Montag, 21. Oktober 2013

Die Leinwand beißt nicht... oder vielleicht doch?



Jedes Mal, wenn ich ins Kino gehe, fühle ich mich ein bisschen wie ein Freak. Im Kinosaal scheinen mich ganze Welten von meinen Co-Zuschauern zu trennen – oft aber mindestens drei Sitzreihen! Was damit zusammenhängt, dass ich gerne in der ersten oder zweiten Reihe Platz nehme. Wie kommt es?
Mut zur Leinwand-Nähe hat mir ein guter Freund inspiriert, mit dem ich vor einigen Jahren regelmäßig ins Kino ging. Er faselte immer etwas von wegen „Kino-Cinemascope-Erlebnis genießen“... Dieser Freund wohnt nun leider nicht mehr in der selben Stadt. Mittlerweile  ist er auch von diesem Mut zur Leinwand-Nähe abgerückt, präferiert wieder hintere Sitzreihen und pflegt einen manchmal etwas bizarren „genau in der Mitte sitzen“-Fetischismus. Das ist schade, denn er hatte recht: der beste Platz im Kino ist ganz weit vorne! Und hiermit will ich gerne verkünden, warum das so ist.
Doch bevor ich meine zehn ultimativen Argumente dafür vorbringe, soll natürlich auch die Gegenseite eine Stimme bekommen. Hier also erst einmal drei Schattenseiten des Leinwand-nahen Kinogenusses.

1 Der Gobelin des Cinephilen
Jede Leinwand ist natürlich einzigartig: von der Größe, von der Projektionsqualität, von der Wölbung... und von der Textur! Denn manch eine Projektionsfläche sieht bei kurzer Sichtdistanz so aus, als hätte sie ein besonders fleißiger Textilarbeiter mit fingerdickem Garn gestrickt oder gehäkelt. Gerade bei hellen Flächen ist dann mehr von der groben Leinwandstruktur zu sehen als vom Film selbst. Das kann dann durchaus ein Grund sein, um eine oder zwei Reihen weiter nach hinten zu rücken. Denn selbstverständlich ist ein Kino keine Teppichhandwerks-Ausstellung.

2 Der Angriff der Killer-Pixel
Im Zeitalter des digitalen Kinos ist die scharfe Auflösung des 35-Milimeter-Films durch kantige, mehr oder weniger große Pixel ersetzt worden. Qualitätsschwankungen sind dabei in den ersten Reihen um so deutlicher zu sehen, manchmal im positiven, öfter allerdings im negativen Sinne. Denn die Attacken, die angriffslustige Killer-Pixel bei schlechten oder mittelmäßigen DCP-Projektionen ausführen, sind aus der Nähe umso tödlicher. Die Kombination aus grobstrukturierter Leinwand und schlechter Digital-Projektion ist selbstredend eine kleine Kino-Apokalypse.

3 Go puke, dogma-style, oder: Die Melancholia der motion sickness
Wackel-Wackel-Reißschwenk-Schnitt-Wackel-Wackel-Schnitt-Reißschwenk-Wackel-Wackel-Schnitt-Wackel-Wackel-Schnitt-Wackel-Reißschwenk-Wackel-Schnitt und so weiter... Manch ein Film ist in einer vorderen Sitzreihe nicht nur anstrengend, sondern kann auch leicht übelkeiterregend wirken. Und in der zweiten Reihe zu sitzen, um sich in die erste Reihe zu übergeben, gehört sich natürlich nicht!

Wie geht man mit diesen Problemen also um? Was Punkt 1 betrifft, so kennt der fleißige Kinogänger irgendwann einmal jene Kino-Säle, die dieses Problem haben und kann dann entsprechend abwägen. Zum dritten Punkt lässt sich nur sagen, dass man ja beim nächsten Lars Von Trier-Film besser aufpassen kann, welcher Sitzplatz ausgewählt wird. Und Punkt 2: na ja... was lässt sich hier (noch) groß machen? Außer zu hoffen, dass es eine gute „Kopie“ sein wird (oder besser: eine richtige Kopie)?

Doch nunmehr in großen Schritten zum Herzstück meines Plädoyers!


10 Gründe,

warum man im Kino in größter Nähe zur Leinwand sitzen sollte:


1 Vom domestizierten Bildschirm zur entfesselten Leinwand... und wieder zurück?
Könnt ihr euch noch erinnern: damals, als die Eltern einen anwiesen, im Wohnzimmer nicht zu nahe am Fernseh-Bildschirm zu sitzen (irgendwas von wegen fünf Mal Diagonale), sonst bestünde die Gefahr, dass die Augen eckig werden? Und wie das einen geärgert hat, weil man „nah“ am Geschehen sein wollte? Im postpubertären Zeitalter scheint sich diese Elternweisheit bei manch einem Zuschauer nicht nur beim TV-Schauen durchgesetzt zu haben, sondern auch im Kino. Doch Kino ist nicht Fernsehen. Das Fernsehen ist üblicherweise ein Medium in einem privaten und (fast) vollkommen kontrollierbaren Raum (Licht, Temperatur etc.), über den der Zuschauer absolute Kontrolle ausüben kann (zappen, leiser, lauter, heller, dunkler, Ton aus, abschalten). Das Kino hingegen ist ein öffentlicher Raum, der sich dem individuellen Zuschauer fast vollkommen jeglicher (zumindest unmittelbaren) Kontrolle entzieht. Klingt irgendwie „negativ“, aber das soll vor allem den Gegensatz zwischen dem domestizierten Bildschirm und der entfesselten Leinwand deutlich machen. Der TV-Zuschauer kontrolliert den Bildschirm, der Kino-Zuschauer wird von der Leinwand kontrolliert. Letzteres ist in einem cinephilen Sinne eine im Grunde sehr romantische Vorstellung. Warum sich also hinten setzen? Um durch Distanz die Leinwand zumindest ansatzweise besser kontrollieren zu können? Um sie implizit zu einem Bildschirm zu „machen“? Sehen eigentlich viele Zuschauer Kino als größere und eventreichere Form von Fernsehen?

2 In der Ersten sieht man besser
Filme leben bekanntermaßen von kleinen visuellen Details, die nicht immer penetrant in den Vordergrund gestellt werden, sondern manchmal nur in der Peripherie des Bildraumes zu sehen sind. Und Details haben es ja meistens an sich, dass man sie aus der Nähe erst sieht. Daher besteht die berechtigte Vermutung, dass sie ab einer bestimmten Sitzreihe verloren gehen müssen, weil man sie einfach nicht mehr erkennt. Der Film muss dann doch gezwungenermaßen viel von seinem Potential verlieren. Daher stellt sich die Frage, inwiefern Zuschauer, die hintere Sitzplätze bevorzugen, „nur“ eine Geschichte erzählt bekommen wollen? Das ist natürlich nur ein Aspekt des Komplexes „Nähe und Sehen“ (sieh gleich die Punkte 5, 6 und 10).

3 Der Geschmack von Press-Schenkeln
Es ist anzunehmen, dass der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück beim Kinobesuch nicht nur in den vorderen, sondern am liebsten wohl in der allerersten Reihe sitzt: denn da gibt es üblicherweise die Sitze mit der größten Beinfreiheit! Denn nichts ist so anstrengend, ermüdend und nervend, als zwei bis drei Stunden lang mit angewinkelten Beinen in einer verkrampften Position sitzen zu müssen. Und hier haben die „sympathischen“ Programmkinos tatsächlich oft das Nachsehen gegenüber den „bösen“ Multiplex-Kinos. In letzteren kann man oft relativ unabhängig von der Sitzwahl die Beine ausstrecken. Selbstverständlich kann man das auch in Sitzen tun, die ganz am Rand einer Reihe sind, da allerdings nur asymmetrisch. Und natürlich ist die letzte Reihe in vielen Kinosälen noch ein Stückchen vom Rest der vorderen Sitze abgetrennt und ermöglicht eine Beinfreiheit wie in der ersten Reihe, aber hier verweise ich gerne auf die Punkte 1 und 2 sowie 4 bis 10.
Für mich ist Beinfreiheit nicht nur ein Komfort, sondern auch aus sehr persönlichen Gründen wichtig: eine alte Verletzung am rechten Knie aus den unseligen Zeiten des schulischen Sportunterrichts macht sich noch heute unangenehm bemerkbar, wenn ich längere Zeit mit stark angewinkelten Beinen sitze. Das Unbehagen geht erst weg, wenn ich das rechte Bein ganz ausstrecken kann.

4 Der König lümmelt – lang lümmele der König!
Auch wenn Kinos vielleicht Ähnlichkeit mit Kirchen haben können, so sind sie eines garantiert nicht: nämlich preußische Militärakademien. Man muss im Kino nicht wie ein „I“ sitzen! Außer natürlich, wenn man in einem Projektionssaal mit relativ ebenem Boden weit hinten sitzt. Ansonsten ist es sehr empfehlenswert, sich in den Sessel rein zu schmiegen. Sich fallen zu lassen in den Sitz. Das Gesäß ruhig ein bisschen in Richtung Sitzrand zu positionieren. Kurz: eine vielleicht nicht sehr elegante, dafür aber sehr bequeme Lümmelstellung einzunehmen. Das ist nicht nur wesentlich gemütlicher, als wie ein „I“ zu sitzen, sondern fördert auch den Blick nach oben auf die Leinwand (im Gegensatz zum TV- oder Computerbildschirm, der in der Regel den Blick auf „Augenhöhe“ oder nach unten fördert). Zudem ist sie auch die ideale Position für die vorderen Sitzreihen, während die Zuschauer in den hinteren Sitzreihen tatsächlich mit „I“-Sitzpositionen oder gar gebeugten Stellungen vorlieb nehmen müssen. Ist ja logisch! Wer in vorderen Sitzreihen in „I“-Stellung sitzt, wird wohl nur das untere Viertel der Leinwand richtig sehen und wer ganz hinten sitzt und lümmelt, wird die Möglichkeit bekommen, ausführlich die Decke des Saals zu studieren.
Die Lümmelstellung setzt natürlich gewisse Minimalforderungen an die Sitzkonstruktionen: bei Holzklappsitzen und Sesseln mit „Sparsitzflächen“ geht das natürlich nicht.

5 Der Unterblick für die Untertitel, oder: Der Filmvorführer ist kein Ophtalmologe
In Deutschland dürfte dürfte dies wohl eines der schwächsten Argumente meiner Liste sein, da die überwiegende Mehrheit der Filme hierzulande eh synchronisiert projiziert werden. Im Zeitalter des digitalen Kinos (das übrigens erfreulicherweise eine Öffnung zu mehr OV- und OmU-Vorführungen bewirkt hat) gibt es auch weniger Probleme mit „verwaschenen“ Untertiteln.
Allerdings muss ab einer gewissen Sitz-Distanz zur Leinwand die Sichtung einer OmU-Vorführung in der Tat einem Besuch beim Augenarzt ähneln. Eines der gängigsten „Argumente“ von OmU-Gegnern lautet bekanntlich, dass das Lesen oder besser gesagt das Erfassen von Untertiteln zu anstrengend sei und man sich daher nicht auf die Bilder konzentrieren könne. Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird dieses „Argument“ tatsächlich zum Argument, wenn der Zuschauer ganz hinten sitzt. Allerdings dürfte die Platzwahl der entsprechenden Person auch vermuten lassen, dass ihr Verhältnis zum Bild auch nicht ganz so intim ist, wie sie es gerne von sich behauptet (oder: siehe Punkte 1, 2, und 10).

6 Hübsche Frisur! Wie viel hat die gekostet?
Ich habe an und für sich nichts gegen kunstvoll aufgetürmte Frisuren. Dennoch können sie unter Umständen für andere Menschen etwas störend sein, etwa, wenn sie sich im Kino zwischen Augen und Leinwand befinden (hier besonders, wenn der Träger der Frisur eine Sitzhaltung einnimmt, die die Ausbilder in preußischen Militärakademien verzücken würden). Man kann natürlich in solchen Fällen verbal zur Lümmelstellung ermuntern, oder zur Schere greifen, wobei ich letzteres natürlich streng verurteile! Viel einfacher ist es allerdings, sich so weit vorne zu setzen, dass schon rein statistisch Träger kunstvoller Frisuren nicht in einer vorderen Sitzreihe Platz nehmen können (etwa, wenn man sich für die vorderste Reihe entscheidet).
Aber pragmatisch-schnöde Erwägungen beiseite! Wer weit vorne Platz nimmt, reduziert  massiv die Anzahl der Co-Zuschauer, die im Blickfeld hin zur Leinwand sitzen – und damit auch potentielle Ablenkungen vom Wesentlichen (dem Film). Wer ganz vorne sitzt, kann manchmal sogar der Illusion erliegen, einer Privatvorstellung beizuwohnen. Ein herrliches Gefühl!

7 Das Parkett ist die Loge des Cinephilen
À propos gekostet: in Multiplex-Kinos bzw. überhaupt in Kinos mit Sitzplatz-Nummerierung zahlt man in den ersten Reihen meist weniger. Mich soll es freuen, aber ich frage mich immer wieder, warum Leute mehr Geld bezahlen, um letztendlich ein Kino-Erlebnis zu bekommen, das sich ein bisschen wie Fernsehen anfühlt... Zumal man, wenn man schon Überlängenzuschlag, Extra-Überlängenzuschlag, Wochenendzuschlag, 3D-Zuschlag und 3D-Brillen-Gebühr bezahlt hat, auf den Logenzuschlag eigentlich auch verzichten könnte.
Die armen Kassierer im Cinestar werden weiterhin zur Sicherheit noch mal nachfragen (manchmal zwei Mal), wenn ich die zweite oder erste Sitzreihe verlange. Und dann völlig verwundert gucken, wenn ich das bestätige...
Paraphrasiertes Dialogbeispiel aus dem wahren Leben:
David: Ein mal THE WORLD‘S END, bitte. Und in welchem Kino wird der gezeigt?
Kassierer: Der läuft in Kino 4.
D [nach einem kurzen Blick auf das Sitzplatzschema]: Dann würde ich gerne in Reihe I sitzen [= zweite Reihe].
K [mit großer Selbstsicherheit vorgetragen]: Also ich bin mir ziemlich sicher, dass du eigentlich in Reihe B möchtest [= zweitletzte Reihe].
D: Nein, ich möchte in Reihe I, in die zweite Reihe!
K: Dann sitzt du aber ganz schön nahe an der Leinwand. Bist du dir sicher?
D: Ja, wirklich!
K: [druckt die Karte aus]
D: Warum wundert sich eigentlich immer jeder hier, wenn ich in einer vorderen Reihe sitzen möchte?
K: Na ja, weil das so selten nachgefragt wird. Die meisten Leute wollen hinten sitzen.
Unverständlich! Ein Zuschlag für schlechte Sitze mit weniger Film, und die meisten Zuschauer zahlen das mit Vergnügen?

8 Sofas für mehr Film
Wie gesagt: die Staffelung der Eintrittspreise nach Sitzen betrifft vor allem Multiplex-Kinos. Das vielleicht tollste Kino in Mitteldeutschland, das Lichthaus in Weimar, bietet hingegen nicht nur freie Platzwahl zu einem einheitlichen Preis an, sondern trotzdem auch individuell gestaffelte Sitzqualitäten.
Erklärung: Die ersten beiden Sitzreihen in Saal 1 und 3 bilden bequem-gemütliche Sofas und Sessel, die offensichtlich vom Sperrmüll gesammelt wurden, und das höchst nutzbringend. Klassisch-schnöde Kinoplätze (einheitliche, gepolsterte Klappsitze) gibt es ab der dritten Reihe. Diese beiden Kino-Säle verbinden also die Nähe zur Leinwand nicht nur mit einem größtenteils stark erhöhtem Komfort, sondern auch mit Sitz-Individualität: Der Lümmelkönig kann auf seinem eigenen Thron lümmeln!

9 Die Avantgarde der Cinephilie bilden?
Fakt ist: meistens sitzt kaum jemand in der ersten oder zweiten Sitzreihe. Oft befindet sich die Mehrheit der Zuschauer jenseits der fünften und sechsten Reihe. Erst wenn der Saal wirklich gerappelt voll ist, beginnen einige (offenbar notgedrungen) auch die vorderen Plätze zu belegen.
Ehrlich gesagt stand ich dem „sozialen“ Aspekt des Kinos ja schon immer sehr distanziert gegenüber. Ich gehe ins Kino, um Filme zu sehen, nicht andere Menschen. Allerhöchstens gehe ich ins Kino mit mir bekannten Menschen, mit Freunden... um mit ihnen einen Film zu schauen. In den vorderen Sitzreihen zu sitzen kommt also nicht zuletzt meinem vielleicht etwas überdurchschnittlich großen Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Distanz (besonders zu unbekannten Menschen) zu Gute.
Oder zur pragmatischen Seite der selben Medaille: die Wahrscheinlichkeit, von lästigen Unbekannten gestört zu werden, die leider im Sitz gleich daneben oder dahinter Platz genommen haben, ist tendenziell geringer, wenn man sehr weit vorne sitzt. Die gängigen Dinge, die man immer wieder liest, wenn es um unangenehme Erscheinungen im Kino geht: Sitznachbar bzw. -hintermann spricht, isst, furzt und rülpst zu laut, schaut ständig auf sein Handy, riecht so unangenehm wie seine Chips mit Käseschleim, schmeißt zu viel Popcorn um sich, tritt zu fest in den Vordersitz, stolpert auf dem Weg zum Klo ständig über einen etc. Alles Sachen, die bei einer kürzeren Distanz zur Leinwand und einer größeren Entfernung zur Publikumsmehrheit in der Loge nicht komplett verschwinden, aber doch etwas gedämpfter wahrgenommen werden.

10 Die Leinwand beißt nicht... oder vielleicht doch?
Aller potentiellen Panikmache zum Trotz: Die statistisch erfassten Verletzungs- und Todesfälle von Kinobesuchern durch Leinwand-Bisse sind zu vernachlässigen.
Aber andererseits: vielleicht sind Leinwandbisse auch nicht messbar, weil unsichtbar? Ein Blogger hat einmal in einem Kommentar (zu lesen: hier) geschrieben, dass er einen Film „atmen“ und „schmecken“ und von ihm „gefickt werden“ möchte. Und in der Tat: Filme (ob „gut“, oder „schlecht“) können uns manchmal penetrieren, uns in alle Poren drängen. Doch das muss man eben auch zulassen können, und wollen. Eine solche Intimität zu einem Film aufzubauen ist aber nunmal in einer der vordersten Reihen sehr viel einfacher, als in der hintersten Reihe.


Das waren also meine 10 Gründe. Allesamt so schwer zu widerlegen wie auch höchst persönlich (oder gerade deswegen). Denn natürlich ist die Auswahl des Sitzplatzes im Kino etwas sehr individuelles. Jeder Zuschauer darf und kann und sollte das so handhaben, wie er möchte. Wie Jean Renoir sagen würde: jeder hat seine Gründe... Sogar dieser Zuschauer mit seiner höchst skurrilen Methode der Sitzplatzwahl:


P.S.: Wer einen Horrorfilm kennt, in dem eine Killer-Leinwand ihr Unwesen treibt und nichts ahnende Kinobesucher zu Tode beißt, möge bitte den Titel bekanntgeben!

Dienstag, 15. Oktober 2013

Brillanter Walzer für zwei Killer


EL PLACER DE MATAR („Sie töten aus Lust“ / „The Pleasure Of Killing“)
Spanien 1988
Regie: Félix Rotaeta
Darsteller: Antonio Banderas (Luis), Mathieu Carrière (Andrés), Victoria Abril („La Merche“), Mario Gas (Inspektor Santana)


Eine Villa am Stadtrand. Auf dem Bürgersteig davor trainiert ein Jogger. Ein Auto fährt vor. Ein Mann in der Villa empfängt den Ankömmling, möchte ihm etwas zu trinken geben, aber das Eis fehlt. Der Gastgeber scheint Eis holen zu gehen, gibt aber den beiden Killern, die sich verstecken, nur das Signal zur Intervention: während der Jogger den Chauffeur des Hauptziels mit einem Kopfschuss tötet, erledigt ein überaus elegant gekleideter Herr den Gast – ebenso mit einem gezielten Schuss in den Kopf. Der Tote fällt etwas unglücklich gegen das Fenster, und zieht so die Aufmerksamkeit der jungen Teenager-Nachbarin auf sich, die nach einem zu weit geflogenen Tennisball sucht. Der Gastgeber, der das Mordkommando eingefädelt hat, ruft die zwei Killer auf, die Zeugin zu beseitigen. Die beiden Handlanger haben sich – so lassen ihre verwunderten Blicke ahnen – noch nie gesehen und wussten offenbar nicht vom jeweiligen Auftrag des anderen. Doch in einem Sekundenbruchteil stimmen sie sich aufeinander ab und schießen gleichzeitig. Der Gastgeber dieses makabren Empfangs warnt die beiden danach, sich am Plan zu halten und zu vergessen, dass sie sich jemals begegnet sind. Der Elegante fährt mit seinem Mercedes weg. Der Jogger joggt weg. Dazu ertönt die „Titelmusik“ des Films: eine geradezu grotesk verfremdete Fassung von Chopins fröhlicher „Grande Valse Brillante“ in E-Dur, auf einem Synthesizer so gespielt, dass es ein wenig an Drehorgel und Jahrmarkt erinnert. Mulmiges Unbehagen setzt zusammen mit den Anfang-Credits ein...

Der joggende Killer heißt Luis. Im „richtigen“ Leben (aber was heißt schon „richtiges Leben“ in EL PLACER DE MATAR?) tauscht er seine Jogging-Klamotten gegen Jeans und schwarzer Lederjacke ein. Er verdient sich sein Geld als Drogendealer im nicht ganz so noblen Viertel der Stadt, in der der Film spielt (eine ungenannte spanische Provinzstadt). Er hat eine Freundin, die sich „La Merche“ nennt und in einer Drogerie arbeitet. Der elegante Killer hingegen ist Gymnasiallehrer für Mathematik, und heißt Andrés. Er hat eine Verlobte und mit ihr im Anhang eine Schwiegerfamilie, die er auf den Tod nicht ausstehen kann, weil deren Mitglieder allesamt arrogante Neureiche sind. In deren Kreis schaut er genauso gelangweilt rein, wie wenn er am frühen Morgen im Radio die Nachrichten von seinen Morden hört.

Luis und Andrés: Skeptische Annäherungen
Eines Abends geht Andrés spazieren, und läuft, ohne ihn zu bemerken, an Luis vorbei. Der erkennt den eleganten Berufsgenossen sofort. Er folgt ihn und bedroht ihn mit einer Pistole. Andrés reagiert darauf lässig mit einer Einladung zu einem Drink in seiner Wohnung, was Luis wie selbstverständlich annimmt. Ein in sehr knappen Worten gehaltenes Gespräch entfaltet sich: zu Scharfschützen wurden beide von einem gewissen Barrantes ausgebildet, ehemals Oberst in der Armee, heute ein hohes Tier in der Polizei. Beide arbeiten kostenlos für ihn. Für beide war die Mission in der Villa der erste Auftrag. Beide halten den „Kollateralschaden“ mit dem Mädchen für ein Jammer. Allerdings weiß keiner, welchen Zweck der Auftrag eigentlich hatte. Trotzdem verabreden sie sich zum gemeinsamen Übungsschießen auf einem Gelände vor der Stadt.

Luis besorgt für Andrés eine Pistole (im Gegensatz zu seinem jüngeren Kollegen, der als Drogendealer gerne verteidigungsbereit bleibt, hat der Gymnasiallehrer seine Auftragswaffe wohl vorsorglich entsorgt). Und dann treffen sie sich in einem Brachland außerhalb der Stadt und üben gemeinsam Zielschießen auf ein Metallschild. Sie haben viel Spaß dabei. Nach einer Runde Sandwich und Jack Daniels aus dem Pappbecher machen sie noch ein bisschen weiter. Es scheint ein implizites gegenseitiges Verständnis zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Auftragskillern zu geben. Sie verabreden sich zu weiteren Schießübungen, und Andrés verspricht, zum nächsten Termin eine Zielscheibe mitzubringen, die spannender und interessanter ist, als ein schnödes Metallschild. Gesagt getan... Zum nächsten Schützentreffen entführt Andrés seine Verlobte und gemeinsam mit Luis tötet er sie mit einem gezielten Kopfschuss. Bei einer anschließenden Dose Bier fragt Luis, ob Andrés sie gut gekannt habe: „Sie dachte, sie sei meine Verlobte“ entgegnet er – eine Antwort, die Luis offenbar wenig zu überraschen, zu beeindrucken oder zu berühren scheint.

Und so geht es weiter. Und immer weiter. Luis und Andrés treffen sich immer wieder, manchmal zum Mittagessen, manchmal zum Trinken, und zwischendurch immer wieder zu tödlichen Schießübungen: mal bringt Andrés eine seiner Schülerinnen als Zielscheibe mit, manchmal flirtet er mit Luis seine Beute auch in der Disco an, um sie später leichter entführen zu können. Derweilen macht sich seine Schwiegerfamilie Sorgen um die verschwundene Verlobte und die Polizei ermittelt auch, aber das nicht besonders effizient oder motiviert...

Harmloses Zielschießen auf ein Metallschild
Wer nun nach dieser Lektüre Verwunderung oder Befremdung empfindet, dürfte wohl nur einen Teil der Gefühle haben, die man bei der richtigen Sichtung von EL PLACER DE MATAR spürt. Denn dieser Film ist in der Tat höchst schwierig zu beschreiben, zu erklären, zu deuten, trotzdem er eine große Faszination ausübt – zumindest auf mich ausgeübt hat. Wenn man sich die zwei Protagonisten genauer anschaut, so ist festzustellen, dass sie kaum an irgendetwas Spaß haben, dass sie sich für kaum eine Sache begeistern mögen: nur beim Schießen blühen sie auf! Werden eins mit ihrer Waffe und mit sich selbst! Nicht im Sinne eines Waffenfetischismus, sondern eher in der Befriedigung, präzise anvisierte Ziele zu treffen. Offenbar haben sie nicht weniger Spaß mit einer Metallzielscheibe als mit einem menschlichen Opfer. Sie töten nicht aus Lust, sondern sie wollen zielgenau treffen: immer genau in der Mitte der Stirn. Luis und Andrés nehmen menschliche Opfer, weil die sich einfach anbieten. Und sie es können. Und sie vielleicht den Moment ihrer ersten Begegnung zelebrieren wollen, als sie gemeinsam die unerwünschte Zeugin erschossen haben: ein Moment vollkommenen, nonverbalen gegenseitigen Verständnisses, den keiner von ihnen anderswo gefunden hat. Luis findet diese Vertrautheit nicht bei seiner Freundin, und schon gar nicht bei seinen Drogendealer-Kollegen. Andrés findet sie nicht bei seiner Verlobten, geschweige denn bei deren Familie – alle scheinen ihm auf die Nerven zu gehen.

Tödliches Zielschießen auf Kneipengäste
Geht es also in EL PLACER DE MATAR tatsächlich um die „Freude des Tötens“? Eine Frage, die sich ebenso gut bejahen wie verneinen lässt. In der Tat zeigt der Film deutlich, wie banal extreme Gewalt in diesem kleinen Paralleluniversum ist, den sich Luis und Andrés schaffen: sie töten so locker, wie sie sich eine Zigarette anzünden oder an einem Drink nippen – und alle diese Dinge tun sie unzählige Male während des Films. Andererseits liefert der Film nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die beiden Killer das Töten an sich genießen: sie befriedigen keine Tötungslust. Im umgekehrten Schluss gibt es allerdings auch keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ihre Taten irgendwie reflektieren (oder gar Gewissenskonflikte entwickeln). Gegen Ende des Films, kurz bevor Luis und Andrés die ganze Kundschaft und Belegschaft einer Bar töten, sagt letzterer: „Alle scheinen zu denken, dass man nur töten kann, wenn man Soldat ist. Oder Polizist. Terrorist. Oder Jäger oder Psychopath. Oder wenn man dafür bezahlt wird. Aber so ist es nicht. Töten kann auch nur einfach so.“ Bis zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass keine der Benennungen auf sie passt, und sie tatsächlich „einfach so“ Leute töten.

Soviel zum Thema Ursachen, Motivationen, Beweggründe etc. Ist der Film vielleicht eine ätzende Satire des post-franquistischen Spaniens? Geht es um eine zersplitterte, latent extrem gewalttätige Gesellschaft, in der ehemalige Soldaten aus Langeweile, aus Frustration, wahrscheinlich eher aber völlig ohne Grund auf Mordtour gehen – im Hintergrund ein dubioser Polizist, der ehemals Oberst der Armee war und irgendwie das Stein ins Rollen gebracht hat. Doch genau er, der „Gastgeber“ des makabren Empfangs im Prolog, gerät schließlich selbst in die Schusslinie seiner ehemaligen Schützlinge und wird von ihnen als Zielscheibe missbraucht. Unverkennbar ist jedoch, wie dysfunktional die Polizei dargestellt wird: die Beamten sind völlig überfordert, oder unmotiviert, oder stecken selbst unter einer Decke mit den Mördern (zumindest beim „ordentlichen“ Auftragsmord).

Andrés zwischen Langeweile bei der
Schwiegerfamilie und unbewusster Einbringung
seines "Hobbys" in den Schulunterricht.
Auch unverkennbar ist, dass EL PLACER DE MATAR „mehrere Spaniens“ in Gegensätzen zeigt: einen Konflikt zwischen den Neureichen und behördlichen Eliten auf der einen, und den prekär Beschäftigten und Kleinkriminellen auf der anderen Seite. Dieser Klassengegensatz zieht sich durch den ganzen Film und bildet auch die Spannung zwischen den beiden Killern. Es scheint kein Zufall zu sein, dass der „proletarische“ Luis am Anfang den Chauffeur tötet und der „gehoben-gebildete“ Andrés das Hauptopfer: ein Mann mit elegantem Anzug und Mantel (dessen Identität unklar bleibt und für den weiteren Verlauf des Films auch irrelevant bleibt). Nur in den gemeinsamen Morden Luis‘ und Andrés‘ wird der Gegensatz aufgehoben: für sie gibt es beim Schießen keinen Unterschied zwischen Andrés‘ Verlobten und zwei jungen Frauen, die aus schmuddeligen Clubs (die Luis gerne frequentiert) abgeschleppt werden.

Das sind allerdings alles auch eher Nebenbeobachtungen für einen Film, der sich am ehesten als schwarzhumorige Groteske beschreiben lässt. Denn EL PLACER DE MATAR scheint sich eigenwillig jeglicher politisch-sozialer Interpretation zu verwehren. Ein richtiger Thriller ist er mangels klassischer Spannung aber auch nicht. Genauso wenig ist er ein Krimi oder ein Milieudrama, denn polizeiliche Ermittlungen und die sozialen Lebenswelten der Protagonisten spielen nur eine geringe Rolle. Auch als psychologisches Drama lässt sich der spanische Film kaum bezeichnen: beide Protagonisten bleiben bis zum Schluss geradezu undurchdringlich. Sie sprechen fast nur durch ihr Handeln – im wörtlichen Sinne allerdings nur selten. Wer aufgrund des Inhalts und der Filmplakate einen Exploitationfilm erwartet, wird auch enttäuscht werden: wie der Rest des Films sind auch die tatsächlich häufigen Mordszenen mit minimalistischem Understatement inszeniert.

Ein latenter schwarzer Humor durchzieht den ganzen Film: das merkt man, wenn nach drei Morden in den ersten Minuten die Anfangscredits mit ihrer beschwingten Chopin-Walzer-Variation einsetzt. Immer wieder kippt die Atmosphäre: von düster zu beschwingt, von gewalttätig zu quickfröhlich, von beklemmt zu gelöst, von fatalistisch zu hoffnungsvoll, von melancholisch zu absurd – und wieder zurück. Manchmal aber auch alles gleichzeitig. So ist EL PLACER DE MATAR im Gegensatz zum musikalischen Leitmotiv polytonal. Jedoch hat er gewissermaßen tatsächlich die Form eines Walzers: zwei Tanzpartner drehen sich im Kreis, bewegen sich zwar, aber in keine bestimmte Richtung, und durchschreiten manchmal auch wieder die selbe Stelle im Tanzraum.

Narrativ so richtungslos wie magisch!
Diese narrative Richtungslosigkeit könnte den einen oder anderen Zuschauer vielleicht abschrecken, kann aber auch als Chance begriffen werden. Das Ende der Killerpartnerschaft erscheint nicht als deterministisch, sondern als ein zufälliger Ausgang von vielen vorangehenden Konstellationen und Momenten. Einer dieser Momente folgt direkt dem Mord an Andrés‘ Verlobten: die beiden Mörder streifen ausgelassen und entspannt durch eine Einkaufsgalerie. Luis will Zigaretten holen gehen. Auf dem Weg zum Tabakstand lässt er höflich eine junge Dame ihren Weg passieren. Nach Kauf der Glimmstängel überholt ihn dieselbe Frau, und zwinkert dabei Luis an. Dieser stellt sich vor der Vitrine eines Fernsehgeschäfts, schaut ein wenig fern, steckt sich eine Zigarette in den Mund, als erneut die junge Frau auftaucht und eine winzige Pistole zückt und auf ihn zielt. Sie drückt ab, eine Flamme erscheint, und sie zündet ihm die Zigarette an. Dann schenkt sie ihm das Feuerzeug und geht weg. Luis schmunzelt, geht einige Schritte weiter, setzt sich zu Andrés an den Tisch und schenkt ihm wiederum das Feuerzeug... Vielleicht die wunderbarste Sequenz des ganzen Films, deren lockere Nonchalance noch verstärkt wird durch die Tatsache, dass die Ermordung von Andrés‘ Verlobter ihr voranging.

Kurz: es ist sehr schwer, den Sog der Faszination, den EL PLACER DE MATAR entwickelt, adäquat zu begreifen. Der Film schein sich bewußt jeglichen Zugriffs zu verweigern, auch wenn er oberflächlich nicht besonders „schwierig“ oder gar irgendwie verkopft wirkt. Am ehesten könnte man das so beschreiben: man stelle sich vor, zwei „asoziale“ Gangster aus einem späten Melville-Film würden in das Universum eines späten Buñuel-Films eintauchen, in dem Logik, Ratio und Ursache-Wirkungs-Prinzipien keine Rolle spielen... Das ist allerdings nur eine sehr assoziative Annäherung. EL PLACER DE MATAR ist ganz und gar ein eigenes Original.

Der Regisseur, Félix Rotaeta, war von Haus aus Theater-, Fernseh- und Kinoschauspieler, Journalist, und Theaterautor. In den 1970er Jahren spielte er vor allen Dingen in TV-Serien mit. Einem mäßig breiten internationalen Publikum ist er bekannt als Darsteller in Pedro Almodóvars PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTÓN von 1980. Rotaeta war auch Schriftsteller, und mit EL PLACER DE MATAR hat er seinen eigenen Roman „Las pistolas“ verfilmt. Als Regisseur hat er nur einen Kurzfilm, ein Segment eines Episodenfilms, eine TV-Serien-Folge und einen weiteren abendfüllenden Film gedreht. 1994 ist er, gerade mal 52-jährig, in Barcelona verstorben.




Es ist der Zufall, der einem manchmal die seltsamsten Filme in die Hände spielt. Im Falle von EL PLACER DE MATAR heißt dieser Zufall luzifus von the-gaffer.de: auf mein eindringliches Flehen hin hat er mir vor mehreren Wochen seine DVD von Álex de la Iglesias PERDITA DURANGO ausgeliehen. In der Bonus-Sektion der Scheibe befinden sich nicht nur eine „Bildergalerie“ (= anamorphisch verzerrte Screenshots aus dem Film), „Hintergrundinformationen“ (= mangelhaft lektorierte Kurz-Bios zu Javier Bardem und Rosie Pérez) und eine „Trailershow“ (= Trailer zu SHALLOW GROUND und THA EASTSIDAZ), sondern tatsächlich auch: „Pleasure of Killing (Bonusfilm)“...
Daher habe ich den Film nicht gerade unter besten Bedingungen gesehen: in Synchronfassung (es gab nur die), im zwar richtigen, aber nicht anamorphischen Bildformat und in einer grausam fürchterlichen Qualität (die dadurch, dass der 90-Minuten-Film nur Beigabe zu einem 125-Minuten-Film auf einer einzigen Scheibe ist, nicht gerade besser wird). Die Screenshots bezeugen auch letzteres.
Glaubt man den Kommentaren bei ofdb, so sind auch die „richtigen“ DVD-Editionen dieses Films nicht wirklich besser, was Bildqualität betrifft. Und die Editionen mit der spanischen Originalversion haben keine Untertitel, dafür aber das falsche Bildformat... Und offenbar sind diese mangelhaften deutschen Veröffentlichungen die einzigen DVD-Editionen, die es gibt!
Da EL PLACER DE MATAR  entweder als schmuddeliger Actioner oder als reines Antonio-Banderas-Vehikel vermarktet wird, ist nicht vorauszusehen, dass irgendwann einmal eine richtige (ohne Anführungszeichen) DVD-Edition dieses absolut bemerkenswerten und bizarren Films kommen wird. Leider!

Samstag, 5. Oktober 2013

Ein Fisch als Detektiv

POLAR (POLAR - UNTER DER SCHATTENLINIE, POLAR - EIN DETEKTIV SIEHT SCHWARZ)
Frankreich 1984
Regie: Jacques Bral
Darsteller: Jean-François Balmer (Eugène Tarpon), Sandra Montaigu (Charlotte Le Dantex), Roland Dubillard (Jean-Baptiste Haymann), Pierre Santini (Inspektor Coccioli), Marc Dudicourt (Le Loup), Jean-Paul Bonnaire (Gérard Sergent), Claude Chabrol (Théodore Lyssenko)

Eugène Tarpon
Jacques Brals POLAR ist eine wunderbare Hommage an den alten Film noir, an Hollywoods Schwarze Serie, und doch ein durch und durch französischer Film. Eugène Tarpon, der traurige Held der Geschichte, ist Privatdetektiv, ein Nachfahre im Geiste von Sam Spade und Philip Marlowe - mit einigen Abweichungen. Sein stilechtes Voice-over wird den Film durchgehend begleiten. Tarpon - wie ihm im Verlauf des Films mehrfach erklärt wird, obwohl er es natürlich ohnehin weiß, der Name einer Fischgattung (Tarpun auf Deutsch, wiss. Megalops) - war früher Gendarm, aber er hat den Dienst quittiert, nachdem er bei einer Demonstration versehentlich einen Demonstranten mit einer Tränengasgranate getötet hatte. Jetzt ist er also Detektiv - und zwar ein völlig erfolgloser. Er ist melancholisch, ziemlich lethargisch, und dass sein Büro im 4. Stock (ohne Lift) liegt, trägt auch nicht zu seinem Erfolg bei. Ein Stümper ist er aber nicht - er kennt die Regeln und die nötigen Tricks, und obwohl er kein sportlicher Typ ist, körperlich sogar schlaff und träge wirkt, kann er auch hinlangen, wenn es sein muss. Als ihn eine kleine Ratte mit Springmesser "überreden" will, ihn zu seinen Auftraggebern zu begleiten, überrumpelt und entwaffnet ihn Tarpon auf eine geradezu demütigende Weise. Die Szene erinnert etwas an John Hustons THE MALTESE FALCON, wo Sam Spade Mr. Gutmans Revolverhelden Wilmer Cook ähnlich vorführt. Doch Tarpons Kommentar dazu im Voice-over zeigt, dass er kein Sam Spade und kein Humphrey Bogart ist: "Ich hab dich geschlagen, weil du mir Angst gemacht hast. Kein Grund, darauf stolz zu sein."

Schutzloses Mädchen oder femme fatale?
Nach drei Monaten fast ohne Kunden, ohne Fall, steht Tarpon vor der Pleite, und er resigniert. Er ruft seine Mutter an und kündigt an, seine Zelte in Paris abzubrechen und in das kleine Dorf mit 50 Einwohnern zurückzukehren, aus dem er stammt. Doch natürlich kommt es anders. Als er das Büro eigentlich schon geschlossen hat, steht eine wunderschöne junge Frau vor der Tür und bittet um seine Hilfe. Charlotte Le Dantex, wie sie sich vorstellt, ist verzweifelt, weil ihre Freundin Louise Dupuis ermordet wurde, und weil sie jetzt fürchtet, dass die Polizei sie für die Mörderin halten wird. Denn eigentlich war Louise nicht wirklich ihre Freundin. Eigentlich mochte sie sie nicht mal. Eigentlich hasste sie sie sogar. Der pragmatische Tarpon drängt darauf, zunächst einmal die Polizei über den Mord zu informieren, doch Charlotte sträubt sich, und als Tarpon sie nicht ohne Anruf bei der Polizei gehen lassen will, gibt sie ihm einen Tritt in die Eier und verduftet. Tarpon will der Sache auf den Grund gehen und fährt mit dem Taxi (einen eigenen Wagen besitzt er nicht) zu Louises Adresse - und läuft geradewegs der Polizei in die Arme, die bereits am Tatort ermittelt. Und schon steckt Tarpon bis über beide Ohren in einem verworrenen Mordfall. Nacheinander treten verschiedene Personen an ihn heran, die alle etwas von ihm wollen. Zunächst verhört ihn Inspektor Coccioli, der den Mord bearbeitet, stundenlang; vor allem will er wissen, wo sich Charlotte Le Dantex aufhält, aber damit kann Tarpon nicht dienen, und weil nichts Konkretes gegen ihn vorliegt, wird er laufen gelassen. Vor dem Polizeipräsidium wird er von dem verkrachten und versoffenen Journalisten Haymann aufgegabelt, der eine Geschichte über den Mord schreiben will. Er glaubt, dass Tarpon mehr über den Fall weiß, als er zugibt, und er will von ihm mit Einzelheiten für seine Story versorgt werden. Später trifft Tarpon die Auftraggeber der kleinen Ratte, zwei Revolverhelden. Sie bringen ihn zu ihrem Chef in einer Waldgegend außerhalb von Paris. Der Chef, der sich in einem weißen Rolls-Royce kutschieren lässt, will ebenfalls wissen, wo sich Charlotte aufhält. Als Tarpon danach Haymann erzählt, dass er im Wald war, fragt dieser scherzhaft, ob er dem Wolf begegnet sei. Fortan ist der Chef im Rolls-Royce für Tarpon "der Wolf" - Le Loup. Seinen tatsächlichen Namen erfährt man bis zuletzt nicht.

Nach dem Verhör durch Coccioli sieht Tarpon nicht mehr frisch aus
Als nächstes steht Gérard Sergent bei Tarpon auf der Matte. Er hat Louise geliebt - zumindest behauptet er das -, und nun erklärt er ganz unverblümt, dass er ihren Mörder tot sehen will. Und als ersten Schritt dazu - Überraschung! - soll ihm Tarpon verraten, wo sich Charlotte Le Dantex befindet. Obwohl Tarpon protestiert, lässt ihm Sergent bei seinem Abschied einen Batzen Geld da. Der Reigen geht weiter: Zwei Ganoven entführen Tarpon und halten ihn in einer Bruchbude irgendwo außerhalb von Paris gefangen. Doch, o Wunder, sie wollen nicht wissen, wo Charlotte steckt. Mehr noch: Sie taucht plötzlich selbst in Tarpons Gefängnis auf, und sie kennt die Entführer, steckt anscheinend sogar mit ihnen unter einer Decke. Dann taucht auch der Drahtzieher der Entführung auf, der Fotograf Alfonsino, der mit Louise zu tun hatte, und er gibt den Befehl, Tarpon umzubringen. Gleichzeitig nimmt er Charlotte einen kleinen Gegenstand ab, der noch eine wichtige Rolle in dem Fall spielen wird, dann verschwindet er. Es steht also schlecht, doch da kreuzen auch die beiden "Sekretäre" (wie er sie nennt) von Le Loup auf und erschießen Alfonsinos Handlanger. Tarpon und Charlotte nutzen das Durcheinander zur Flucht, und um endlich aus der Schusslinie zu geraten, nehmen die beiden ein Zimmer in einem billigen Hotel. Charlotte, die ziemlich verzweifelt ist, oder vielleicht auch nur so tut, wirft sich Tarpon an den Hals, und sie schläft sogar mit ihm. Doch ganz traut er ihr nicht - zu Recht. Er beschattet sie, als sie ohne ihn das Atelier von Alfonsino aufsucht, und er findet dort Alfonsinos Leiche. Tarpon will jetzt Charlotte der Polizei ausliefern, und diese rückt nun mit einer neuen Geschichte heraus: Sie selbst hat Louise umgebracht. Die beiden hatten sich als 16-jährige Teenager kennengelernt und allerhand gemeinsam erlebt, aber Louise hatte sich immer mehr zu einem Ungeheuer entwickelt, das alle möglichen Menschen in ihrer Umgebung in den Abgrund riss, und Charlotte hatte sich durch den Mord aus der fatalen Abhängigkeit befreit - sagt sie. Den Mord an Alfonsino streitet sie aber ab. Als Tarpon sie noch einmal in Alfonsinos Atelier schleppt, steckt sie heimlich den Gegenstand wieder ein, den ihr Alfonsino zuvor abgenommen hatte. Danach verständigt Tarpon die Polizei von Alfonsinos Ableben, und er kann sich wieder einmal mit Coccioli herumschlagen.

Haymann
Fast immer hat Tarpon bisher nur reagiert, statt selbst zu agieren. Nur einmal dreht er den Spieß um und ergreift selbst die Initiative, um jemanden zu befragen, nämlich den Pornoregisseur Lyssenko (von Claude Chabrol mit einer guten Portion Selbstironie dargestellt), in dessen Filmen Louise mitgespielt hat, doch dabei erfährt er nicht viel, außer dass Lyssenko von einem Unbekannten bedroht wird. Unterdessen wurde Haymann von den "Sekretären" des Wolfs böse verprügelt, weil sie wissen wollten, wo Tarpon und Charlotte sind (und er beides nicht wusste). Als Le Loup noch einmal aufkreuzt, stellt sich heraus, worauf er wirklich aus ist, nämlich jenen ominösen Gegenstand, der schon mehrfach den Besitzer wechselte. Aus einem Zeitungsbericht, der nur kurz und undeutlich zu sehen ist, kann man entnehmen, dass es sich um eine wertvolle Statuette handelt. Der längst heillos verwickelte Fall strebt nun seinem Ende zu. Um es kurz zu machen: Charlotte wird verhaftet und wieder freigelassen, Sergent wird beim Versuch, Lyssenko zu ermorden, von Coccioli erschossen, Tarpon bekommt dabei auch eine Kugel von Sergent ab, wird aber im Krankenhaus wieder hochgepäppelt. Der tote Sergent wird von der Polizei als der Mörder von Alfonsino (was wahrscheinlich stimmt) und von Louise (was sicher nicht stimmt) präsentiert. Charlotte besucht Tarpon im Krankenhaus ein paar Mal, aber dann verschwindet sie, und Tarpon sieht sie nie wieder. Wegen der vielen Halbwahrheiten, die er der Polizei erzählt hat, wird er vom Untersuchungsrichter zur Schnecke gemacht, aber ohne formale Anschuldigung laufen gelassen. Und nach einigen Wochen bekommt Tarpon einen Brief von Charlotte mit einem Scheck über 30.000 Francs. Sie rät ihm, kein Depp zu sein, sondern den Scheck einzulösen, und er befolgt den Rat. Tarpon wurde mehrfach beschossen und entführt, aber es hätte schlimmer kommen können. Und er behält jetzt erst mal sein Detektivbüro.

Ein Ganove zuerst mit und dann ohne Messer
Uff! Am Ende hat man ein schwer durchschaubares Knäuel an Handlungsfäden vor sich, das man beim ersten Sehen des Films nur schwer nachvollziehen kann, und man kann trefflich über nicht aufgeklärte Hintergründe spekulieren (z.B., ob Charlotte von Anfang an in die Machenschaften um die Statuette verwickelt war und vielleicht sogar deshalb Louise getötet hat - was eine viel dunklere Figur aus ihr machen würde). Dass der Fall so verworren ist, ist keineswegs ein Versehen (wie etwa in LA NUIT DU CARREFOUR), sondern gehört erkennbar zum Konzept, und es erinnert natürlich an Vorbilder wie Howard Hawks' THE BIG SLEEP und an THE MALTESE FALCON. Eine konkrete Ähnlichkeit zu letzterem Film habe ich bereits erwähnt, und dass eine wertvolle Statuette zur Triebfeder des Geschehens wird, ruft natürlich das eponyme Utensil aus THE MALTESE FALCON ins Gedächtnis. Während in den Vorbildern meistens eine femme fatale zugegen ist, hat man bei POLAR gleich zwei davon, die tote Louise und die umso präsentere Charlotte.


POLAR endet nicht mit FIN, sondern À SUIVRE (FORTSETZUNG FOLGT), doch ein Sequel gibt es nicht - dabei wäre der Stoff dazu vorhanden gewesen. Denn der Film beruht auf dem 1973 erschienenen Roman Morgue pleine von Jean-Patrick Manchette, dem er 1976 mit Que d'os ! einen weiteren (und letzten) Roman mit Eugène Tarpon als Helden folgen ließ. Ich weiß aber nicht, ob beim Dreh von POLAR tatsächlich beabsichtigt war, auch Que d'os ! zu verfilmen. Jean-Patrick Manchette war in den 70er Jahren einer der führenden Autoren des Néo-polar, einer stärker politisch ausgerichteten Variante des Roman noir. Manchette wurde aufgrund seiner sprachlichen Meisterschaft auch von der "gehobenen" französischen und internationalen Literaturkritik anerkannt (sein Roman Nada fand Eingang in die geheiligten Hallen von Kindlers Literaturlexikon), und seine Vorlage trägt dazu bei, aus POLAR trotz aller Hommage doch einen sehr französischen Film zu machen. Dem dient auch die ungemein atmosphärische, den resignativen Geist des Films tragende Musik von Karl-Heinz Schäfer. Schäfer vertonte von 1973 bis 1993 gerade mal zehn Filme, darunter noch einen weiteren von Bral, ansonsten habe ich nicht viel über ihn herausgefunden, als dass er Komponist, Arrangeur und Dirigent war. Regisseur Jacques Bral, 1948 in Teheran geboren, hat auch nur ein schmales Œuvre von sechs Spielfilmen vorzuweisen, von denen ich außer POLAR keinen kenne. Nebenbei produzierte Bral 1989 Sam Fullers letzten Kinofilm STREET OF NO RETURN.


POLAR wird vom Anfang bis zum Ende getragen von Jean-François Balmer. Der gebürtige Schweizer und naturalisierte Franzose Balmer ist einfach umwerfend als Tarpon. Die Mischung aus Resignation und Berufsehre, aus Phlegma und genau dosierter Action gelingt ihm schlichtweg perfekt. Mit seinem weichen Erscheinungsbild und seiner sanften Stimme hat er, wie schon erwähnt, nichts von einem Bogart, eher schon ein bisschen von Robert Mitchum, aber er ist kein Epigone, sondern er erschafft eine völlig eigenständige Figur. Ich kenne nicht viele Filme des bis heute vielbeschäftigten Balmer (zusammen vielleicht ein halbes Dutzend), aber ich würde doch meinen, dass ihm mit Tarpon eine der Rollen seines Lebens gelungen ist. Aber auch Sandra Montaigu verfügt nicht nur über optische Reize, sondern spielt ausgezeichnet, und auch Roland Dubillard als Haymann und die anderen Nebendarsteller überzeugen. - POLAR ist in Frankreich auf einer DVD ohne Untertitel erschienen. Deutsche Untertitel gibt es zum Download auf einschlägigen Seiten.

Der Wolf und seine "Sekretäre" besuchen Haymann und Tarpon

Sonntag, 22. September 2013

Ein siebenbürgischer Emigrant in Mexiko


EL VAMPIRO
Mexiko 1957
Regie: Fernando Méndez
Darsteller: Ariadna Welter (Marta), Abel Salazar (Dr. Enrique), Germán Robles (Duval), Carmen Montejo (Eloisa), Alicia Montoya (María)


Die junge Marta reist zum Landgut ihrer Tante María, die gerade im Sterben liegt. Am Bahnhof ist jedoch niemand da, um sie abzuholen und so kommt sie mit einem anderen Reisenden ins Gespräch, der ohne Mitfahrgelegenheit da steht: Dr. Enrique. Da sie beide nicht am Bahnhof übernachten möchten, überzeugen sie nur mit großer Mühe einen Kutscher, sie ein Stück weit mitzunehmen. An einer Weggabelung werden sie höchst unfreundlich weggeschickt. Auf dem Landgut stellt sich heraus, dass Martas Tante María verstorben ist und bereits beerdigt wurde. Als Erbin der Hacienda muss Marta nun entscheiden, was mit dem bereits stark verfallenden und verödenden Gebäude passieren soll. Ihre Tante Eloisa bedrängt sie höchst penetrant dazu, die Immobilie zu einem Freundschaftspreis an den adeligen Nachbarn Duval zu verkaufen. Das tut die düstere Tante durchaus in eigenem Interesse: Duval ist nämlich nicht nur ihr Liebhaber, sondern wie sie selbst auch ein Vampir...

Die Menschen (oben): Marta und Dr. Enrique
Die Vampire (unten): Eloisa und Duval
Ein Vampirfilm aus Mexiko – das klingt zunächst einmal ziemlich exotisch und abgefahren. Ist es aber eigentlich nicht wirklich. Denn Horrorfilme haben im mexikanischen Kino schon seit den 1930er Jahren eine eigene Tradition. Diese ist vor allem verbunden mit dem Namen Juan Bustillo Oro, der in diesem Jahrzehnt zahlreiche Drehbücher schrieb und Filme inszenierte, die in Mexiko großen Erfolg hatten, jedoch außerhalb des Landes kaum wahrgenommen wurden. In den 1950er Jahren erlebte das mexikanische Kino eine zweite Horrorfilm-Welle, und an dieser war Fernando Méndez maßgeblich beteiligt. Méndez wurde 1908 in eine bereits recht filmaffine Familie geboren: Sein Onkel, Francisco Garcia Urbizu, war in den 1920er Jahren Stummfilmregisseur. Méndez selbst ging Anfang der 1930er Jahre in die USA, wo er das Filmhandwerk erlernte, kehrte dann in seine Heimat zurück und inszenierte 1939 seinen ersten Film. In den 1950er Jahren wurde er zu einem der produktivsten Regisseure Mexikos: zwischen 1950 und 1961 drehte er 36 Filme – Komödien, Westerns, Musicals, und eben auch Horrorfilme. Nur kurze Zeit vor EL VAMPIRO erzielte sein LADRÓN DE CADÁVERES ein Sensationserfolg in den mexikanischen Kinos. In diesem Film ermitteln ein Detektiv und ein Wrestler gegen einen verrückten Wissenschaftler, der Sportlern Tiergehirne einpflanzt. Mit diesem Film trug Méndez auch wesentlich zum mexikanischen Sub-Genre des Lucha-Libre-Horrorfilms bei: Horrorfilme, in denen Wrestler maßgebliche Figuren sind. Sein EL VAMPIRO, tatsächlich nur eine Woche nach LADRÓN DE CADÁVERES veröffentlicht, war ein ebenso großer Erfolg in Mexiko und zog ein Sequel nach sich (EL ATAÚD DEL VAMPIRO, 1958). Wegen Gesundheitsproblemen zog sich Méndez 1961 aus dem Filmgeschäft zurück, und verstarb fünf Jahre später an einem Herzinfarkt in Mexico City.

EL VAMPIRO, in Mexiko ein Sensationserfolg, erlitt im Ausland ein etwas unglückliches Schicksal. Die Hammer Film Productions in Großbritannien lancierten etwa zeitgleich ihre äußerst erfolgreiche Dracula-Reihe mit Christopher Lee, beginnend mit DRACULA, der seine US- und UK-Premieren über ein halbes Jahr nach der Mexiko-Premiere von EL VAMPIRO feierte. Der internationale Vertrieb des mexikanischen Kassenschlagers jedoch zog sich wesentlich länger hin, als diese wenigen Monate. Als EL VAMPIRO also schließlich auch in nordamerikanische und europäische Kinos kam, hatte das dortige Publikum schon längst den DRACULA mit Christopher Lee kennen und lieben gelernt. Gegenüber dem britischen Technicolor-Film wirkte der mexikanische Schwarzweiß-Film durch das höchst ungünstige Timing wie ein Billig-Abklatsch der Hammer-Produktion, obwohl er in Wirklichkeit als erster gedreht worden war!

Deep focus photography & intradiegetische Rahmen
Die bemerkenswerten ästhetischen Qualitäten des lateinamerikanischen Vampirfilms blieben deshalb jahrelang eher unbeachtet. Vom Drehbuch her ist EL VAMPIRO eher schwach: es ist bestenfalls als solides Mittelmaß zu bezeichnen, und auch die Figuren wirken größtenteils wie grobe Klötze aus dem Genre-Baukasten. Umso bemerkenswerter sind die ausdrucksstarken Bilder, die Méndez mit seinem Kameramann Rosalío Solano und seinem Setdesigner Gunther Gerszo geschaffen hat und deren Wirkung durch Gustavo César Carrións dramatische Musik noch verstärkt wird. EL VAMPIRO geht vollkommen in seinen bedrohlichen Bildern und seiner brodelnden Atmosphäre auf. Die Welt des Films spielt in höchst künstlichen, barocken Studiobauten, die mit Nebel durchflutet und mit zahllosen vollen Spinnweben verhangen sind, erleuchtet in starken Hell-Dunkel-Kontrasten.

Das Landgut, in dem der größte Teil der Handlung spielt, inszenieren die Macher praktisch als eigenständige Filmfigur, als drohendes Monstrum, das die Figuren geradezu zu verschlucken droht: in zahlreichen Totalen (besonders in den Innenhof-Szenen) werden sie zu „Winzlingen“ degradiert, und von intradiegetischen Rahmen noch zusätzlich bedrängt. Letzteres ist ein Stilmittel, das 35 Jahre zuvor schon Friedrich Wilhelm Murnau in NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS ausgiebig im Prototyp des Vampirfilms eingesetzt hatte. In EL VAMPIRO verbindet Méndez dieses Mittel mit einer sehr ausladenden Raumtiefe. Die Analogien zum Stummfilm erschöpfen sich allerdings nicht nur darin, dass er allgemein ein „expressionistisches“ Feeling hat. Vielmehr hat Méndez‘ Film auch ausgedehnte, minutenlange Passagen ohne jegliche Dialoge und mit gedämpfter Geräuschkulisse, in denen die Handlung ausschließlich durch die Bilder, die Montage, die teils sehr komplexen Kamerafahrten und die Musik vorangetrieben werden. Man könnte natürlich sagen, dass auch die Spezialeffekte auf dem Niveau von Stummfilmen sind: die technischen Unzulänglichkeiten sind kaum zu übersehen (die Modell-Fledermäuse sind recht „putzige“ Stoffknäuel und die Fäden, an denen sie gezogen werden, sind klar sichtbar), allerdings dürfte man sie bei der schieren visuellen Fantasie, die der Film sonst aufzubieten hat, rasch vergessen. Denn EL VAMPIRO ist durch und durch ein 80-minütiger visueller Leckerbissen.

Höchst interessant ist auch, wie der Film den Vampir, ein europäisches Konstrukt, und seinen metaphorischen Anhang sehr glaubwürdig in einen spezifisch mexikanischen Kontext einbettet. EL VAMPIRO spielt nicht in einem nachgebauten Europa, sondern in einem nachgebauten ländlichen Mexiko, wo starker Katholizismus und bäuerlicher Volks-Aberglaube einen guten und natürlichen Nährboden für den Vampirismus bilden. Das wird besonders in der beeindruckenden Begräbnis-Sequenz zu Beginn sehr deutlich. Der Blutsauger-Mythos, auch eine Metapher für den Untergang des Adels in der bürgerlichen Gesellschaft, wirkt in einer verfallenden mexikanischen Hacienda nicht weniger plausibel als auf dem Landsitz eines Adeligen in Osteuropa. Dass der Hauptvampir des Films letztendlich doch ein Emigrant aus Siebenbürgen ist und seine ungarische Erde in Holzkisten importieren muss, bestätigt eigentlich nur den Befund, wie anpassungsfähig so ein Blutsauger doch ist.

Spukige Gestalten in der Hacienda
Selbstironie?
Wo man auch hinsieht: überall beigesetzte Méndez-Angehörige in der Familiengruft
Ein Film voller expressiver Bilder

EL VAMPIRO ist gibt es in britischer, italienischer, deutscher und US-amerikanischer DVD-Edition. Ich persönlich kann die deutsche Edition von Subkultur Entertainment nur wärmstens empfehlen: solide Bild- und Tonqualität, hübsche Aufmachung, dazu ein schönes Booklet mit einem Essay von Caspar Lein, dem ich einige Informationen für diese Besprechung verdanke.
Noch eine kleine Bemerkung: gemäß imdb dauert der Film 95 Minuten, und wurde in Großbritannien in einer 84-Minuten-Fassung veröffentlicht. Es wäre also zu vermuten, dass es eine einheimische mexikanische Fassung gibt, und für die internationale Auswertung eine kürzere Version erstellt worden ist. Tatsächlich aber dauern alle DVD-Fassungen, die ich gefunden habe, 84 Minuten bzw. (mit Frame-Rate-Unterschied) 80 Minuten. Gemäß ofdb dauert gerade auch die Fassung auf der mexikanischen DVD nur 84 Minuten. Hiermit seien also die Spekulationen eröffnet: gab es tatsächlich unterschiedliche Cuts und die mexikanische 95-Minuten-Urfassung ist verschollen? Gab es eine Vorpremieren-Fassung, die kurz vor der Auswertung in Mexiko noch umgeschnitten wurde (und auch verschollen ist)? Oder irrt sich imdb?

Samstag, 7. September 2013

Zwischenruf: Nehmt euch in acht!

Denn Filme gucken ist gefährlich! Es ist an der Zeit, diese seit Jahrzehnten bekannte, aber sträflich vernachlässigte Tatsache wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen. Schon vor 100 Jahren warnte ein verdienstvoller Kämpfer für die Volksgesundheit vor den unvermeidlichen Folgen des Filmkonsums:
Der schnelle Bildwechsel in Verbindung mit dem Flimmern der Bilder strengen bei längerem Verweilen im Lichtbildtheater Augen und Nerven so sehr an, daß bei häufigerem Besuch dieser Veranstaltungen sicher Schädigungen eintreten. Es interessierte mich nun die Frage, wie lange kann ein Mensch derartigen Vorführungen beiwohnen?
Ich wählte aus: einen Durchschnittsmenschen robuster Konstitution, einen geistig tätigen Akademiker, beide mit gesunden Augen, alsdann einen nervösen Künstler mit einer Schwäche der Augennerven. Wir wohnten nun gemeinsam einer Kinodauervorstellung bei. Am frühesten versagte erstaunlicherweise der kerngesunde Mensch. Nach kaum mehr als 5 Stunden zeigte sich hochgradige Ermattung, eine Schwere der Lider. Der Akademiker hielt etwas über 5½ Stunden stand. Der nervöse Künstler, der schon vor Ablauf von 2½ Stunden Augentränen, nach 3 Stunden Kopfweh bekam, hielt 550/60 Stunden aus. Noch lange nach dem Niederlegen war ihm zumute, als hebe und senke sich die Bettstatt mit ihm.
Die hohe Schädlichkeit für Augen und Nerven dürfte damit erwiesen sein und man sollte jeder Einschränkung des Kinogewerbes aus gesundheitlichen Gründen zujubeln.
(Die Umschau in Wissenschaft und Technik 13, 1913. Zitiert nach Spektrum der Wissenschaft, März 2013, S. 97)
Die repräsentative Stichprobe von 3 (in Worten: drei) Probanden lässt keinen Zweifel an der Stichhaltigkeit dieses erschütternden Ergebnisses zu. Doch nicht nur gesundheitliche Zerrüttung, nein, schlimmer noch, auch moralische Verlotterung drohen, ja sind für die gefährdete Jugend geradezu unabwendbar:
Wahrlich: dieser Kino ist der passende Ausdruck unserer Tage. Dieser Abklatsch der nackten Wirklichkeit, diese brutale Bildreporterei konnte nur in einer Zeit zu Ehren kommen, in der die Phantasie in die Leichenschauhäuser und auf die Verbrecherfährten gedrängt ist. Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäuser, diese triviale Dreiheit gehören zusammen. Und angesichts dieser Zeiterscheinungen ist es schwer, von Kulturfortschritten zu träumen.
(Franz Pfemfert. In: Die Aktion, 19.06.1911. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 30)

Das zeigt, wie sehr in den Großstädten die Jugend unter dem Banne des Kino steht. Mag immerhin der einzelne Film nicht zweideutiger sein als manche Operette und manches Lustspiel, so muß man doch bei der Häufigkeit des Besuches, bei dem Interesse, das besonders den Sittendramen entgegengebracht wird, und in Anbetracht der Begleitung durch die "Freundin" oder den "Freund" von einer starken sittlichen Gefährdung der Großstadtjugend durch den Kino reden.
(Subrektor Eduard Mayrhofer. In: Volkswohl, Wien, Nr. 6, 1914. Zitiert nach Altenloh2, S. *32)

Es wächst im Volke unter dem Einfluß des Kinos ein ganz neuer seelischer Typus heran. Eine Menschenart, die nur noch in groben Allgemeinvorstellungen zuckend "denkt", die sich von Eindruck zu Eindruck haltlos hinreißen läßt, die gar nicht mehr die Fähigkeit hat, klar und überlegen zu urteilen. Eine Menschenart, die während der Revolution bereits unheilvoll genug gewirkt hat, und die, je mehr Generationen durch den seelischen Zermürbungsapparat des Kinos bearbeitet werden, immer mehr anwachsen und der Kultur (auch der politischen Kultur) ihr Gepräge geben wird. Das Kino bildet einen neuen, geistig wie sittlich minderwertigen Menschentyp: den homo cinematicus.
(Wilhelm Stapel: Der homo cinematicus. In: Deutsches Volkstum, Okt. 1919. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 39)

Geradezu vergiftend wirkt der Detektiv- oder Aufklärungsfilm auf die Jugend, bei der das ganze Geistesleben sich noch in der Entwicklung befindet, die Einbildungskunst viel lebhafter arbeitet, die Eindrücke stärker wirken, die verstandesmäßigen Hemmungen oft fehlen und daher die Gefahr der Verführung viel größer ist. Wie unendlich viele Jungen hat das Kino schon vor Gericht und ins Gefängnis gebracht, und jeder Tag fordert neue Opfer. Der Jugendrichter, der Seelsorger, der Verteidiger, der nach dem Grunde der Tat forscht, hört von den Angehörigen immer wieder: er konnte nicht anders, er mußte in alle Films rennen, und dort sieht und lernt er ja, wie er es zu machen hat!
(Dr. jur. Galleiske: Kino und Kriminalität. In: Der Reichsbote, 10.10. 1919. Zitiert nach Jacobsen/Kaes/Prinzler1, S. 42ff.)
Doch alles Mahnen war umsonst! Selbst eine so vorbildliche Publikation wie Die Hochwacht. Monatsschrift zur Bekämpfung des Schmutzes und Schundes in Wort und Bild konnte der bestürzenden geistig-moralischen Verwahrlosung nicht Einhalt gebieten!


"Der Kino ist eben in erster Linie für moderne Menschen da." (Emilie Altenloh)

Nun aber Schluss mit dem Unsinn! Denn ich möchte gar nicht den Eindruck erwecken, als hätten Wissenschaftler und andere Bedenkenträger damals nur Blödsinn zum Thema Film verzapft. Ganz im Gegenteil: Ebenfalls vor 100 Jahren entstand Emilie Altenlohs Dissertation Zur Soziologie des Kino (Heidelberg 1913, gedruckt 1914 in Jena), die als weltweit erste ernsthafte wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet gilt. Die Befragungen unter Kinogängern, die die Basis des zweiten Teils der Dissertation bilden (der erste Teil beschäftigt sich mit den Grundlagen der Filmproduktion), führte die Autorin 1911/12 in Mannheim und Heidelberg durch. Altenlohs Datenbasis war etwas größer als die des wackeren Mediziners von oben: Sie verteilte mehr als 3000 Fragebögen. Die rund 100-seitige Schrift des "Kinematographen-Mädels" - wie sie ihr Doktorvater Alfred Weber (Bruder von Max Weber) in einem Brief an seine Geliebte Else Jaffé einmal nannte - mit dem Untertitel Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, die ihr ein "summa cum laude" einbrachte, wurde oft zitiert, war aber lange schwer aufzutreiben. Doch seit 2012 wird das Buch als Faksimile nachgedruckt2, ergänzt um ca. 120 Seiten an alten und neuen Texten, die über Entstehung und Rezeption des Werks und über die Autorin informieren. Emilie Kiep-Altenloh, wie sie später hieß, ließ den Film im Stich und ging in die Sozialpolitik. In der Weimarer Republik war sie Abgeordnete der linksliberalen DDP in Altona und im Reichstag, und sie war Mitbegründerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Im Nationalsozialismus hatte sie politisches Betätigungsverbot, und sie vertrieb sich die Zeit, indem sie auch noch Biologie und Zoologie studierte, und sie beschäftigte sich mit der Ausbildung von Blindenhunden. Nach dem Krieg war sie für die FDP Abgeordnete und Senatorin in Hamburg, danach für eine Legislaturperiode im Bundestag. Sie starb 1985 mit 96 Jahren.


1 Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, 1993.

2 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Neu herausgegeben von Andrea Haller, Martin Loiperdinger und Heide Schlüpmann. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel, 2012.

Samstag, 31. August 2013

Psychologischer Krieg auf Guadalcanal: THE THIN RED LINE

THE THIN RED LINE (SIEBEN TAGE OHNE GNADE)
USA 1964
Regie: Andrew Marton
Darsteller: Keir Dullea (Private Doll), Jack Warden (Sergeant Welsh), Ray Daley (Captain Stone), James Philbrook (Colonel Tall), Bob Kanter (Private Fife)




DER ROMAN

„Lässig, viel lässiger als ihm zumute war, trat er zu einer der Leichen, um sie zu betrachten. Er überlegte, ob er mit dem Bajonett hineinstechen solle, um zu zeigen, daß auch er abgebrüht sei, glaubte aber, daß dies affektiert wirken könne.“ Viele wiederkehrende Themen und Motive aus James Jones Roman „The Thin Red Line“ sind in diesen zwei Sätzen enthalten: die Entmenschlichung im Krieg, der Verlust jeglichen moralisch-ethischen Kompasses, der allgegenwärtige soziale Druck in männlichen Kriegergemeinschaften.

Doch zunächst der Reihe nach: James Jones, Jahrgang 1921, erlebte als junger Soldat den Angriff auf Pearl Harbor und nahm wenig später an der Schlacht von Guadalcanal gegen die japanische Armee teil. Diese prägenden Erlebnisse verarbeitete er in einer literarischen Trilogie aus „From Here To Eternity“ (1951), „The Thin Red Line“ (1962) und „Whistle“ (1978). Der erste Roman wurde 1953 von Fred Zinnemann mit großem Staraufgebot verfilmt. Diese Adaption erhielt acht Academy Awards (bei 13 Nominierungen) und gilt heute als Filmklassiker der 1950er Jahre. „The Thin Red Line“ wurde ebenso zwei Jahre nach Erscheinen des Romans verfilmt, doch diese von Publikum und Kritikern weitestgehend ignorierte Leinwandadaption hinterließ im kollektiven Kino-Gedächtnis wenig Spuren – zu unrecht!

Der Roman „The Thin Red Line“ sorgte, genauso wie „From Here To Eternity“, mit seinem harten Naturalismus und seiner unapologetischen Charakterisierung des Krieges im Allgemeinen und der US-Armee im Speziellen für Furore. Er erzählt die Geschichte der Schlacht um Guadalcanal aus der Sicht einiger Dutzender Soldaten eines Regiments. Am Ende besteht das Regiment als Institution nach wie vor, doch in einer anderen personellen Zusammensetzung: Das Team vom Anfang der Schlacht ist zu großen Teilen entweder gefallen, oder als schwerverwundet abtransportiert worden, oder wegen tatsächlichem oder vermeintlichem Fehlverhalten versetzt worden. Ohne identifizierbare Hauptfigur und erst recht ohne Held folgt der Roman dieser Truppe durch die brutalen Schlachten, durch die zermürbenden Tagesmärsche, durch die Lazarette, und dabei auch durch das Alltags- und Seelen-Leben der Soldaten.

„The novel explores the idea that modern war is an extremely personal and lonely experience in which each soldier suffers the emotional horrors of war by himself.“ Diese Zusammenfassung beim englischen Wikipedia-Beitrag des Romans ist überaus zutreffend und als erste Erklärung sicherlich sehr einleuchtend. Die Soldaten in „The Thin Red Line“ werden stets von Gedanken, Wünschen, Ängsten und Gelüsten geplagt, die sie nie einem anderen Menschen mitteilen würden. Folglich prägen innere Monologe und auktoriale Gedanken-Beschreibungen einen großen Teil des Romans. Das einführende Zitat, in dem ein Soldat abwägt, inwiefern die Schändung einer Leiche seinem Status innerhalb der Mannschaft zu Gute kommt, ist typisch für den Grundton der Erzählung: Handlungen werden durch eine repressive soziale Konditionierung bestimmt, und nicht (mehr) durch eine moralisch-ethische Orientierung geprägt; Kameraderie und Solidarität sind negativ definiert, als (zeitweilige) Abwesenheit von Missgunst, Demütigungen, geäußertem Neid und latenter Gewalt zwischen den Soldaten, die den Normalzustand bilden; die völlige Dehumanisierung gegenüber dem Feind ist die Normalität, und nicht die Ausnahme.

Vor allem ist „The Thin Red Line“ auch ein Roman über die Herausforderung traditioneller Männlichkeitsvorstellungen. Fast noch mehr als vor japanischen Soldaten und deren Kugeln und Granaten fürchten sich die Soldaten davor, ihre Männlichkeit zu verlieren (oder das, was sie sich darunter vorstellen). Sie haben Angst, als Weicheier vor ihren Kameraden da zu stehen. Mutproben werden zu existentiellen Entscheidungen. Wer eine Grenzüberschreitung anfängt, wird sie bis zum bitteren Ende führen, etwa bei summarischen Hinrichtungen an japanischen Kriegsgefangenen oder später bei der Schändung ihrer Leichen. Bewusste oder unwillkürliche homosexuelle Neigungen werden mit aller Gewalt unterdrückt und verschwiegen. Der extreme Gruppendruck wirkt auf die Dauer genauso zermürbend wie die (nicht geäußerte) Angst vor den Gefechten. Einen Aufstand gegen diesen sozialen Zwang proben einige Soldaten, und scheitern letztendlich. Für den aufgestauten Druck bieten lediglich tagelange kollektive Besäufnisse und Massenprügeleien an den Ruhetagen ein Ventil. In der Tat: Krieg ist in „The Thin Red Line“ eine höchst individuelle und entfremdende Erfahrung.


DER FILM

Andrew Martons Verfilmung von James‘ Roman variiert einige Handlungsstränge, fokussiert sich auf wenige Hauptfiguren, hat aber zumindest ansatzweise versucht, atmosphärisch einige der eben genannten Motive des Romans filmisch umzusetzen. Im emotionalen Zentrum von THE THIN RED LINE steht der Soldat Doll – im Roman nur eine von vielen Dutzenden von Figuren, deren Eigenschaften teilweise auf ihn gebündelt übertragen werden. Doll hat nicht nur gegen japanische Soldaten und gegen den zunehmenden Verfall seiner psychischen Verfassung zu kämpfen, sondern auch gegen die permanenten Schikanen seines unmittelbaren Befehlsgebers, des Sergeant Welsh. Was sich als eine Art Reise in den Wahnsinn entwickelt ist episodisch gestaltet, allerdings im Gegensatz zum Roman relativ klar in sechs Abschnitte unterteilbar.

1 Prolog auf dem Schiff
Oben: Stone (links), Tall (rechts)
Unten: Welsh und Doll
Zu Beginn warten die Soldaten noch auf einem Schiff vor der Küste Guadalcanals auf den Beginn ihres Einsatzes. In dieser klaustrophobischen Atmosphäre werden die wichtigsten Charaktere eingeführt. So der Hauptmann Stone, der dem Oberst Tall bei der Frage, wie wahrscheinlich ein Luftangriff auf das Schiff ist, mittels einfacher mathematischer Berechnungen direkt widerspricht und dafür als Klugscheißer abgekanzelt wird. Kurz darauf rügt und demütigt Sergeant Welsh den Soldaten Doll vor versammelter Mannschaft, weil dieser entgegen den Anweisungen den Dienstplan der Einheit angeblich nicht fertig gemacht habe (eine falsche Beschuldigung, wie wir erfahren). Sergeant Welsh wird wiederum für diese Aktion von Hauptmann Stone zurechtgewiesen: nach dem Sinn dieser ungerechtfertigten Rüge befragt, antwortet Welsh damit, dass alles eh keinen Sinn habe, und dass die Soldaten den Irrsinn des Schlachtfelds auch schon auf dem Schiff proben könnten.
Derweilen bekommt der Soldat Doll die fixe Idee, sich eine Pistole (die Offizieren vorbehalten ist) zu besorgen, was er seinem Kameraden Fife mitteilt. Das ganze wird zu einer persönlichen Mutprobe aufgebauscht: Doll spaziert durch das Schiff auf der Suche nach einer herrenlosen Pistole und wird schnell fündig. Sein Diebesgut präsentiert er schwadronierend einigen Kameraden, bis Welsh ihn damit erwischt. Der Sergeant lässt Doll zwar die Pistole, warnt ihn aber in drohendem Ton damit, dass er ihn gut beobachten wird, nur um zu sehen, wie weit er es in der Schlacht schaffen wird.

2 Doll tötet einen Japaner
Nach der Landung und einem Gewaltmarsch durch dichten Regenwald und strömenden Regen wird das erste Nachtlager eingerichtet. Während Oberst Tall den Hauptmann Stone rügt, weil dieser gerne ökonomisch mit dem Leben seiner Soldaten umgehen möchte, gehen einige von diesen, darunter Doll, auf private Kundschaft durch den Wald. Doll entfernt sich etwas von der Gruppe und wird von einem japanischen Soldaten angegriffen. Mit seiner gestohlenen Pistole versucht er ihn zu töten, was misslingt. Voller Schrecken stürzt sich Doll auf den Japaner und zertrümmert ihm im Gewaltrausch mit bloßen Händen den Schädel auf dem Boden – ein Wendepunkt und eine Schlüsselszene des Films. Vor den erstaunten Augen Welshs und seiner Kameraden torkelt Doll völlig benommen und wie „abwesend“ weg.

Als Welsh später den aufgebrachten Soldaten zu beruhigen versucht, sind seine Worte nicht besonders aufmunternd: „All right. So now you know there aren‘t any heroes. Just guys who get so scared they get crazy and kill. I was watching you. You killed that Jap ten times. Now you‘re a little mixed up. You‘re afraid you like killing and you hate yourself for it. Well forget it. All it means is you‘re becoming a soldier. Look kid, that jap was just a hunk of meat. Just a hunk of meat, now you remember that?“ Später versucht auch Fife Doll etwas zu beruhigen: „There‘s no sense blaming yourself. That jap‘s number was up. If you didn‘t get him, somebody else would have. That‘s the way it is with all of us, I guess. When your number is up, it is up.“
Die letzte Bemerkung löst bei Doll einen Traum aus: in einem Schlafzimmer bereitet er sich auf eine Liebesnacht mit seiner Ehefrau vor. Doch zwei Mal wird diese Szenerie durch einen Telefonanruf gestört: in der Leitung fragt eine Stimme mit orientalischem Akzent Doll nach seiner Nummer und ruft dessen Soldatenmatrikel auf. Entsetzt legt Doll auf. Schließlich klappt es auch mit der Liebesnacht. Doch über die beiden Liebhaber im Bett taucht in Doppelbelichtung ein (ver)störendes Bild auf: wie Doll den Japaner ermordet und dabei aus vollem Halse schreit. Der Schrei geht in den Ton des Bombenalarms über, und Doll wacht auf.
Als die Bombardierung beginnt, springt Doll in einen Schützengraben, in dem bereits Fife liegt. Ein Kampf um den Platz beginnt zwischen den beiden, bis schließlich Fife Doll dazu auffordert, mit ihm im Graben zu liegen, da eigentlich Platz genug für beide sei. Während um sie herum Bomben explodieren, setzt sich Doll aufrecht an den Rand des Grabens: weil er sich selbst beweisen möchte, dass er mutig genug ist, während einer Bombardierung nicht in Deckung zu gehen; weil er den Befehl Welshs, in Deckung zu gehen, aus Trotz missachten möchte; vielleicht auch, weil er Angst vor einer körperlichen Nähe zu Fife hat (was später deutlicher wird).

3 Der Sumpf
Nach der nächtlichen Bombardierung zieht die Truppe in die erste Schlacht: ein Sumpf muss durchquert werden, was der nunmehr stark dezimierten Vorgängertruppe nicht gelungen ist. Das Gelände wird von zwei japanischen MG-Stellungen verteidigt. Unter deren Feuer und unter den Schüssen japanischer Soldaten, die sich auf Bäumen versteckt haben, fallen die ersten Soldaten der Truppe. Als Hauptmann Stone jeweils Welsh und Doll damit beauftragt, sich mit je zwei Mann über Umwege von hinten an die MG-Stellungen heranzupirschen und anzugreifen, agiert Doll eigensinnig, und attackiert von vorne – erfolgreich. Später, bei einer Pause, rügt Welsh Doll für seine Eigensinnigkeit, und prophezeit, dass ihm das Glück bald ausgehen wird.

4 Die „Bowling-Bahn“
Die nächste Station des Regiments ist die Durchquerung der „Bowling-Bahn“, einer verminten, mit Stacheldraht zugesperrten und stark bewachten Gebirgsschlucht, die zu einem strategisch wichtigen Dorf führt. Als zwei Männer versuchen, die Stacheldrahtvorrichtung zu sabotieren, explodieren einige Minen: einer der Soldaten stirbt sofort. Der andere, der eine schwere Bauchverletzung davonträgt, beginnt vor Schmerz wie wahnsinnig zu kreischen. Welsh ergreift die Initiative, schnappt sich ein Morphin-Päckchen des Sanitäters und rennt im Kugelhagel zum Verwundeten, um ihm die Schmerzmittel zu verabreichen. Unter ebenso intensivem Kugelhagel kehrt Welsh zur Truppe zurück.

Von Welshs Tat beeindruckt reicht Doll ihm seine Feldflasche. „Well, you never know!“, antwortet der Soldat auf die Frage des Sergeants, ob er ihn möglicherweise doch für einen ganz anständigen Kerl hält. Der kurze kameradschaftliche Moment wird zerstört, als Welsh nach einem großen Schluck den Inhalts von Dolls Flasche mit einem grimmigen Lächeln auf den Boden ausschüttet. Doll solle sich ja keine Illusionen machen, meint Welsh, und wirft ihm die leere Feldflasche verächtlich hin.
Das Regiment kann die „Bowling-Bahn“ nicht durchqueren. Ungeachtet der schwierigen Situation fordert Oberst Tall über das Feldtelefon Hauptmann Stone ultimativ dazu auf, genau dies rasch zu tun und das Dorf hinter der Gebirgskette bis zum Abend zu erobern. Stone verweigert den Befehl, da er es für suizidal hält, seine Truppe durch ein schwer bewaffnetes, nicht geräumtes Minenfeld zu treiben.
Nach diesem unbequemen Feldtelefonat ziehen sich die japanischen Schützen zurück und Welsh schlägt vor, sich am Rande der „Bowling-Bahn“ mit einem Seil entlang zu hangeln, um das Minenfeld zu vermeiden. Er würde als erster gehen und schlägt Doll als Gehilfen vor. Doll ist alles andere als begeistert und Welsh macht ihn sarkastisch darauf aufmerksam, dass er ja jemand anders nehmen könnte. Eine weitere Runde im psychologischen Kleinkrieg zwischen den beiden Kontrahenten wird eröffnet: Welsh und Doll erklettern sich am Rande der „Bowling-Bahn“ einen Weg, hauptsächlich, um sich gegenseitig zu beweisen, wie todesmutig sie sind.
Als Doll aus Versehen einen ganzen Felsblock zum Einstürzen bringt, löst er eine Kettenexplosion im unter ihnen liegenden Minenfeld aus und „räumt“ ihn dadurch unbeabsichtigt aus. Stone steht nun vor Oberst Tall, der gerade zu diesem Zeitpunkt die Front besucht, wie ein Idiot da und kassiert eine weitere Rüge.

5 Das Dorf
Nun steht die Einnahme des Dorfes Bulabula auf dem Plan. Diese verläuft erstaunlich einfach und rasch. Trotzdem wird Stone von Oberst Tall zur Besprechung abgerufen und abgesetzt. Die Begründung: er sei nicht hart genug gegenüber seinen Leuten und auch nicht bereit, deren Leben zu opfern. Stones und Talls Vorstellungen, wie ein Offizier sich zu verhalten habe, prallen unversöhnlich aufeinander, doch Stone zieht aufgrund seines Ranges den kürzeren und muss gehen.
Am Abend veranstalten die Soldaten im Dorf eine große Party. Alkohol fließt in Strömen. Die Habseligkeiten der getöteten japanischen Soldaten werden geplündert, und zum Vorschein kommen unter anderem Frauen-Kleider. Welsh schlägt Doll vor, diese anzuziehen und allen eine kleine Show vorzuführen. Doll lehnt ab, aber Soldat Fife meldet sich freiwillig und mit Begeisterung dafür. Beim Gesang und Gelächter der anderen zieht Fife Nylon-Strümpfe und Kimono an, schminkt sich, lässt sich von Welsh mit zwei Schalen an der Brust ausstatten und beginnt zu tanzen. Doll wendet sich vom Spektakel scheinbar angewidert ab und betrinkt sich alleine in der Ecke. Währenddessen lauern, ohne Kenntnis der Amerikaner, verschanzte Japaner im Dorf.
Auf dem Höhepunkt von Fifes Show beginnen diese, die feiernden und daher unbewaffneten US-Soldaten niederzuschießen. Es sind Welsh und Doll, die am schnellsten Sinne und Orientierung wieder finden und den Angriff abwehren, bis auch die anderen wieder verteidigungsfähig sind. Die Schlacht endet schließlich, als die letzten überlebenden Japaner, die sich in einem Tarnnetz verfangen haben, von Doll mit einer Maschinenpistole hingerichtet werden. Kurz danach sucht Doll unter den zahllosen im Dorf verstreuten Leichen nach Fife, der als einer der ersten beim Angriff getötet worden ist. Fife trägt immer noch Dolls Uhr, der ihm diese kurz vor der Aktion bei der „Bowling-Bahn“ anvertraut hatte. Der Überlebende hat nun Hemmungen, die Uhr von dem Toten wieder an sich zu nehmen, auch, wenn ihn Welsh dazu ermuntert. Als der Sergeant die Uhr für sich mitnehmen will, wird er von Doll angegriffen. Dies nimmt Welsh als gute Gelegenheit wahr, um Doll zu verprügeln. Die beiden werden erst getrennt, als Welsh beginnt, Doll zu erwürgen.

6 Der „tanzende Elefant“
In der letzten Episode erfolgt die Eroberung des „tanzenden Elefanten“, eines Gebirgszugs, in dessen Gängesystem sich japanische Soldaten verschanzen. Die Truppe kommt nur mühsam und mit vielen Verlusten voran. Doll hingegen prescht vor, wieder in Missachtung jeglicher Befehle und jeglicher persönlichen Gefahr. Er dringt in das Bergstollen-System ein und beginnt im Alleingang, die dortigen MG-Stellungen anzugreifen. Nach und nach wird Doll von japanischen Soldaten auch in Nahkämpfe verwickelt, und muss aus immer kürzeren Distanzen kämpfen. Einen unbewaffneten Japaner, der ihn schließlich mit bloßen Händen zu erwürgen versucht, tötet Doll mit seiner Pistole. In diesem Moment gerät er erneut in eine Art Rausch-Zustand. Wie blind und wahnsinnig beginnt er, auf alles zu schießen, was sich bewegt. Seine Kameraden haben inzwischen auch den Weg in das Gängesystem gefunden, und so kommt es, dass Doll letztendlich vor allem sie unter Beschuss nimmt.
Als er wieder zu sich findet, greift ihn ein Japaner von hinten an, und impulsiv drängt sich Welsh vor und fängt die Kugeln, die für Doll bestimmt waren. Warum er, ausgerechnet er das getan habe: „Because I‘m stupid!“, antwortet Welsh, reisst sich seine Matrikel-Plakette ab, überreicht sie Doll und stirbt kurz nach den Worten „What‘s the matter, kid? It‘s only meat.“ Wie ein „Haufen Fleisch“ wird Welshs Leichnam von Doll und einem anderen Soldaten zum weiteren Abtransport weggeschleift.


GEWALT, SEXUALITÄT UND STIL

Dass THE THIN RED LINE 1964 offenbar ziemlich unterging, und im Grunde bis heute nicht wirklich wieder „aufgetaucht“ ist, hängt wohl vor allem damit zusammen, dass es sich um einen eher günstig produzierten Film ohne großes Staraufgebot handelte. Keir Dullea ist erst durch seine Rolle als David Bowman in Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY international (mäßig) berühmt geworden. Jack Warden, der interessanterweise schon in der Jones-Verfilmung FROM HERE TO ETERNITY eine Rolle hatte, war zwar stets ein sehr markanter Darsteller (etwa als Geschworener Nr. 7 in Sidney Lumets 12 ANGRY MEN), spielte aber im Kino vor allem Nebenrollen und war in den 1950er Jahren eher Theater- und TV-Schauspieler. Regisseur Andrew Marton war stets eher ein Mann der zweiten Reihe, sogar im ganz wörtlichen Sinne, aber dazu später noch mehr. Nichtsdestotrotz war und ist THE THIN RED LINE im Verhältnis zu seiner Entstehungszeit ziemlich außergewöhnlich. In seiner rohen und unbändigen emotionalen Wucht, seiner desillusionierten Darstellung der US-Armee und dem sehr hohen Gewaltniveau, erinnert THE THIN RED LINE eher an Narrative und Ästhetik von Antikriegsfilmen aus den späten 1960er, den 1970er und 1980er Jahren. Der relative Misserfolg des Films liegt vielleicht daran, dass er seiner Zeit voraus war, und das Publikum zu dieser Zeit noch nicht an solche drastischen Bilder gewöhnt war.

THE THIN RED LINE ist auch heute ein verblüffend und schockierend brutaler Film. Zwar gibt es in den zahlreich vorhandenen Kriegs-Massenszenen viele Momente, in denen Soldaten tatsächlich einfach „nur“ fallen. Hervorstechender sind jedoch die Momente, in denen sehr bewusst körperliche Gewalt und ihre Konsequenzen thematisiert werden – für die Opfer selbst, für die Täter, für die „einfachen“ Augenzeugen. Die initiierende Gewalttat im Film für Figuren und Zuschauer gleichermaßen ist die bestialische Ermordung des japanischen Soldaten durch Doll, der für mehrere Sekunden regelrecht zum wilden Tier wird – nach meinem persönlichen Empfinden eine der bizarrsten, schockierendsten und einprägsamsten Gewaltszenen, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Hier steht (sicher auch aus rein szenischen Gründen) der Täter im Mittelpunkt, und wie dieser extrem körperliche Gewaltakt auf ihn einwirkt. Wie sie ihn zum Tier werden lässt, dann zu einer apathischen Hülle, und dann wieder zum schmerzgeplagten Menschen, der sein Handeln in Sexträumen verarbeitet – die verstörende Verknüpfung von Gewalt und sexueller Erregung ist auch in Jones‘ Roman ein wiederkehrendes Motiv. Später, wenn er eine Gruppe wehrloser japanischer Soldaten hinrichtet oder im Bergstollen wahllos um sich und auch auf seine Kameraden schießt, wird Doll in seinem Gewaltrausch geradezu blind und taub, und kehrt erst zur Besinnung zurück, wenn das Magazin seiner Maschinenpistole leer ist. Eine Lösung bzw. Erlösung für diesen Zustand gibt es nicht. Nichts dergleichen bietet der Film an: Doll wird weiterhin kämpfen und weiterhin in (sexuell aufgeladenen?) Gewalttaten morden.

Auch die Auswirkung von Gewalt auf nicht unmittelbar beteiligte Augenzeugen zeigt der Film in markanten Bildern. Ein Regimentsaustausch an der Front – kurz vor der Durchquerung des Sumpfes – wird zu einem wenig glorreichen Rückzug verletzter, blutender und verstümmelter Soldaten. Die Soldaten des Regiments, die deren Stelle einnehmen, blicken wahlweise entsetzt, furchtvoll oder besorgt rein und selbst abgebrühte Soldaten wie Welsh wissen um die ernüchternden Auswirkungen dieses Anblicks bescheid. Noch weitaus dramatischer ist die Episode bei der Eroberung der Bowling-Bahn, als ein Soldat von einer Mine am Bauch verletzt wird: die hysterischen, hohen Schmerzensschreie machen die Szene für die anderen Soldaten (und für den Zuschauer) zu einem nervenzerrenden Erlebnis. Es ist die wohl erschreckendste Darstellung von Schmerz in THE THIN RED LINE: der Schmerz wird auch auf die Augenzeugen übertragen. Die Gewalt kann nicht rückgängig gemacht werden, aber die Äußerung von Schmerz soll unterbunden werden. Wenn Welsh also unter tödlichem Kugelhagel losstürmt, um dem Soldaten Morphin zu verabreichen, tut er das vor allem für sich selbst und die anderen (noch) unversehrten Soldaten – (die Kategorie der „Schmerz-Darstellung“ kennt man nicht nur von Fritz Lang: inspiriert hat mich vor allem Oliver Nöding von „Remember It For Later“, der große, integrale Schmerz-Darstellungen als wiederkehrendes Motiv bei Robert Aldrich ausmacht).

Gewalt taucht in THE THIN RED LINE auch in struktureller, psychischer und latenter Form auf. Denn mehr als die eigentlichen Kriegshandlungen steht der Konflikt zwischen Doll und Welsh im Mittelpunkt des Films, der sich immer mehr zum psychologischen Kleinkrieg ausweitet – ja: dieser überlagert die militärischen Handlungen sogar stellenweise. Die völlige Entsolidarisierung, die die Beziehung zwischen den beiden prägt, durchzieht (auf wesentlich mehr Figuren ausgeweitet) auch den ganzen Roman. Missgunst und Verachtung sind auch im Film der Normalzustand, ihre kurzfristige Abwesenheit eher eine Ausnahme.

Die etwa dreiminütige Travestie-Sequenz gehört zu den wohl erstaunlichsten Momenten im ganzen Film. Es ist eine Szene des hemmungsfreien Feierns, des Fallenlassens, des Loslassens. THE THIN RED LINE weicht hier ein wenig vom Buch ab, wo kollektives Feiern immer in (selbst)zerstörerische Massenbesäufnisse mit Schlägereien mündet, wo aber die nach außen getragenen Ideale von „traditioneller“ Männlichkeit nie aufgegeben werden. Im Film geben sich hingegen die Soldaten dem Spaß des Transvestismus mit Freude hin – im US-Kino der Zeit (zumal in einem solchen „Macho-Genre“) trotz Filme wie GLEN OR GLENDA, SOME LIKE IT HOT und PSYCHO sicherlich eher ungewöhnliche Bilder, die in Europa schon 25 Jahre vorher etwa in LA GRANDE ILLUSION zu sehen waren.

Latent homoerotische Stimmung kommt in dieser Sequenz auf, besonders, wenn Fife beginnt, mit den ihn umgebenden Soldaten tanzend zu flirten. Dies wird umso mehr durch Dolls abwehrende Haltung deutlich, und zwar besonders, wenn man Jones‘ Buch kennt. Im Roman beginnt Doll an einer Stelle, sich sexuell für einen Soldaten zu interessieren, mit dem er während eines Bombenangriffs einen Schützengraben geteilt hat. Diesen Impuls wird Doll fortan mit aller Kraft zu unterdrücken versuchen. Als sich während einer Gefechtspause eine Gelegenheit zwischen ihm und besagtem Soldaten anbahnt, zieht sich Doll mit großer verbaler Aggressivität zurück.

Dieser Subplot im Roman scheint an dieser Stelle des Films zumindest andeutungsweise oder verschlüsselt aufgegriffen worden zu sein (der Production Code, gleichwohl stark geschwächt, ist damals noch in Kraft): Doll zieht sich demonstrativ angewidert zurück, als Fife sich als Frau zu verkleiden beginnt. Dennoch guckt er sich das Spektakel von der Ferne an, kann den Blick nicht abwenden, und will doch den Impuls, zu schauen, mit noch mehr Alkohol unterdrücken. Erst mit dem Tod Fifes bekennt er seine Zuneigung zu ihm, als er ihn nach der kurzen, aber heftigen Schlacht im Dorf verzweifelt und drängend sucht.

Sehr bemerkenswert bei THE THIN RED LINE ist auch die Tatsache, dass der Film sehr konsequent auf jegliche konkrete historische Kontextualisierung verzichtet. Die Grundlagen (Guadalcanal-Schlacht im Zweiten Weltkrieg) werden als bekannt vorausgesetzt: es gibt weder zu Beginn, noch zwischendurch und vor allem auch am Schluss keine erklärenden Texttafeln. Narrativ heißt das letztlich, dass der Krieg weder einen konkreten Beginn hat, noch einen genauen Schluss, und vor allen Dingen nicht deterministisch siegreich endet: das Bergstollensystem des „tanzenden Elefanten“ ist erobert worden, aber mit schweren Verlusten, und von da an geht es einfach weiter. Es gibt keinen erleichternden retrospektiven Blick (hier übertrifft der Film den Roman auch an Radikalität).

Dieser Verzicht auf Kontextualisierung ist aber nicht nur eine narrative Entscheidung, sondern steht durchaus im Einklang mit der allgemein sehr ökonomischen Inszenierung des Films. THE THIN RED LINE verzichtet weitestgehend auf lange erklärende Übergänge oder ausgedehnte Szenen-Expositionen und weist in seinen schnörkellosen 95 Minuten ein sehr hohes Erzähltempo auf. Der Kameramann, der Spanier Manuel Berenguer, hat in wundervollem Schwarzweiss viele einprägsame Bilder geschaffen, die die Grenze zwischen „realistisch“ und „expressionistich“ oft verschwimmen lassen. Gedreht wurde der Film in dessen Heimatland, in der Nähe von Madrid. Daher werden die Bilder von THE THIN RED LINE vor allen Dingen von bergigen, Wüsten-ähnlichen Landschaften geprägt, wie man sie auch aus zeitgenössischen italienischen Westerns kennt – und nicht von tropischer Landschaft, wie es das historische Setting eigentlich verlangen würde. In Verbindung mit der fehlenden historischen Kontextualisierung verleiht das dem Film eine fast abstrakte Note, die ihn geradezu irritierend „zeit- und ortlos“ wirken lassen. Teile der Sequenz im Sumpf, aber auch das Innere des „tanzenden Elefanten“, sind möglicherweise im Studio gedreht worden. Gerade letzteres mit seinen feuergetränkten Gängen wirkt wie eine symbolisch-stilisierte Hölle, als wäre der verstörte, lodernde Geisteszustand des Protagonisten zur Kulisse externalisiert worden.


DER REGISSEUR

Der Regisseur Andrew Marton hatte eine verhältnismäßig bewegte und wenig geradlinige Karriere, so dass sich ein näherer Blick auf seine Vita durchaus lohnt. Er wurde 1904 als Márton Endre in Budapest geboren und begann seine Karriere in der Filmindustrie noch in der Stummfilmära, und zwar als Cutter in Wien und Berlin. Während eines kurzen Aufenthalts in den USA arbeitete er unter anderem für Ernst Lubitsch. Dort drehte er 1929 auch seinen ersten Film als Regisseur. Anfang der 1930er Jahre kehrte er nach Europa zurück, drehte eigene Filme und arbeitete als Cutter bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Er floh nach Ungarn, wo er 1935 lediglich einen Film drehte. Unter dem Druck des auch dort zunehmenden Antisemitismus zog er schließlich nach Großbritannien weiter, wo er Musicals, Komödien, Romanzen und Abenteuerfilme inszenierte.

Nach seiner definitiven Übersiedlung in die USA drehte Marton vor allen Dingen Kriegs- und Abenteuerfilme, wobei er nicht gerade als Regisseur „erster Wahl“ galt. KING SOLOMON‘S MINES etwa übernahm er 1950, nachdem der eigentliche Regisseur (Compton Bennett) von MGM auf Wunsch des Hauptdarstellers Stewart Granger gefeuert worden war. Mindestens genau so viel Zeit verbrachte Marton damit, als Second Unit Director für andere Filmemacher zu arbeiten. Kurz: Marton wurde nie ein besonders berühmter Regisseur und in Hollywood nahm man ihn vor allen Dingen als fähigen Regieassistenten wahr.

Martons in der Öffentlichkeit am breitesten rezipierte Werk dürfte die berühmte Wagenrennen-Episode in BEN HUR sein. Zusammen mit dem Stunt-Spezialisten Yakima Canutt hat er als Second Unit Director die wohl berühmteste Actionszene der 1950er Jahre inszeniert, und zwar weitestgehend unabhängig von Regisseur William Wyler (der viele lobende Worte für die beiden übrig hatte). Marton und Canutt, die selber wiederum einen gewissen Sergio Leone in ihrem Assistenz-Team beschäftigten, erhielten für die Szene einen Special Achievement Award bei den Golden Globes.

Marton assistierte auch viele andere berühmte Regisseure als Second Unit Director, etwa Frank Capra (LOST HORIZON), George Cukor (TWO-FACED WOMAN), John Huston (THE RED BADGE OF COURAGE), den ebenfalls Budapest-gebürtigen Charles Vidor (A FAREWELL TO ARMS), Joseph Mankiewicz (CLEOPATRA), Anthony Mann (THE FALL OF THE ROMAN EMPIRE), Robert Siodmak (KAMPF UM ROM), FROM HERE TO ETERNITY-Regisseur Fred Zinnemann (THE SEVENTH CROSS, THE DAY OF THE JACKAL) und Mike Nichols (CATCH-22). Seine Mitarbeit an Nicholas Rays 55 DAYS AT PEKING begann Marton ebenfalls als Second Unit Director, und er drehte den Film zusammen mit Guy Green zu Ende, als Ray während des Drehs einen schweren Herzinfarkt erlitt.

Für THE LONGEST DAY, ein Film, der vor allem durch sein beeindruckendes internationales Staraufgebot Berühmtheit erlangt hat, drehte Marton die US-amerikanischen Außenszenen, als einer von insgesamt fünf Regisseuren (zwei davon ohne Credits). Ab den späten 1950er Jahren war Marton auch beim Fernsehen als Regisseur tätig und drehte Episoden unter anderem für die Taucher-Abenteuer-Serie SEA HUNT, für das sensationalistische Proto-„Galileo“ THE MAN AND THE CHALLENGE, für das familienfreundliche FLIPPER, für die Tier-Safari-Abenteuer-Serie DAKTARI und für das ebenfalls afrikazentrierte COWBOY IN AFRICA (die aus Martons Pilotfilm AFRICA: TEXAS STYLE von 1967 heraus entstand). Gemäß imdb hat Marton 1977 seine Karriere beim Film beendet. 1992 ist er 87-jährig in Santa Monica verstorben.

Vom europäischen Stummfilm-Cutter zum TV-Regisseur für US-Serien wie FLIPPER, und dazwischen die Inszenierung einer der legendärsten Action-Szenen der Kino-Geschichte: eine geradezu schillernde Karriere hat Andrew Marton absolviert. Den größten Teil davon hat er in der zweiten Reihe verbracht, als Verantwortlicher für Nebendrehs, als Assistent, der eingreift, wenn was schief läuft. Vermutlich wird er nie die Berühmtheit der Filmemacher erlangen, die er assistiert hat. Für eine breite Neubewertung von THE THIN RED LINE stehen die Zeichen sogar noch schlechter: der Status eines gewissen Regisseurs, der sich von einem der originellsten New Hollywood-Cineasten zu einem christlich-esoterischen New-Age-Kitsch-Produzenten entwickelt hat, wird dies wohl auch noch in Zukunft leider verhindern.

Ein kurzer Vergleich mit Andrew Martons knapp ein Jahr später veröffentlichtem Nachfolgefilm, CRACK IN THE WORLD, dürfte zumindest ein Hinweis dafür sein, dass THE THIN RED LINE wahrscheinlich kein  „Zufallstreffer“ eines Akkordarbeiters war. Vom Drehbuch her ist der Film eigentlich vollkommen anders (ein Wissenschaftler lässt zwecks Energiegewinnung Bohrungen bis zum flüssigen Kern der Erde durchführen, und dies führt zu einem Riss in der Erdkruste, der in die Apokalypse münden könnte). Doch die ökonomische, stellenweise fast bis zur Abstraktion reduzierte Inszenierung mit ihrem hohen Erzähltempo ist durchaus mit der Machart von THE THIN RED LINE vergleichbar. Die Action- und Spannungssequenzen sind mit einer genauso meisterlicher Hand gedreht. Wie THE THIN RED LINE hat auch CRACK IN THE WORLD einen überaus präzisen Blick für die psychologischen und zwischenmenschlichen Auswirkungen von Extremsituationen, die in ihrem Detailreichtum oft die eigentliche Handlung überlagern. Ein Blick auf Martons andere „triviale“ Filme könnte also durchaus lohnenswert sein.


THE THIN RED LINE wurde im Herbst 2012 in Deutschland unter dem Titel "Sieben Tage ohne Gnade" auf DVD veröffentlicht. James Jones‘ Roman ist in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Der tanzende Elefant“ und „Insel der Verdammten“ erhältlich.