Freitag, 24. Oktober 2014

Wien noir mal zwei

ABENTEUER IN WIEN (Österreich) bzw. GEFÄHRLICHES ABENTEUER (Deutschland)
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (als Emile Edwin Reinert)
Darsteller: Gustav Fröhlich (Toni Sponer), Cornell Borchers (Karin Manelli), Francis Lederer (als Franz Lederer, Claude Manelli), Inge Konradi (Marie), Egon von Jordan (Krüger), Hermann Erhardt (Ferdl Haintl), Adrienne Gessner (Anna Fraser), Manfred Inger (Polizeikommissär), Michael Kehlmann (Passfälscher), Hans Hagen (Dirigent)

STOLEN IDENTITY
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (ungenannt), Gunther von Fritsch (als Gunther Fritsch)
Dialogregie: Elizabeth Montagu
Darsteller: Donald Buka (Toni Sponer), Joan Camden (Karin Manelli), ansonsten wie ABENTEUER IN WIEN

Zweimal Toni und Karin - links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY
An einem Silvestertag in Wien kreuzen sich die Wege von vier Menschen, von denen bald einer tot und ein anderer sein Mörder sein wird. Der Amerikaner John Milton (in ABENTEUER IN WIEN, während er in STOLEN IDENTITY wie im Roman Jack Mortimer heißt) gibt nachmittags am Salzburger Bahnhof ein Telegramm auf, das in Wien schon sehnlichst erwartet wird. In Empfang genommen wird es von Frau Fraser, Haushälterin in der Villa des international gefeierten Pianisten Claude Manelli, für die eigentliche Adressatin, Manellis Frau Karin. Manelli ist ein eifersüchtiger, fast psychopathischer Kontrollfreak, der Karin in einem goldenen Käfig einsperrt, aus dem sie ausbrechen will. Wie man später im Film erfährt, hat er Karin nach einem früheren Fluchtversuch sogar kurz in ein Sanatorium gesteckt und entmündigen lassen, so dass er nun auch ihr Vormund und sie komplett von ihm abhängig ist. Ihre einzige Verbündete in Wien ist Frau Fraser, und mit ihrer Hilfe unternimmt sie einen neuen Fluchtversuch. John Milton ist ein alter Freund von ihr aus Jugendtagen, den sie zuletzt bei ihrer Hochzeit mit Claude gesehen hat, wo er ihr Trauzeuge war. Nun hat sie ihn in einem Brief um Hilfe gebeten, und er kündigt im Telegramm seine Ankunft am selben Abend an. Karin soll in dem Hotel, das er gebucht hat, auf ihn warten, und dann werden beide noch in der selben Nacht um 2:00 Uhr über Frankfurt in die USA fliegen, wo sie endlich frei sein wird. Der Zeitpunkt scheint günstig, denn Manelli steckt gerade in den Abschlussproben für ein Silvesterkonzert mit den Wiener Symphonikern. Aber auch er hat einen Helfer im Haus, nämlich seinen aalglatten Manager Krüger, für den die Karriere seines Chefs alles ist, was zählt. Krüger wartet schon auf Frau Fraser, nimmt ihr das Telegramm ab und überbringt es Manelli, der jetzt über die Absichten von Karin und Milton Bescheid weiß. Er konfrontiert Karin auf demütigende Weise mit seinem Wissen, fühlt sich jetzt sicher und fährt zu den letzten Proben und der anschließenden Vorstellung ins Konzerthaus. Dabei kollidiert er wegen seiner rücksichtslosen Fahrweise fast mit einem Taxi.

Krüger und Frau Fraser (alle Bilder aus ABENTEUER IN WIEN, wenn nicht anders angegeben)
Dessen Fahrer, Toni Sponer, ist der gebrochene Held des Films. Er ist ohne Papiere in Wien gestrandet und steht mit einem Bein im Gefängnis, weil er ohne Lizenz Taxi fährt. Der Wagen gehört dem älteren Ferdl Haintl, mit dem sich Toni die Schichten teilt. Bei dem sympathischen, aber etwas versoffenen Ferdl wohnt Toni auch inoffiziell zur Untermiete. Über seine Vorgeschichte erfährt man wenig. Er ist als Sohn eines Professors in einer Villa mit Park aufgewachsen und hat einen Teil seines Lebens in den USA verbracht, aber es bleibt offen, wie er in seine jetzige desolate Lage geraten ist. Man kann nur vermuten, dass es vielleicht irgendwie mit dem Krieg zusammenhängt. Jedenfalls ist er jetzt ein Mann ohne Zukunft. Immerhin kümmert sich die im selben Haus wohnende Marie um ihn, so dass er nicht ganz verlottert. - Nach dem Beinahe-Unfall mit Manelli wäre Tonis Schicht eigentlich zu Ende, und er wollte mit Marie Silvester feiern. Aber Ferdl, der jetzt dran wäre, ist sturzbetrunken, so dass Toni noch eine Schicht dranhängt. Und an seinem Standplatz am Westbahnhof steigt John Milton in das Taxi.

Claude Manelli
Nach der Konfrontation mit Claude hat sich Karin zum Schein in ihr Schicksal ergeben, aber sobald er aus dem Haus ist, steckt sie ihre Papiere ein und verlässt die Villa, während Frau Fraser Krüger ablenkt. Doch der bemerkt ihre Abwesenheit schnell und verständigt telefonisch den inzwischen im Konzerthaus befindlichen Manelli. Dieser zieht sich unter einem Vorwand in seine Garderobe zurück, schleicht sich davon und fährt mit seiner Limousine zum Bahnhof, um Milton abzupassen. Nachdem dieser in Tonis Taxi gestiegen ist, folgt Manelli dem Taxi, um auf eine Gelegenheit zu warten. Die ergibt sich, als sich Toni im Büro der Fluggesellschaft um Miltons Gepäck kümmert. Manelli steigt aus und erschießt mit seiner Pistole den im Taxi sitzenden Milton durch die Rückscheibe. Straßenbauarbeiten mit Presslufthammer bewirken, dass niemand etwas hört, und Toni bemerkt erst nach einer Weile, dass er mit einem Toten durch die Stadt fährt. Er will zunächst den Vorfall einem Verkehrspolizisten melden, doch der fordert ihn im Verkehrstrubel nur hektisch zum Weiterfahren auf. Danach betritt Toni eine Bar, um in der dortigen Telefonzelle die Polizei anzurufen, doch als man ihn nach seinem Namen fragt, legt er wieder auf. Und dann betrachtet er die Brieftasche des Toten und gerät ins Grübeln. Es sind nicht die Dollarnoten, die ihn faszinieren, sondern der amerikanische Reisepass, der ein neues Leben mit neuer Identität in den USA verheißt. Toni fasst einen schwerwiegenden Entschluss. Er entsorgt die Leiche an einem Kanal unter einer Eisenbahnbrücke, lässt von einem Passfälscher sein Konterfei in den Pass montieren und macht sich nach einem Zwischenstopp bei Marie auf zu Miltons Hotel, um das dort von der Fluggesellschft hinterlegte Flugticket abzuholen. Doch das Ticket ist noch nicht eingetroffen, so dass er in Miltons Zimmer wartet. Und dort wird er von Karin, die ihrerseits bereits im Hotel auf Milton gewartet hatte, überrascht und zur Rede gestellt. Toni kann nur hilflose Ausflüchte vorbringen, und Karin glaubt, er sei ein Mörder, den ihr Mann beauftragt habe, um Milton aus dem Weg zu räumen. Sie verständigt die Polizei, und Toni, der von den ganzen Hintergründen keine Ahnung hat, wird festgenommen, als er das Hotel verlässt.

Marie
Doch sein Verhör nimmt einen unerwarteten Verlauf. Karin behauptet, es handle sich um einen falschen John Milton, aber der Pass hält dem kritischen Blick des Polizeikommissärs stand, und um Licht in die Angelegenheit zu bringen, ruft dieser im Konzerthaus an, und Manelli bittet den Kommissär, mitsamt dem Beschuldigten zu ihm zu kommen. Eigentlich gegen die Vorschriften, aber der Kommissär ist ein Freund und Kenner klassischer Musik und ein Verehrer von Manelli, und er lässt sich um den Finger wickeln. So macht man sich also auf den Weg, und dann erklärt Manelli zu Tonis Verblüffung, er müsse sich entschuldigen, weil seine Frau unzurechnungsfähig sei und manchmal abstruse und völlig haltlose Anschuldigungen erfinde. Manellis Beweggrund ist klar: Wenn ein John Milton nach Österreich eingereist ist und jetzt ein John Milton auch wieder ausreist, dann ist ja nichts passiert, und niemand wird irgendwelche Fragen stellen. So wird Toni also überraschend wieder auf freien Fuß gesetzt, während Karin, die ihre Felle davonschwimmen sah, sich bereits wieder weggeschlichen hat. Toni macht sich abermals auf zum Hotel, muss aber zu seiner Bestürzung erfahren, dass die inzwischen eingetroffenen Tickets - das für Milton und das für Karin - beide gerade eben von Karin mitgenommen wurden. Sie will Toni damit unter Druck setzen, damit er ihr endlich erzählt, was mit dem echten Milton geschehen ist. Durch den Hotelboy lässt sie ihm ausrichten, wo er sie treffen kann, nämlich im "Kaiserpanorama", eine Art von 3D-Guckkasten-Schau, auch damals schon ein völlig antiquiertes Vergnügen. (Das Wiener Kaiserpanorama war eines der letzten, die noch existierten, und es schloss im Januar 1955 seine Pforten.) Der wie ein Kino abgedunkelte Ort wird von zwei alten Damen beaufsichtigt, die wie nicht mehr ganz von dieser Welt wirken (die eine, die an der Kasse sitzt, hat auch eine Katze auf der Schulter), was der ganzen Szene einen leicht surrealen Touch verleiht. Toni erzählt nun Karin alles, was er weiß, und bei ihrer Unterredung fassen die beiden langsam Vertrauen zueinander. Gemeinsam kommen sie zum Schluss, dass Manelli der Mörder sein muss.

Toni und Ferdl in ihrer Behausung
Weil noch genug Zeit bis zum Flug ist, treffen sich die beiden mit Marie in Haintls Wohnung zu einer kurzen improvisierten Silvesterfeier. Dabei gibt Marie etwas von ihren Träumen preis. Während es Toni jetzt in die Ferne zieht, wäre sie schon glücklich, wenn sie neue Vorhänge und ein neues Sofa hätte, um mit dem richtigen Mann darauf zu sitzen. Es ist recht offensichtlich, dass sie mit dem richtigen Mann Toni meint, aber sie sagt es nicht. Die kleine Feier wird jäh unterbrochen. Inzwischen war Haintl mit dem Taxi unterwegs, und gleich bei seiner ersten Fuhre hat sich eine Dame im von Toni nur notdürftig gereinigten Fahrgastraum ihren Pelz mit Blut besudelt. Sie zeigt es bei der Polizei an, die setzt Haintl unter Druck, und bald steht ein Mannschaftswagen mit einem ganzen Trupp Polizisten vor der Wohnung. Toni und Karin gelingt nur knapp die Flucht über den Dachboden, doch die Polizisten sind ihnen auf den Fersen. Zu Fuß fliehen sie durch enge Durchgänge, über steile Stiegen, in Gassen mit feuchtglänzendem Kopfsteinpflaster, und mitten durch auf den Straßen Silvester feiernde Passanten. Schließlich können sie die Verfolger abschütteln, und bei einer Rast in einem Keller und einer (vermutlich kriegsbedingten) Ruine kommen sie sich noch näher und beschließen, ihre Flucht auch weiterhin gemeinsam fortzusetzen.

Manelli in seiner Garderobe im Konzertsaal
Schließlich fahren sie mit dem Bus zum Flughafen und sind nun schon fast in Sicherheit. Weil aber Karin eine für die Einreise in die USA nötige Impfung fehlt, wird sie mit Toni in den Sanitätsraum gebeten. Doch dort wartet kein medizinisches Personal, sondern Manelli und Krüger. Während Manelli sein Konzert absolvierte, hatte Krüger auf der Suche nach Karin erfolglos telefonisch alle möglichen Hotels abgeklappert. Nach Manellis Rückkehr in die Villa setzte dieser alles auf eine Karte, indem er richtig vermutete, dass sie gemeinsam mit dem falschen Milton, also per Flugzeug fliehen würde. Jetzt stellt er Toni vor die Wahl: Entweder er besteigt unverzüglich und allein das bereits wartende Flugzeug, oder er wird gleich vom Kommissär, den er gegen Krügers Rat auch hinzugerufen hat, als der Mörder des echten Milton verhaftet. Weil jetzt auch Karin keine Chance mehr für sich sieht und ihn zur Abreise auffordert, eilt Toni zum Flugzeug, aber als er schon an der Gangway steht, überlegt er es sich anders. Er gibt dem Kommissär seine wahre Identität preis und beschuldigt Manelli des Mordes an Milton. Manelli bleibt zunächst gelassen und beschuldigt seinerseits Toni, selbst der Mörder zu sein. Aber als Toni behauptet, er habe im Koffer ein Foto von Manellis und Karins Hochzeit mit dem echten Milton als Trauzeugen darauf, verliert Manelli die Nerven und flüchtet zu Fuß über das Rollfeld, wird aber schnell von der Polizei ergriffen. Während die Polizei noch mit Manelli beschäftigt ist, haben Karin und Toni ein paar Augenblicke für sich. Toni wird für seine diversen Vergehen ins Gefängnis müssen, aber vermutlich nicht allzu lange, und Karin verspricht, auf ihn zu warten. Das davonfliegende Flugzeug bildet das letzte Bild des Films.

Vor dem Mord
ABENTEUER IN WIEN und sein englischsprachiger Zwilling STOLEN IDENTITY sind dicht strukturierte und flüssig erzählte Vertreter des Film noir. (Im Folgenden werde ich mit "ABENTEUER IN WIEN" immer das ganze Projekt mit beiden Filmen meinen, wenn es nicht um den direkten Vergleich der beiden Versionen geht.) Auch wenn gelegentlich der Zufall eine Rolle spielt - ausgerechnet an Silvester sorgt ausgerechnet vor dem Büro der Fluggesellschaft ein Rohrbruch für Straßenarbeiten -, greifen im Großen und Ganzen die Handlungselemente auf logische Weise ineinander und werden in überschaubarer Zeit (86 bzw. 84 Minuten) kurzweilig erzählt. ABENTEUER IN WIEN wurde oft mit THE THIRD MAN verglichen, aber man sollte diesen Vergleich nicht überstrapazieren, weil man ersterem Film damit nicht wirklich gerecht wird. Nicht nur, weil er gegen Carol Reeds Geniestreich fast zwangsläufig den Kürzeren zieht, sondern auch, weil es von vornherein auch genug Unterschiede zwischen den Filmen gibt. So spielt die zeitgeschichtliche Situation in ABENTEUER IN WIEN keine Rolle. Weder der Vier-Mächte-Status von Wien, der nicht nur in THE THIRD MAN, sondern auch in Leopold Lindtbergs DIE VIER IM JEEP von 1951 eine zentrale Rolle spielt, wird in ABENTEUER IN WIEN thematisiert, noch die auf sich warten lassende Entlassung Österreichs in die Unabhängigkeit (die erst 1955 erfolgte, und die 1952 Wolfgang Liebeneiners 1. APRIL 2000 inspirierte). Besatzungsbeamte oder -soldaten kommen nicht vor, die neben Milton in Erscheinung tretenden Ausländer sind Touristen, und die Polizei im Film ist rein österreichisch. Im Grunde könnte ABENTEUER IN WIEN in einer beliebigen mitteleuropäischen Großstadt spielen, denn die bekannten Sehenswürdigkeiten wie Stephansdom, Schloss Schönbrunn oder Riesenrad (das bekanntlich in THE THIRD MAN eine prominente Rolle spielt) kommen auch nicht vor. Da der Film weit überwiegend bei Dunkelheit spielt, hätte man ohnehin nicht viel davon gesehen. Es ist kein Touristen-Wien, das hier präsentiert wird, sondern ganz im Gegenteil ein unwirtliches, abweisendes Wien. - In den drei Jahren seit THE THIRD MAN hatte sich auch in städtebaulicher Hinsicht einiges geändert. Die oben erwähnte Ruine ist die einzige, die es in ABENTEUER IN WIEN zu sehen gibt, während es in THE THIRD MAN noch reichlich davon gab, und während Holly Martins noch im alten, im Krieg schwer lädierten und 1950 abgerissenen Westbahnhof in Wien eintraf, war es bei John Milton der 1951 eröffnete Neubau mit seiner funktionalen, von Neon erleuchteten Fassade. Auch das Büro der Fluggesellschaft ist von klaren Linien und Neonlicht geprägt.

Der neue Wiener Westbahnhof
Ein Film noir ist ABENTEUER IN WIEN nicht nur, weil es um Eifersucht, Freiheitsberaubung und Mord sowie - etwas abstrakter gesehen - um die Brüchigkeit der menschlichen Existenz geht, sondern er ist es vor allem in visueller Hinsicht. Das ist hauptsächlich das Verdienst von Kameramann Helmuth Ashley, der souverän mit Licht und Schatten umgeht. Vor allem bei den nächtlichen Außenaufnahmen erweist er sich amerikanischen Großmeistern des Film noir wie John Alton ebenbürtig, und bei diesen Aufnahmen - und hier wiederum vor allem bei Tonis und Karins Flucht vor der Polizei - gibt es auch am ehesten atmosphärische Anknüpfungspunkte an THE THIRD MAN. Der 1919 in Wien geborene Ashley absolvierte in den 30er Jahren in seiner Geburtsstadt eine Ausbildung zum Fotografen, und in den 50er Jahren wurde er in Österreich und Deutschland zum gefragten Kameramann mit Schwerpunkt auf Schwarzweiß-Filmen, wobei er von Komödien wie JETZT SCHLÄGT'S 13 und Melodramen wie EIN HERZ SPIELT FALSCH über Krimis wie ALIBI und BANKTRESOR 713 bis zum Arztfilm mit Horror-Einschlag (ARZT OHNE GEWISSEN) viele Genres bediente. Ab 1960 verlegte sich Ashley auf die Regie, nach einigen Spielfilmen dann vorwiegend für das Fernsehen, und da insbesondere für den Krimi im ZDF: Nach drei Folgen von DER KOMMISSAR zusammen über 100 Folgen DERRICK und DER ALTE. Heute lebt Ashley in München.

Atmosphärische Nachtaufnahmen prägen den Film
Die Entstehungsgeschichte von ABENTEUER IN WIEN beginnt damit, dass zwei befreundete Geschäftspartner eine größere Menge Geld übrig hatten und nach einer Investitionsmöglichkeit suchten: Der Chemiker und Industrielle Dr. Werner Kreidl und Friederike Selahettin. Zu ihren Unternehmungen gehörte neben Fabriken auch eine Kinokette mit Spielstätten in Wien und Oberösterreich. Selahettin war die Mutter von Turhan Gilbert Selahattin Şahultavi (nach anderen Quellen Turhan Gilbert Selahettin Schultavey), besser bekannt als Turhan Bey (1922-2012). Unter diesem Namen machte der gut und leicht exotisch aussehende junge Mann, der mit seiner Mutter und Großmutter ins amerikanische Exil gegangen war, in den 40er Jahren eine steile Karriere in Hollywood, meist in Filmen von Warner Brothers oder Universal, in Krimis und Agentenfilmen ebenso wie in vier der farbenprächtigen Abenteuerfilme mit María Montez und Jon Hall. Doch 1950 war seine Karriere weitgehend vorbei (wobei es 1953 mit PRISONERS OF THE CASBAH noch einen Nachzügler gab), und er ging mit Mutter und Großmutter zurück nach Österreich, wo er sich als Fotograf betätigte und ins Management der Kinos im Familienbesitz einstieg. In den 90er Jahren hatte Turhan Bey dann noch einige Auftritte in Fernsehserien wie SEAQUEST DSV und BABYLON 5. - Mutter und Sohn Selahettin und Werner Kreidl beschlossen nun 1951, mit dem verfügbaren Geld einen Film zu produzieren. Zu diesem Zweck gründeten sie als österreichisch-amerikanische Firma die Trans-Globe Films Inc., denn sie hatten die ehrgeizige Idee, den Film für den deutsch-österreichischen und den amerikanischen Markt gleich in zwei Sprachversionen zu drehen. Bekanntlich war das in den frühen Jahren des Tonfilms eine häufige Vorgehensweise, aber für die 50er Jahre (zumal in Österreich) war es ungewöhnlich.

Deponierung der Leiche unter der Nordbahnbrücke
Vierte in der Führungsriege bei Trans-Globe war die amerikanische Schauspieleragentin Elizabeth Dickinson (1885-1975). Eine große Nummer in ihrem Metier war sie nicht, denn sie war nicht selbständig, sondern Angestellte beim Groß-Agenten Paul Kohner. Der gebürtige Österreicher Kohner vertrat viele deutschsprachige Emigranten, wodurch sich auch für Dickinson die entsprechenden Kontakte ergaben, die schließlich zu ihrer Involvierung bei Trans-Globe führten. Wenn man Ernest Roberts glauben darf, dann brachte Dickinson überhaupt kein eigenes Geld in das Projekt ein, sondern nur ihr selbstsicheres Auftreten. Roberts (eigentlich Ernst Adolf Robert Blau) hatte sich im Exil in Hollywood erfolglos als Schauspieler versucht (unter den Filmen, in denen er ungenannt auftrat, befinden sich immerhin Fritz Langs HANGMEN ALSO DIE! und Jacques Tourneurs BERLIN EXPRESS), und 1950 kehrte auch er nach Europa zurück und wurde Journalist. 1951/52 war er im Stab der Trans-Globe, und als er 1996 seinen autobiografischen Roman "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" vorlegte, ging er darin auch auf die Entstehung von ABENTEUER IN WIEN ein. Über Elizabeth Dickinson hat er darin wenig Schmeichelhaftes zu sagen. Von Elizabeth Montagu (auf die ich weiter unten zurückkomme) wird Dickinson auch nicht sehr freundlich als "schamlos aufdringliche Lesbe" geschildert. - Als die Trans-Globe die österreichische Szene betrat, machte sie durch eine pompöse Ankündigungspolitik auf sich aufmerksam. Bei einem Empfang und in Mitteilungen an die Presse gab man sich als eine große amerikanische Firma aus, die nach dem ersten Film gleich mehrere weitere in internationalen Coproduktionen realisieren werde, u.a. mit keinen Geringeren als Douglas Sirk und William Dieterle als Regisseure. "Österreich - Sitz einer weltumfassenden amerikanischen Produktionsgesellschaft" lautete daraufhin die Schlagzeile eines Artikels in der Österreichischen Film und Kino Zeitung vom 1. Dezember 1951. Doch das war alles Schwindel. In Wirklichkeit hatte die Trans-Globe außer den beiden Versionen von ABENTEUER IN WIEN keine weiteren Filme in der Pipeline, und es sollte auch bei diesen bleiben.

Durchgang zu Tonis Wohnhaus
Weil die Trans-Globe als Neuankömmling im österreichischen Filmgeschäft dringend einen einheimischen Kooperationspartner brauchte, wurde (nach einem gescheiterten Versuch mit einer anderen Firma) eine Partnerschaft mit der Schönbrunn-Film von Ernest Müller eingegangen. Ernest (ursprünglich Ernst) Müller (1906-1962) war seit den frühen 30er Jahren in verschiedenen Funktionen bei Wiener Filmstudios tätig. Widersprüchliche Angaben habe ich darüber gefunden, was er während des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland gemacht hat. Nach Angaben von Armin Loacker im Buch vom Filmarchiv Austria (siehe unten) ging Müller als Geschäftsführer der von ihm mitgegründeten Rex-Film, Bloemer & Co. nach Berlin. Die Tatsache, dass er (nach dieser Version) vorwiegend Juden und politisch Verfolgte einstellte und sie so in einem gewissen Ausmaß vor dem Zugriff der Gestapo schützte, soll ihm nach dem Krieg das besondere Wohlwollen der Alliierten eingebracht haben. Laut Wikipedia dagegen verbrachte Müller die Jahre von 1938 bis 1945 im Exil in der Schweiz. Wie dem auch sein mag - Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass Ernest Müller 1950 in Wien die Schönbrunn-Film gründete und innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten österreichischen Produzenten wurde. Dabei bewegte er sich vorwiegend in publikumsträchtigen seichten Gewässern - Heimatfilme, Komödien, Schmonzetten -, aber er produzierte auch so hochinteressante Filme wie WIENERINNEN und DER ROTE RAUSCH. Dabei war Müller alles andere als ein Mäzen, der künstlerisch ambitionierte Regisseure subventionierte - in einem Brief an Werner Kreidl umriss er seine Prinzipien einmal mit "größte Sparsamkeit und rationellstes Arbeiten". Aber man muss ihm zugute halten, dass er auch extravagante Projekte in Erwägung zog, und bei für ihn günstiger Gewinnprognose auch umsetzte. Als die Trans-Globe einige Personalentscheidungen ohne Rücksprache mit Müller traf und Honorare bewilligte, die (seiner Meinung nach) zu hoch waren, wollte er aus dem gemeinsamen Projekt wieder aussteigen. Er konnte zum Bleiben bewogen werden, ließ sich jedoch als Gegenleistung einen Passus in den Kooperationsvertrag schreiben, der seinen finanziellen Einsatz deckelte und ihn von Verlusten freistellte, so dass er im Fall eines Flops schlechtestenfalls mit plus/minus Null dastehen würde. Das war ein weiser Schachzug, wie sich noch zeigen sollte.

Toni als Milton in dessen Hotelzimmer
ABENTEUER IN WIEN basiert auf dem 1933 erschienenen Roman "Ich war Jack Mortimer" des österreichischen Schriftstellers Alexander Lernet-Holenia (1897-1976). Wie bereits erwähnt, wurde der Name des Mordopfers in STOLEN IDENTITY beibehalten, in ABENTEUER IN WIEN dagegen in John Milton geändert. Bereits 1935 wurde der Roman von Carl Froelich als ICH WAR JACK MORTIMER verfilmt, mit Adolf Wohlbrück, Eugen Klöpfer und Sybille Schmitz in den Hauptrollen, und Michael Kehlmann (auf den ich gleich zurückkomme) legte 1961 mit JACK MORTIMER eine TV-Fassung für den WDR vor (in der von der 1952er Besetzung Manfred Inger wieder dabei war). Später entstanden in Österreich und Frankreich auch zwei Hörspiele nach dem Stoff. - Mehrere Versionen erlebte das Drehbuch zu ABENTEUER IN WIEN. Zunächst wurden als Autor für die amerikanische Fassung ein Robert Hill - der weder davor noch danach sonderlich in Erscheinung getreten ist - und für die deutschsprachige Fassung Johannes Mario Simmel engagiert, damals noch ein aufstrebender Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Simmel hatte seine ersten Romane bereits veröffentlicht, aber sein Durchbruch kam erst 1960 mit "Es muss nicht immer Kaviar sein". Doch Hill kam mit dem Stoff nicht so recht zu Rande, und sein Buch wurde verworfen. Simmel als Schnellschreiber dagegen legte nach wenigen Tagen ein Script vor, das sich laut Ernest Roberts "gut, spannend und flüssig" las, letztlich aber auch abgelehnt wurde.

Fahrt vom Polizeirevier ins Konzerthaus
Deshalb wurde Robert Thoeren (den Elizabeth Dickinson aus Hollywood kannte) als neuer Drehbuchautor engagiert. Thoeren (ursprünglich Robert Thorsch, 1903-1957), in Brünn (heute Brno) geboren, wurde zunächst Schauspieler in Deutschland, emigrierte 1933 nach Frankreich und 1938 weiter in die USA. Im Exil wurde er ein routinierter und durchaus erfolgreicher Drehbuchautor. Seinen größten Erfolg erlebte der 1951 nach Deutschland zurückgekehrte und 1957 tödlich verunglückte Thoeren nicht mehr: Das Drehbuch zu FANFARE D'AMOUR (1935), das er zusammen mit einem Michael Logan geschrieben hatte, wurde zur Vorlage für SOME LIKE IT HOT (natürlich mit einigen Änderungen und Ergänzungen durch Wilder und I.A.L. Diamond). Zuvor hatte schon Kurt Hoffmann mit FANFAREN DER LIEBE ein Remake vorgelegt. - Thoeren ist der Hauptautor des Drehbuchs von ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY (die beiden Bücher sind bis auf die Sprache praktisch identisch), ihm nachgeordnet als weisungsgebundene Zuarbeiter waren Franz (von) Tassié und Michael Kehlmann. Tassié (1903-1990) war ein angesehener Journalist (er war ab Herbst 1945 im Vorstand des Verbands demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs), der hin und wieder auch Drehbücher verfasste. Kehlmann (1927-2005) hingegen war damals Schauspieler und Kabarettist (er stand u.a. mit Helmut Qualtinger auf der Bühne). In ABENTEUER IN WIEN spielte er den Passfälscher, und seine Mitarbeit am Drehbuch war sein erster Versuch in diesem Metier. Er fand ab 1953 seine Berufung als in Deutschland ebenso wie in Österreich arbeitender Fernsehregisseur, daneben auch als Theaterregisseur. Zu seinen Spezialitäten zählten gediegene Literaturverfilmungen wie der Zweiteiler RADETZKYMARSCH (1965), aber auch Krimis. Wie schon erwähnt, drehte er 1961 auch eine TV-Fassung des Mortimer-Stoffs. Neben dem Trio Thoeren/Tassié/Kehlmann arbeitete auch noch Emil-Edwin Reinert am Drehbuch mit, nachdem er als Regisseur engagiert worden war. - Der Realität zum Trotz wird in STOLEN IDENTITY Robert Hill als alleiniger Autor des Drehbuchs genannt, obwohl er wenig oder nichts dazu beigetragen hatte, in ABENTEUER IN WIEN dagegen werden Tassié und Kehlmann gleichberechtigt aufgeführt. Robert Thoeren, der eigentliche Autor, wird in keiner der beiden Versionen in den Credits erwähnt.

Ein Passfälscher - nur in STOLEN IDENTITY mit Hut
Die Filmmusik zu ABENTEUER IN WIEN schrieb der gebürtige Niederländer Richard Hageman (1882-1966). Der Pianist, Dirigent und Komponist Hageman emigrierte 1906 in die USA, wo er mit renommierten Orchestern arbeitete. Seit 1938 war er auch für Hollywood tätig. Bekannt wurde Hageman vor allem durch seine Zusammenarbeit mit John Ford, für den er einige seiner bekanntesten Western vertonte. Der Niederösterreicher Hans Hagen, der Hagemans Musik für den Film instrumentierte, spielt auch den Dirigenten der Wiener Symphoniker, der das Konzert mit Manelli einstudiert. - Wenn in den 30er Jahren ein Film in mehreren Sprachversionen gedreht wurde, dann wurde das oft so organisiert, dass ein Hauptregisseur engagiert wurde, der die primäre Version des Films komplett inszenierte, aber auch bei den Alternativversionen für die Mise en Scène zuständig war, und ihm untergeordnet gab es für jede der alternativen Sprachen einen eigenen Dialogregisseur (auch bei Filmen mit nur einer Version, aber verschiedensprachigen Darstellern gibt es gelegentlich zusätzliche Dialogregisseure). Bei ABENTEUER IN WIEN sollte das auch so gehandhabt werden. Als Regisseur für beide Fassungen wurde zunächst Gunther von Fritsch und als zusätzliche Dialogregisseurin für STOLEN IDENTITY Elizabeth Montagu engagiert. Die aus altem englischem Adel stammende Elizabeth Montagu (nach ihrer Heirat 1962 Elizabeth Varley, 1909-2002, nicht zu verwechseln mit einer anderen Elizabeth Montagu) führte ein äußerst abwechslungsreiches Leben. In einer Online-Notiz über ihre 2003 posthum erschienenen Memoiren "Honourable Rebel" heißt es: "Actress, fashion model, musician, journalist, war-time ambulance driver, spy, film writer, dialogue director and librettist, this is the long-awaited memoir of Beaulieu's reluctant debutante who exchanged a life of privilege for a colourful career in war-torn Europe." Das "spy" bezieht sich auf ihre Tätigkeit für den britischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs, und zwar in der Schweiz als Mitarbeiterin von Elizabeth Wiskemann. In der Schweiz lernte sie auch Lazar Wechsler kennen, einen der wichtigsten Schweizer Filmproduzenten. Durch ihn bekam sie 1945 eine Chance als Co-Autorin und Regieassistentin bei Leopoldt Lindtbergs DIE LETZTE CHANCE, darauf folgten Engagements als Dialogregisseurin in Filmen von Julien Duvivier, Alexander Korda und anderen Regisseuren, und sogar als Co-Regisseurin bei Lindtbergs DIE VIER IM JEEP (der wie DIE LETZTE CHANCE von Wechsler produziert wurde). Als 1951 DIE VIER IM JEEP gedreht wurde, kannte sie Wien schon: 1948 hatte sie Graham Greene beraten, als der vor Ort für sein Drehbuch zu THE THIRD MAN recherchierte, und bei den Dreharbeiten war sie auch Carol Reeds Beraterin. Nach ABENTEUER IN WIEN war Montagu noch bei drei weiteren Filmen Dialogregisseurin, darunter ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG, der auch wieder von Wechsler (zusammen mit Atze Brauner) produziert wurde. Montagus oben zitierte Bemerkung über Elizabeth Dickinson steht in ihren Memoiren.

Der Polizeikommissär (links), Krüger
Gunther (ursprünglich Günther) von Fritsch (1906-1988), in Pula im damals österreichisch-ungarischen (heute kroatischen) Istrien als Sohn eines Marineoffiziers geboren, besuchte nach seiner Matura in Wien die École Technique de Photographie et Cinématographie in Paris, und zwar gemeinsam mit Fred Zinnemann, mit dem er befreundet blieb. Beide gingen dann in die USA, und weil von Fritsch in seinem eigentlichen Metier als Kameramann wegen der Gewerkschaftsbestimmungen in Hollywood nicht arbeiten konnte, wurde er zunächst Regieassistent (gemeinsam mit Zinnemann 1930/31 bei zwei Filmen von Berthold Viertel) und Cutter (z.B. bei Zinnemanns erster amerikanischer Regie, dem in Mexiko gedrehten REDES). Als Regisseur drehte von Fritsch seit 1936 kurze Dokumentar- und Reisefilme. Seine Versuche, als Spielfilmregisseur Fuß zu fassen, waren dagegen von wenig Erfolg gekrönt. 1944 wurde er als Regisseur von THE CURSE OF THE CAT PEOPLE verpflichtet, einem Sequel zu Jacques Tourneurs Klassiker CAT PEOPLE, aber nach 18 Drehtagen wurde er durch Robert Wise ersetzt. So blieb das Musical CIGARETTE GIRL von 1947 seine einzige Spielfilmregie in alleiniger Verantwortung. Nach seinem glücklosen Ausflug nach Wien realisierte von Fritsch, wieder in den USA, etliche Folgen von Fernsehserien wie FLASH GORDON und angeblich 77 SUNSET STRIP (letzteres wird von der IMDb aber nicht bestätigt). - Gunther von Fritsch war mit Elizabeth Dickinson befreundet, und er wurde also zunächst als Regisseur für beide Versionen von ABENTEUER IN WIEN verpflichtet. Aber bald kamen Zweifel auf, ob er der komplexen Aufgabe, zwei Filme parallel zu inszenieren, gewachsen sein würde. So lehnte er einige frühe Drehbuchentwürfe ab, konnte das aber weder begründen noch Verbesserungsvorschläge machen. Deshalb wurde noch im November 1951 Emil-Edwin Reinert als weiterer Regisseur engagiert. Reinert sollte für die deutschsprachige Version zuständig sein, von Fritsch nur noch für die englischsprachige.

Die Flucht zu Fuß beginnt
Emil-Edwin Reinert (1903-1953) wurde in der Kleinstadt Rawa-Ruska in einer damals östereichisch-ungarischen und heute ukrainischen Ecke von Galizien geboren. Durch die politische Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg wurde er polnischer Staatsbürger. 1926 ging Reinert nach Frankreich, studierte in Grenoble und wurde Elektro- und Toningenieur, wodurch er schließlich zum Film kam - Regisseure wie Alexander Korda und Louis Mercanton engagierten ihn als Tontechniker (eine Victoria Mercanton war in den 40er Jahren Cutterin bei fünf von Reinerts Filmen - vielleicht eine Verwandte von Louis Mercanton). Ab 1932 drehte Reinert in Frankreich Kurzfilme, 1936 inszenierte er in England seinen ersten Spielfilm TREACHERY ON THE HIGH SEAS. Wieder zurück in Frankreich, drehte er LE DANUBE BLEU mit verschiedener Besetzung gleich zweimal hintereinander, weil die erste Version bei einem Brand im Entwicklungslabor zerstört wurde. Als der Film erschien, war Frankreich schon im Krieg und Reinert Soldat, und zwar, weil er noch polnischer Bürger war, in der polnischen Exil-Armee in Frankreich. 1940 wurde er verwundet und geriet in Gefangenschaft, konnte aber mit anderen Gefangenen fliehen und sich in die Schweiz durchschlagen, wo er interniert wurde. Die Internierung dauerte bis Kriegsende im Mai 1945, scheint aber nicht besonders streng gewesen zu sein, denn 1941 wirkte er als eine Art Supervisor bei DER DOPPELTE MATTHIAS UND SEINE TÖCHTER, der vom eher als Schauspieler bekannten Sigfrit Steiner inszeniert wurde.

Emil-Edwin Reinert, links 1948, rechts 1950 bei Dreharbeiten in Paris
(Fotos: aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)
Nach seiner Hochzeit mit einer Schweizer Violinistin kehrte Reinert nach Frankreich zurück, wurde französischer Staatsbürger, und seine produktivste Zeit begann: Von 1946 bis zu seinem Tod drehte er 12 Spielfilme - oder 14, wenn man ABENTEUER IN WIEN/STOLEN IDENTITY und den ebenfalls in zwei Sprachversionen entstandenen L'AIGUILLE ROUGE/VERTRÄUMTE TAGE (1951) jeweils als zwei Filme zählt. Außerdem war Reinert an dem als internationale Coproduktion realisierten Episodenfilm A TALE OF FIVE CITIES beteiligt. Darin reist ein unter Gedächtnisverlust leidender Brite, den es in die USA verschlagen hat, in fünf europäische Metropolen, um seiner eigenen Identität auf die Spur zu kommen. Reinert inszenierte das Pariser Segment, während Wolfgang Staudte für Berlin und Géza von Cziffra für Wien zustandig waren (sowie die mir unbekannten Romolo Marcellini für Rom und Tully Montgomery für London). ABENTEUER IN WIEN war nicht Reinerts erste Arbeit in Wien - hier hatte er 1951 schon hintereinander WIENER WALZER (mit Marte Harell und Adolf Wohlbrück in den Hauptrollen) und MARIA THERESIA (mit Paula Wessely in der Titelrolle) gedreht. Zu Reinerts mehrfachen Mitarbeitern in der Phase ab 1946 zählten neben der schon erwähnten Victoria Mercanton der russisch-jüdische Emigrant Jacques Companéez als Drehbuchautor (auch an Jean Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) und Jacques Beckers CASQUE D'OR (GOLDHELM) beteiligt) sowie der aus Ungarn stammende Filmkomponist Joe Hajos. Hajos war auch als Komponist für ABENTEUER IN WIEN im Gespräch und wurde bereits von der Trans-Globe kontaktiert, aber dann erhielt doch Richard Hageman den Zuschlag.

Die Flucht geht weiter
Es arbeiteten nun also Reinert und Gunther von Fritsch parallel im Grunde am selben Film, und das ging nicht lange gut. Es kam zu Konflikten, und von Fritsch zog dabei den Kürzeren - vielleicht, weil Reinert künstlerisch überzeugender, auf jeden Fall aber, weil er durchsetzungsfähiger war. Nach weniger als der Hälfte der Drehzeit wurde daraus die Konsequenz gezogen, und von Fritsch wurde mehr oder weniger abgesetzt. Reinert war jetzt auch für die Regie von STOLEN IDENTITY zuständig, und von Fritsch war zwar noch bei den Dreharbeiten anwesend, hatte aber nichts mehr zu sagen. Die Credits für STOLEN IDENTITY bekam dennoch von Fritsch allein, Reinert blieb ungenannt. Trotzdem muss das für von Fritsch eine ziemlich frustrierende Erfahrung gewesen sein. Er hatte sich wohl von dem ambitionierten Projekt seinen Durchbruch als Spielfilmregisseur erhofft, aber unter den gegebenen Bedingungen konnte das nicht gelingen. Obendrein erhielt er auch noch viel weniger Honorar als Reinert: Von Fritsch bekam 45.000 Schilling plus wöchentliche Spesen von 1.500 Schilling, Reinert dagegen 25.000 Schweizer Franken plus 60.000 Schilling, was zusammen über 180.000 Schilling entsprach. Für Reinert brachte ABENTEUER IN WIEN aber auch kein uneingeschränktes Glück. Es war sein letztes Werk, und es wurde sogar behauptet, es habe ihn das Leben gekostet. Im Buch zum Film ist nämlich zu lesen, er sei bei den Dreharbeiten von einer Kameraplattform gestürzt und habe sich schwer verletzt, er habe den Film zwar noch vollenden können, sei aber im Jahr darauf an den Spätfolgen der Verletzung gestorben. In Wirklichkeit starb Reinert aber an Nierenkrebs, wie sein Sohn Jean-Michel Reinert auf Nachfrage bestätigt hat. Den Unfall gab es zwar, er war aber wohl doch nicht so dramatisch. Möglicherweise erfuhr Reinert erst durch die Untersuchungen nach dem Unfall von seiner Erkrankung. Auf jeden Fall kehrte er nach seinen drei Wiener Filmprojekten nach Frankreich zurück, wo er im Oktober 1953 starb.

Das einfache, langsam denkende Publikum


Die Drehbücher der beiden Fassungen waren, wie schon erwähnt, praktisch identisch, und das gilt weitgehend auch für die Szenenfolgen der beiden fertigen Filme. Mal ist in der einen und mal in der anderen Fassung eine Einstellung etwas länger, aber die grundsätzliche Abfolge ist gleich. Die wenigen nennenswerten Unterschiede beruhen nicht auf dem Buch oder der Inszenierung, sondern auf dem Schnitt. Das betrifft vor allem eine Szene, die sich nur in STOLEN IDENTITY findet: Nachdem Toni seinen Anruf bei der Polizei abgebrochen hat, verlässt er die Bar, doch auf der Straße patrouilliert gerade ein Streifenpolizist, der ihn ins Auge fasst. Deshalb geht Toni noch einmal in die Bar, um Zeit zu gewinnen. Dort wird er von einem betrunkenen amerikanischen Touristen angesprochen, der ihm ungefragt erklärt, man müsse in jedem Land die einheimischen Spezialitäten goutieren: In Frankreich etwa Cognac, Champagner und Mädchen, in Italien Spaghetti, Chianti und Mädchen, in Amerika Steaks, Waschmaschinen (sein Geschäft) und Mädchen, und in Österreich Wiener Schnitzel, Gebäck und ... nein, nicht Mädchen, wie man jetzt als Zuschauer erwartet, sondern Walzer. Und dann wird Toni zu einem Walzer mit der Freundin des Amerikaners genötigt. Diese schöne Szene wurde in ABENTEUER IN WIEN auf "Anregung" (das heißt auf Befehl) des deutschen Verleihs, der Herzog-Film GmbH in München, herausgeschnitten. Nach Ansicht einer Rohfassung fasste die Herzog-Film ihre "Anregungen" in einem Brief an die Schönbrunn-Film im Mai 1952 in 16 Punkten zusammen, die, soweit ersichtlich, auch alle umgesetzt wurden. Als Beispiel sei der Absatz zitiert, der die Bar-Szene betrifft:
[...]
Im einzelnen möchten wir u.a. Folgendes (leider nur unter dem Eindruck einer einmaligen Besichtigung stehend) zur Diskussion stellen:
[...]
7.) Die Szene mit den Amerikanern in der Bar kann wegfallen, zumal dadurch ein Tempogewinn entsteht. Toni Sponer kann gleich im Anschluß an das Telefongespräch das Lokal verlassen und draussen an seinem Wagen den betrunkenen Fahrgast finden und abfahren.
[...]
Wir bitten Sie um Beachtung unserer Anregungen, die auf diesem Wege übermitteln zu müssen, wir sehr bedauern. Wir sind überzeugt, daß durch sorgfältige Arbeit in Schnitt und Synchronisation die Wirkung des Filmes noch sehr gesteigert werden wird.

Wir begrüssen Sie und zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung!
HERZOG-FILM GMBH.
(Unterschrift)
In diesem Brief findet sich übrigens auch der folgende schöne Satz: "Es muß dafür Sorge getragen werden, daß das einfache, langsam denkende Publikum die Handlung vollständig versteht und nicht Fehlschlüsse zieht und auf diese Weise verärgert ist und unbefriedigt bleibt."

Feuchtes Kopfsteinpflaster
Ein augenfälliger Unterschied zwischen ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY gründet nicht im Schnitt oder der Inszenierung: Donald Buka war 18 Jahre jünger als Gustav Fröhlich, und das sieht man auch. So wirkt Bukas Toni Sponer dynamischer als der von Fröhlich, aber Fröhlich ist viel glaubwürdiger als jemand, der seine letzte Chance ergreifen will - Buka traut man eigentlich noch viele Chancen zu. In der Handlung wurde der Altersunterschied übrigens reduziert: Der eine Toni ist 40, der andere 32. Joan Camden und Cornell Borchers dagegen waren im Alter nur vier Jahre auseinander, und sie sahen sich hier auch recht ähnlich. Camden hatte ein schmaleres Gesicht, aber die Statur war ähnlich und Frisur und Haarfarbe praktisch identisch. - Joan Camden (1929-2000) hatte vor STOLEN IDENTITY nur einen Filmauftritt, nämlich die weibliche Hauptrolle im semidokumentarischen Mafia-Krimi THE CAPTIVE CITY (STADT IM WÜRGEGRIFF) von Robert Wise. Nach ihrem Ausflug nach Wien folgten nur noch Nebenrollen in vier weiteren Spielfilmen, daneben hatte sie ungefähr 40 Auftritte in Fernsehserien. Donald Buka (1920-2009) kam in seiner immerhin deutlich länger dauernden Karriere seit 1943 auch nur auf neun Spielfilme, fast immer Nebenrollen, und zwar vor STOLEN IDENTITY mehrere Gangsterrollen hintereinander, so dass er nun froh war, auch einmal einen positiven Charakter darstellen zu dürfen. Daneben spielte auch er in Fernsehserien sowie am Theater. Camden und Buka waren also keine Stars - ganz im Gegenteil, auch in den USA waren sie 1952 ziemlich unbekannt. Es war Elizabeth Dickinsons Entscheidung, für diese Rollen keine klangvollen Namen zu verpflichten. - Cornell Borchers' (1925-2014) Karriere war ähnlich kurz wie die von Camden - sie dauerte von 1949 bis 1959 -, aber ungleich erfolgreicher. Nachdem sie von Arthur Maria Rabenalt zum Film geholt worden war, spielte sie nicht nur in deutschen und österreichischen, sondern durchaus erfolgreich auch in einem englischen (sie gewann dafür einen BAFTA Award) und mehreren Hollywoodfilmen, neben Stars wie Montgomery Clift (THE BIG LIFT, 1950), Rock Hudson (NEVER SAY GOODBYE, 1956) und Errol Flynn (ISTANBUL, 1957). Nach ABENTEUER IN WIEN spielte Borchers gleich nochmal mit Gustav Fröhlich, nämlich in HAUS DES LEBENS, und Fröhlich war ihr Regisseur in DIE LÜGE von 1950 (beide Filme gelten aber als ziemlich schlecht). Borchers' letzter Film war ARZT OHNE GEWISSEN (mit Helmuth Ashley an der Kamera), dann zog sie sich freiwillig ins Privatleben zurück.

Identische Einstellungen (links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY)
Gustav Fröhlich und Francis Lederer wurden noch im deutschen Stummfilm groß. Fröhlich (1902-1987) war seit 1922 beim Film, seine bekannteste Rolle war natürlich die in METROPOLIS. In den 30er Jahren blieb Fröhlich gefragt als jugendlicher Held und Liebhaber, aber nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit seiner Karriere etwas bergab. Doch 1951 spielte er neben Hildegard Knef die Hauptrolle in DIE SÜNDERIN, und der Skandal, der um diesen Film entfacht wurde, brachte auch Fröhlich wieder in die Schlagzeilen (wobei etwas unterging, dass er darin eine durchaus ansehnliche Leistung bot). Übrigens wurde auch DIE SÜNDERIN von der Herzog-Film verliehen, und man muss der Firma hoch anrechnen, dass sie sich von kirchlichen und politischen Kreisen nicht einschüchtern ließ, sondern den Film offensiv durchsetzte. Fröhlich drehte seinen letzten Kinofilm 1960, danach folgten noch einige Fernsehrollen. Parallel zu seiner Filmkarriere, und auch nach deren Ende, spielte er regelmäßig Theater. - Franz oder František Lederer (1899-2000) wuchs zweisprachig bei Prag auf. Nach Jahren am Theater kam er 1928 zum Film. Seine größte Stummfilmrolle war die an der Seite von Louise Brooks in DIE BÜCHSE DER PANDORA von G.W. Pabst. Über den Umweg von Bühnenengagements in London und (ab 1932) am Broadway gelang ihm der Sprung nach Hollywood, wo er sich (nun als Francis Lederer) fest etablieren konnte. 1939 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Der Durchbruch zum ganz großen Star (den Irving Thalberg mit ihm vorhatte) gelang zwar nicht, aber Lederer spielte von 1934 bis 1959 in ungefähr 25 Hollywoodfilmen, ab 1948 auch in Fernsehfilmen, und daneben auch weiterhin am Theater. Lederer, der eine große und luxuriöse Ranch nordwestlich von Los Angeles bewohnte, betätigte sich auch erfolgreich als Immobilienmakler, übte verschiedene ehrenamtliche Positionen aus und wirkte bis ins hohe Alter als Schauspiellehrer.

Durchgänge und Stiegen
Die Grundstimmung von ABENTEUER IN WIEN ist zwar gedrückt, für eine kleine humoristische Einlage sorgt aber der Kabarettist Karl Farkas als gestresster Ober in der Bar, in der Toni telefoniert. Farkas' regelmäßiger Bühnenpartner Ernst Waldbrunn steht zwar auf einer internen Besetzungsliste, taucht aber im Film nicht auf. Fritz Eckhardt, damals auch noch eher als Bühnendarsteller und Kabarettist bekannt, spielt den Nachtportier in John Miltons Hotel. Hier konnte er sich schon mal auf seine spätere Serienhauptrolle in HALLO - HOTEL SACHER ... PORTIER! einstimmen und auch schon eine Spur Schmäh einbringen. An ungewohnter Stelle in den Credits scheint Nadja Tiller auf: Die zweifache Miss Austria hatte 1952 ihre Bühnen- und Filmlaufbahn bereits begonnen, aber in ABENTEUER IN WIEN spielt sie nicht mit, sondern sie war (gemeinsam mit einem Dr. Leo Bei) für die Kostüme verantwortlich.

Karl Farkas als Ober
Nicht wenige der Beteiligten an ABENTEUER IN WIEN stammten aus Österreich (bzw. aus dem Gebiet des seinerzeitigen Österreich-Ungarn), waren während der Zeit des Nationalsozialismus (oder auch schon vorher) emigriert, und nun wieder vorübergehend oder dauerhaft in Österreich versammelt: Vielleicht (oder vielleicht auch nicht) Ernest Müller, auf jeden Fall aber Turhan Bey und Friederike Selahettin, Reinert, von Fritsch, Robert Thoeren, Ernest Roberts; von den Darstellern Adrienne Gessner (die spätere Burgtheater-Doyenne war mit ihrem Mann Ernst Lothar in die USA emigriert; am Broadway spielte sie u.a. mit Marlon Brando), Francis Lederer, Manfred Inger, Karl Farkas und Franz Marischka (er spielt einen Passkontrolleur am Flughafen) - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts dieser Häufung ist ABENTEUER IN WIEN schon als "Remigrantenfilm" bezeichnet worden. Im Buch vom Filmarchiv Austria wird die Sinnhaftigkeit dieses Begriffs aber bestritten, und Turhan Bey konnte im Interview 2005 nichts damit anfangen. Fest steht, dass es kein gezieltes Programm gab, vorwiegend Remigranten zu beschäftigen. Die österreichischen Darsteller mit Sprechrollen wurden nicht nur nach ihrer Eignung für die Rolle ausgesucht, sondern sie mussten auch ausreichende Englischkenntnisse vorweisen, um in beiden Versionen auftreten zu können. Dazu war es aber nicht nötig, im englischen oder amerikanischen Exil gewesen zu sein - in mittlerweile fast sieben Jahren Besatzungszeit konnte man auch in Österreich Englisch gelernt haben. Die frühere politische Einstellung der Betreffenden spielte auch keine Rolle. Neben Gegnern und Verfolgten des Nazi-Regimes konnten auch ehemals stramme Nazis wie Trude Marlen (sie spielt die Frau, die ihren Pelz mit Blut beschmutzt) bei ABENTEUER IN WIEN unterkommen. Gustav Fröhlich konnte man auch keine Regime-Ferne nachsagen. Trotzdem: In Anbetracht der Häufung entsprechender Lebensläufe, mag sie auch eher zufällig zustande gekommen sein, scheint mir die Bezeichnung "Remigrantenfilm" für ABENTEUER IN WIEN nicht ganz abwegig zu sein.

Eine Ruine - die einzige im Film
ABENTEUER IN WIEN lief (unter dem deutschen Verleihtitel GEFÄHRLICHES ABENTEUER) im August 1952 in der BRD an, in Österreich einen Monat später. STOLEN IDENTITY kam in den USA erst 1953 heraus. Die Reaktionen der österreichischen und deutschen Filmfachpresse waren weitgehend positiv, die in der allgemeinen Presse dagegen durchwachsen - neben Zustimmung gab es auch viel Ablehnung. Die im oben verlinkten Artikel über den "Remigrantenfilm" erhobene Behauptung, der Film sei komplett durchgefallen, hält aber der Realität nicht stand. Allgemein wurde Ashleys Kameraarbeit gelobt, oft auch die Leistungen der Schauspieler. In vielen Kritiken wurde - zuungunsten von ABENTEUER IN WIEN - der Vergleich zu THE THIRD MAN gezogen, aber wie oben schon ausgeführt, konnte das kein geeigneter Vergleichsmaßstab sein. STOLEN IDENTITY wurde von der amerikanischen Kritik offenbar kaum beachtet, aber immerhin ist eine verhalten wohlwollende Kritik in Variety überliefert.

Rast auf der Flucht
Aufgrund der mehrfachen Anläufe mit dem Drehbuch und eines schlampig erstellten Drehplans (was vor allem die Außenaufnahmen betraf) war es immer wieder zu Vezögerungen und dadurch zu starken Kostenüberschreitungen gekommen. Friederike Selahettin und Werner Kreidl verkauften sogar eines ihrer Kinos, um die gestiegenen Kosten zu decken. Für den schlechten Drehplan war Friedrich Erban verantwortlich, der offizielle Produktionsleiter, der diese Funktion aber kaum ausfüllte. Stattdessen nahm Carl Szokoll diese Pflichten wahr, der am Ende auch die Credits dafür erhielt. Die genauen Besucherzahlen von ABENTEUER IN WIEN sind nicht bekannt, aber übermäßig hoch waren sie wohl nicht - vielleicht auch, weil für eine ordentliche Werbekampagne kein Geld mehr da war. Jedenfalls konnten die Herstellungskosten nicht hereingespielt werden. Auch STOLEN IDENTITY war wohl kein Erfolg beim Publikum beschieden. Elizabeth Dickinson machte aber trotzdem einen guten Schnitt - jedenfalls, wenn man Ernest Roberts glauben darf. Da sich Ernest Müller, wie oben erwähnt, vertraglich abgesichert hatte, blieb der Verlust an Turhan Bey und seiner Mutter und an Werner Kreidl hängen. Ernest Roberts schreibt dazu in "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" nicht ohne eine gewisse Häme: "Mit sicherem Instinkt rochen sämtliche alten Filmhasen Wiens, dass an dem Ding was zu kassieren war. Ganz Film-Wien stieß sich gesund daran, ausgenommen die beiden Produzenten, die allerdings niemand bedauerte. [...] Die Präsidentin [Dickinson] von ›Outer Space‹ veranstaltete noch eine illustre Abschiedsparty im ›Sacher‹ auf Kosten der Wiener, an der Hunderte teilnahmen, nahm das Negativ der englischen Version unter ihren rechten Arm, die Krokodilledertasche - inzwischen prall gefüllt - unter den linken und flog, hochzufrieden mit sich und ihren bewundernswerten Manipulationen gen ›Outer Space‹. [...] Ihre Mäzene dagegen gingen leer aus, sie sahen keinen Profit, weder die deutsche noch die englische Version reüssierte."

Am Flughafen Schwechat
ABENTEUER IN WIEN geriet schnell in weitgehende Vergessenheit. In Büchern zur österreichischen Filmgeschichte kam er höchstens als Randnotiz vor. Das änderte sich erst in den 90er Jahren. 1993 wurde ABENTEUER IN WIEN im Rahmen einer Retrospektive mit dem Titel "Aufbruch ins Ungewisse - österreichische Filmschaffende in der Emigration" bei der Viennale (in Anwesenheit von Lederer) gezeigt. 2005 erschienen beim Filmarchiv Austria beide Versionen des Films zusammen auf einer DVD (STOLEN IDENTITY ohne Untertitel). Beigelegt ist das schon mehrfach erwähnte Buch mit dem Titel "Austrian Noir". Auf ca. 180 Seiten beleuchten sechs österreichische und deutsche Autoren in acht Beiträgen verschiedene Aspekte des Films. Für den Teil, der sich mit der Produktionsgeschichte beschäftigt, wurden Turhan Bey, Helmuth Ashley und Wolfgang Glück (der eine kleine Rolle spielt und als Regie-Volontär hospitierte) interviewt, und es wurden Verträge, Korrespondenz und sonstige Unterlagen aus dem Nachlass der Schönbrunn-Film ausgewertet. In Deutschland wird dieses schöne Set in der Edition Filmmuseum vertrieben. ABENTEUER IN WIEN allein ist auch auf einer DVD der "Edition Der Standard" erhältlich.

Francis Lederer, Joan Camden und Emil-Edwin Reinert bei den Dreharbeiten
(Foto aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)

Dienstag, 7. Oktober 2014

Die Rache des schwarzen Samurai

VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE aka FORCE OF DEATH aka FIGHTING MAD aka THE FORCE aka FIERCE („Death Force – Ein Mann wird zum Killer")
USA / Philippinen 1978
Regie: Cirio H. Santiago
Darsteller: James Iglehart (Doug Russell), Carmen Argenziano (Morelli), Leon Isaac Kennedy (McGee), Jayne Kennedy (Maria Russell)


Als Jim Jarmusch 1999 in GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI einen afroamerikanischen Samurai losschickte, um die Unterwelt einer US-Großstadt aufzumischen, klang das nach einem witzigen und originellen Konzept. Doch schwarze Samurais gab es schon länger. Im 16. Jahrhundert soll tatsächlich der afrikastämmige Diener eines italienischen Jesuiten, der Japan besuchte, in den Rang eines Samurai aufgestiegen sein und den Namen Yasuke angenommen haben. Einige Jahrhunderte später, um genauer zu sein in den 1970er Jahren, sprossen schwarze „Samurais“ geradezu aus dem Boden, als in einer der vielen Varianten von Exploitation-Crossovers Blaxploitation und Martial Arts Film zusammenfanden. THAT MAN BOLT (1973, mit Fred Williamson), BLACK BELT JONES (1974, mit dem Karateka Jim Kelly) und DEATH DIMENSION (1978, ebenso mit Jim Kelly) verbanden ostasiatische Kampfkunst-Action mit schwarzen Hauptfiguren, auch wenn es sich offenbar nicht um Samurais mit Schwertern handelte. Die Inhaltsangabe von BLACK SAMURAI (1977, wieder Jim Kelly) suggeriert nicht wirklich, dass der Titel wörtlich sein Versprechen einhält, hat aber in seinem imdb-Eintrag zumindest die Stichworte „samurai“, „sword fight“ und „katana sword“ gelistet.

Anders bei VENGEANCE IS MINE (der Film hat mit Imamura Shoheis ein Jahr später veröffentlichtem Film nichts zu tun. Auf die verwirrende Titelvielfalt komme ich noch zu sprechen – ich nutze einheitlich diesen Titel, weil meine Fassung ihn trägt), in dem tatsächlich ein schwarzer Samurai zum Schrecken der Unterwelt von Los Angeles wird. Doch wie kommt es dazu?

Drei (noch) fröhliche Veteranen nach dem Deal
Russell, Morelli und McGee haben zusammen in Vietnam gekämpft. Nun können die Soldaten nach Hause zurückkehren. Morelli und McGee träumen von einer Karriere als Ganoven, die schnelles Geld, Ruhm, Macht und Frauen verspricht. Russell hingegen will nur eins: zu seiner Ehefrau Maria zurückkehren und ein bürgerliches Leben führen. Doch zunächst werden die drei auf den Philippinen stationiert, wo sie sich ein kleines Taschengeld verdienen wollen. Sie wickeln einen kleinen Goldschmuggel-Deal mit einem zwielichtigen Mafioso ab – wo sie das Gold warum und wie gefunden haben, soll uns nicht weiter interessieren. Auf einem kleinen Kreuzer wollen nun die drei Veteranen mit viel Geld in der Tasche zurückkehren. Doch Morelli hat eine bessere Idee: wenn er und McGee ihren Kollegen Russell töten, bleibt mehr von der Beute für sie beide übrig – und mehr Einstiegskapital für ihre verbrecherischen Vorhaben, an denen Russell sich eh nicht beteiligen will. Gesagt getan! Morelli und McGee schnappen sich Russell, erstechen ihn, schneiden ihm die Kehle durch und schmeißen ihn ins Meer.

In Los Angeles zurück beginnen die beiden fiesen Armeeveteranen, sich in die Geschäfte der Unterwelt einzumischen. Sie beseitigen Konkurrenten durch Einschüchterungen, massive Zerstörungen und schließlich durch Mord. Derweilen wird Russell an den Strand einer fast einsamen Insel gespült. Zwei Japaner in abgerissenen Soldatenuniformen entdecken den für tot gehaltenen, aber nur schwerverletzten Mann, bringen ihn in ihre Höhlenunterkunft und pflegen ihn gesund. Als Russell wieder Bewusstsein erlangt, glaubt er seinen Augen kaum. Sugoro stellt sich als Oberst der Kaiserlich Japanischen Armee vor (die 1945 aufgelöst wurde). Ichikawa, ein einfacher Soldat, ist sein Diener. Beide landeten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Insel, wurden aber nach der Kapitulation vergessen und leben seit etwa drei Jahrzehnten zivilisationsfern wie Robinsons. Wie kampfbereite Robinsons freilich: Sugoro ist überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg noch in Gange ist.

Russell wird von zwei japanischen Soldaten gefunden
Morelli und McGee mischen die Unterwelt von L. A. auf
Während Russell auf der verlassenen Insel langsam wieder zu Kräften kommt, haben sich Morelli und McGee dank brachialster Gewalt einen führenden Platz in der kriminellen Welt Los Angeles erarbeitet. Konkurrenten werden weiterhin ermordet, doch die Geschäfte laufen mittlerweile so gut, dass einige – genauso wie die Polizei – auch einfach gekauft werden können. Und für McGee bleibt nun auch Zeit, um Maria Russell zu besuchen, sie über das Dahinscheiden ihres Mannes zu unterrichten und ihr dann auf äußerst penetrante Weise den Hof zu machen. So könnte es weiter gehen, doch Russell hat den Verrat nicht vergessen. Er lebt nun in einer interkulturellen und intergenerationellen Veteranen-WG und beginnt, sich für Sugoros Kampfkunstwissen zu interessieren. Dieser willigt ein, den Amerikaner zu unterrichten. In langen Tagen trainiert Russell genug hart, um schließlich von Sugoro zum Samurai ernennt zu werden und zwei Schwerter verliehen zu bekommen. Doch das löst nicht das Problem, dass Russell auf der Insel festsitzt.

Seine Ehefrau, die ihn für tot hält, verliert derweilen ihren Job als Nachtclubsängerin und findet auch keine andere Anstellungen – dem Zuschauer wird rasch klar, dass McGee, der als großer Boss die wichtigsten Nachtclubs von L. A. kontrolliert, Maria wohl auf eine schwarze Liste gesetzt hat, nur, um ihr dann „großzügig“ Arbeit anzubieten, wenn sie bloß „netter“ zu ihm wäre. Auf der weit entfernten tropischen Insel stirbt derweilen Ichikawa bei einem Unfall. Kurz danach landet eine Einheit der philippinischen Armee auf der Insel. Für Sugoro ist dies ein Grauen, für Russell eine große Chance – ersterer begeht Seppuku,  letzterer kann, mit zwei Samurai-Schwertern im Handgepäck, in die USA zurückkehren.

Russell "fragt" sich zu McGee und Morelli durch...
...und findet seine Familie wieder.
In L. A. angekommen betätigt sich Russell in zwei Richtungen. Er sucht einerseits seine Frau, die er vorerst nicht findet (sie musste – nunmehr arbeitslos – bei einer Freundin einziehen). Andererseits fragt er sich zu Morelli und McGee durch und metzelt dabei jeden Ganoven nieder, der ihm nicht freundlich genug antwortet. Dass kleine Gangster mit Schwerthieben verstümmelt aufgefunden werden, sorgt bald für Unruhe in der Unterwelt. Little Tokyo wird nunmehr – trotz Beschwichtigungen – argwöhnisch beobachtet. Geschäftsführer von Clubs und Restaurants, die Schutzgelder an Morelli und McGee bezahlen, beschweren sich, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Als jemand von einem Schwarzen mit einem Schwert erzählt, dämmert es den beiden frisch gebackenen Gangsterbossen langsam, dass Russell von den Toten auferstanden und zurück gekommen ist, um sich zu rächen.

Dieser findet erst einmal seine Familie wieder und sieht zum ersten Mal überhaupt seinen Sohn. Eigentlich eine ideale Gelegenheit, um mit Maria und Nachwuchs aus der Stadt zu verschwinden. Doch Russell denkt nicht daran: es ist für ihn eine Frage der Ehre, seine beiden Fast-Mörder zu jagen und hinzurichten. Er drängt zur Eskalation: einer Begegnung mit Russells Schwert entkommt McGee mit einem Ohr weniger, während Morelli dabei seinen Kopf verliert. McGee entführt daraufhin Maria und ihren Sohn in seine mexikanische Fluchtvilla. Russell folgt ihm dorthin und richtet ihn und all seine Gehilfen mit dem Schwert. Gerächt will der schwarze Samurai mit seiner Frau und seinem Sohn in die Zukunft ziehen, wird jedoch von einem korrupten Polizisten in McGees und Morellis Dienst aus dem Hinterhalt erschossen.

Die lange Inhaltszusammenfassung macht es vielleicht klar: VENGEANCE IS MINE ist ein unheimlich dichter Film, der beeindruckend viele Elemente in sich vereint. Das Herz und die Seele des Film ist meiner Meinung nach die Sequenz, die ich der Anschaulichkeit halber als „interkultureller Buddymovie meets Veteranendrama im Robinsonade-Gewand“ bezeichnen würde. Hier finden sich verschiedene Personen wieder, die sich einander verstehen, gerade weil sie sich teilweise missverstehen. So murmelt Russell, noch an der Schwelle zum Tod, im Delirium immer wieder „those motherhumpers“. Ichikawa fragt seinen Offizier, was der Amerikaner sagt, und Sugoro meint, das sei ein Englisch, das er nicht verstehe. Als die beiden japanischen Soldaten den Vietnamveteranen fragen, wer ihn so schwer verletzt habe, weicht er unwillig aus und murmelt wieder etwas von „those motherhumpers“:
– (Sugoro) You said that in your sleep. What does that mean?
– (Russell) Nothing. Some friends of mine.
– (Ichikawa) They do that to you? They no friends. We your friends! We motherhumpers!
Spätestens hier wird klar, dass die drei Männer in Frieden auf der verlassenen Insel zusammenleben werden – auch wenn sie sich gegenseitig oft nicht verstehen.

Interkulturelle und intergenerationelle Veteranen-WG
Im weiteren Verlauf entpuppt sich besonders Sugoro als faszinierende und paradoxe Figur. Einerseits ist er ein typischer, bornierter Militär mit fast klischeehaften Zügen eines japanischen Imperialisten: „I‘m shogun here, I‘m the supreme commander of the island.“ sagt er an einer Stelle selbstherrlich, als Russell sich weigert, dessen Befehle zu befolgen. Er ist überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg noch in Gange ist und tut Russells Hinweis, dass dem mittlerweile nicht so wäre, als amerikanische Propaganda ab. Zusammen mit dem gemeinen Soldaten Ichikawa hält der Oberst die verzerrte Karikatur einer Armeestruktur aufrecht: die allerletzte Einheit der Kaiserlich Japanischen Armee, verloren irgendwo auf einer kleinen philippinischen Insel. Dennoch ist er praktisch dazu verurteilt, wie ein Robinson außerhalb der Zivilisation und des Weltgeschehens zu leben. Das muss für ihn schmerzhaft sein, denn er ist offenbar auch ein kultivierter Mann, der sich teilweise weltoffen zeigt. Sein Englisch ist wesentlich besser als das von Ichikawa und immer wieder schwärmt er von amerikanischem Baseball und besonders von Joe DiMaggio (deutet das darauf hin, dass Sugoro einmal die USA besucht hat?). Russells Hinweis, dass der Baseballer jetzt Werbung für vollautomatische Kaffeemaschinen macht, versteht er nicht („What‘s wrong with coffee pots?“).

Sugoro weigert sich zunächst, Russell zu unterrichten: „It‘s no use to learn how to fight. Learn how to live.“ Außerdem sieht er, dass der Amerikaner nur die Schwertkampfkunst erlernen möchte, um sich zu rächen, während für den Japaner diese in erster Linie eben das ist: eine Kunst. Schließlich willigt er ein: aus Langeweile, aus Sympathie für den jungen Vietnamveteranen und wohl auch, weil er relativ sicher ist, dass nie jemand sie auf der Insel finden wird. Auch ein Punkt, in dem sich der Amerikaner und der Japaner uneinig sind. Und ein wunder Punkt Sugoros: nachdem er Russell kennen lernt, möchte er erst recht nicht entdeckt werden. Weil er sich eingestehen muss, dass der Krieg offenbar wirklich verloren ist und er somit Jahrzehnte lang in einer Blase lebte. Weil er zu sehr Angst vor dem Japan hat, das er entdecken könnte. Als sein Diener Ichikawa stirbt, erkennt er erst, was er an ihm hatte: der einzige Mensch, mit dem er in einem Zeitraum von Jahrzehnten gesprochen hatte. Lieber stirbt er auf der Insel, als sich der „neuen“ Welt draußen zu stellen.

Der Weltkriegsveteran als kampfbereiter Robinson
Sugoro ist auch deshalb ein faszinierender Charakter, weil mit ihm zwischen den Zeilen das Schicksal eines traumatisierten, verwirrten und von der Gesellschaft völlig entfremdeten Veteranen erzählt wird – und zwar explizit aus der Sicht eines japanischen Soldaten, der zudem auch größtenteils mitfühlend gezeichnet wird. VENGEANCE IS MINE kam im selben Jahr heraus wie COMING HOME und THE DEER HUNTER, also zwei Mainstreamfilmen, die das Schicksal von Vietnamveteranen verhandelten – was die US-philippinische Koproduktion implizit und symbolisch mittels eines verschanzten japanischen Soldaten macht.

VENGEANCE IS MINE erzählt auch, ich möchte fast sagen „nebenbei“ und „mit links“, eine klassische Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Gangsterbande. Die beiden Heimkehrer Morelli und McGee erfüllen sich ihren eigenen amerikanischen Traum, indem sie mit rücksichtsloser Gewalt oder mittels Korruption alles niedermachen, was sich ihnen in den Weg stellt oder stellen könnte. Dabei ist es interessant, dass beide im Grunde schon bestraft werden, bevor das Schwert Russells sie richtet. Morelli ist stets gestresst, besorgt, unruhig und schließlich paranoid. Von Glamour des Paten-Lebens ist nichts zu spüren. Währenddessen hat McGee materiell alles, was er sich wünscht, kann aber die einzige Frau, die er wirklich haben möchte, nicht besitzen – nicht einmal mit Erpressung. Denn Marias Liebe zu ihrem Doug ist stärker.

Mit seinen starken schwarzen Figuren (Held, love interest, einer der Antagonisten) stellt sich VENGEANCE IS MINE teilweise in die Tradition der Blaxploitation-Filme der frühen 1970er Jahre. Doch interessanterweise ist er wenig selbstreferentiell. Schwarzsein wird im gesamten Film kaum wirklich thematisiert: weder in den philippinischen Szenen, noch auf der Insel, noch in den Teilen, die in L. A. spielen. Sugoro etwa verachtet am Anfang latent den Gestrandeten, aber nur deshalb, weil er US-Amerikaner ist. Schwarze, Weiße, Latinos – in L. A. bringt Russell ohne Unterschied jeden Gangster um, der sich ihm in den Weg stellt. Einen einzigen Hinweis gibt es am Anfang, als McGee zögert, einen „der seinen“ („of my own kind“) zu töten – aber meint er damit einen Schwarzen, oder einen Armeekameraden? Morelli antwortet ihm mit: „Don‘t give me that brother-shit. The only brother is the man on the dollar bill. And he ain‘t black.“ Deutlich markanter ist wohl die Tatsache, dass ganz am Ende ein weißer Polizist einen nur mit kalter Waffe bewaffneten Schwarzen aus der Ferne mit einem Gewehr hinrichtet. Es ist ein unglaublich starkes Schlussbild (festgehalten in einem freeze frame), das thematisch an das Ende von NIGHT OF THE LIVING DEAD erinnert. Hier stellt sich auch die Frage, ob das eben Gesehene nicht komplett in einer blasenartigen Parallelwelt spielte und dieses Finale eine Rückkehr in eine reale US-amerikanische Welt markiert, in der Schwarze am kürzeren Hebel saßen. Es könnte einiges darauf hin deuten, dass besonders philippinisch koproduzierte Exploitationfilme lockerer mit ihren schwarzen Figuren umgingen als rein US-amerikanische Blaxploitationfilme oder gar Mainstreamfilme: schließlich wurden sie mehrheitlich auf den Philippinen gedreht, mit philippinischen Filmemachern und philippinischen Drehteams in einer Umgebung, in der es keine US-amerikanische Realität gab.

Als Rachefilm ist VENGEANCE IS MINE in den ersten zwei Dritteln relativ generisch, entpuppt sich aber in der letzten halben Stunde als „gebrochen“ (was ihn vielleicht nicht so sehr von anderen Rache- und Vigilantenfilmen der Zeit abhebt, die oft wesentlich ambivalenter waren, als Zuschauer und Zensoren zugeben mochten). Der tiefere Sinn von Russells Rachefeldzug wird infrage gestellt, als er seine Frau und seinen Sohn wieder findet. Es folgt nämlich kurz darauf eine „happy family“-Montage in Zeitlupe, die einen Bruch zum vorher Gesehenen markiert und einen Neuanfang suggeriert, der dann aber nicht kommt. Warum bleibt Russell trotz des wieder gefundenen Glücks stur und setzt dieses mit seinem fortgesetzten Rachedurst in Gefahr? Warum geht er nicht mit seinen Liebsten einfach weg? „It‘s a matter of honor“ antwortet er, als ihn das Maria fragt. Dass er weiter an seinem Racheplan schmiedet, zeigt schlussendlich, dass er nicht wirklich verstanden hat, was Sugoro ihm auf der Insel sagte. „It‘s no use to learn how to fight. Learn how to live!“ sagte ihm der Japaner zunächst. „You never win combats in anger“ hörte Russell später vom Weltkriegsveteranen. Tatsächlich agiert Russell wie ein Amokläufer im Autopilotmodus, von Hass zerfressen und von Zorn kontrolliert – also im Grunde nicht so, wie ein Samurai handeln sollte. Dass er am Ende gewaltsam stirbt, scheint in diesem Licht eine bittere Zwangsläufigkeit zu haben – er wollte nicht leben, sondern kämpfen.

Problematische Ehe und Rachedurst
Wie sehr Russell innerlich von Rachedurst zerfressen wird, zeigt auf wunderbare Weise eine (Wende-)Szene kurz nach der Wiederzusammenführung der Familie. Er fährt mit Maria und seinem Sohn ans Meer. Alleine setzt er sich am Strand an den Rand eines Felsvorsprungs und meditiert – sein Schwert auf dem Schoß, ein tosendes Meer im Hintergrund: Gewaltbereitschaft und latente Unruhe in einem eindeutigen Bild vereint. Von Maria ist er abgeschnitten. Zunächst durch den Felsvorsprung. Dann, als sich das Ehepaar das Frame teilt, durch den Knauf des Schwerts, der das harmonische Bild zerstört. Die beiden sprechen zwar miteinander und im Dialog wird deutlich, dass es wohl ein Problem gibt. Doch im Grunde machen alleine nur die Bilder schon deutlich, wo das Problem liegt, und dass Russell nicht ruhen wird, bis Morelli und McGee durch seine Hand getötet wurden.

Diese Szene ist einer von mehreren Momenten, in denen Form und Inhalt vollkommen miteinander verschmelzen und nicht mehr zu unterscheiden sind. Grundsätzlich würde ich sagen, dass VENGEANCE IS MINE über weite Strecken relativ unauffällig, aber effizient und ökonomisch inszeniert ist. Aber das ist wohl nur ein Teil seiner formalen Brillanz. Regisseur Cirio H. Santiago, Kameramann Ricardo Remias und die Cutter Gervacio Santos und Robert E. Waters schaffen es in oft in wenigen Bildern, Figuren einzuführen, Situationen zu verdeutlichen und inhaltliche Zusammenhänge klar zu machen. Fast mühelos werden in der ersten Hälfte des Films Russells Heilung und sein Training zum Samurai, McGees und Morellis Aufstieg zu den Herren der Unterwelt von Los Angeles und Marias Trauer und sozialer Abstieg parallel erzählt. Was anderswo Stoff für drei ganze Filme ergeben würde, wird hier für den Zeitraum eines halben Films aufs Äußerste konzentriert. Exposition, Handlung, Figurencharakterisierung, Aufbau von Atmosphäre: in VENGEANCE IS MINE läuft dies oft alles gleichzeitig. Etwa in der dreieinhalbminütigen Szene im Nachtclub, in der Maria als Sängerin präsentiert wird:
1 ein matching cut zwischen der gleißenden, tropischen Sonne über Russells Kopf auf der Insel und dem Scheinwerfer im Nachtclub leitet die Szene ein und erstellt, trotz geographischer Distanz, eine Verbindung zwischen den beiden Liebenden her
2 das Lied, das Maria zum Besten gibt, erschafft den inhaltlichen Zusammenhang zur extradiegetischen Musik: sie singt nämlich das Titelthema
3 die Szene präsentiert einen zentralen Identitätspunkt Marias: sie ist eine talentierte und ambitionierte Sängerin, die auch ohne Ehemann selbstbewusst für ihren Lebensunterhalt sorgen kann
4 die Szene führt Marias beste Freundin als Figur ein (sie ist Kellnerin im Nachtclub)
5 die Szene führt eine Nebenfigur ein, die später als Freund von Marias bester Freundin erkenntlich wird und dann ein bisschen später auch als Handlanger McGees und Morellis
6 der Kreis wird geschlossen, als die Szene ausklingt, zu einem nachdenklichen Russell abblendet und die Titelmusik nur wieder extradiegetisch erklingt

Schwert- und Körperchoreografien
Zunächst wollte ich solche Szenen als „Pausen“, als „Kitsch-Kadenzen“ bezeichnen, in denen sich der Film Luft holt, um genüsslich in Kitsch zu schwelgen. Bei der Zweitsichtung wurde mir erst deutlich, wie zentral wichtig sie eigentlich sind. Gerade die Szenen, in denen Russell und Sugoro am Strand trainieren, sind auch purer „Action-Kitsch“ im Sinne des Actionkinos der 1970er und 1980er Jahre: delirierende Fetischisierungen der Einheit von Körper und Waffe. Doch sie machen im Laufe der Zeit eine Entwicklung durch: von den holprigen ersten Lektionen, in denen Sugoro Russell mit einem Schwertersatz aus Holz regelrecht den Hintern versohlt bis hin zu den gemeinsamen Schwertchoreographien, gefilmt in fließenden, musikalischen Montagen. Das ist mehr als eine Fetischisierung von Körper und Schwert bzw. von Geist und Schwert (was gemäß Sugoro wesentlich wichtiger ist). Es drückt auch die Verbundenheit der beiden Männer klarer aus als jeglicher Dialog es könnte. 

Vielleicht ist es mittlerweile deutlich geworden, aber es schadet nicht, es explizit zu sagen: ich halte VENGEANCE IS MINE für ein Meisterwerk, und wenn der Film bekannter und gleichzeitig verschmähter wäre, dann stünde dieser Beitrag wohl in meiner inoffiziellen Rubrik „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“. Wer steht hinter dieser Perle des Exploitationkinos?

Regisseur Cirio H. Santiago wurde 1936 in Manila geboren, und zwar praktischerweise gleich in das Filmgeschäft hinein. Sein Vater, Ciriaco Santiago, war der Begründer einer der großen Filmproduktionsgesellschaften auf den Philippinen, der 1946 gegründeten „Premiere Productions“. Cirio Santiago übernahm später selbst den Vorsitz der Firma. Seine Karriere im Film begann er offenbar im zarten Alter von 19 Jahren als Drehbuchautor und Produzent, inszenierte dann aber auch rasch eigene Filme.
Ende der 1950er Jahre begann auch das Zeitalter des US-amerikanisch-philippinisch koproduzierten Exploitationfilms, der seine Hochphase in den 1970er Jahren erlebte. Im Inselstaat war es für amerikanische Produzenten (unter anderem zum Beispiel Roger Corman) billiger, Filme zu drehen. Die Philippinen verfügten auch über eine langjährige Filmtradition und über eine große Filmindustrie mit einem breiten Reservoir an erfahrenen und fähigen Handwerkern (zu denen Leute wie Cirio H. Santiago gehörten). Mit Imelda Marcos verfügte das nicht ganz lupenrein-demokratische Land über eine First Lady, die sich sehr für Film interessierte und ein bisschen was vom Geld, das sie nicht in die eigene Tasche steckte, der Filmindustrie zukommen ließ. Auch die philippinische Armee war, wenn sie nicht gerade die Bevölkerung zum Schutz vor Kommunisten terrorisierte, gerne bereit, gegen Bezahlung Ressourcen und Komparsen für Filme zur Verfügung zu stellen. Philippinische Filmemacher profitierten dabei von der Möglichkeit, Filme für einen ausländischen Markt zu produzieren und genossen dadurch größere Freiheiten (besonders im Bereich der Zensur) als bei Filmen für den Inlandsmarkt.
Zeremonielle Übergabe des Todesinstruments
In diesem Kontext arbeitete Cirio H. Santiago. In den 1970er Jahren inszenierte und produzierte er Dutzende Exploitationfilme, teilweise in Zusammenarbeit mit Roger Corman. Dazu gehörten „Women in Prison“-Filme (THE BIG DOLL HOUSE, THE BIG BIRD CAGE, WOMEN IN CAGES, HELL HOLE), zahllose Actionfilme mit oder ohne Martial Arts-Elementen (SAVAGE!, TNT JACKSON) und sogar einen Vampirsexfilm (VAMPIRE HOOKERS). In den 1980er Jahren drehte Santiago zahlreiche Vietnamkriegs- und Vietnamveteranen-Actioner, darunter 1988 einen Film mit dem klangvollen Namen THE EXPENDABLES.
2008 verstarb Santiago in Makati City – doch nicht, bevor die weltgrößte Recyclingtonne des Exploitationfilms, Quentin Tarantino, sich als Fan geoutet hatte. Pelle Felsch, der das Bookletessay zur weiter unten besprochenen deutschen DVD-Edition von VENGEANCE IS MINE geschrieben hat, weist auf die Parallelen in der Struktur von Santiagos Film und KILL BILL hin: „Verrat an der Freundschaft – Tod & Auferstehung – Ausbildung & Auftrag – Rache“. Die dramatische Übergabe des Schwerts an den Lehrling durch den Meister, die in VENGEANCE IS MINE an einem kargen Strand stattfindet, scheint Tarantino zu einer ähnlichen Szene in KILL BILL inspiriert zu haben. Auch in der deutschen Blogosphäre gibt es zumindest einen großen Fan: Sano Cestnik plädierte vor über vier Jahren bei „Eskalierende Träume“ in einer Besprechung von FINAL MISSION (1984) leidenschaftlich für mehr Cirio H. Santiago. Ein Aufruf, dem hier hiermit gefolgt bin.

Noch einige Worte zu den Darstellern: der charismatische James Iglehart spielte zunächst Nebenrollen in zwei Filmen Russ Meyers (BEYOND THE VALLEY OF THE DOLLS, THE SEVEN MINUTES), bevor er dann dem lockenden Ruf der Philippinen folgte und dort für Regisseur und Produzent Cirio H. Santiago die Hauptrolle in drei actionreichen Filmen spielte: SAVAGE!, BAMBOO GODS AND IRON MEN und eben VENGEANCE IS MINE. Dieser ist gemäß imdb auch sein letzter Film. Offenbar hat er sich danach aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Sein Sohn James Monroe Iglehart, der vierjährig auch in VENGEANCE IS MINE den Filmsohn spielt, ist später selbst Film- und vor allem Theaterschauspieler geworden.

Im Film Antagonisten, im wahren Leben Ehepartner:
Jayne Kennedy und Leon Isaac Kennedy
Leon Isaac Kennedy kommt aus dem Blaxploitation-Bereich und blieb auch in den 1980er Jahren dem B-Actionfilm treu. Anfang der 1990er Jahre stieg er aus dem Filmgeschäft aus. Irgendwann in dieser Zeit hat er wohl Jesus für sich entdeckt und betätigt sich heute als evangelistischer Prediger. Von 1970 bis 1982 war er mit Jayne Kennedy, geborene Jayne Harrison verheiratet. Auch sie, die Darstellerin der Maria, blieb dem Filmgeschäft nicht lange treu. 1970 wurde sie als erste Afroamerikanerin zur Miss Ohio gewählt und war im selben Jahr eine der Semifinalistinnen von Miss USA. Sie war wohl offenbar auch die erste Afroamerikanerin, die auf dem Cover des Playboy Magazine abgelichtet wurde. Kennedy spielte vor allem Nebenrollen im Fernsehen und zusammen mit ihrem Ehemann. Cirio H. Santiago kannte sie schon vor VENGEANCE IS MINE durch die Zusammenarbeit bei THE MUTHERS (1976) kennen, einem Film um eine Bande weiblicher Piraten, die sich undercover in ein Plantagengefängnis einschleusen lässt, um eine Kameradin zu befreien. Ihre Karriere bei Film und Fernsehen dünnt sich seit den 1980er Jahren aus, da sie sich vielfältigen Tätigkeiten wie dem Produzieren von Fitnessvideos und der Arbeit bei wohltätigen NGOs und christlichen Organisationen zuwandte.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen ist Carmen Argenziano ein umtriebiger Schauspieler geblieben und hat seit seinem Filmdebüt 1969 über 200 Rollen gespielt. Er tauchte einige Male im Umfeld von Corman-produzierten, teilweise in den Philippinen gedrehten Filmen auf, trat aber ebenso in THE GODFATHER: PART II auf. Hauptsächlich spielte er und spielt er Nebenrollen in Fernsehserien, zuletzt in CSI: NY oder DR. HOUSE. Über den Kameramann Ricardo Remias lässt sich rasch in Erfahrung bringen, dass er zum festen Mitarbeiterstamm Cirio H. Santiagos gehörte und über 20 seiner Filme fotografierte.

Und wer sind die Darsteller Sugoros und Ichikawas? Hier ist es tatsächlich schwierig, Namen zuzuordnen. Der Abspann von VENGEANCE IS MINE erwähnt unter „also appearing“ nur noch die Namen der Nebendarsteller ohne Rollennamen (interessant zu sehen: Produzent Robert E. Waters hat mindestens drei Verwandte als Darsteller untergebracht). Im Vorspann werden außer den bekannten Darstellern noch erwähnt: Jose Mari Avellana (bei imdb Joe, nicht Jose), Joonie Gamboa (bei imdb Joonee), Leo Martinez, und ein „guest star“ Roberto Gonzalez (bei imdb überhaupt nicht erwähnt).

freeze frame im Moment des Todes

Hier ist nun der Ort, um noch einmal auf einen bizarren Fakt hinzuweisen: nämlich dass der besprochene Film keinen „richtigen“, oder zumindest keinen „festen“ Titel hat. DEATH FORCE ist gemäß der imdb der Originaltitel. Der Film lief jedoch, wie viele für Grindhouse-Auswertung produzierte Filme, eine zweite Runde Kino-Auswertung durch, dann offenbar mit dem Titel THE FORCE und FIGHTING MAD. Ein Filmplakat mit letzterem findet man bei imdb: witzig ist, dass Leon Isaac (ohne „Kennedy“) und Jayne Kennedy als Hauptrollen genannt werden. Das Plakat nimmt Bezug auf das Playboy-Cover mit Jayne und auf Leon Isaacs Rolle im Film PENITENTIARY, der im Dezember 1979 in den USA anlief. Wahrscheinlich dürfte also FIGHTING MAD der Titel für eine Neuauswertung des Films irgendwann 1980 gewesen sein. FORCE OF DEATH war offenbar der Titel des Films in Großbritannien. Pelle Felsch nennt im Booklet der deutschen DVD auch noch FIERCE als zusätzlichen Neuauswertungstitel in den USA. Gemäß Felsch ist VENGEANCE IS MINE eine komplette Neuschöpfung für die US-amerikanische DVD-Veröffentlichung des Films im September 2013, die erstmals die komplette 110-Minuten-Fassung enthielt. Allerdings scheint er sich zu irren, da das Cover der entsprechenden DVD eindeutig einen Film namens DEATH FORCE zeigt.
Erschwerend kommt hinzu: irgendwo zwischen 84 Minuten und 110 Minuten dauert VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE aka FIGHTING MAD. Im September 1978 kam der Film in einer 96-minütigen Fassung in die US-amerikanischen Kinos. In Deutschland lief er, stark geschnitten (ob es sich um Gewaltzensur handelte, ist unklar) mit 84 Minuten Laufzeit im April 1982 an. Die 110-minütige Fassung wird teilweise als „director‘s cut“, teilweise als „extended cut“ bezeichnet: wo sie herkommt, ist allerdings unklar. War es eine Premierenfassung, die später (um)geschnitten wurde? Oder ist es die Rekonstruktion einer „imaginären“ Ur-Fassung? Ein zentraler Unterschied ist jedoch ganz sicher: die 110-minütige Fassung enthält als einzige die letzten paar Sekunden – also den Tod Russells durch Erschießung. Das heißt, dass alle kürzeren Fassungen mit einem „happy end“ aufhören.
Der Film ist wie gesagt als US-DVD im Doppelpack mit Santiagos VAMPIRE HOOKERS unter dem Titel DEATH FORCE in der integralen 110-Minuten-Fassung erhältlich. Auf der Website des Labels steht tatsächlich DEATH FORCE aka VENGEANCE IS MINE, wobei letzterer als „Originaltitel“ genannt wird.
In Deutschland ist der Film dieses Jahr beim Label Subkultur / Media Target als Nummer 2 der „Grindhouse Collection“ als DVD-Blu-ray-Dualedition veröffentlicht worden. Der Film liegt in einer relativ guten Qualität vor: manche Momente sind unscharf, etwas kontrastarm, und zumindest eine Rolle (knapp über 10 Minuten) hat einen gelben Laufstreifen in der Mitte. Trotzdem insgesamt gut. Als Bonus gibt es ein Booklet mit einem Essay von Pelle Felsch, der über Grindhousekino, Actionfilme, Männlichkeitskonstrukten in diesen, Cirio Santiago und die verschiedenen Fassungen des Films schreibt – sehr unterhaltsam, stellenweise sogar poetisch (eine Kostprobe: „Aktions-Kino, das Kino der Beschleunigung und abrupten Zersprenung: Die Quintessenz des bewegten Bildes. Der Karatekick, der Knochen splittern lässt. Das Projektil, das menschliches Fleisch penetriert. Der Car-Crash, der feste Materie seiner starren Form entreißt. Die Explosion, Vernichtung aller molekularen Ordnungen. Kino der Zerstörung. Kino der Befreiung“). Weniger unterhaltsam, sondern vielmehr ärgerlich ist der Bonusfilm: MACHETE MAIDENS UNLEASHED, eine Doku über die Geschichte des US-philippinischen Exploitationfilms. Besonders störend ist nicht nur der Stil dieses Machwerks (es ist nicht so sehr ein Dokumentarfilm als eher eine abendfüllende Interviewschnipsel-Montage), sondern auch die schiere Verachtung für sein Subjekt, das er von oben herab zur nostalgischen, aber lächerlichen Freakshow degradiert.

Dienstag, 23. September 2014

Psychorama: Der subliminale Horror!

MY WORLD DIES SCREAMING (auch TERROR IN THE HAUNTED HOUSE)
USA 1958
Regie: Harold Daniels
Darsteller: Cathy O'Donnell (Sheila Wayne Justin), Gerald Mohr (Philip Justin), William Ching (Mark Snell), John Qualen (Jonah), Barry Bernard (Dr. Forel)

Das unheimliche Haus
Die in der Schweiz lebende junge Amerikanerin Sheila Justin, gerade frisch verheiratet, wird regelmäßig von einem immer gleichen Albtraum ... huch, was war das? Da ist etwas im Bild aufgeflackert, was da offensichtlich nicht hingehört. Man konnte es nicht erkennen, aber da war etwas. Merkwürdig. Nochmal von vorn: Sheila wird also regelmäßig von einem Albtraum heimgesucht. Sie wird wie magisch von einem unheimlichen, verlassenen alten Haus angezogen. Sie kann sich nicht erinnern, das Haus tatsächlich schon einmal gesehen zu haben, aber sie hat es im Traum deutlich vor Augen, und es ist immer das selbe. Laut Schild war es früher von einer Familie Tierney bewohnt, aber jetzt steht es leer. Unter einem inneren Zwang geht Sheila in das Haus, die Treppe empor bis zum Dachboden, wo eine unsagbare Gefahr auf sie lauert ... und dann wacht sie schreiend auf. Nanu, es hat schon wieder geflackert. Sehr merkwürdig. Ein Psychiater, der Sheila in Hypnose versetzt, kann ihr nicht weiterhelfen. Aber vielleicht nützt es ihr ja, wenn sie wie geplant mit ihrem Mann Philip ins sonnige Florida zieht. Sheila hat seit ihrer Kindheit in einem Schweizer Sanatorium gelebt, aber jetzt ist sie körperlich gesund. Philip hat sie erst vor kurzem kennen- und liebengelernt.

Sheila und Philip
Doch in Florida wird alles noch schlimmer: Das Haus, das Philip schon vorab in einer einsamen Gegend gemietet hat, ist genau das Haus aus Sheilas Albtraum! Sie erstarrt in Panik und will sofort wieder weg, doch Philip weist das erstaunlich schroff zurück. Das Ehepaar trifft auf den verschrobenen alten Sonderling Jonah, der das Haus hütet, als einziger Mensch weit und breit, nur von einem unheimlichen weißen Hund begleitet. Jonah will die beiden vertreiben, doch Philip besteht darauf, das Haus gemietet zu haben. Er lässt sich schließlich doch von Sheila überreden, wieder abzureisen, doch welch Zufall, der Wagen springt nicht an. Im Motor fehlt ein Bauteil, offenbar gestohlen, während die beiden im Haus waren. Wer außer Jonah käme dafür in Frage? Doch später in der Nacht, als Sheila allein im Zimmer ist, entdeckt sie zufällig das fehlende Motorteil in Philips Koffer. Was führt er im Schilde? Noch eine Entdeckung macht sie in dieser Nacht: In einer Familienchronik liest sie, dass die Tierneys von einem Wahnsinn befallen waren, der sich von Generation zu Generation fortsetzte. Und als grausiger Höhepunkt hat der alte Großvater Tierney an einem Tag im Jahr 1939 auf dem Dachboden alle anwesenden Familienmitglieder mit einer Axt erschlagen, bevor er selbst tot zusammenbrach. Sheila dämmert langsam, dass sie schon als Kind an diesem Ort war, aber ihre Erinnerungen bleiben nebelhaft.

Man beachte die Ratte - oder ist es ein Opossum? - im Mund dieses Herrn
Am nächsten Morgen erscheint Mark Snell, der von Jonah verständigte jetzige Besitzer des Hauses. Er trifft zunächst auf Sheila, bestreitet, das Haus vermietet zu haben, und fordert die sofortige Abreise des Paars. Aber als Philip hinzukommt, erweist es sich, dass er und Mark sich schon lange kennen. Und Sheila erfährt zu ihrer Verblüffung, dass Philip gar nicht Justin heißt, sondern Tierney, und dass er der Enkel des wahnsinnigen Mörders ist. In der nächsten Nacht spitzen sich die Ereignisse wieder zu. Will Philip im Stil eines Jack Torrance in SHINING das Werk seines Großvaters fortsetzen und neue Axtmorde begehen? Oder ist er vielleicht nur ein Schurke, der seine Frau im Stil von GASLICHT und MITTERNACHTSSPITZEN in den Wahnsinn treiben will? Es sei hier nur verraten, dass es keine übernatürliche Erklärung für die Geschehnisse gibt. Der Alternativtitel TERROR IN THE HAUNTED HOUSE, den der Film anlässlich einer Video-Veröffentlichung 1987 verpasst bekam, ist also nicht nur äußerst einfallslos, sondern auch irreführend. Ach ja: Auch in Florida hat es immer wieder geflackert.

Der merkwürdige Jonah ...
Eine übernatürliche Auflösung der Geschichte hätte schlecht dazu gepasst, dass MY WORLD DIES SCREAMING auf den damals allerneuesten Erkenntnissen der Wissenschaft aufbaute. Nun ja, mehr oder weniger. 1957 veröffentlichte der amerikanische Publizist Vance Packard sein Buch The Hidden Persuaders (dt. Die geheimen Verführer), in dem er sich kritisch mit modernen Methoden der Werbung und Beeinflussung und insbesondere mit der subliminalen Werbung auseinandersetzte - also mit Werbung in Film und Fernsehen, die so kurzzeitig präsentiert wird, dass sie zwar vom Auge erfasst, aber nicht bewusst wahrgenommen wird. Dabei bezog sich Packard auf die "Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie" des Werbefachmanns James Vicary, die in kürzester Zeit für weltweites Aufsehen sorgte. Danach soll die in Kinos für jeweils einige Sekundenbruchteile wiederholt in den Film eingeblendete Aufforderung, Popcorn und Cola zu bestellen, zu einer signifikanten Umsatzsteigerung der beiden Produkte geführt haben. Die allgemeine Aufregung um diese perfide Beeinflussungsmethode war groß. Vicarys Studie hatte allerdings einen klitzekleinen Schönheitsfehler: Sie existierte überhaupt nicht. Schon früh gab es Zweifel, und 1962 gab Vicary zu, dass er seine Ergebnisse frei erfunden hatte, um Werbung für sich und seine eigene Werbeagentur zu machen. Trotzdem gab es auch später noch Auseinandersetzungen um die subliminale Werbung, sowohl was die Wirksamkeit als auch was die ethische Vertretbarkeit betrifft.

... und sein unheimlicher Hund
1958 war der Hype noch auf dem Höhepunkt, und da blieb Hollywood nicht außen vor. Statt dem Zuschauer Kaufaufforderungen unterzujubeln, könnte man ihm ja auch Botschaften vermitteln, die die Wirkung des jeweiligen Films verstärken, beispielsweise einen Horrorfilm noch furchterregender machen. Es war keines der großen Studios, die diese aus heutiger Sicht eher dämliche Idee umsetzte, sondern eine Firma mit dem Namen Precon Process & Equipment Corporation, was wohl für preconscious processing (vorbewusste Verarbeitung) stehen sollte. MY WORLD DIES SCREAMING war der erste Film der Firma, und im Gegensatz zu den (vorgeblichen) Praktiken der Werbewirtschaft agierte man hier nicht im Geheimen, sondern hängte es an die große Glocke, was man da machte. Weil das mit einem griffigen Schlagwort am besten geht, erfand man dafür den Begriff "Psychorama", auch "Psycho-Rama" geschrieben. In der ursprünglichen Version von MY WORLD DIES SCREAMING wandte sich Hauptdarsteller Gerald Mohr vor und nach dem Film an das Publikum und erklärte, was da ablief. Dieser Vor- und Nachspann wurde bei der Neuveröffentlichung als TERROR IN THE HAUNTED HOUSE weggelassen, man kann sich aber eine ähnliche Einführung von Mohr zum Nachfolgefilm DATE WITH DEATH ansehen.

Gefälliges Spiel mit Licht und Schatten
Wie oben im Text schon angedeutet, sind die eingeblendeten Bilder und Texte in MY WORLD DIES SCREAMING nicht wirklich subliminal. Man erkennt zwar nicht, was es ist, aber auf YouTube (und wie man liest, auch auf DVD) bemerkt man sehr deutlich, dass da plötzlich etwas ist, was da nicht hingehört. Mag sein, dass es im Kino etwas weniger auffällig ist, aber für den bewussten Verstand wirklich unsichtbar ist es sicher auch dort nicht. Dazu müsste sich die Zeitspanne im unteren Millisekundenbereich bewegen, aber ein Kinobild dauert halt nun mal 1/24 Sekunde. Mit einem normalen Kinoprojektor geht das nicht schneller - man müsste zusätzlich spezielle Geräte einsetzen, sogenannte Tachistoskope. Aber das war natürlich nur in der Forschung, aber nicht im kommerziellen Kino-Einsatz tragbar. Auch aus einem anderen Grund war der Einsatz der Technik bei MY WORLD DIES SCREAMING eher unorthodox: Die eingeblendeten Bilder sind teilweise eher bescheuert als furchterregend - die hier präsentierten Beispiele sprechen für sich. Man fragt sich ohnehin, wie weit die Macher des Films überhaupt an die Wirkung ihrer unterschwelligen Bilder glaubten. Dass "Psychorama" eine Werbemasche war, ist klar, aber war es nur das? Oder war man bei Precon Process & Equipment von der Wirkung der "revolutionären Technik" überzeugt? Der Film selbst gibt darauf keine Antwort, aber die Firma entwickelte anscheinend auch Gerätschaften zur Umsetzung der Technik, und Hal Becker und Robert Corrigan, offenbar die Vordenker (und vielleicht Besitzer) von Precon Process & Equipment, veröffentlichten auch ein Buch zum Thema (Corrigan, R.E. / Becker, H.C.: Subliminal communication processes. Status and possibilities. New Orleans: Precon Process and Equipment Corp. 1958). Wie auch immer - die Masche lief sich schnell tot. 1959 produzierte die Firma noch den schon erwähnten Nachfolgefilm DATE WITH DEATH (wieder mit Harold Daniels als Regisseur und Gerald Mohr in der Hauptrolle, aber ohne Cathy O'Donnell), und das war es dann. Dennoch lebte die Idee gelegentlich wieder auf - man denke an den Penis in FIGHT CLUB.


Ich möchte MY WORLD DIES SCREAMING nicht schlechter machen, als er ist. Die Story ist nicht sehr originell, aber auch nicht wirklich schlecht, und Cathy O'Donnell und Gerald Mohr bieten in ihren Rollen durchaus ordentliche Leistungen. Mohr war ein grundsolider und umfassend gebildeter Schauspieler mit vielen Film- und später vor allem Fernsehrollen, und er war ein gefragter Radiosprecher mit mehr als 500 Auftritten. Seine Schauspielerlaufbahn begann er in New York in Orson Welles' Mercury Theatre (bei TOO MUCH JOHNSON hat er aber anscheinend nicht mitgespielt). Cathy O'Donnell hat weit weniger Rollen vorzuweisen, aber darunter befinden sich Hochkaräter wie THE BEST YEARS OF OUR LIVES von William Wyler (der kurz darauf ihr Schwager wurde), THEY LIVE BY NIGHT von Nicholas Ray, THE MAN FROM LARAMIE von Anthony Mann und als ihr letzter Kinofilm BEN HUR. Auch Regisseur Harold Daniels kann nur ein schmales Œuvre vorweisen, aber ohne für mich erkennbare Highlights (ich kenne aber außer MY WORLD DIES SCREAMING nichts davon). Ein Pluspunkt des Films ist die gelungene Kameraarbeit von Frederick E. West, der kompetent mit Licht und Schatten umgeht. Nichts Spektakuläres, nichts, was man nicht auch in vielen anderen Horror- (und älteren Noir-)Filmen sehen kann, aber gediegenes Handwerk. - Die 1987 auf Video veröffentlichte leicht gekürzte Fassung des Films gibt es auch auf DVD und auf YouTube.

Die Firma, die den Film auf Video herausbrachte, fügte subliminale Werbung
für sich selbst hinzu. Woher sie diese Idee nur hatten?

Samstag, 6. September 2014

Ein neuer Stummfilm von Orson Welles

TOO MUCH JOHNSON
USA 1938/2013
Regie: Orson Welles
Darsteller: Joseph Cotten (Augustus Billings), Edgar Barrier (Leon Dathis), Arlene Francis (Mrs. Dathis), Virginia Nicolson (Leonore Faddish), Ruth Ford (Mrs. Billings), Mary Wickes (Mrs. Upton Batterson), vielleicht Orson Welles (Keystone Kop)

Ein Keystone Kop - aber wahrscheinlich nicht Orson Welles
Ein neuer Film von Orson Welles? Natürlich nicht wirklich, schließlich ist der Meister schon seit 1985 tot. Aber ein Film, der unvollendet blieb und nicht aufgeführt wurde, der lange als verloren galt und 2008 wundersamerweise wieder auftauchte, der letztes Jahr zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, und der neuerdings allgemein zugänglich ist. Ein Stummfilm ist TOO MUCH JOHNSON in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde er ohne Tonspur aufgenommen, und zweitens imitiert er Hollywoods Slapstick-Komödien aus der Ära eines Mack Sennett. Schon in THE HEARTS OF AGE, seinem ersten Film (oder seinem zweiten, wenn man TWELFTH NIGHT von 1933 mitzählt, aber das ist nur eine mit völlig statischer Kamera abgefilmte Theaterprobe eines Stücks, das Welles inszeniert hatte), versuchte sich Welles auf ähnlichem Gebiet. Er inszenierte THE HEARTS OF AGE gemeinsam mit seinem Schulfreund William Vance 1934 anlässlich eines Schulfestes an der früheren Schule der beiden in Woodstock, Illinois (nicht zu verwechseln mit Woodstock, New York). Es handelt sich um eine kurze Parodie auf die surrealistischen Stummfilme von Buñuel/Dali und Jean Cocteau, mit Welles als einer Figur irgendwo zwischen Dr. Caligari und dem Joker. 1938 produzierte Welles das legendäre Hörspiel "The War of the Worlds" sowie eine ganze Reihe weiterer Hörspiele (die man alle hier herunterladen kann), und er wirkte als Regisseur, Schauspieler und in multipler sonstiger Funktion am Mercury Theatre, das er und John Houseman 1937 in New York gegründet hatten. Eines der Stücke, die 1938 auf dem Spielplan standen, war "Too Much Johnson", ein 1894 geschriebener Schwank von William Gillette (1853-1937), einem seinerzeit sehr bekannten und beliebten Schauspieler und Bühnenautor, der vor allem für seine Darstellung von Sherlock Holmes berühmt war. In "Too Much Johnson" wird Augustus Billings, ein New Yorker Playboy (der den falschen Namen Johnson benutzt), vom eifersüchtigen Ehemann seiner Geliebten bis nach Kuba (wo noch ein echter Johnson in die Handlung eingreift) verfolgt.

Joseph Cotten und Arlene Francis
Welles kam nun auf den Gedanken, die Aufführung mit einem dreiteiligen Film von ungefähr 40 Minuten Länge zu ergänzen: Die einzelnen Teile von 20, 10 und nochmal 10 Minuten sollten jeweils einen der drei Akte des Stücks einleiten. Die Idee war nicht neu - so entstand etwa René Clairs erster Film ENTR'ACTE (1924) als Pausenfüller für ein von Francis Picabia ausgestattetes Ballett, und 1923 drehte Sergej Eisenstein seinen ersten Kurzfilm GLUMOWS TAGEBUCH zur Anreicherung eines von ihm inszenierten Theaterstücks. Um die Aufführungen durch die Filmsequenzen nicht zu sehr aufzublähen, wurde im Gegenzug Gillettes Stück von Welles stark gekürzt (Welles schreckte auch nicht davor zurück, Shakespeare stark zu kürzen, da war das bei Gillette ein Klacks). Für den geplanten Film schrieb Paul Bowles eine Musik, die bei den Aufführungen live hätte gespielt werden sollen. Bowles ist zwar viel bekannter als Schriftsteller ("Himmel über der Wüste", verfilmt von Bertolucci), aber er war auch Komponist.

Slapstick auf den Dächern von New York
Die Darsteller in TOO MUCH JOHNSON kamen überwiegend vom Mercury Theatre und von Welles' Hörspiel-Truppe. Für etliche, darunter Joseph Cotten, war es der erste Filmauftritt, und einige, neben Cotten etwa Erskine Sanford, traten auch in späteren Welles-Filmen regelmäßig auf. Ebenfalls zur Besetzung gehörte Welles' erste Ehefrau Virginia Nicolson (manchmal auch "Nicholson" geschrieben), die auch schon in THE HEARTS OF AGE mitgespielt hatte. Welles selbst übernahm vielleicht die Rolle eines Keystone Kops (siehe Update). In zehn Tagen drehte Welles mit seinen Schauspielern ungefähr 7600 Meter Film (was über viereinhalb Stunden Laufzeit entspricht). Daraus schnitt er selbst in dem New Yorker Hotel, in dem er wohnte, mit einer Moviola eine Rohfassung von 66 Minuten Länge. Über diesen Zustand kam TOO MUCH JOHNSON jedoch nicht hinaus. Verschiedene Gründe könnten dazu beigetragen haben, dass er unvollendet blieb, aber über die Gewichtung herrscht Unklarheit. Nach einer Kurzversion von 1900 hatte 1919 Donald Crisp Gillettes Stück für Paramount verfilmt, und 1938 besaß Paramount die Filmrechte immer noch und ließ Welles angeblich über einen Anwalt ausrichten, dass er die Rechte nicht umsonst, sondern nur gegen eine beträchtliche Lizenzgebühr haben könne. Eine heuer durchgeführte ausgiebige Recherche in den Archiven von Paramount hat allerdings keine Belege für diese Version erbracht. Welles war damals anscheinend knapp bei Kasse, jedenfalls soll es Beschwerden von einigen der Schauspieler gegeben haben, dass sie ihre Gage unvollständig oder verspätet erhielten, und das Kopierwerk soll die bearbeiteten Filmrollen nur noch gegen Vorkasse herausgerückt haben. Die Inszenierung des Stücks hatte im August 1938 einen Probelauf in einem Theater in der Nähe von New Haven, Connecticut, und angeblich stellte sich heraus, dass dieses Theater überhaupt nicht für die Projektion von Filmen gerüstet war. Allerdings war das Theater ursprünglich ein Nickelodeon, was auch diese Version etwas zweifelhaft erscheinen lässt. Vielleicht lief Welles einfach nur die Zeit weg, weil er den Aufwand unterschätzt hatte, und weil er und ein Teil der Besetzung gleichzeitig noch mit der regelmäßigen Radio-Arbeit beschäftigt waren. Jedenfalls lief die Inszenierung in Connecticut ohne den Film (und damit auch ohne Bowles' Musik, die dieser etwas umarbeitete und 1939 separat veröffentlichte). Das ohne Film und in der gekürzten Form offenbar nur noch mäßig interessante Stück fiel bei Publikum und Kritik in Connecticut durch, und der eigentlich vorgesehene Lauf in New York wurde daraufhin abgesagt - und das war es dann mit TOO MUCH JOHNSON. Der erste Eintrag in der betrüblich langen Liste von Welles' unvollendeten Filmprojekten war geboren.

Virginia Nicolson (links) und Ruth Ford
Was danach mit dem 66-minütigen "Workprint" geschah, ist nicht bekannt. Welles entdeckte das Material Ende der 60er Jahre in der Villa bei Madrid, die er damals bewohnte, aber er konnte sich seiner Aussage nach nicht erinnern, ob es sich immer in seinem Besitz befunden hatte. Der Zustand der Filmrollen war laut Welles damals ausgezeichnet. Eine nachträgliche Veröffentlichung zog er nicht in Betracht, weil sie ihm ohne das Theaterstück als sinnlos erschien, aber er hatte die Idee, eine fertig geschnittene Fassung Joseph Cotten als Geschenk zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Welles 1970 zu Dreharbeiten abwesend war, brannte die Villa aus, und der leicht entflammbare Nitrofilm löste sich in Rauch auf (so die offizielle Version - mehr dazu unten im Update). Wie jedermann einschließlich Welles selbst (oder doch nicht?) glaubte, war TOO MUCH JOHNSON damit endgültig verloren. Doch 2008 tauchte völlig unverhofft in einem Lagerhaus in Pordenone in Friaul (wo regelmäßig das bekannte Stummfilmfestival stattfindet) eine intakte Kopie auf. Zunächst kümmerten sich die in Pordenone ansässige Einrichtung Cinemazero und die Cineteca del Friuli darum, dann das George Eastman House in Rochester, New York. In einer international koordinierten Anstrengung dieser Institutionen und eines spezialisierten Filmlabors, unterstützt durch eine Geldspritze der amerikanischen National Film Preservation Foundation (die u.a. durch die verdienstvolle DVD-Reihe Treasures From American Film Archives hervorgetreten ist), wurde TOO MUCH JOHNSON sorgfältig restauriert. Im Oktober 2013 hatte der wiederauferstandene Film unter großem Publikumsandrang (es mussten zusätzliche Aufführungen anberaumt werden) seine Premiere beim Stummfilmfestival in Pordenone - welchen besseren Ort hätte es dafür geben können? Und seit zwei Wochen kann man TOO MUCH JOHNSON auf der Website der National Film Preservation Foundation legal, kostenlos und in guter Qualität herunterladen oder als Stream ansehen, und zwar gleich in zwei Versionen: der komplette 66-minütige Workprint (ca. 1 GB) und eine daraus erstellte 34-minütige Version (ca. 560 MB), die mit einigen erklärenden Zwischentiteln ergänzt wurde, und die vielleicht dem nahekommt, was sich Welles seinerzeit vorgestellt hatte. Wobei betont wird, dass das nur ein Versuch ist, und dass andere Versuche möglich und wünschenswert sind. Beide Versionen wurden mit einer neuen stummfilmgemäßen Klavierbegleitung von Michael D. Mortilla versehen.

Nochmal Cotten und Francis
Man sollte kein CITIZEN KANE 0.9 von TOO MUCH JOHNSON erwarten - natürlich nicht. Selbst wenn Welles den Film vollendet hätte, würde da zuviel fehlen, vom kongenialen Kameramann Gregg Toland bis zu den materiellen Möglichkeiten eines großen Hollywood-Studios. Und durch den vorgesehenen Einsatzzweck geht im zweiten und dritten Teil die inhaltliche Kohärenz doch etwas verloren - schließlich hätte ein Teil der Geschichte auf der Bühne erzählt werden sollen, und das können die Zwischentitel nur teilweise kompensieren. Doch TOO MUCH JOHNSON ist trotzdem eine interessante und unterhaltsame Talentprobe mit witzigen Ideen und gelungenem Slapstick. Auch ohne den überlebensgroßen Namen "Orson Welles" wäre er durchaus einen Blick wert.

UPDATE (11. September): In IMDb, Wikipedia und anderswo ist zu lesen, dass Welles in TOO MUCH JOHNSON eine Rolle als einer der Keystone Kops übernommen hat, und ich hatte das zunächst so in den Artikel übernommen. Quelle für diese Behauptung scheint ein Interview zu sein, das Welles 1978 einem Frank Brady gab, und das in der Zeitschrift American Film erschien. Doch Welles ist bekannt dafür, dass man nicht alles glauben darf, was er in Interviews erzählte, und laut Auskunft der National Film Preservation Foundation glaubt Prof. Scott Simmon, der für die Foundation die 34-minütige Schnittfassung erstellte und die beiden Begleittexte auf den Download-Seiten schrieb, dass es sich dabei um ein falsches Gerücht handelt. Es könnte also sein, dass Welles gar nicht mitspielt.

In IMDb und Wikipedia wird Mrs. Billings' Mutter Mrs. Upton Battison geschrieben, in den Zwischentiteln dagegen Mrs. Upton Batterson. Letzteres ist richtig, wovon ich mich hier überzeugt habe.

ZWEITES UPDATE: Wie der Welles-Experte Joseph McBride in diesem Artikel berichtet, hat sein spanischer Kollege Esteve Riambau in diesem August etwas Licht in die Frage gebracht, wie TOO MUCH JOHNSON überlebt haben könnte. Laut einem spanischen Zeitungsartikel von 1970 und Auskunft von Juan Cobos, der Welles' Regieassistent beim in Spanien gedrehten FALSTAFF (1965) war, gab es zwar ein Feuer in der Villa (die während einer längeren Abwesenheit von Welles von dem Schauspieler-Paar Robert Shaw und Mary Ure gemietet war), aber das war schnell gelöscht und betraf nur einen Raum, während die Filmrollen sicher im Keller lagerten. In seinen späteren Erzählungen hat Welles das Ausmaß des Feuers also stark übertrieben. Es scheint nun, dass Welles selbst, der 1969/70 einige Zeit in Rom arbeitete, die Filmrollen dorthin mitgenommen haben könnte (von wo sie später über Vicenza nach Pordenone kamen), sei es, um den Film fertig zu schneiden (vielleicht, um ihn Cotten zu schenken), sei es, um ihn vor neugierigen Filmhistorikern zu verbergen, die an der von ihm selbst lange verbreiteten Legende rüttelten, CITIZEN KANE sei sein erster Film gewesen (Welles war auch gar nicht froh, als McBride 1970 den lange verschollenen THE HEARTS OF AGE in einem Archiv aufstöberte). Welles könnte die Filmrollen in Rom zurückgelassen haben, als er etwas überstürzt abreiste, nachdem seine Affäre mit Oja Kodar bekannt wurde und ihm die Sensationspresse auf den Fersen war. Jedenfalls scheint Welles auch schon über TOO MUCH JOHNSON (wie über diverse andere Aspekte seines Lebens und Schaffens) ein Gespinst aus Legenden gestülpt zu haben, in dem sich auch seriöse Institutionen wie das George Eastman House und die National Film Preservation Foundation verfingen und deshalb teilweise falsche oder widersprüchliche Informationen verbreiten. Nach Rücksprache mit dem italienischen Filmhistoriker Paolo Cherchi Usai vom George Eastman House, der auch mit Pordenone verbunden ist, verlegt McBride die eigentliche Entdeckung und Identifizierung der Filmrollen auf Ende 2012. Das ist auch plausibler als eine Entdeckung schon 2008 (wie sie in den meisten Berichten behauptet wird), denn in diesem Fall hätte die Restaurierung nicht nur fünf Jahre gedauert, sondern auch ebenso lange geheim gehalten werden müssen (die Presse berichtete erst 2013 über die Wiederentdeckung). Nur langsam lichten sich die Nebel um TOO MUCH JOHNSON, und manches wird wohl für immer ein Mysterium bleiben.

Liebhaber und gehörnter Ehemann am Ende auf seltsame Weise vereint