schnell, ihn ohne große Worte zu besänftigen. - In der Schule hört Checo, der gut zeichnen kann, von der Lehrerin die legendenhafte Geschichte von Giotto di Bondone, dem Pionier der Renaissancemalerei, der Schäferjunge war, bevor er für die Kunst entdeckt wurde, und später identifiziert er sich in einem seiner Tagträume mit dem Genie, indem er mit Kreide einen Kreis auf einen Felsbrocken zeichnet - Giotto soll einmal als Talentprobe einen perfekten Kreis mit freier Hand gezeichnet haben. Doch Checo vernachlässigt dabei die Aufsicht über die Schafe, und eines frisst von mit Gift verseuchtem Boden und stirbt wenig später, was Checo gehörigen Ärger mit Zuan einhandelt.

In der Wohnstube
Im Dorfgasthaus unterhalten sich einige Männer über die gegenwärtige Lage, darunter auch ein faschistischer Funktionär. Es ist dies eine von nur zwei kurzen Stellen im Film, in denen "große Politik" und die Tatsache, dass Italien ein faschistisches Land ist, thematisiert wird. Wieder im Freien, wiederholt Zuan eine der Phrasen des Faschisten und macht dazu eine abschätzige Handbewegung - ein dezenter, aber doch eindeutiger Hinweis auf seine Position: Er ist kein Freund des Faschismus. Die zweite Stelle mit Politik folgt kurz danach: Ein Musterungsbefehl wird angeschlagen, weil, wie drei Männer meinen, "dieser Kerl in Österreich" ermordet wurde (ich nehme an, dass Engelbert Dollfuß gemeint ist), und einer der drei räsoniert über falsche Versprechungen des Staats. - Eine Nachbarsfamilie bricht, das ganze Hab und Gut auf einen Leiterwagen gepackt, nach Udine auf. - Checo geht in der Kirche dem Küster und dem Pfarrer zur Hand und wird zur Belohnung zur Hochzeit eines wohlhabenden Paars eingeladen. Doch dort nimmt niemand irgendeine Notiz von ihm, abgesehen vom Fotografen, der ihn aus dem Bild scheucht. Checo fühlt sich als der Fremdkörper, der er auch tatsächlich ist, und zieht bedrückt wieder ab, ohne etwas vom Festessen abbekommen zu haben. Es ist schlimmer, als wenn man ihn überhaupt nicht eingeladen hätte. Bei "seiner" Vogelscheuche, wo er in der Abenddämmerung einen wilden "Vogeltanz" aufführt, findet er Trost.

Totenwache für einen verstorbenen Dorfbewohner
Zuan muss die Kuh verkaufen, weil sie weniger einbringt, als der Unterhalt kostet. Wenigstens kann vom Erlös ein neues Schaf gekauft werden, um das tote zu ersetzen. - Mit einigen ihrer Nachbarn und Freunde beraten Zuan und Anute, ob man nicht auch das Land verlassen und in die Stadt ziehen sollte. Einige betrachten das als Option, aber Zuan ist strikt dagegen. Er fühlt sich an das Land gebunden und fürchtet anderswo die Entwurzelung. - Zwei junge Männer brechen mit dem Zug nach Belgien auf, um in den Kohlegruben zu arbeiten. Ihre jüngeren Brüder, etwas älter als Checo, kündigen an, so bald wie möglich nachfolgen zu wollen. - Checo vernachlässigt wieder einmal die Aufsicht über die Schafe, die in das Feld eines reichen Bauern eindringen. Dieser verjagt sie und beschimpft Zuan und seine Familie als "Sack Flöhe". Zuan ist stinksauer auf Checo und bezeichnet ihn jetzt selbst als "Vogelscheuche". - Checo erhält zuhause einen Klaps, fühlt sich ungerecht behandelt und haut ab. Aber er kommt nicht weit. Im Tal des Tagliamento läuft er einer kleinen Militäreinheit in die Arme, die mit aufgesetzten Gasmasken gerade eine Übung abhalten. Checo bekommt einen Riesenschreck und kehrt um. Zuhause gibt es wegen seiner Abwesenheit wieder Ärger. - Checo beobachtet eine Gruppe der Dorfjungen, die einen "Geheimbund" gegründet und irgendwo eine Flasche Wein abgestaubt haben. Checo gesellt sich zu ihnen und wird zum ersten Mal in ihrer Runde akzeptiert.

Checo schließt Freundschaft mit Josette
Checo unternimmt mit Josette einen Sonntagsausflug zu einer Mühle, die ihnen als Abenteuerspielplatz dient. Am Ende bekommt er von Josette einen Kuss. - Ein tragisches Ereignis verändert Checos Situation grundlegend: Sein Bruder Roberto stirbt bei einem Grubenunglück in Belgien. Neben dem Schock und der Trauer gibt es auch materielle Auswirkungen: Es fehlt das wenige Geld, das Roberto regelmäßig überwiesen hat, und Checo muss einspringen. Obwohl er der beste Schüler im Dorf ist und irgendwann studieren wollte, muss er die Schule verlassen, um demnächst irgendwas zu arbeiten. - Beim Münzenwerfen gewinnt Checo etwas Kleingeld von den anderen Dorfjungen und kauft Zuan davon eine Zigarre. Dieser ermahnt ihn, das Geld lieber Anute zu geben, aber insgeheim freut er sich über die Zigarre. - Checo wird von einer wohlhabenden Bäuerin wieder einmal "Vogelscheuche" genannt. In einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen rennt er zu seiner Vogelscheuche, schreit "Ich bin keine Vogelscheuche! Ich bin keine Vogelscheuche!", bewirft sie mit Steinen, reisst sie um und trampelt darauf herum. - Letzte Szene: Checo, allein unterwegs und mit sichtlich gestiegenem Selbstbewusstsein, sucht und findet eine Arbeit beim Abschlagen von Ästen auf hohen Bäumen. Als guter Kletterer ist er dafür prädestiniert. Wie am Anfang werden die letzten Bilder von einem Off-Sprecher begleitet: "Als diese Ereignisse stattfanden, war Checo 10 Jahre alt. Heute ist er ein erwachsener Mann. Aber wo ist er? Würden wir ihn immer noch finden, wenn wir in sein Friaul gehen würden?"

Die Dorfschule
GLI ULTIMI wurde von Vito Pandolfi inszeniert, aber der Film ist ebensosehr das Werk von David Maria Turoldo. Turoldo (1916-1992) war ein progressiver katholischer Priester und Pater des Servitenordens, und er war ein in Italien bekannter Poet und Schriftsteller. Turoldo wurde 1916 als neuntes von zehn Kindern einer Bauernfamilie in Coderno di Sedegliano geboren, also im Milieu und am Handlungsort von GLI ULTIMI. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium war er, gefördert vom dortigen Erzbischof, in den 40er Jahren in Mailand tätig, wo er 1943-45 auch mit dem antifaschistischen Widerstand verbunden war und die Untergrundzeitschrift L'Uomo herausgab. 1948 gründete der linke katholische Priester Don Zeno Saltini aus einem Vorgängerprojekt heraus das Kinderheim Nomadelfia, das damals vor allem Kriegswaisen beherbergte, und das in Form einer selbstverwalteten katholischen Kommune organisiert war und die Kinder auf Adoptivfamilien verteilte, ähnlich wie etwas später die SOS-Kinderdörfer (Saltini hatte seinerzeit erhebliche Probleme mit den Kirchenbehörden und war sogar jahrelang vom Priesteramt entbunden, ist aber inzwischen auf dem Weg zur Seligsprechung). Turoldo war von Anfang an ein begeisterter Förderer von Nomadelfia. Um 1950 herum trat er auch erstmals mit Gedichtbänden hervor.

Vogelscheuchen
Nach zwei Jahren in ausländischen Niederlassungen seines Ordens, darunter auch in Österreich und Bayern, und dann einigen Jahren in Florenz wurde Turoldo 1961 in ein Konvent in Udine versetzt. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder in seiner Heimat, die sich inzwischen stark verändert hatte. Italien hatte in den 50er-Jahren eine Turbo-Industrialisierung erlebt, und eine zweite Welle der Landflucht dauerte immer noch an (hier kann man einige der Zahlen für Sedegliano nachlesen). Die Probleme der verbliebenen Landbevölkerung waren teilweise noch die selben wie vor 30 Jahren. Da hatte Turoldo die Idee, über die im Schwinden begriffene Welt seiner Kindheit einen Film zu machen. Zugleich sollte der Film zeigen, wie man auch in der Armut seine Würde bewahren konnte. Turoldo hatte sogar weitergehende Pläne zu einer Trilogie, die Checos Leben weiter verfolgen sollte, aber da GLI ULTIMI ein kommerzieller Fehlschlag wurde, zerschlug sich das. Unter Vermittlung von Pier Paolo Pasolini, der auch teilweise in Friaul aufgewachsen war, und mit dem Turoldo befreundet war (er hielt 1975 auch seine Grabrede), versammelte er ein Häuflein von Mitstreitern, die für die Produktion die Firma "Le Grazie Film" gründeten. Den Verleih von GLI ULTIMI übernahm Henry Lombroso, der mit seiner Firma "Globe Films International" auch Werke von Dreyer, Bergman und Tarkowskij nach Italien brachte. Als Regisseur gewann Turoldo den mit ihm befreundeten Vito Pandolfi, und Pandolfi und Turoldo schrieben gemeinsam das Drehbuch (unter Mitarbeit eines Mario Casamassima), basierend auf Turoldos bis dahin unveröffentlichtem autobiographischen Text "Io non ero un fanciullo", was wohl ungefähr "Ich hatte keine Kindheit" heißt. Checo ist also in einem gewissen Ausmaß das alter ego von Turoldo als Kind.

Eine Familie bricht nach Udine auf
Vito Pandolfi (1917-1974) war ein linksintellektueller Theaterautor, -regisseur und -kritiker. Ein Theaterwissenschaftler, der an der Universität Genua lehrte und mehrere Bücher schrieb, war er auch. Als Jean Renoir 1952 in Italien DIE GOLDENE KAROSSE drehte, engagierte er Pandolfi als Berater für die Commedia dell'arte. Im Gegensatz zu Turoldo, der von großer körperlicher Statur und kräftiger Stimme sowie von unkompliziertem und impulsivem Charakter war, wird Pandolfi als sehr zurückhaltend geschildert. Ebenso wie Turoldo war Pandolfi, ein Marxist und Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, in den 40er Jahren im Mailänder Raum Mitglied der Widerstandsbewegung gegen die Nazis, und seitdem waren die beiden miteinander befreundet. 1966 sagte Pandolfi in einem Interview, dass er schon immer Filme liebte, und zwar insbesondere Dokumentarfilme (hier nennt er als Beispiel den Namen Flaherty) und den italienischen Neorealismus, und nur durch Zufall beim Theater gelandet sei. Beides - Neorealismus und eine Spur Flaherty - findet sich auch in GLI ULTIMI wieder. Der Film wurde in klassischer neorealistischer Manier gedreht: Ausschließlich an den Originalschauplätzen in Friaul, und komplett mit Laiendarstellern. Wie Pandolfis Aussage im Interview belegt, war das in erster Linie künstlerisch begründet, auch wenn es natürlich den Anforderungen eines knappen Budgets entgegenkam. Checos Darsteller Adelfo Galli kam aus Nomadelfia, dem Kinderheim, für das Turoldo unermüdlich Spenden einwarb. Die Einnahmen von GLI ULTIMI sollten nach Deckung der Herstellungkosten komplett an Nomadelfia fließen, aber nach dem kommerziellen Misserfolg konnte kein oder allenfalls sehr wenig Geld an das Heim überwiesen werden. Zwar fielen die Laiendarsteller finanziell nicht ins Gewicht, aber die Techniker bekamen die üblichen Löhne einer kommerziellen Filmproduktion. Neben Galli, der als "der kleine Adelfo aus Nomadelfia" als einziger Darsteller namentlich in den Credits genannt wird, war Vera Pescarolo, die die Dorfschullehrerin spielt, die einzige Darstellerin, die nicht aus Friaul stammte. Sie war die Schwester von Pandolfis Regieassistenten Leo Pescarolo, der später ein erfolgreicher Film- und Fernsehproduzent wurde. Die meisten anderen Laiendarsteller kamen aus Coderno di Sedegliano oder der engeren Umgebung. "Zuan" Lino Turoldo war ein Bruder von David Maria Turoldo, und "Anute" Margherita Tonino (in der IMDb wird sie mit der spanischen Schauspielerin Margarita Torino verwechselt) wurde zufällig von Pater Turoldo entdeckt, als er eigentlich ihren Sohn als Kandidaten für Checo testen wollte. Die Laiendarsteller verleihen dem Film in vielen Szenen dokumentarische Glaubwürdigkeit. Wenn etwa Zuan mit vollkommener Beiläufigkeit die Polenta mit einer Schnur teilt, dann glaubt man ihm jede Sekunde, dass er selbst mit Polenta aufgewachsen ist und nicht mit Saltimbocca alla romana, und ähnlich verhält es sich mit den landwirtschaftlichen Handgriffen. Und in solchen Szenen wandelt GLI ULTIMI auch in den Spuren von Robert Flahertys ethno-dokumentarischen Filmen, insbesondere in denen von MAN OF ARAN (1934), den Flaherty auf einer kleinen sturmumtosten Insel vor der irischen Westküste gedreht hat, wo ähnlich karge Lebensbedingungen wie in GLI ULTIMI herrschen, und in dem sich die Inselbewohner - im Rahmen einer von Flaherty zusammengestellten fiktiven Familie - selbst spielten.


Einige kleinere Rollen wurden von friaulischen Freunden von Turoldo übernommen, so spielte der Schriftsteller Riedo Puppo den Küster und der Fotograf Elio Ciol den unfreundlichen Fotografen bei der Hochzeit. Ciol war auch der Standfotograf bei den Dreharbeiten und machte fast 2000 Aufnahmen, von denen eine Auswahl 2002 in einem 200-seitigen Bildband erschien. Ein 1998 erschienenes 52-seitiges Büchlein über GLI ULTIMI mit dreisprachigem Text wird ebenfalls von Ciols Bildern illustriert. Eine Ausstellung von Ciols Bildern vom Set im Jahr 1990 war auch der wichtigste Auslöser dafür, sich ernsthaft um die Erhaltung und Wiederbelebung des Films zu kümmern. - Adelfo Galli spielt seine Rolle sehr natürlich und ausdrucksstark, und Michelangelo Antonioni hat ihn seinerzeit als den besten Kinderdarsteller im italienischen Film bezeichnet (weitere Filmrollen hatte er aber nicht mehr). Freilich benutzte Pandolfi auch fragwürdig anmutende Mittel, die damals aber als normal galten. Im schon erwähnten Interview von 1966 bekannte er: "Ich musste ein System für ihn [Adelfo Galli] erfinden. Um eine bestimmte Emotion zu produzieren, musste ich eine entsprechende Reaktion auslösen. Wenn ich zum Beispiel wollte, dass er weinte, gab ich ihm ein paar Schläge. Er weinte. Wenn er lächeln sollte, zog einfach jemand hinter der Kamera Grimassen." GLI ULTIMI hat einige sehr emotionale Momente, aber er ist nie auch nur annähernd sentimental. Im Gegenteil - die strenge Inszenierung des Films hat ihm Vergleiche mit Dreyer, Bergman und Bresson eingetragen. Zugleich erweist sich GLI ULTIMI auch als thematischer Vorläufer von Filmen wie DER HOLZSCHUHBAUM und PADRE PADRONE, die rund 15 Jahre später entstanden. Einen wichtigen Anteil an der Wirkung des Films hat Kameramann Armando Nannuzzi, dem sehr klare und schöne Aufnahmen der bäuerlichen Lebenswelt und der friaulischen Landschaft gelingen, ohne je in die Nähe von Postkartenklischees zu geraten. Später drehte Nannuzzi so unterschiedliche Filme wie Bernhard Wickis DER BESUCH (der alten Dame), GENOSSE DON CAMILLO, A. Pietrangelis ICH HABE SIE GUT GEKANNT, Viscontis LUDWIG, EIN KÄFIG VOLLER NARREN, FLUCHT NACH VARENNES und Stephen Kings MAXIMUM OVERDRIVE. David Maria Turoldo war ständig am Filmset und nahm aktiv an den Dreharbeiten teil. Die eigentliche Regie überließ er Pandolfi, aber sonst kümmerte er sich um alles. Man kann ihn ohne weiteres als Produzenten von GLI ULTIMI bezeichnen, auch wenn in den Credits kein Produzent genannt wird. Dagegen war Henry Lombroso, dem verschiedentlich diese Funktion zuerkannt wird, nur für den Verleih zuständig.

Abenteuer am Tagliamento
GLI ULTIMI war der erste Spielfilm, der in Friaul gedreht wurde, und Turoldo und die anderen Macher hofften auf entsprechende Resonanz, wurden aber enttäuscht. 1962 lief GLI ULTIMI in seiner ursprünglichen Länge von 96 Minuten bei den Filmfestspielen von Venedig, allerdings nicht im Wettbewerb, sondern in einer Nebenreihe in einem kleinen Saal, wo er wenig Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Januar 1963 kam eine von Pandolfi um sieben Minuten gekürzte Fassung in die friaulischen Kinos, die Premiere war in Udine. Aber die von Turoldo und seinen Mitstreitern erhoffte Begeisterung blieb aus, und viele im Publikum und unter den Kritikern fühlten sich und ihre Region sogar als rückständig verunglimpft und protestierten dagegen. Außerhalb Friauls lief GLI ULTIMI in größeren Städten, aber nicht flächendeckend, ebenfalls mit sehr bescheidenem Erfolg. Unter den Wenigen, die uneingeschränkt positive Kritiken verfassten, waren Pasolini und der Schriftsteller Giuseppe Ungaretti. Die Sprache des Films ist übrigens - auf Turoldos ausdrücklichen Wunsch - allgemeinverständliches Italienisch, mit nur wenigen lokalen Ausdrücken wie dem Grußwort "mandi" aus dem Friaulischen (Furlan), das eine eigene Sprache darstellt. - Vito Pandolfi drehte 1965 PROVINCIA DI LATINA, eine Dokumentation in Spielfilmlänge, die die Entwicklung der Arbeitswelt einer bestimmten Region aus soziologischer Sicht beleuchtet, von der bäuerlichen Lebensweise über Handwerk und Industrie bis zur Arbeit in einem Kernkraftwerk. Im erwähnten Interview von 1966 sagte Pandolfi, dass er viel lieber Filme dreht, als Theater zu inszenieren, weil letzteres körperlich viel anstrengender ist und ihm an die Nerven und auf den Magen schlägt. Aber weitere Filme von ihm gibt es nicht. Die Leitung eines von ihm gegründeten Theaters in Rom und seine universitären Verpflichtungen ließen ihm wohl keine Zeit mehr dafür.


GLI ULTIMI erfüllte also alle Voraussetzungen, um komplett in der Versenkung zu verschwinden, doch dazu kam es nicht. Schon 1982, zum 20-jährigen Jubiläum, sendete die RAI vier kurze Gesprächsrunden mit Turoldo und je einem oder zwei Gästen, in denen an den Film erinnert wurde. Und friaulische Lokalpatrioten, Filmliebhaber und Filmhistoriker bemühten sich, diese Rarität zu erhalten und ihre Entstehungsgeschichte zu dokumentieren. Koordiniert wurden diese Anstrengungen in den letzten gut 20 Jahren von der Cineteca del Friuli in Gemona in Zusammenarbeit mit dem Centro Espressioni Cinematografice in Udine und weiteren Institutionen. 2002 wurde die Verleihfassung des Films in restaurierter Form wiederveröffentlicht und auch auf VHS herausgebracht. Diese Fassung von 2002 wurde gelegentlich auch im deutschsprachigen Raum gezeigt, so 2006 im Italienischen Kulturinstitut Köln und 2009 im Österreichischen Filmmuseum in Wien sowie im Verein Lichtspiel/Kinemathek Bern. 2012 schließlich, pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum, wurden sowohl die Verleih- als auch die originale Venedig-Fassung mit allen Finessen digital restauriert präsentiert, und es erschien ein 2-DVD-Set, das beide Versionen des Films enthält, regionalcodefrei und mit englischen und spanischen Untertiteln. Damit war ein außerhalb seiner engeren Heimat weitgehend vergessenes Meisterwerk endgültig wiederauferstanden. Leider kam man bei der Cineteca nicht auf die Idee, auch das reichhaltige Bonusmaterial mit Untertiteln zu versehen, und die sicher sehr informativen Texte im 43-seitigen Booklet wurden auch nicht übersetzt. Obwohl diese Ausgabe also nur halbherzig für den internationalen Markt tauglich gemacht wurde, gewann sie beim diesjährigen Festival Cinema Ritrovato in Bologna den Preis für die beste DVD. - Für hilfreiche Informationen danke ich Luca Giuliani von der Cineteca del Friuli.